Die Pistole, die Thomas Bindig besaß, war eine Achtunddreißig. Er hatte sie neu empfangen und selbst eingeschossen. Noch kein anderer Mensch als er hatte jemals mit der Pistole geschossen. Es war eine von den neuen Pistolen, die es noch nicht lange gab, und sie war besser konstruiert als die Nullacht mit ihrem veralteten Kniegelenk, das den Rückstoß noch verstärkte, anstatt ihn zu dämpfen. Sie war geschickter und treffsicherer.
Sie war leichter als die Nullacht. Sie lag besser in der Hand. Und man konnte sie geladen in der Hosentasche tragen, ohne besonders gefährdet zu sein, denn es bedurfte eines kräftigen Druckes auf den Abzug, um sie zu spannen, gleichzeitig die erste Patrone aus dem Magazin in den Lauf zu transportieren und danach ebenfalls noch mit diesem einzigen Druck auf den Abzug den Schuß auszulösen. Das hieß, daß man sie völlig sicher, ungespannt und trotzdem jede Sekunde feuerbereit in der Tasche tragen konnte. Es war eine schnelle Pistole.
Selbstverständlich konnte man sie auch spannen. So, daß man den Schuß danach jederzeit, nach Auslösung der Taschensicherung, abfeuern konnte. Oder man ließ die Patrone nur in den Lauf gleiten, ohne den Schlagbolzen zu spannen. Dann mußte man, um den Schuß auslösen zu können, einen kleinen Spannhebel mit dem Daumen zurückbiegen. Bei einiger Übung ging das sehr schnell. Es gab Leute, die auf diese Art besonders gern schossen, wenn es auf diesen einen Schuß ankam, wenn sie vor einem Ziel standen, das nur einen einzigen Schuß zuließ, der über alles entschied. Die Achtunddreißig war eine Waffe, die man nicht gern wieder aus der Hand gab, wenn man sie erst einmal besaß.
Wenn Bindig Zeit hatte, dann nahm er die Pistole und ging irgendwohin, um zu schießen. Er gehörte nicht zu denen, die Kerben in den Griff schnitzen. Aber er hatte mit seiner Acht-unddreißig bereits sechs Menschen, einen toll gewordenen Stier und vier Hühner getötet. Geschossen, mit der Absicht zu töten, hatte er auf die gleiche Zahl von Lebewesen. Diesem Umstand, besonders der Tatsache, daß er auf nicht mehr als sechs Menschen gezielt hatte mit der Absicht zu töten, verdankte er es, daß er noch am Leben war. Er war sich immer darüber klar gewesen, daß es für ihn den Tod bedeutete, auf einen Menschen zu zielen, zu schießen und ihn nicht zu treffen. Das war die einfache Philosophie der Leute von der Aufklärungskompanie. Schießen, wenn es nötig war. Und töten, wenn man schoß. Oder selbst getötet werden.
Das Seltsame an dieser Philosophie war, daß sie niemand erfunden oder in der Instruktionsstunde gelehrt, sondern daß sie sich einfach ergeben hatte.
Wer ihren Sinn nicht begriff oder wer einen Fehler machte, dessen Name tauchte zum letzten Male in dem Brief auf, den Leutnant Alf an die Angehörigen schrieb. Obwohl Bindig seine Pistole virtuos beherrschte, unterließ er es nicht, gelegentlich zu üben. Er tat das oft auch einfach aus Freude an den Treffern, die er feststellen konnte, und deshalb, weil die Feststellung der Treffer ihm Sicherheit und Selbstvertrauen gab.
An jenem Mittag, nachdem er sein Essen, ein Gemisch von Sauerkraut, Kartoffeln, Gulaschklumpen und salziger Bratensoße verzehrt hatte, begab er sich mit der Pistole und einigen Pappschachteln voll Patronen zu einer Stelle, die hinter einem verlassenen Haus lag. Er hatte dienstfrei. Zado war bei seinem Mädchen. Bindig wußte nicht recht, was er beginnen sollte, und so entschloß er sich, das Porträt des ehemaligen Reichspräsidenten Hindenburg, das er in einem leeren Haus von der Küchenwand genommen hatte, unter den Arm zu klemmen und es auf dem gefrorenen Misthaufen im Rücken des Hauses so aufzustellen, daß es aus einer gewissen Entfernung etwa die Größe eines menschlichen Kopfes hatte.
Der Tag war sonnig, aber kalt. Aus einigen der Häuser stiegen kleine Rauchfahnen auf. Sie standen kerzengerade in der Luft. Der Hall der Schüsse war weithin zu hören. Bindig stand vor dem Misthaufen und schoß ein Magazin nach dem anderen leer. Die Treffer befriedigten ihn. Der Kopf des ehemaligen Reichspräsidenten wies eine stattliche Anzahl von Löchern auf. Als auf dem Kopf nicht mehr zu kontrollieren war, welcher Schuß welches Loch gerissen hatte, zielte Bindig in die weißen Ecken des Bildes, links und rechts über dem Kopf.
Er drückte gerade Patronen in ein leeres Magazin, als er spürte, daß von rückwärts jemand auf ihn zukam. Mit der Pistole in der einen Hand und dem halbvollen Magazin in der anderen drehte er sich um und sah Alf entgegen.
Der Leutnant kam heran und blieb neben ihm stehen, die Hände in die Seiten stemmend.
»Was machen Sie denn hier?« erkundigte er sich mit einem flüchtigen Blick auf das Bild am Misthaufen.
»Ich übe mit der Pistole«, antwortete Bindig freundlich. Er hielt nicht viel von Alf, aber immerhin noch mehr als von der Feldgendarmerie.
Der Leutnant sah zuerst Bindig an, dann das Bild, dann Bindigs Pistole und sagte kopfschüttelnd: »Manchmal könnte man glauben, ihr wäret allesamt übergeschnappt. Haben Sie getrunken?«
»Nein, Herr Leutnant«, sagte Bindig unsicher, »wir schießen so wenig scharf, aber man muß doch seine Waffe beherrschen, und…«
»Mann!« unterbrach ihn Alf. »Meinetwegen können Sie Tag und Nacht schießen. Aber nicht auf dieses Bild!«
Bindig blickte nach dem Misthaufen und zurück auf Alf.
Dieser beobachtete ihn und schüttelte wieder den Kopf. Bindig wußte nichts zu sagen. Er öffnete unschlüssig den Mund und schloß ihn wieder.
»Wissen Sie nicht, wer dieser Mann ist?« fragte Alf. »Haben Sie acht Jahre lang in der Schule gefehlt?«
»Hindenburg, Herr Leutnant«, sagte Bindig, »es ist Hindenburg. Natürlich kenne ich ihn.«
»Sie kennen ihn nicht«, sagte Alf, »sonst würden Sie nicht auf ihn schießen. Wissen Sie, daß Hindenburg Ostpreußen vor dem Einfall der Russen bewahrt hat? Daß er die Russen bei Tannenberg so geschlagen hat, daß sie sich heute noch nicht ganz davon erholt haben?«
»Jawohl, Herr Leutnant«, sagte Bindig gehorsam. »Aus der Hand Hindenburgs hat der Führer das Vermächtnis übernommen, Deutschland zu einer stolzen, mächtigen Nation zu machen.«
Alf verzog das Gesicht, aber er lachte nicht. Er sah Bindig an und sagte: »Sie sind ein Idiot, Mann! Wollen Sie den Rest des Krieges lieber in einer Strafkompanie verbringen, oder was wollen Sie eigentlich? Begreifen Sie nicht, daß Sie eine der erhabensten Gestalten deutscher Geschichte gröblich beleidigen, indem Sie dieses Bild auf einen Misthaufen stellen und danach schießen?«
Bindig antwortete nicht.
»Gab es denn in diesem verdammten Dorf kein anderes Bild, wonach Sie schießen konnten?«
»Jawohl, Herr Leutnant«, sagte Bindig.
Der Offizier trat nahe an ihn heran. Dabei sagte er leise: »Bindig… werden Sie nicht ulkig. Wenn Sie absolut draufgehen wollen, dann vergessen Sie beim nächsten Einsatz, Ihre Reißleine einzuhängen. Das ist ein schmerzloser Tod. Aber versuchen Sie es nicht auf diese Tour.«
»Ich habe mir nichts dabei gedacht, Herr Leutnant«, sagte Bindig leise, »ich hätte ebensogut eine Zwölferscheibe nehmen können, aber es war keine da.«
»Was sind Sie von Beruf?« erkundigte sich der Leutnant.
»Bibliothekar.«
»Bibliothekar sind Sie?«
»Jawohl, Herr Leutnant.«
»Wo haben Sie gearbeitet?«
»In einer städtischen Bibliothek.«
»Und dann Kriegsfreiwilliger?«
»Jawohl.«
Alf schnackelte mit den Fingern. »Sie haben sich den Krieg anders vorgestellt, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht…«, sagte Bindig, unschlüssig, was Alf von ihm wollte. Aber der ließ ihn nicht weiterreden.
»Was für Schulbildung haben Sie?«
»Gymnasium bis zur Tertia.«
»Hm…«, machte Alf, »und dann haben Sie Bücher verkauft?«
»Ausgeliehen, Herr Leutnant.«
»Ja, richtig, ausgeliehen. Sie hätten Offizier werden können. Sie können es jetzt noch. Warum lassen Sie diese Möglichkeit aus?«
Er stellte die Frage nicht sehr ernsthaft, und es schien, als erwarte er auch keine Erklärung, denn er sah Bindig nicht einmal dabei an.
Bindig sagte: »Ich glaube, ich tauge nicht zum Offizier, Herr Leutnant. Und dann… es gibt in meinem Beruf Möglichkeiten, vorwärtszukommen…«
»Sie müssen es wissen.« Alf nickte uninteressiert. »Sie verstehen von Pistolen anscheinend mehr als von den Gestalten der deutschen Geschichte.«
»Die Achtunddreißig ist eine herrliche Pistole… Ich habe schon verschiedene Pistolen ausprobiert. Die alte Nullacht, die Walther, eine belgische F&N, eine kanadische und eine russische. Aber die Achtunddreißig hat mir am besten gefallen.«
»Das ist Ansichtssache«, sagte Alf. Er wies auf den Misthaufen und forderte Bindig auf: »Schaffen Sie mir ja das Bild dort weg. Danken Sie Gott, daß ich hier Kompaniechef bin und nicht ein anderer. Und jetzt habe ich eine Frage an Sie.«
»Jawohl«, sagte Bindig.
»Sie kennen Naumann?«
»Den Obergefreiten Naumann, jawohl.«
»Sie waren das letztenmal mit ihm zusammen im Einsatz. Wie war das genau mit ihm? Erzählen Sie mir das noch einmal.«
Naumann war der Oberkellner aus Stuttgart. Der Mann, der die Brücke gesprengt hatte und der davongekommen war, als die anderen in die Bereitstellung der Sturmgeschütze hineinliefen. Der Mann, der auf dem Rückflug hysterisch wurde und dem Timm die Pistole aus der Hand geschlagen hatte.
Als Bindig dem Offizier alles noch einmal erzählt hatte, schüttelte der den Kopf.
»Naumann ist wieder zurück. Er hat sich bei mir gemeldet. Man hat ihn als gesund entlassen. Überanstrengte Nerven, das war alles, was die Ärzte feststellten. Aber der Mann gefällt mir nicht. Er war früher anders. Würden Sie wieder mit ihm eingesetzt werden wollen?«
»Warum nicht?« antwortete Bindig prompt. »Er war immer in Ordnung. Durchdrehen kann jeder mal.«
»Darum geht es nicht«, sagte Alf, »so ein Mann kann eine ganze Aktion gefährden!«
»Ich wußte nicht, daß er zurück ist«, sagte Bindig.
»Er ist vor einer Stunde gekommen. Sprechen Sie mit ihm. Und sagen Sie mir danach Ihre Meinung, ob man ihn morgen abend mit einsetzen kann.«
Das war Alfs Art, die Kompanie zu befehligen. Er ließ die Soldaten im Zweifel darüber, ob er sich aus Unsicherheit mit ihnen beriet oder ob das seine Methode war. Er sprach nicht mehr von dem Hindenburgbild. Er sagte überhaupt nichts mehr darüber. Auch nicht über die Sache mit den beiden Feldgendarmen. Es gab wenige, die aus ihm klug wurden. Aber die Folge davon war, daß die Soldaten ihn für gerecht und gutmütig hielten. Und auf diese Weise hielt er die Disziplin in einer Einheit aufrecht, in der sie nur schwer aufrechtzuerhalten war. Die Kompanie wäre ihm einfach aus den Fingern geglitten, wenn nicht seine Art, sie zu führen, den Männern das trügerische Gefühl eingegeben hätte, die größtmögliche Freiheit zu besitzen.
Bindig reinigte seine Pistole sorgfältig. Er lud die beiden Magazine wieder, wobei er jede Patrone, die er einschob, peinlich mit einem Lappen abwischte. Als er fertig war, machte er sich auf den Weg, den Oberkellner zu suchen. Er fand ihn in dem Haus, das seine Gruppe bewohnte. Er hockte dort in der Küche auf der Ofenbank und kaute Brot. Neben ihm stand ein Topf mit einer trüben Flüssigkeit, die entfernt an Kaffee erinnerte. Der Oberkellner kaute Brot und schluckte abwechselnd von dem Kaffee.
»He…«, rief Bindig, »du bist wieder da! Hab’ ich’s doch gesagt, daß du es bei den Karbolzwergen nicht lange aushältst! Wie war’s?«
Der Angeredete hielt ihm die Hand hin. Er machte ein unglückliches Gesicht, aber in den Augen glomm ein verborgenes Feuer. Bindig konnte sich nicht erinnern, das jemals an dem Oberkellner wahrgenommen zu haben, außer vielleicht damals in der Maschine, als der Oberkellner auf Timm schießen wollte. Aber da war es sehr dunkel gewesen.
»Sie haben mich genäht und mir Spritzen gegeben«, murmelte er. Es war, als spräche er zu jemand, der nicht vor ihm stand wie Bindig, sondern den er sich nur vorstellte. So wie mancher Selbstgespräche mit einer Person führt, die in der Realität nicht existiert und die er darum nicht mit großer Lautstärke anredet.
»Spritzen«, sagte Bindig, »haben sie geholfen?«
»Die Haut ist zusammengewachsen«, sagte der Oberkellner, »es ging sehr schnell.« Er bewegte den Arm und fügte hinzu: »Kopfschmerzen habe ich. Jeden Tag werden sie schlimmer. Dagegen können sie nichts machen. Oder sie wollen nicht. Kein Mensch glaubt mir, daß ich Kopfschmerzen habe. Es ist, als hätten sie mir in den Kopf geschossen. So, daß man von vorn kein Loch sieht. Schweine.«
»Du solltest dir vom Sani was geben lassen«, riet ihm Bindig. Aber der andere machte nur eine müde Handbewegung.
»Ich brauche nichts mehr«, sagte er leise. Dann senkte er seine Stimme zu einem tonlosen Flüstern. »Ich brauche nur noch eine Fahrkarte nach Hause. Ich habe die Schnauze voll. Total voll!« Er fuhr sich mit der Hand ans Kinn, und seine Annen leuchteten auf dabei.
Bindig kannte ihn so nicht. Er fragte sich, ob die Ärzte im Lazarett wirklich nicht herausgefunden hatten, was mit dem Oberkellner los war. Er versuchte, aus ihm herauszubekommen, ob es die Kopfschmerzen waren, die ihn in diese Verfassung gebracht hatten, oder ob er einfach die Belastung durch die Einsätze nicht mehr ertrug. Er sagte vorsichtig: »Demnächst sind wir wieder dran. Vielleicht schon morgen, überrmorgen. Dann bleiben wir zusammen.«
Aber der kleine Oberkellner sah ihn nur mit einem aus-druckslosen Blick an und antwortete gepreßt: »Ich gehe nicht mit. Ich bin krank. Kranke Leute kann man nicht auf Einsatz schicken.«
»Das nicht«, sagte Bindig, »aber sie haben dich entlassen. Das bedeutet, daß du gesund bist. Wie willst du Alf klar machen, daß du krank bist?«
Der Oberkellner trank mit einer müden Bewegung den Rest des dünnen Kaffees aus. Er warf den Topf achtlos hinter sich auf die verdreckte Herdplatte. So, als beabsichtige er, niemals mehr etwas zu trinken. Dann stand er auf und legte Bindig die Hand auf die Schulter. Er war vollständig bekleidet, hatte die Tarnjacke an und das Koppel mit der Pistole darüber geschnallt. Nur die Mütze lag auf der Ofenbank.
»Bindig…«, sagte er müde, aber mit einem gefährlichen Leuchten in seinen Augen, »als ich im Lazarett zu mir kam, war die Wunde schon genäht. Ich spürte sie nicht einmal mehr. Nur den Kopf. Als wühle mir jemand mit einer Gartenschaufel darin herum. Ich habe geschrien. Da gaben sie mir Spritzen. Dann sagten sie, ich solle aufhören zu simulieren. Und es riß in meinem Kopf, daß ich nicht aus den Augen gucken konnte. Hast du schon einmal so was gehabt? Nein, sonst würdest du es wissen. Es ist schlimmer als jede Verwundung. Sie gaben mir keine Spritzen mehr. Sie brauchten Platz. Sie bekamen täglich ein paar Dutzend Leute von vorn. Alle mit Splittern von Granatwerfern. Und ich krümmte mich in meinem Bett, aber sie glaubten mir nicht, daß ich Schmerzen hatte. Bis auf eine Schwester. Die gab mir Pervitin. Zuerst das, was ich noch in der Kombination hatte, vom Einsatz. Dann welches vom Lazarett. Und dann entließen sie mich. Und jetzt bin ich hier. Ich hatte in meinem Gepäck noch sechs Pervitintabletten. Davon habe ich heute früh drei genommen und jetzt eben die anderen drei. Heute abend werde ich nicht mehr wissen, was ich tue. Dann werde ich mich entweder erschießen, oder ich werde zu feige dazu sein, und dann werde ich vor Schmerzen irrsinnig. Ich halte keine Schmerzen aus. Ich weiß es. Diese Brücke dahinten war die letzte. Ich werde keine mehr sprengen.«
Bindig stand ratlos vor ihm. Er spürte die Hand auf seiner Schulter und merkte, daß der Mann hastig atmete. Das konnte das Pervitin sein. Er hatte kleine Schweißtröpfchen auf der Stirn. »Geh zum Sani«, sagte er, »laß dir noch was geben. Vielleicht wird es dann besser.«
»Ich war beim Sani«, sagte der Oberkellner. »Pervitin gibt’s nur, wenn wir auf Einsatz gehen.«
»Nimm was anderes.«
»Keinen Zweck. Bis Abend reicht es.«
»Es ist möglich, daß Zado noch was von dem Zeug hat. Geh mal bei ihm vorbei, wenn er kommt. Ich suche dir auch noch was zusammen. Ich habe das Zeug immer mit zurückgebracht. Habe viel davon verschenkt, aber es muß noch was da sein.«
Der Oberkellner winkte müde ab. Diese Müdigkeit stand in einem seltsamen Gegensatz zu dem krankhaften Wachsein der Augen. Er nahm die Hand von Bindigs Schulter und sagte: »Du bist ein guter Junge. Aber es hat keinen Zweck. Ich bin fertig. Sie haben mich fertiggemacht. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich damals in der Bereitstellung krepiert wäre. Oder wenn ich einfach vom Baum heruntergeschossen hätte.«
»Sie hätten dich heruntergeschossen«, sagte Bindig überzeugt.
Der Oberkellner sagte: »Dann hätten sie mir eine Arbeit erspart. Und viel Schmerzen.«
»Du bist verrückt«, sagte Bindig. »Fertig sind wir alle. Aber wir sind doch keine Schlappschwänze.«
»Das haben sie mir im Lazarett auch gesagt«, erklärte der Oberkellner. Er nahm eine Zigarette aus der Tasche und brannte sie an. Seine Finger zitterten dabei. Es stimmte, daß dieser Mann ein Wrack war. Früher oder später würde jeder von ihnen ein solches Wrack sein. Warum quälte er ihn überhaupt noch mit seinen Ratschlägen?
»Hör mal«, sagte er, »geh zu Alf und sag ihm das alles. Vielleicht kann er was für dich tun.«
»Zwecklos«, sagte der Oberkellner, »sie sind alle egal. Timm, die Ärzte, Alf. Alle egal.«
»Aber wenn du Alf nicht Bescheid sagst, wird er dich morgen zum Einsatz schicken.«
»Er kann mich schicken«, sagte der Oberkellner, »aber ich werde nicht gehen. Ich nicht mehr.«
Bindig schüttelte ratlos den Kopf. Er hätte dem anderen gern geholfen, aber er wußte nicht wie. Er sagte nur: »Ich suche ein paar Tabletten für dich. Ich bringe sie dir ’rüber.«
Naumann dankte ihm gleichgültig. Er hielt die Zigarette in den zitternden Fingern, und als Bindig ging, sagte er zu ihm: »Wir haben zu viele Brücken gesprengt. Zu viele Leute umgelegt. Zu viele Feuer gemacht und zu viele Explosionen. Wir hatten nicht den Mut aufzuhören, als es noch Zeit war. Jetzt ist es zu spät.«
Bindig ging zuerst in die Stube, in der er schlief. Er nahm aus seiner Kombination eine kleine Blechschachtel und schüttelte den Inhalt in die Handfläche. Es waren neun kleine weiße Tabletten. Als er damit in die Unterkunft kam, in der der Oberkellner lag, fand er ihn nicht vor. Er legte die Tabletten auf die Pritsche und schrieb einen Zettel, daß sie für ihn seien.
Er nahm sich vor, zu Alf zu gehen und ihm zu erklären, wie es um den Oberkellner stand. Aber er schob es noch auf, obwohl er nicht recht wußte warum.
Er vergaß es endgültig, als er plötzlich auf der Dorfstraße die Frau aus dem einsamen Gehöft gehen sah. Sie hatte ein schweres, gestricktes Tuch um die Schultern geworfen. Unter dem Arm trug sie eine Glasscheibe, und Bindig fragte sich erstaunt, woher sie wohl die Scheibe habe, denn es gab nicht mehr viel Scheiben im Dorf. Man mußte lange suchen, bis man eine fand, die nicht zerschlagen war. Er lief ihr ein Stück nach und rief.
Erst als die Frau sich umwandte, wurde er sich bewußt, daß er »Anna!« gerufen hatte.
»Sie sind es!« sagte die Frau erstaunt. Sie gab sich keine Mühe, gleichgültig zu erscheinen. Sie lächelte. »Es ist lange her, daß mich jemand mit meinem Namen gerufen hat.«
Er war atemlos von dem Lauf hinter ihr her. Er würgte heraus: »Verzeihen Sie, Sie sagten Ihren Namen, und jetzt… ich wußte nicht…«
Sie standen allein, dort, wo das Dorf zu Ende ging. Sie lehnte sich an eine der Bänke, auf denen früher die Milchkannen der Bauern gestanden hatten, die morgens von den Molkereifahrzeugen geholt wurden. Sie sagte: »Es ist schön, daß Sie sich meinen Namen gemerkt haben. Ich dachte, Sie würden wieder einmal kommen…«
Er spürte mit einem Male sein Herz klopfen. Er sah sie an, und sie erwiderte den Blick mit einem Lächeln. Er glaubte sich zu irren, denn er hatte alles andere erwartet, nur nicht dieses Lächeln.
»Sie haben eine Scheibe geholt?« fragte er verwirrt. »Warum haben Sie mir nichts gesagt? Ich hätte Ihnen geholfen…«
Sie sagte: »Ich habe sie aus einem Kellerfenster genommen. Bei uns in der Küche ist eine entzweigegangen. Heutzutage kann man wohl so etwas tun. Es wird kaum jemand hierher zurückkommen und diese Scheibe suchen.«
Er bewegte unbestimmt die Schultern. Er wollte sagen, daß in diesem Dorf vielleicht überhaupt kein Stein auf dem anderen bleiben würde, wenn erst einmal die Front aufwachte und der Krieg weiterging. Aber er sagte das nicht, sondern: »Eigentlich wollte ich Sie heute besuchen. Nun habe ich Sie getroffen…«
Irgend etwas an der Frau kam ihm verändert vor. Sie schien nicht mehr so abweisend zu sein wie damals, nicht mehr so auf Abstand bedacht. Aber er war nicht sicher, ob er sich nicht irrte. Er hörte die Frau sagen: »Warum kommen Sie nicht? Wo ist Ihr Kamerad?«
»Fort. Beim Divisionsstab.«
»Dann kommen Sie. Kommen Sie mit.« Sie lächelte wieder dabei. Er sah sie ein paar Sekunden lang stumm an. Sie war nichts weiter als eine Frau, die lächelte. Sie stand vor ihm, an das Holz gelehnt, die Scheibe unter dem Arm, und sah ihn an. Eine Frau mit einem reifen, vollen Körper und einer Stimme, die angenehm klang. Er begriff im gleichen Augenblick, er hätte längst wieder zu ihr gehen sollen. Er entschied sich schnell.
»Warten Sie, ich muß nur meinem Zugführer sagen, wo ich bin. Warten Sie, bitte!«
Er lief davon, und die Frau blickte ihm nach. Als er zwischen den Häusern verschwunden war, legte sie die Glasscheibe vorsichtig auf die Bank und blickte auf die gefrorene Dorfstraße. Ihre Lippen wurden zu einem schmalen Strich.
Bindig stürzte atemlos in Timms Quartier. Der Unteroffizier saß an einem zerkratzten Tisch und las in einer Zeitung.
Die Stube war stark geheizt, und er war in Hemdsärmeln. Bindig blieb in der Tür stehen und legte die Hand an die Mütze, aber Timm drehte sich nur halb um, sah ihn an und forderte ihn auf: »Machen Sie die Tür zu! Es wird kalt!«
Bindig atmete tief und sagte: »Herr Unteroffizier, ich möchte mich für heute abend abmelden.«
»Abmelden?« fragte Timm. Er drehte sich auf seinem Schemel um und sah Bindig an. »Wohin?«
»Ich bin eingeladen worden.«
»Wohin?«
Warum soll ich es ihm nicht sagen? dachte Bindig. Warum eigentlich nicht? Ich brauche mich nicht zu schämen.
»Zu der Frau, die in dem Gehöft hinter dem Dorf wohnt«, sagte er.
Timm blinzelte ihn an und musterte ihn vom Kopf bis zu den Schuhen. Dann fragte er beinahe gemütlich: »Zu der Frau, die in dem Gehöft hinter dem Dorf wohnt? Eingeladen?«
»Jawohl«, sagte Bindig.
»Hm!« machte Timm. »In Ordnung. Wie heißt die Frau?«
Er grinste, als er bemerkte, wie Bindig die Röte ins Gesicht schoß. Er wartete ein paar Sekunden, aber Bindig konnte nichts sagen. Dann lachte Timm laut auf.
»Sie sind richtig! Geht zu einer Frau schlafen und weiß nicht, wie sie heißt! Sie fangen an, mir zu gefallen!«
»Ich gehe zum…«, setzte Bindig an. Aber Timm unterbrach ihn, noch immer lachend: »Schon gut! Wir haben alle mal angefangen! Hauen Sie ab!«
»Für den Fall, daß…«, setzte Bindig wieder an. Aber Timm winkte mit der Hand ab.
»Morgen früh. Vorher werden Sie hier nicht gebraucht.« Mit einem Male wurde er wieder ernst und sagte: »Sie sind übermorgen mit dabei. Bereiten Sie sich darauf vor. Nutzen Sie die Zeit. Morgen gibt es keinen Nachturlaub mehr.«
»Jawohl«, sagte Bindig heiser, »danke, Herr Unteroffizier.«
Als er gegangen war, trat Timm ans Fenster und sah ihm nach. Es war noch eine Scheibe in dem Fenster, und die war viermal gesprungen. Timm preßte das Gesicht an das Glas und blickte hinaus. Er sah Bindig die Dorfstraße entlanggehen.
Als er verschwunden war, zündete sich Timm nachdenklich eine Zigarette an. Er blies den Rauch in die stickige Luft des überheizten Raumes und sagte halblaut: »Bindig…« Er erinnerte sich an die Nacht, als er durch das Fenster in das Bahnwärterhäuschen gesehen hatte. Er sah Bindig und Zado durch die Tür eintreten, mit ihren geschwärzten Gesichtern, die Russenmäntel an und die Pelzmützen auf den Helmen. Er hörte die Schüsse, und dann sagte er: »Zwei Millionen Soldaten, die so sind wie dieser Bindig, und der Krieg wäre gewonnen. Kalt wie eine Hundeschnauze und rot im Gesicht, wenn man deutsch von einer Frau redet. Das ist Material. Zwei Millionen davon…«
Bindig trug die Scheibe, die Anna aus einem der zerstörten Häuser genommen hatte, nach dem Gehöft. Er sprach nicht viel. Er ging nur neben ihr her und sah sie zuweilen an.
Dann half er Jakob, die Scheibe zurechtzuschneiden und einzusetzen. Der taubstumme, schwachsinnige Knecht hatte irgendwo ein Taschenmesser mit einem Stahlrädchen aufgetrieben. Er schnitt die Scheibe mit viel Geschick, nachdem er die Scherben der alten aus dem Rahmen entfernt hatte. Schließlich paßte er sie ein, und dann brachte er aus dem Schuppen ein paar schmale Leisten und eine Säge herbei. Die Scheibe mußte mit Leisten befestigt werden, weil kein Kitt aufzutreiben war. Bindig ging ihm zur Hand, und insgeheim bewunderte er die Geschicklichkeit des Mannes. Sie setzten den Fensterrahmen wieder ein, als es schon dämmerte. Anna zündete den Docht der Petroleumlampe an und zog die schweren, dunklen Vorhänge zu, damit kein Lichtstrahl nach draußen drang. Dann kümmerte Jakob sich um das Vieh, und sie half ihm, es zu füttern. Aber sie ließ es nicht zu, daß Bindig mit in den Stall ging, um zu helfen. Sie bat ihn, in der Küche zu bleiben und auf das Essen zu achten, das auf dem Herd stand.
Es dauerte lange, bis die beiden aus dem Stall zurückkamen. Bindig sagte nichts, als sie Jakob zuerst zu essen gab und ihn bat, sich ein wenig zu gedulden. Der Knecht löffelte mit einem seltsam ernsten Gesicht seine Suppe. Es war nicht sein übliches Gesicht, jene ewig grinsende, idiotische Grimasse. Anna hantierte schweigend mit dem Geschirr. Sie schnitt Brot für Jakob ab. Es war flaches, schwärzliches Brot, selbstgebacken aus Mehl, das nichts taugte. Aber es war Brot, und die Frau behandelte es wie ein Heiligtum. Der Knecht aß wenig. Er erhob sich bald vom Tisch und begab sich in seine Kammer über der Küche. Er grinste Bindig an, als er sich vom Tisch erhob, und bewegte ein paarmal den Kopf hin und her, aber er hatte bereits in der Tür wieder ein ernstes, fremdes Gesicht. Bindig beobachtete diesen Wechsel interessiert. Er gab sich Mühe, es nicht merken zu lassen, aber die Frau mußte seinen Blick aufgefangen haben. Sie sagte schnell: »Er ist müde heute. Es hat viel Arbeit gegeben.«
Bindig nickte. Versonnen sah er der Frau zu, wie sie sich zwischen dem Herd und dem Tisch bewegte. Er war verwundert darüber, daß sie fast ununterbrochen sprach. Über irgendwelche belanglose Dinge, auf die er ebensolche belanglose Antworten gab. Damals, als er mit Zado bei ihr gewesen war, hatte Anna nur wenig gesprochen. Heute war sie anders, sie brachte es fertig, über eine Nichtigkeit zu lachen, und es war ein schönes, klangvolles Lachen, bei dem ihre Augen blitzten.
»Sie müssen sich noch einen Augenblick gedulden…«, bat sie ihn plötzlich. Als sie zurückkam, trug sie anstatt des Rockes und der Leinenbluse ein buntes Kleid. Sie hatte helle, durchbrochene Schuhe angezogen und ihr Haar sorgfältig zurückgekämmt. Sie sah aus wie ein junges Mädchen, das sich für den Sonntag geschmückt hat.
»Oh…«, sagte Bindig überrascht, »Sie sind…«
Sie kam auf ihn zu. Wieder wie ein junges Mädchen, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Sie drehte sich vor ihm und fragte mit seitwärts geneigtem Kopf: »Mein bestes Kleid. Gefällt es Ihnen?«
Er war sehr unsicher, als er sagte: »Ausgezeichnet… Sie müßten es jeden Tag tragen…«
Die Frau hatte ihn überrascht. Er wollte es nicht zeigen, aber sie wußte es selbst gut genug. Sie war ebenso unsicher wie er und verbarg ihre Unsicherheit hinter vielen nichtssagenden Worten, hinter ihrem klingenden Lachen und dem Glanz ihrer Augen. Sie verbarg ein Gefühl dahinter, das sie selbst noch nicht genau kannte. Es gelang ihr so gut, daß er schließlich sagte: »Sie sind eine Ver-wandlungskünstlerin! Ich habe nicht geglaubt, daß Sie überhaupt lachen können.«
Da ließ sie die Arme sinken und sagte leise, so wie sie sonst immer gesprochen hatte: »Wie lange habe ich keinen Gast gehabt, für den es gelohnt hätte, ein gutes Kleid anzuziehen…«
Er nickte. Dieses Dorf war ein totes Dorf. Das Leben in seinen Mauern war kein wirkliches Leben. Eines Tages würde es in Haselgarten nichts mehr geben als geschwärzte Mauerreste und Granattrichter. Er zweifelte nicht daran, und er mußte die Worte herauswürgen.
»Wenn der Krieg vorbei ist, dann werden Sie oft Gäste haben. Ich hoffe, daß ich dann auch einmal kommen darf…«
An der Wand über dem Küchenschrank hing eine alte, unansehnliche Kuckucksuhr. Ihre Zeiger hielten auf der achten Stunde. Die Klappe des Gehäuses öffnete sich, und der Kuckuck steckte achtmal seinen Kopf heraus; dabei gab es ein krächzendes, dem Kuckucksruf kaum ähnliches Geräusch.
Sie blickten beide nach der Uhr, und dann sagte Anna plötzlich: »Der Kuckuck hat gerufen. Es ist Zeit zum Essen! Wie lange dürfen Sie bleiben?«
»Ich…« Er stockte und überlegte schnell, bevor er weitersprach. Er sah das grinsende Gesicht Timms vor sich.
»Es ist bei uns nicht so genau«, sagte er, »ich habe Zeit. Wir sind…«
»Essen wir«, forderte ihn Anna auf. Sie trug die Speisen zum Tisch und setzte sich ihm dann gegenüber. Sie hatte Rauchfleisch mit Kraut gekocht. Als sie gegessen hatten, brachte die Frau eingemachte Kirschen auf den Tisch.
Sie streute Zucker darüber und sagte: »Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, daß Sie den Zucker brachten. Hoffentlich haben Sie keinen Ärger deshalb.«
»Was soll das schon für Ärger geben?« Er lachte. Sie sagte: »Jedenfalls danke ich Ihnen. Und eine Überraschung habe ich auch noch für uns…«
Es war mit einem Male so, als wäre er mit dieser Frau bereits seit Monaten bekannt. Als wären sie gute Freunde. Zunächst hatte Bindig das verwirrt, aber er überwand diese Verwirrung schnell.
Als Überraschung gab es eine Flasche Wein. Es war ein schwerer süßer Obstwein, und sie erzählte ihm, daß es früher im Dorf einen Bauern gegeben habe, der ihn selbst zog. Als Bindig ein Glas davon getrunken hatte, wußte er, daß dieser Wein gefährlicher war als der Genever, den sie gelegentlich bekamen. Er sagte ihr das, aber sie lachte nur. Sie füllte die Gläser aufs neue und trank ihm zu. Er merkte, wie ihre Bewegungen leichter, gelöster wurden. Sie hörte ihm zu, als er von dem Genever erzählte und davon, wie sie ihn in Holland auf die Fahrzeuge der Kompanie verladen hatten. Er erzählte von zu Hause und von der Kompanie. Von Zado und auch von der Geschichte mit dem Hindenburgbild.
»Er wird Ihnen zu Weihnachten keinen Urlaub geben. Und Ihr Mädchen wird umsonst warten«, sagte Anna.
Sie hob das Glas und trank. Sie setzte es ab, als er sagte: »Ich habe Weihnachten ohnehin keinen Urlaub zu beanspruchen. Und ein Mädchen habe ich auch nicht. Also wird niemand warten.«
»Kein Mädchen«, sagte die Frau nachdenklich, »warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Keine sehr schöne.«
»Sie haben schöne Hände. Gar nicht wie ein Soldat…«
Sie wich seinem Blick nicht aus. Sie sah ihn an. Aber es lag keine Herausforderung in ihrem Blick. Er war nachdenklich.
Ein wenig traurig, wie Bindig meinte.
»Ihr Mann ist im Krieg?« fragte er.
Eine Weile war es still. Dann schüttelte die Frau den Kopf.
»Ich habe keinen Mann mehr. Er ist tot. Gefallen, vor zwei Jahren.«
»Oh, verzeihen Sie, bitte…«
»Es ist nichts zu verzeihen«, sagte sie, »ich bin eine von den Frauen, die froh darüber sind, daß ihr Mann nicht mehr lebt.«
»Ich verstehe nicht. Warum?«
»Das ist auch eine lange Geschichte. Und ebenfalls keine sehr schöne. Schmeckt Ihnen der Wein?«
»Ausgezeichnet.«
»Dann trinken wir doch davon.«
Der Wein war anders als der Genever. Er machte keinen schweren Kopf. Er berauschte auf eine angenehme Art. Er ließ die Gedanken leichter fließen und die Lippen gesprächiger werden. Er ließ das Lachen aufklingen, und er brachte das Vergessen alles dessen, was um dieses Gehöft war, um das Haus, um die Stube, in der sie saßen.
»Morgen werde ich von Haselgarten weggehen«, sagte Bindig schließlich. Die Frau öffnete den Mund ein wenig. Ihre Frage klang beklommen. »Warum? Wohin?«
»Ich bin Soldat«, sagte er, »ich gehe morgen zum Einsatz.«
Die Frau blickte auf ihre Hände. Er hörte sie leise fragen: »Wie lange wird das sein? Lange?«
Er bewegte leicht die Schultern. Der Wein funkelte in den Gläsern. »Ich weiß nicht, vielleicht nur ein paar Tage. Wenn ich nach ein paar Tagen nicht zurück bin, werde ich nicht mehr kommen.«
»Das soll heißen…«
»Ja«, sagte er. »Genau das.«
»Sie müssen wieder hinter die russische Front?«
Er nickte. Warum sollte er es ihr nicht sagen? Sie war lange genug im Dorf und wußte, daß die Kompanie aus Fallschirmjägern bestand. Das übrige konnte sie sich denken, Und außerdem hatte ihr Zado bereits damals, als sie bei ihr waren, gesagt, was für eine Art von Soldaten sie waren.
»Es ist grausam…«, hörte er sie sagen. »Man sitzt sich gegenüber und weiß nicht, ob man sich noch einmal sieht. Es ist, als hätten die Menschen vergessen, wie kostbar das Leben ist…«
Er trank hastig von dem Wein. Die Frau hob auch ihr Glas, aber sie trank diesmal nur wenig.
»Es hilft alles nichts« versuchte er sie aufzumuntern.
»Schließlich ist kein anderer da, der es uns abnimmt. Wir sind ganz allein dazu da…«
Der Kuckuck krächzte wieder. Er zeigte die zehnte Stunde an. Sie aßen und tranken. Manchmal sprachen sie über irgendeine Belanglosigkeit. Dann wieder saßen sie nur still, und einer sah den anderen an, den Blick verschämt abwendend, wenn er sich mit dem des anderen traf.
Als die Frau sich einmal erhob und den Fenstervorhang beiseite schob, sagte sie leise: »Es schneit. Das ist der Winter.«
Bindig trat neben sie. Er duckte sich ein wenig, um unter ihrem erhobenen Arm hindurch, der den Vorhang hielt, hinausblicken Zu können. Er berührte sie dabei. Er warf nur einen schnellen Blick auf die Schneeflocken, die im Lichtschein, der aus dem Fenster fiel, durcheinander wirbelten. Er hatte gehofft, daß der erste Schnee noch ein wenig auf sich warten lassen würde. Einen Augenblick lang überlegte er, daß sie beim kommenden Einsatz Schneehemden tragen müßten. Es würde kalt sein. Und es gab Dinge, bei denen man die wärmenden Handschuhe würde ausziehen müssen.
Während er noch immer staunend spürte, daß die Frau seiner Berührung nicht auswich, hörte er sie sagen: »Wirst du zurückkommen?« Sie sagte es sehr leise, und er verstand sie zuerst nicht. Er dachte über das »Du« nach, mit dem sie ihn anredete. Aber dann begriff er, daß sie hier in diesem Augenblick gar nichts anderes sagen konnte. Eine Frau, dachte er, und sekundenlang war er unschlüssig, was er nun tun sollte. Er hörte ihren Atem. Er spürte ihn im Nacken. Seine Schulter berührte noch immer leicht ihren Arm, der den Vorhang hielt. Die Flocken vor dem Fenster tanzten einen verwirrenden Reigen im matten Lichtschein. Das ist der Winter, dachte Bindig. Dann drehte er sich plötzlich um und sah sie an.
»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte sie. Ihre Augen waren groß und dunkel. Sie blickte auf seinen Mund, nicht in seine Augen.
Er machte eine kleine Bewegung auf sie zu, aber sie wich ihm nicht aus.
»Ja«, sagte er langsam, »du hast mich gefragt, ob ich wiederkomme. Ich weiß das nicht.«
Die Frau ließ die Arme sinken. Er sah über sie hinweg, auf den Tisch, wo die Gläser standen. Dann legte er ihr zögernd die Hände auf die Schultern und zog sie an sich.
»Wie kann ich wissen, ob ich wiederkomme?« fragte er. Die Augen der Frau waren ganz nahe. Aber es war, als seien sie gar nicht so dicht vor ihm, als atme da nicht dieser halbgeöffnete Mund mit den vollen Lippen. So, als wäre alles unendlich weit entfernt und unerreichbar.
»Gut…«, sagte sie schließlich. »Aber ich mußte es dir trotzdem sagen, daß ich dich wiedersehen will…«
»Wiedersehen?« wiederholte er.
»Ja.« Sie war ihm mit einemmal ganz nahe. Sie drängte sich an ihn, und er spürte ihre Wärme. In ihrem Atem war noch der Wein, den sie getrunken hatte. Sie sagte: »Ja. Wenn du morgen früh von mir fortgehst, dann will ich wissen, daß du wiederkommst.«
Er wollte sie mit einer wilden, ungestümen Bewegung an sich pressen. Aber es wurde nichts als ein sanfter, lange währender Kuß. Dann strich sie ihm das Haar zurück. Er spürte noch den Geschmack ihrer Lippen, als er sagte: »Ich kann mich jetzt ganz deutlich daran erinnern, wie ich dich zum erstenmal sah…«
Sie legte ihm den Finger auf den Mund.
»Still…« Als er verstummte, sagte sie nachdenklich: »Wie jung bist du. So jung – und viel zu schade für das alles, was sie mit dir machen…«
Er begriff sie nicht. Aber es war, als sei mit einem Male irgendein geheimer Mechanismus in ihm in Gang gesetzt worden. Er spürte wieder, daß er Sehnen besaß und Muskeln, und er spürte auch, daß sie gehärtet waren von den Bodenrollen und Klimmzügen, vom Aufprall auf der Matte unter dem Sprungturm und vom Ruck der Leinen, wenn der Schirm sich öffnete. Vom Kriechen auf dem gefrorenen Boden und von jenem klammernden Griff der Hände, die die Maschinenpistole gepackt hielten oder das Messer. Er spürte mit einem Male eine unbändige Kraft, und er nahm die Frau und hob sie auf seine Arme.
Sie wollte ihm Einhalt gebieten, aber es war nur eine schwache Geste. Sie wies auf den Tisch mit den Gläsern.
»Laß mich das abräumen, du…«
Er lachte nur, während er sie quer durch die Küche trug. Er hatte alles vergessen, was um dieses Haus herum war, was morgen und übermorgen sein würde. Mit der Schulter stieß er die Küchentür auf. Er wußte nicht, wo die Schlafkammer lag. Aber er brauchte nicht danach zu fragen; sie flüsterte es ihm zu.
Die Kälte kroch durch die Ritzen der Fenster. Die Kammer war ungeheizt, und eigentlich war es gar keine Kammer, sondern ein geräumiges Zimmer. Es war nicht ganz dunkel, denn die beiden Fenster waren nicht verhängt, und von draußen fiel ein Schimmer von jener Helligkeit herein, die der Schnee verursachte. Wenn Bindig sich bewegte, spürte er den Körper der Frau. Sie lag so dicht an ihn geschmiegt, daß er ihren Atem hören konnte. Die Frau lag still, mit offenen Augen. Sie hatte das Deckbett bis hoch über die Brust gezogen und die Arme darunter verborgen. Bindig ertrug das Deckbett nicht. Er hatte es abgestreift. Die trockene Kühle des Zimmers tat seinem Körper wohl.
»Du wirst dich erkälten«, sagte die Frau leise, »die Stube ist kalt…« Sie wollte seinen Körper bedecken, aber er hielt ihre Hand fest. »Mir ist nicht kalt.«
»Du wirst krank werden«, redete sie auf ihn ein. Sie richtete sich ein wenig auf und blickte ihm in die Augen. Er zog sie an sich und küßte sie.
»Nur noch ein paar Stunden…«, flüsterte sie. Er strich über ihren Körper, und trotz seiner zerschundenen Handflächen spürte er die weiche, warme Haut. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und wiederholte: »Nur noch ein paar Stunden…«
Es war, als wäre ihre Stimme meilenweit entfernt. Er hörte sie, wie er manchmal eine Stimme aus dem Radio des Funkwagens im Kopfhörer hörte. Aber die Frau war neben ihm. Sie lag leicht an ihn gelehnt, und er konnte den Hauch ihres Atems an seiner Brust spüren.
»Du…«, sagte er, »Anna, wie war das eigentlich? Morgen oder übermorgen werde ich denken, es sei alles nicht geschehen, und ich habe nie bei dir gelegen…«
»Es ist gut so«, sagte sie, »ich habe es gewollt, und du hast es gewollt. Es ist gut.«
»Willst du schlafen?« fragte er.
Sie antwortete nicht, und er sagte: »Vielleicht ist es das letztemal, daß wir beisammen sind. Wer weiß, was in den nächsten Tagen passiert…«
Sie sagte nichts. Aber sie brachte ihren Körper so nahe an den seinen, daß er spürte, wie sein Blut schneller zu pulsieren begann.
»Es ist eine gute Erinnerung«, sagte er langsam, »wenn ich morgen an dich denke, wird es eine gute Erinnerung sein. Ich habe nicht viele gute Erinnerungen, und vielleicht gehe ich diesmal drauf, dann ist wenigstens…«
»Still…«, rief sie leise. »Sei still davon. Es passiert dir nichts I«
Er lachte, aber es klang wenig heiter. »Ich mache nicht gerade einen Spaziergang. Und die Russen schießen nicht mit Erbsen…«
Er wußte selbst nicht, weshalb er das jetzt sagte, denn er hatte nie die Angewohnheit gehabt, vor einem Einsatz davon zu reden, daß es ihn erwischen könnte.
Anna, dachte er. Solche Gedanken kommen, wenn man plötzlich etwas entdeckt, um dessentwillen es sich lohnt zurückzukommen. Ich glaube, das kann einen zum Feigling machen.
Er sagte es ihr, und die Frau fragte nach einer Weile: »Warum müßt ihr nur immerzu Dinge tun, die keinen Sinn haben als höchstens den, euch zu töten?«
Es steckte noch alles in ihm, was sie ihm in der Schule eingebleut hatten und bei den Belehrungen in der Kompanie. Die Bilder aus den Illustrierten waren noch in seinem Kopf und das Geschwätz, für das die Rundfunkleute bezahlt wurden.
Er war lange genug mit Zado zusammen gewesen, hatte ein wenig von dessen Zynismus angenommen und sah alles etwas nackter, illusionsloser als früher. Aber Zados Zynismus hatte noch nicht viel mehr als ein paar wirre Striche auf der Karte seines Weltbildes gezogen.
»Es ist nichts sinnlos«, sprach er in die graue Dunkelheit hinein, »alles, was wir tun, hat einen Sinn. Wenn wir es nicht täten, dann würden die Russen Weihnachten in Berlin sein. Deshalb tun wir es. Es macht uns wenig Spaß, aber danach fragt uns keiner.«
»Ich weiß nicht«, sagte die Frau, »ich verstehe nichts davon. Nur so viel, daß alles nicht zu sein brauchte und du morgen früh bei mir bleiben könntest.«
»Es wäre schön. Aber es ist eben nicht so.«
»So seid ihr«, sagte sie, »Soldaten, weil es nicht anders geht. Weil ihr nicht den Mut habt, ihnen zu sagen, daß ihr keine sein wollt. Und als Ersatz für diesen Mut bildet ihr euch ein, es mache euch Spaß.«
Er überlegte eine Weile, dann sagte er leise: »Ich glaube, es gibt sehr wenige, denen es Spaß macht. Und ob du willst oder nicht: Es ist Krieg, und der wird so lange dauern, bis entweder wir oder die anderen gesiegt haben.«
»Er wird so lange dauern, wie ihn die führen, denen es eigentlich keinen Spaß macht, ihn zu führen«, sagte die Frau. »Solche wie du und der andere.«
»Wenn wir die Russen nicht aufhalten…«
»Willst du sie aufhalten?«
Er schwieg. Die Frau wartete auf seine Antwort, aber er betrachtete nachdenklich das Bett, in dem sie lagen. Es war ein Ehebett, und die linke Hälfte war zugedeckt. Hier hatte ihr Mann gelegen. Sie hatte ihm gesagt, daß er vor zwei Jahren gefallen wäre. Sonst nichts. Er strich leicht mit der Hand über die Steppdecke auf dem Bett des Mannes und fragte dann unvermittelt: »Ist er im Osten gefallen?«
Ihre Antwort klang abweisend. »Im Westen. In Paris.«
»Vor zwei Jahren?«
»Ja. Vor zwei Jahren.«
»Wie kann er denn vor zwei Jahren in Paris gefallen sein?«
Sie richtete sich ein wenig auf und sagte langsam: »Er ist überfahren worden. Tödlich.«
»Oh…«, sagte er. »Ich hätte dich nicht daran erinnern sollen.«
Aber die Frau schüttelte den Kopf. »Es tut mir nichts. Er war schon ein paar Jahre für mich tot, bevor ihn das Auto überfuhr. Er hat mich bis aufs Blut gequält. Und dann hat ihn in Paris das Auto überfahren. Ein Lastwagen mit Wein für ein Kasino. Ich habe es von einem erfahren, der dabei war. Er lag besoffen auf der Straße, und das Auto überfuhr ihn.«
Einen Augenblick lang schwieg er bestürzt, dann fragte er sie: »Er hat dich gequält, sagst du?«
»Ja. Ich werde es dir einmal erzählen, wenn du wiederkommst. Heute ist die Nacht nur noch kurz.«
Nach einer Weile sagte sie in die Stille hinein: »Sie schickten mir von seiner Kompanie einen schönen Brief. Mit ihrem Beileid und mit ihrem Trost. Er habe in treuer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland sein Leben geopfert. In Paris, unter einem Auto voller Wein. Besoffen auf der Straße liegend.«
»Verzeihung«, sagte Bindig nochmals, »ich wollte dich wirklich nicht daran erinnern…«
Aber sie lachte leise. »Laß… es schmerzt nicht. Er starb als Held!«
Bindig sagte nichts mehr. Anna war eine von den vielen Frauen, die eine unglückliche Ehe geführt hatten. Das erklärte vieles. Man brauchte nicht weiter danach zu fragen, es gab hunderterlei Varianten solcher Ehen. Er hatte immer angenommen, daß es das nur in den Städten gäbe, aber das war offenbar Unsinn.
Es schien, als ob der Dämmer in der Stube um einen winzigen Schein heller geworden sei. Es ging auf den Morgen zu. Bindig sah es, als er einen verstohlenen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk tat. Aber die Frau hatte den Blick bemerkt. Sie richtete sich ein wenig auf, bis sie ihm voll ins Gesicht blicken konnte.
»Bist du ungeduldig? Möchtest du schon lieber wieder bei deinem Unteroffizier sein?«
Er antwortete nicht.
»Es wäre möglich…«, sagte sie leise, »dann werde ich dich nicht halten.«
»Hör zu…«, bat er sie nach einer Weile, »ich glaube, du bist der einzige Mensch, der mich halten kann. Du bist das einzige, was mich interessiert. Ich kann mich nicht erinnern, daß es das oft gegeben hat…«
Sie ließ die Finger über die Adern an seinem Hals gleiten. Er spürte die leise Berührung, und er sah dabei ihr Gesicht, und es erregte ihn. Ihre Augen waren dunkel und glänzend, und das aufgelöste Haar bedeckte in langen, gewundenen Strähnen ihre vollen, weißschimmernden Brüste. Seine Augen tasteten die weichen Linien ihres Körpers ab. Er fand sie schön und kraftvoll, verlockend und mütterlich zugleich. Alles an ihr war wie aus einer Form gegossen. Das Gesicht und die Linie des Halses, die Brüste und die Muskeln an ihren Oberarmen, die Rundungen ihrer Hüften, ja überhaupt alles, gleich, ob es der Klang ihrer Stimme oder die Bewegungen ihrer Glieder waren, das Lächeln um ihre Mundwinkel oder das Spiel ihrer Finger, wenn sie ihm das Haar zurückstrich.
»Ich weiß es nicht genau, ob ich mich wirklich in dich verliebt habe«, sagte die Frau ganz nahe an seinem Ohr. »Ich glaube es, aber ich weiß es nicht genau. Die Zeit wird das beweisen…«
»Die Zeit…«, sagte er und griff nach ihr, »die Zeit und du, das paßt nicht zusammen. Die Zeit bin ich. Und ich bin heute zum letztenmal bei dir. Wer weiß, für wie lange.«
»Zum erstenmal…«, hörte er die Frau flüstern, »und es geschieht dir nichts…«
Es war eine Phrase, obwohl sie in diesem Augenblick nichts sehnlicher wünschte als das, was diese abgedroschene Phrase ausdrücken sollte. Aber sie sprach nicht zu Ende. Sie spürte seinen Mund und seinen Körper. Sie spürte seine Hände und seinen Atem. Hinter dem Schleier aus fallendem Schnee vor dem Fenster begannen die Sterne zu tanzen.
Sie flackerten auf und verloschen, zogen glitzernde Kurven und verwirrende Bahnen. Es war, als sei der ganze Himmel in Bewegung geraten, als tanzten die Gestirne ungezügelt und wild plötzlich den sinnverwirrenden Rhythmus, den ein Mensch nur selten, meist in ganz jungen Jahren wahrnimmt.
Sie dachte: Es ist Irrsinn, kein Stern ist zu sehen! Es schneit, und der Himmel hängt voller Schneewolken. Aber der Tanz der Gestirne nahm kein Ende. Und dann schmolz alles, was um sie und ihn herum war, zusammen und begrub sie, das Bett und das Zimmer, das Haus und das ganze Gehöft und die eingeschneite Erde, die ganz leise bebte. Ein paar Kilometer östlich hatte eine Batterie früher zu schießen begonnen als sonst.
Als er sich am Morgen bei Timm zurückmeldete, empfing der ihn mit dem sachlichen Hinweis: »Laß dir vom Sani eine Protargolspritze geben.«
Das Gesicht Bindigs mußte keinen sehr zustimmenden Eindruck gemacht haben, denn Timm riet ihm: »Na klar, und nimm dir gleich eine Rolle von den roten Tabletten mit. Oder willst du mir erzählen, daß du die ganze Nacht Gewehr über vorm Hoftor gestanden hast?«
»Nein«, gab Bindig gereizt zurück, »ich habe mit dem Taubstummen Domino gespielt.«
»Hoffentlich nicht zu oft hintereinander« grinste Timm gemütlich. Dann erklärte er einigermaßen ernst: »Ich glaube, wir müssen diesmal einen dicken Hund schlachten. Der Chef fährt mit zur Übung. Und fünfzehn Mann.«
»Fünfzehn Mann…«, wiederholte Bindig gedankenlos. Er dachte an Anna. Er hätte Timm ins Gesicht spucken mögen. Aber er kannte Timm und wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich gegen ihn aufzulehnen. Timm befehligte diese Kompanie. Und wer von Timm in die Hölle geschickt wurde, der kam nicht zurück.
Als Timm ihm sagte, daß der Wagen sie in einer Stunde nach dem Übungsgelände fahren würde, fiel Bindig ein, daß er seine Ausrüstung noch nicht gepackt hatte.
Er beendete sein Gespräch mit dem Unteroffizier und lief in sein Quartier, wo er Zado antraf, der damit beschäftigt war, eine Büchse Marmelade auszulöffeln.
»He…«, murmelte Zado mit vollem Munde, »ich dachte schon, du wolltest mit der Straßenbahn nachkommen!«
»Eigentlich wollte ich das auch«, sagte Bindig, »aber mein Fahrschein war abgelaufen. Hat es was zum Frühstück gegeben?«
In seiner Ecke kauerte der Obergefreite, der an diesem Morgen nüchtern war. Er hatte ein mißmutiges Gesicht und leerte den Inhalt seiner Taschen auf seine Lagerstatt. Aus dem Häufchen von Briefen, Fotografien, Geld, Bleistiftstummeln und anderem Kram wählte er schließlich nur eine flache Pappschachtel mit drei Präservativen aus und verstaute sie in der Kombination. Dabei sagte er zu Zado mit einem Blinzeln: »Falls wir doch mal auf die Weiber stoßen, die sich die Russen eingefangen haben… Die freuen sich vielleicht, wenn sie für eine halbe Stunde wieder einen Landsmann im Bett haben!«
Zado schluckte. »Du bist eben ein praktischer Mensch«, sagte er. »Aber du solltest die Geburtsurkunde mitnehmen, für den Fall, daß du eine findest, die du gleich heiraten möchtest.«
Soldbuch…, überlegte der Obergefreite. Er nahm Zado ernst.
»Soldbuch ginge auch. Aber das müssen wir ja abgeben…« Er machte einen betrübten Eindruck, und Bindig holte tief Luft, während er dem Wortwechsel zuhörte.
»Vielleicht geht’s auch mit der Erkennungsmarke«, meinte Zado.
Da knallte Bindig wütend seine Mütze auf den roh zusammengezimmerten Tisch. »Verflucht, hat’s nun was zu essen gegeben oder nicht?«
Zado blieb ein paar Sekunden still auf seinem Strohsack hocken, den Löffel voll Marmelade unbewegt in der Hand. Dabei überzog sich sein Gesicht langsam mit einem breiten, gemütlichen Grinsen, und um seine Adlernase bildeten sich unzählige Falten. Schließlich steckte er den Löffel in die Büchse zurück und erhob sich. Dabei sagte er: »Zuerst die Straßenbahn verpassen und dann die anderen anscheißen. Hat dir denn die Anna nichts zu essen gegeben?«
»Woher weißt du, daß ich bei Anna war?«
»Von wem wußte denn Timm das?«
»Von mir.«
»Aha«, grunzte Zado, »und ich weiß es von ihm. Aber außerdem habe ich es dir angesehen. Hast du wirklich Hunger?«
»Ja«, sagte Bindig. »Ich…«
Zado ging nach der Kiste, in der sie die Verpflegung aufbewahrten. Der Obergefreite sagte erst jetzt verschlafen zu Bindig: »Brüll doch nicht so!«
Zado brachte ein Brot und eine Büchse Butter zum Vorschein. Weiter holte er eine Büchse Marmelade hervor, eine vierkantige, harte Wurst und ein Päckchen Kekse.
»Eigentlich sollen wir das mitnehmen«, sagte er dabei, »es gibt nichts zu Mittag. Die Zigaretten und die Schokolade liegen unter deiner Kombi.«
Bindig fröstelte, während er sich umzog. Die neue Wäsche war feucht. Es war schlappes, grünes Zeug, angeblich mit einer Tinktur gegen Läuse behandelt. Aber man wußte, daß sich die Läuse sehr gern darin aufhielten. Während er in der Unterwäsche dastand, bestrich er mechanisch ein Stück Brot mit Butter und biß von der Wurst ab. Er hörte Zado sprechen, aber er folgte seinen Worten nicht, denn das Gesicht Annas war ihm noch zu gegenwärtig. Er erinnerte sich an jede ihrer Bewegungen und an jeden Laut, den sie in der vergangenen Nacht von sich gegeben hatte. Es schien ihm, als sähe sie ihn fortwährend mit ihren großen, schimmernden Augen an, und dann hatte er das unbändige Verlangen, seine Hände zu öffnen und ihren vollen, weichen Körper zu umfassen.
Anna, dachte er, sie müßten mit dem ganzen Unsinn Schluß machen und mich nach Hause schicken. Dann würde ich sie mitnehmen. Aus mir wird kein Bauer, aber sie würde sich in der Stadt wohl fühlen. Ich würde eine Frau haben und vielleicht langsam alles vergessen. Aber es sieht nicht danach aus. Und überhaupt: Timm hat gesagt, wie haben einen dicken Hund zu schlachten. Wer weiß, ob ich das mit heiler Haut überstehe. Und wenn, dann fängt bei der Rückkehr schon wieder die Überlegung an, wie es beim nächstenmal ausgeht.
»Junge, Junge…«, hörte er Zado sagen, »wenn ich aus dieser ganzen Marmelade einen schönen Haufen mache, kann ein T 34 bis an den Turm drin versinken…«
Nebenan zerriß plötzlich die Salve einer Maschinenpistole die Stille. Der Obergefreite reagierte nicht darauf, und auch Zado quetschte nach einer Weile zwischen den von der Marmelade verklebten Zähnen hervor: »Wohl einer übergeschnappt… was?« Doch dann war Stimmengewirr auf der Straße, und eilige Schritte stapften durch den niedrigen Schnee.
Bindig konnte schnell noch die Schuhe zuschnüren und den Rock überwerfen. Dann hörte er Timm auf der Straße irgendeinen Befehl schreien und lief hinaus. Vor dem Nebenhaus standen ein paar Soldaten. Er fragte sie, was geschehen sei, aber sie deuteten nur mit einer Kopfbewegung nach dem Haus, ihn gleichsam auffordernd, selbst nachzusehen.
Es hielt ihn niemand auf. Auch Zado nicht, der hinter ihm war. Timm stand neben Alf in der Stube. Hinter ihnen, mit wütendem Gesicht, leise vor sich hin schimpfend, Paniczek, der das bunte Seidentuch in der Hand hielt, das er von dem unbekannten Mädchen aus Frankfurt geschickt bekommen hatte. Er hielt es vorsichtig an einem Zipfel zwischen den Fingerspitzen, denn es war über und über mit Blut und rötlichgelber Hirnmasse bespritzt. Auf den Dielen lag, ein wenig verkrümmt, der Körper des Oberkellners aus Stuttgart. Sein Kopf bestand nur noch aus dem Unterkiefer, an dem ein paar schlaffe Hautfetzen hingen. An einem Riegel des Fensters baumelte die Maschinenpistole. Der kleine Oberkellner hatte sich erschossen.
Timm drehte sich um und befahl: »Raus, los! Hier gibt’s nichts mehr zu sehen!«
Bindig ging hinter Zado her, und Paniczek folgte ihnen. Der Leutnant ging mit Timm zur Schreibstube. Er hatte das Soldbuch des Toten in der Hand und ein paar Briefe, die er in seinen Taschen gefunden hatte.
»Wie hat der das bloß fertig gekriegt?« Zado sah Paniczek an.
Der bewegte unmutig die Schultern, noch immer sein Seidentuch mit den Fingerspitzen hochhaltend. »Er hat den Strick am Abzug festgebunden.«
»Und?«
»Und… und… Strick am Abzug, anderes Ende am Fenster, Lauf in die Schnauze und mit beiden Händen angepackt und nach hinten umkippen lassen. Kann jeder Idiot!«
»Macht aber nicht jeder«, sagte Zado. »Muß seinen Grund gehabt haben!«
Paniczek sah ihn wütend an.
»Er konnte sich woanders erschießen. Nicht ausgerechnet bei meinem Tuch, was von dem Mädchen ist und ganz neu, noch nicht einmal am Hals gehabt, der Idiot!«
Es war wie immer in den letzten Stunden, bevor sie das Quartier verließen. Bindig kannte diesen Zustand und fürchtete ihn. Aber er wußte so gut wie Zado oder wie jeder andere, daß nichts dagegen zu tun war.
Eine seltsame Unrast packte ihn. Er war nicht imstande, zwei Minuten hintereinander das gleiche zu tun oder auch nur auf dem gleichen Fleck zu sitzen. Was er auch anfing, es mißlang ihm. Dazu kamen eine Anzahl körperlicher Übel. In der Magengegend erhob sich ein Gefühl der Leere. Der Herzschlag wurde fühlbar schneller und unregelmäßiger, die Glieder vollführten wie von selbst allerlei fahrige, nervöse Bewegungen, und die Haut sonderte kalten Schweiß ab. Das alles wurde an diesem Morgen noch verstärkt durch den Selbstmord des kleinen Oberkellners. Der sonst gerade noch erträgliche Brechreiz war mit einemmal unangenehm aufdringlich, und der unnatürliche Druck in den Därmen riß nicht ab.
Zado stocherte noch eine Weile mit dem Löffel in der Marmeladenbüchse herum. Aber der Heißhunger, den er zuweilen nach einer Süßigkeit verspürte, war mit einem Male einem Gefühl des Ekels und der Übelkeit gewichen.
»Es fängt gut an«, sagte er zu Bindig, als sie draußen hinter dem Haus über der Latrine hockten. »Wenn’s so weitergeht, kann Alf bald eine neue Kompanie zusammenstellen.«
Auf der Dorfstraße wurde gepfiffen, und dann rief Timm mit seiner blechernen Stimme: »Gruppen vier und sechs antreten!«
Vor dem Haus, in dem die Schreibstube untergebracht war, parkten ein Lastwagen und ein Schützenpanzer. Der Lastwagen war für die Mannschaften bestimmt, aber sie fanden nicht alle Platz. Es blieben ein halbes Dutzend übrig, unter ihnen auch Bindig und Zado.
Timm winkte ihnen: »Los… ’rein da!«
Er zeigte auf den Schützenpanzer, und sie stiegen ein. Es war das Fahrzeug für Alf, denn inzwischen war heller Tag, und wenn Tiefflieger kamen, gab es in dem flachen Gelände keine Deckung. Alf stieg als letzter ein. Er trug eine Kombination. Die meisten der Soldaten erblickten ihn zum ersten Male darin.
Als sie eine Weile gefahren waren, sagte Zado zu Timm; »Wer wird jetzt die Sprengladungen anlegen, Herr Unteroffizier?«
Timm gab nicht gleich Antwort, aber an seiner Stelle sagte Alf: »Ein anderer wird sie legen.«
»Jawohl, Herr Leutnant«, sagte Zado, »aber ob der ihn ersetzen kann? Vom Sprengen verstand der Kleine nämlich verdammt viel…«
»Unsinn!« Alf machte eine nachlässige Handbewegung. »Jeder einzelne ist zu ersetzen. In der deutschen Wehrmacht gibt es keinen Menschen, der nicht morgen ersetzt werden kann, wenn er heute fällt.«
»Jawohl, Herr Leutnant«, sagte Zado, und nach einer Weile nochmals: »Jawohl, das stimmt.«
Dann sah er Bindig an, und Bindig sah ihn an, und schließlich starrten sie beide auf die geriffelten Stahlplatten des Bodenbelages und schwiegen.