Die Stunde der Wölfe

Wenn Timm den Kopf um ein paar Zentimeter hob, konnte er sehen, wie Zado auf die Mühle zuschlich. Da war ein Graben, an dessen Seite eine Reihe Büsche stand. Die Büsche hatten den Schnee abgefangen und zu einer Wehe aufgetürmt, hinter der sich Zado verbergen konnte. Timm sah ihn undeutlich, denn Zado hatte noch immer das Schneehemd an, und manchmal verschmolz das beschmutzte Weiß des Schneehemds völlig mit dem Schnee des Grabens.

Es war ein weiter Weg, aber Zado kroch unentwegt vorwärts. Er schien keine Müdigkeit zu kennen. Sie waren jetzt zwei Tage unterwegs, ohne zu schlafen und zu essen, aber Zado war außer dem bärtigen Gesicht nichts anzumerken.

Während Timm sich aufrichtete, um den Vorwärtskriechenden besser beobachten zu können, schmerzte seine Schulter wieder. Die Kugel mußte den Knochen zerschmettert haben. Timms linker Arm hing in einer Schlaufe, die Zado aus einem Streifen des Schneehemds geknüpft hatte. Er versuchte nicht, ihn zu bewegen, auch nicht die Finger, denn er wußte, daß dann der Schmerz unerträglich wurde. Wenn ich nicht spätestens morgen in ein Lazarett komme, dachte er, dann kriege ich den Brand in die Wunde. Das ist das Ende. Er zog die Beine näher an den Körper und lagerte sich etwas bequemer. Er hatte noch die Maschinenpistole, und er konnte sie zur Not mit der einen Hand bedienen. Er legte sie in die Astgabel vor sich und dachte daran, wie die Panzer auf dem Holzplatz ankamen.

Es war mit der Sprengung nicht so schnell gegangen, wie es vorgesehen war. Zuerst hatten sie den Mann suchen müssen, der an der Zündung saß. Sie fanden ihn mit heruntergelassenen Hosen hinter einem Baumstumpf und trieben ihn zu seinem Zündmechanismus. Aber irgendeiner von den anderen hatte eins der Kabel beschädigt, und die Zündung funktionierte nicht. Der Mann band sich die Hosen fest und lief auf den Holzplatz hinaus, während die anderen sich im Wald verkrochen und Timm den Befehl erteilte, daß sich jeder selbst in Sicherheit bringen und die Front zu Fuß überqueren solle. Dann hockte er sich selbst an die Zündanlage und drehte ohne Erfolg ein paarmal an dem Griff, während der Soldat auf dem Platz noch immer die Unterbrechung im Kabel suchte. Er fand sie in dem Augenblick, als Zado über die Lichtung gerannt kam. Er kam aus dem Waldweg, von dort, wo sie die Fahrer aus den Wagen gezerrt hatten, und Timm rief ihn an. Auf der Straße waren die Geräusche der Panzer zu hören.

Zado ließ sich neben Timm fallen, und Timm sagte hastig: »Los, fort! Sieh zu, wie du durchkommst!« Aber in diesem Augenblick preßte der Soldat auf dem Holzplatz die beiden Enden des zerrissenen Drahtes aneinander, um sie wieder zu verbinden. Er wußte nicht, daß der Hebel an der Zündanlage eingeschaltet war. Die Explosion warf ihn in die Luft und zerriß ihn, bevor er einige Meter über dem Erdboden war. Sie schleuderte Timm mit dem Kopf gegen einen Baumstamm und warf Zado halb betäubt ins Unterholz. Als die beiden wieder zu sich kamen, erschien der erste Panzer auf dem Holzplatz und schoß eine Salve aus seinem Maschinengewehr in den gegenüberliegenden Waldrand. Timm preßte die Hand gegen die Schulter, als er getroffen wurde, und stolperte im Schatten der Bäume weiter. Immer hinter Zado her und immer an der Außenseite der Lichtung, auf der sich der Holzplatz befand, bis er im Rücken der Panzer war, an der Straße, ein paar hundert Meter jenseits der Abzweigung des Waldweges. Er sah die festgefahrenen Spuren auf der Straße und sah weit vor sich Zados Schatten verschwinden. Hinter ihm waren das Feuer und das Geknatter aus den Waffen der von den Panzern abgesessenen Soldaten, die den Wald durchkämmten. Er hörte das Sägen der Maschinenpistolen und das leise Zirpen, wenn die Geschosse in seiner Richtung flogen. Dazwischen die Detonationen der Handgranaten und die Kommandorufe, die Trillerpfeifen der Zugführer. Dann hörte er den Abschuß einer Panzerkanone und sah, daß die Straße vor ihm frei war. Er dachte: So weit du kannst, auf dieser Straße, und dann seitwärts verschwinden. Das ist die Chance! Und er lief.

Er merkte bald, wie das Feuer hinter ihm immer leiser wurde, aber er spürte auch, wie der Schmerz in dem zersplitterten Knochen zunahm. Als er eine Zeitlang gelaufen war, verfiel er in einen langsameren Schritt, und von nun an brachte er es nicht mehr fertig zu laufen. Wenn er einen schnellen Schritt machte, biß er sich auf die Lippen. Er sah Zado nicht mehr vor sich. Aber Zado sah ihn.

Zado hockte in einem Fichtengestrüpp und beobachtete, wie Timm mit weichen, nicht mehr sicheren Schritten auf ihn zukam. Als er an ihm vorüberging, rief er ihn an. Sie krochen hintereinander weiter in das Gestrüpp hinein und waren bald außer Hörweite der Straße. Sie kamen nur langsam vorwärts, aber sie krochen keuchend weiter, bis sie keinen Laut mehr vernehmen konnten, weder die Schüsse am Holzplatz noch ein Fahrzeug, das auf der Straße vorbeifuhr.

Da sagte Zado: »Ich glaube, wir haben sie abgehängt.«

Timm ließ sich schwer atmend, mit dem Rücken an eine Fichte gelehnt, nieder. »War Zeit«, quetschte er heraus. »Es hat genau noch bis hierher gereicht.«

Zado griff nach der Kognakflasche in der Knietasche. Er trank und reichte Timm die Flasche. Dabei beugte er sich ein wenig zu ihm herüber und sah, daß der Unteroffizier verwundet war.

Als er ihn verbunden hatte, nahm er einen weiteren Schluck und sagte: »Wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich dich vorbeilaufen lassen. Es kommt nichts dabei heraus, wenn man mit einem halben Krüppel zusammen zu türmen versucht.«

Timm sah ihn an, aber er sagte nichts. Sie hockten und lauschten und warteten darauf, daß ihr Pulsschlag sich beruhige.

»In diese Richtung sind sie gar nicht gekommen«, sagte Timm langsam, nachdem er lange Zeit stillgesessen hatte, »sie haben nicht damit gerechnet, daß einer um den Holzplatz herum auf die Straße zuläuft. Ich denke, jetzt werden sie langsam alle haben…«

Es klang ängstlich. So als fürchte er, die Suche konnte sich auch noch auf die Gegend erstrecken, in der sie sich aufhielten.

»Alle, außer Timm und Zado«, brummte Zado. »Wie kam das überhaupt? Welcher Idiot ist daran schuld?« Er schüttelte den Kopf, als er hörte, wie es zugegangen war.

Es war eine Weile still. Sie lauschten beide, aber es war um sie herum nichts zu hören. Dann wischte Zado den Schnee vom Lauf seiner Maschinenpistole und sagte nachdenklich: »War Bindig nicht jenseits der Straße?«

Timm nickte.

»Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, daß sie ihn erwischt haben…«, sagte Zado.

»Ob wir eine Zigarette rauchen?« fragte Timm. Zado bewegte gleichgültig die Schultern. Dabei sagte er: »Sie kriegen uns so und so, ob wir rauchen oder nicht.« Er zog eine Zigarette heraus und steckte sie an. Während er Timm das brennende Zündholz hinhielt, fragte er: »Kannst du noch laufen?«

»Ja, ich kann.«

»Wie lange?«

»Bis ich umfalle«, antwortete Timm, »hier bleibe ich jedenfalls nicht.«

Zado zog seine Landkarte aus der Tasche. Er schlug sie auf und fuhr mit dem Finger über das Papier. Er konnte die Schrift nicht lesen, denn durch die dichtbeschneiten Äste fiel nur ein schwacher Schein Mondlicht.

»Und wann wirst du umfallen?« fragte er gleichmütig. »Wir haben drei Tage zu laufen, bis wir in der Nähe der Front sind.«

Er suchte auf der Karte, und dabei beugte er sich tief über das Papier, um besser sehen zu können. Schließlich fand er die Straße, und dann stellte er Berechnungen an, wie weit sie bereits nach Westen gekommen waren. Er merkte, daß seine Finger, die die Karte hielten, zitterten. Aber er zwang sich dazu, nicht an das zu denken, was auf dem Holzplatz geschehen war, auch nicht daran, daß jeden Augenblick eine Streife diesen Teil des Waldes durchkämmen konnte. Er suchte so lange, bis er glaubte, sich zurechtzufinden, und entdeckte dabei gleichzeitig, daß es einen Fluchtweg gab, der einigermaßen aussichtsreich erschien. Aber er war weit, und wer konnte wissen, wie lange Timm durchhielt?

Dieser Timm, dachte er, man wird ihn mit einer Zaunlatte erschlagen müssen, sonst stirbt er nie. Wenn wir zurückkommen, gibt es außer mir keinen mehr, der mit ihm zusammen angefangen hat. Aber ob wir zurückkommen? – Er kniff die Augen zusammen und stierte auf die Karte. Dieses verfluchte Land, dachte er, es hat zu viele Schlupfwinkel. Für uns, aber auch für die anderen. Und in jedem dieser Schlupfwinkel steckt etwas anderes. Da ein Munitionslager, dort ein Fahrzeugpark, da Panzer und dort Stalinorgeln.

Es gibt hier mehr Bereitstellungen als Bäume. Und wir zwei wollen durchkommen. Das ist eine Sache, die keine Aussicht hat. Aber wir müssen es versuchen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.

»Los!« sagte er rauh zu Timm. »Mach dich auf, wir wollen weiter. Hier wird es in einer halben Stunde von Patrouillen wimmeln!«

Timm hielt sich überraschend gut. Er ließ nicht merken, daß es ihm schwerfiel au laufen. Aber manchmal sah Zado, daß er die Lippen zwischen die Zähne gezogen hatte. Zado führte, und sie schlichen nach Westen aus dem Wald heraus. Es war gegen Morgen, als sie eine buschbewachsene Ebene erreichten, auf der sich nur in sehr großen Abständen ein paar Baumgruppen befanden. Zado starrte in die Dämmerung und versuchte zu erkennen, ob in dem Gelände vor ihnen Menschen waren. Es war nichts zu sehen und kein Laut zu hören. Der Schnee vor ihnen war unberührt, aber sie konnten nicht weit sehen.

»Gehen wir…«, schlug Timm vor.

Zado hielt ihn zurück. Diese Ebene hatte ihre Tücken, und sie würden sich erst zeigen, wenn es genug Licht gab, alles zu erkennen.

»Mir ist nicht wohl«, sagte Zado und sah auf den braunen Mantel, der unter dem weißen Umhang hervorsah. »In diesen Sachen ist mir nicht wohl. Ich komme mir nicht mehr wie ein Soldat vor.«

»Aber es hat sie ein halbes Dutzend Fahrzeuge gekostet«, sagte Timm, »und das ist auch was.«

Zado blickte eine Weile geradeaus, als suche er etwas im Morgendunst. Dann sagte er: »Glaubst du noch im Ernst daran, daß ihnen das etwas schadet? Daß es sie aufhält?«

»Es bringt Durcheinander in ihr System«, sagte Timm. »Es war nicht die beste Aktion. Sie war nicht gut genug vorbereitet.«

»Ich weiß nicht«, sagte Zado zweifelnd, »ob das nur an der Vorbereitung gelegen hat. Ich glaube, diese ganze Art von Kriegführung hat nichts mehr mit Krieg zu tun und ist außerdem aussichtslos. Das ist es.«

Timm brannte sich eine Zigarette an. Er war so müde, daß er jeden Augenblick hätte umsinken können. Er spürte, daß aus der Wunde viel Blut gelaufen war. Es hatte seine Unterwäsche mit einer steifen Kruste versehen, die jetzt scheuerte. Mit dem Blut schien die Energie aus seinem Körper geflossen zu sein. Er zog an der Zigarette und sagte müde zu Zado: »Red nicht soviel Unsinn. Wenn wir zu Hause sind, wirst du dich nicht mehr gern daran erinnern. Laß uns erst mal drüben sein, dann wirst du sehen, wie es weitergeht. Im Frühjahr machen wir aus allem, was uns gegenüberliegt, Hackfleisch für die Konzentrationslager.«

Die Sonne schob sich sehe langsam im Osten über den Horizont. Die beiden Männer konnten sie nicht sehen, aber sie gewahrten den schwachen Schein, der über die Erde huschte, den fahlen Schimmer des Morgens auf dem Schnee. Weit lag die Ebene vor ihnen. Nichts als dickverschneites Buschland. Weiter hinten gab es wieder Seen, aber die waren nicht erkennbar. Zado erhob sich und beobachtete lange Zeit aufmerksam das Gelände. Seinem Auge entging keine Einzelheit, aber es gab auf dieser Ebene nichts, was den beiden Soldaten hätte gefährlich werden können. Sie lag weit von den Verkehrswegen ab, und die Dörfer waren hier nicht sehr dicht gestreut.

»Komm«, sagte Zado, »wir wollen nicht vom Frühjahr reden. Wir müssen jetzt ein paar Stunden ohne Deckung marschieren. Halt die Augen offen.«

Das war vor zwei Tagen gewesen. Zado erinnerte sich nicht mehr genau daran, denn er vergaß schnell, was sich in diesen angsterfüllten Stunden abspielte. Er achtete nicht darauf, er strebte nur mit der unglaublichen Energie eines Tieres vorwärts, dem einzigen Gedanken folgend, hinter die Hauptkampflinie zu gelangen, alles zu überstehen. Timm wußte, daß er ohne Zado niemals durch die Schützenlinie der Roten Armee kommen würde.

Diese Überlegung verlieh ihm Kräfte, die dazu ausreichten, sich Kilometer um Kilometer weiterzuschleppen, immer hinter Zado her, der wie ein Wolf auf der Fährte vorwärts trottete, mit den Augen argwöhnisch alles ringsum beobachtend.

Zado sah sofort, daß die Mühle unbesetzt war. Sie hatte leergeschlagene Fensterhöhlen an der einen Seite. Ein paar Granaten hatten sie getroffen. Sie schienen von Panzern zu stammen, die daran vorbeigefahren und sicherheitshalber einmal hineingeschosscn hatten. Zado sah einen Schwärm Krähen hinter der Mühle auf dem Schnee hocken. Er beobachtete sie eine Weile, dann kroch er weiter, die letzten paar Meter in dem angedeuteten Graben. Die Krähen blieben auf dem Schneefeld hocken. Sie wußten, daß in der Mühle kein Mensch wohnte, der sie hätte aufscheuchen können, und den herankriechenden Soldaten nahmen sie nicht wahr. Zado überquerte den Platz vor der Mühle gebückt, die Maschinenpistole schußbereit, wie eine Katze sich vorwärts bewegend. Seine Augen suchten das Mauerwerk ab, aber sie fanden keine Öffnung, durch die ihn jemand beobachtet hätte. Er verließ sich nicht auf Timm, der hinter den Büschen lag und ihn schützte. Er traute nur seinen eigenen Augen, seinem Instinkt, denn Timm stand nicht mehr fest auf den Beinen. Timm war ohne Energie, er war die letzten Kilometer hinter Zado hergewankt, der unbarmherzig ausgeschritten war, rücksichtslos. Hier an der Mühle war Timm nahe dem Zusammenbrechen gewesen. Er hat längst den Brand in der Wunde, dachte Zado, aber man kann nichts dagegen tun. Man kann ihn nur noch so weit mitschleppen, wie ihn seine Füße tragen, und wenn es vorbei ist, muß man ihn liegenlassen.

Hier gibt es keine andere Überlegung, hier muß sich der retten, der noch die Kraft dazu hat. Wer sie nicht hat, muß verrecken.

Zado lächelte grimmig in sich hinein. Du wirst krepieren, dachte er, und ich werde dich liegenlassen wie einen Hund. Denn ich werde durchkommen. Ich bin bis hierher gekommen und werde es die letzten Kilometer auch noch schaffen. Diesmal komme ich durch, nicht du, Timm. Der Gedanke daran, daß Timm es nicht schaffen würde, verlieh ihm eine große Befriedigung. Mit einem Satz sprang er durch eine Mauerlücke ins Innere der Mühle, sich dabei mit vorgestreckter Pistole einmal im Kreis drehend. Aber es war niemand da.

Er untersuchte das zerschossene, halb verfallene Gebäude bis zum Dach und fand manches, was darauf hindeutete, daß Soldaten hier gehaust hatten. Doch sie waren nicht mehr da. Sie hatten hier einen Haufen leerer Konservenbüchsen hinterlassen und dort ein Häufchen Exkremente, in einer Ecke eine zerrissene Zeltbahn und in einer anderen einen leergeschossenen MG-Gurt. Die Räume waren von den Granaten verwüstet. Balken hingen frei in der Luft, und stellenweise gähnten in den Dielen riesige Löcher. Als Zado sicher war, daß kein Lebewesen die Mühle bewohnte, schob er den Oberkörper durch ein Loch in der Mauer und winkte Timm. Der Unteroffizier erhob sich mühsam und kam auf die Mühle zu. Er ging gebückt, eine gebrochene Gestalt, deren Augen allein noch daran erinnerten, daß Leben und Bewußtsein in ihr waren.

»Hau dich hin«, sagte Zado zu ihm, als er sich durch die Lücke im Mauerwerk zwängte, »hau dich irgendwo hin und schlafe. Du siehst aus, als ob du schon gestorben wärst.«

Timm schüttelte den Kopf. Aber in seiner Gebärde war nicht mehr die alte Kraft. Aus seinen Augen glänzte das Fieber, und seine Bewegungen waren ohne Energie.

»Timm ist noch nicht tot«, sagte er, ohne die Zähne zu öffnen. »Mitternacht sind wir zu Hause. Dann werden sie mich schon wieder zurechtflicken.«

Zado warf die Maschinenpistole über die Schulter und wandte sich ab. Er sagte: »Ich krieche aufs Dach. Muß mir die Gegend genau ansehen, solange es noch hell ist. Hau dich solange hin, wir haben ein paar Stunden Zeit.«

Er ging, ohne sich weiter um den Unteroffizier zu kümmern. Er kletterte über die zertrümmerten Reste einer Stiege und gelangte in das obere Stockwerk. Ein kalter Zug kam durch die Lücken im Mauerwerk, die von den Granaten gerissen worden waren. Zado stieg weiter, eine schmale Leiter hinauf, die mit Kabeldraht geflickt war. In einer Ecke lag eine Rolle angekohltes Telefonkabel. Es war kein Stäubchen Mehl irgendwo zu entdecken, aber es roch noch immer nach dumpfigem Mehl. Es roch nach Staub und angekohltem Holz.

Als sich Zado durch die Luke auf das Dach zwängte, sah er im Südwesten das Dorf liegen. Er stemmte sich mit den Ellenbogen in die Luke und zog die Beine nach. Als er sicher saß, zog er die Karte hervor und rechnete.

Das war Haselgarten. Er erkannte es, obwohl er es zuvor nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Er war nie in dieser Mühle gewesen. Aber er erkannte das Dorf auf den ersten Blick, obwohl es sein Aussehen geändert hatte. Die Straße war mit Fahrzeugen vollgestopft, und von den Häusern stand nach dem letzten Artilleriefeuer nicht mehr viel. Es herrschte um das Dorf herum eine emsige Betriebsamkeit, die Zado beunruhigte. Über die Feldwege preschten Kolonnen mit kleinen, wendigen Gefechtsfahrzeugen. Im Schutz von Buschwerk lagerten Artillerieabteilungen. Panzer standen bewegungslos am Straßenrand, vollgepackt mit Gepäck und Munition, die die Mannschaften mit Stricken auf den Panzerplatten festgebunden hatten. Zado hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo sich gegenwärtig die Front befand. Er rechnete aus, wie weit sie noch zu laufen hatten. Es mochten einige Kilometer sein. Doch hier spürte man noch nichts von dieser Front. Vorn war eine unheimliche Ruhe eingezogen, hinter der dieses Leben pulsierte, das sich seinen Augen in Haselgarten bot. Er hatte ein unbehagliches Gefühl dabei, denn er wußte, daß diese Ruhe trügerisch war. Er wußte, daß sie beide die Front erreichen mußten, ehe diese Ruhe ihr Ende hatte, weil sich im gleichen Augenblick das Ziel ihres Marsches unweigerlich um viele Kilometer weiter nach Westen verschieben würde. Vielleicht so weit, daß sie nicht mehr imstande waren, es noch zu erreichen. Einen Augenblick lang fragte er sich: Warum machst du überhaupt diesen Weg? Warum bringst du es nicht übers Herz, Schluß zu machen? Du siehst, wie es endet, aber du läufst zurück. Dorthin, wo das Ende dich mit großer Wahrscheinlichkeit zerschmettern wird. Wozu das? Doch er konnte sich auch jetzt keine genaue Antwort darauf geben. Er wußte selbst nicht, ob er nur Angst hatte, so wie er war, in dieser Uniform, mit erhobenen Händen auf den nächsten Soldaten zuzugehen und zu sagen: »Ich mache Schluß!«, oder ob es daran lag, daß er mit einem Fünkchen Hoffnung noch darauf baute, daß das, was sich hier ankündigte, doch noch nicht das Ende sei und daß es ein anderes Ende geben würde. Eins von der Art, wie es die Frontzeitungen prophezeiten.

Er starrte unschlüssig auf die Karte in seiner Hand und dann wieder hinüber zur Straße, zum Dorf. Weitab von den anderen Häusern lag das Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte. Er erinnerte sich an sie, ohne sich danach zu fragen, was aus ihr geworden sei. Er beobachtete die Gegend um das Gehöft eine geraume Zeit und konnte dort niemanden entdecken. Es war ruhig um das Gehöft.

Überhaupt schien es in dieser Richtung eine Lücke zu geben. Zado rechnete wieder. Wenn sie den Weg über das Gehöft oder an dem Gehöft vorbei nahmen, konnten sie, am Rande einer großen Viehkoppel vorbei, immer seitlich des Waldes bis dahin gelangen, wo er die Front vermutete. Die Entfernung war ein wenig größer, aber der Weg schien Zado sicherer zu sein.

Er dachte darüber nach, ob Timm es schaffen würde, als weit hinten im Westen ein vereinzeltes Grollen aufstieg, dumpf und langsam verebbend, mit dem harten Schlußton der einschlagenden Granate.

Zuerst blickte Zado nicht auf. Aber das Grollen kam wieder. Es riß nicht mehr ab, und nach Minuten war es in ein dumpfes Gemurmel übergegangen, in dem Abschüsse und Einschläge verschmolzen.

Zado ließ die Karte sinken. Seine Augenlider zogen sich zu einem schmalen Schlitz zusammen. Sein Gesicht bekam wieder den alten raubvogelhaften Zug, der durch die in den letzten beiden Tagen eingefallenen Backen verstärkt wurde. Er horchte angestrengt und beobachtete, wie alles, was im Dorf und um das Dorf herum war, in Bewegung geriet. Auf der Straße wimmelte es von Soldaten, die die Fahrzeuge erkletterten, die Panzer ruckten an, Knäuel von Qualm aus den Auspuffrohren hinter sich lassend. Gespanne und Schlitten fuhren an, alle nach einem offenbar vorher genau festgelegten System. Und alle rollten auf der Landstraße, auf den Seitenwegen oder direkt über die verschneiten Felder westwärts, als hätte man einzig noch auf den Beginn des Artilleriefeuers gewartet.

Zado hörte ein Scharren unter sich. Timm stand an der Leiter und sah zu ihm hinauf. Er fragte mit den Augen, was draußen geschähe. Er hielt eine Panzerfaust in der Hand. Zado konnte sich nicht erklären, wo er sie gefunden hatte.

»Ein bißchen Feuer«, sagte Zado, »irgendwas ist los, aber ich weiß nicht was.«

»Unsere greifen an…«, sagte Timm heiser. Er hatte fiebrige, blutunterlaufene Augen. »Ich hab’s gewußt, daß unsere eines Tages angreifen. Sie kommen! Paß auf, was jetzt passiert!«

»Wo hast du die Panzerfaust her?« wollte Zado wissen. Der Unteroffizier strich leicht über das gelbgespritzte Rohr. Dann sagte er: »Sie ist scharf. Bloß das Visier hochklappen und aufs Knöpfchen drücken. Das kostet einen Panzer das Leben.«

»Und dir!« brummte Zado. »Wo hast du sie her?«

»Sie lag hinter der Mühle. Ich bin um die Mühle herumgegangen und habe sie im Schnee gefunden. Ich habe den Schnee abgewischt. Sie ist scharf…«

»Da vorn liegt Haselgarten«, sagte Zado, »ein paar Kilometer dahinter muß die Front sein. Dort, wo jetzt das Artilleriefeuer ist. Wirst du es bis dorthin schaffen?«

In Timms Augen leuchtete es auf. Er schob das Kinn vor, und dann sagte er leise: »Ich schaffe es. Seit ich die Geschütze höre, bin ich wieder ein Mensch. Unsere greifen an, ich habe es gewußt! Sie kommen uns entgegen, wir werden nur den halben Weg zu machen brauchen…«

Es dämmerte. Die Konturen der Bäume auf den Viehkoppeln verschwammen im Zwielicht. In der Ferne, dort, wo die Fahrzeuge verschwanden, die aus dem Dorf aufbrachen, stieg der blaugraue Dunst dieser Winterabende auf.

»Du machst mir Spaß«, sagte Zado, die Landkarte einsteckend, »weißt du überhaupt, wer da schießt? Weißt du, wer angreift? Wenn du gesehen hättest, was hier in der Gegend herumsteht, würdest du ganz still sein.«

»Sie kommen! Bloß du willst nicht, daß sie kommen! Ich glaube, du überlegst die ganze Zeit, wie du am bequemsten in Gefangenschaft gehen kannst«, sagte Timm lauernd. »Mach dir keine Illusionen, sie legen dich um, du hast ihre Uniform an. Damit kann man dir garantieren, daß sie dich umlegen. Du hast keine Chance, aber unsere Leute kommen jetzt. In einer Stunde werden sie vielleicht schon dasein…«

Zado musterte ihn wortlos ein paar Sekunden. Dann setzte er kurz entschlossen den Fuß auf die Leiter und forderte Timm auf: »Red keinen Unsinn zusammen. Leg dich in die Ecke und schlaf dich aus. Wenn es finster ist, marschieren wir. Ich verspreche dir feierlich, daß ich dich im nächsten Wald liegenlasse, wenn du nicht weiterkannst. Sie werden uns nicht entgegenkommen, wir müssen nach Westen gehen. Und nun nimm die Panzerfaust beiseite, ich habe keine Lust, mit dem Ding hochzugehen, wenn du aus Versehen auf den Knopf drückst!«

Das Feuer wurde stärker. Noch immer war nicht zu unterscheiden, ob es die Batterien der Roten Armee waren, die da feuerten, oder ob der Beschuß von der deutschen Seite kam. Aber nachdem die beiden Männer eine halbe Stunde wartend hinter den Mauern der Mühle gehockt hatten, hörten sie, wie das Feuer plötzlich anschwoll und zum Orkan wurde.

Timm horchte auf. Sein Gesicht bekam einen gespannten, erwartungsvollen Ausdruck. Er erhob sich, obwohl es ihn große Anstrengung kostete, und trat vor die Mühle. Es war dunkel geworden. Im Westen war der hin und her flackernde Widerschein der Granateinschläge am Horizont. Die Luft war erfüllt von dem dumpfen Gedröhn, und Timm glaubte auch Gewehrfeuer zu hören. Er strengte sein Gehör an und stand lange mit vorgestrecktem Kopf an der Mauer der Mühle. Dann löste sich aus dem Getrommel in der Ferne langsam ein tiefer, brummender Ton, der heller und immer heller wurde. Vom Westen her kamen ein paar Flugzeuge. Timm konnte sie am wolkenverhangenen Himmel nicht erkennen, aber er hörte ihre Motoren immer lauter werden. Die Maschinen zogen eine Kurve. Dann heulten ihre Motoren plötzlich auf, und sie schossen herab, in geringer Höhe über das ebene Land rasend. Das Motorengeheul schreckte Zado auf. Er sprang aus dem Dunkel der geborstenen Mauern zu Timm hinaus und suchte am Himmel die Maschinen.

»Eine Staffel Me’s…«, flüsterte Timm erregt, »es geht los! Jetzt geht’s ihnen schlecht!«

Plötzlich waren die Maschinen dicht über ihnen. Sie flogen unter der Wolkendecke, und die beiden konnten sie nun erkennen. Es waren vier Maschinen, deren Silhouetten einander ähnelten. Aber die eine versuchte, sich von den anderen drei Maschinen zu lösen. Es gelang ihr nicht, denn die drei anderen jagten hinter ihr her, und aus ihren Tragflächen züngelten die Flämmchen der Bordwaffen.

»Da…«, sagte Timm. »Jetzt…«

Die gejagte Maschine zog steil aufwärts. Es war der letzte Versuch, zu entkommen. Einer der Verfolger ließ seine Maschine aufbäumen und zog mit hämmernden Maschinengewehren hinter der entschwindenden Maschine her in die Wolken. Von dort kam Sekunden später ein Aufflammen, und dann raste der Rumpf der ersten Maschine brennend in die Tiefe. Die Tragflächen flatterten wie schaukelnde, welke Blätter hinterher.

»Aus!« rief Timm. Aber in diesem Augenblick zog die Kette der drei Maschinen, die sich wieder vereinigt hatten, heran und preschte mit jaulenden Motoren dicht über die Mühle hinweg. Die Unterseite ihrer Tragflächen war hell gestrichen. Zado sah dort die großen, roten fünfzackigen Sterne. Er blickte zu Timm und sagte: »Aus ist der Traum von deinen Messerschmitts. Die eine Messerschmitt, die sich blicken ließ, liegt hinten im Wald.«

»Sie kommen trotzdem…«, antwortete Timm verbissen. Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Es klang wie das Knurren eines gereizten Tieres, als er heiser flüsterte: »Sie kommen einmal. Du wirst es sehen, daß sie kommen! Noch haben wir sie an der Kehle. Und bald werden wir ihnen die Kehle zuschnüren…«

Während er in das Flackern der Explosionen im Westen starrte, zog sich Zado das beschmutzte Schneehemd aus. Er ließ die Fetzen einfach liegen. Dann steckte er die Pistole in die Manteltasche und nahm die Maschinenpistole schußbereit in die Hand. Er war müde und hungrig, und das Feuer im Westen ließ seine Nerven beben.

»Los!« forderte er Timm barsch auf. »Laß jetzt das Phantasieren. Nimm dich zusammen. Wir müssen es während dieses Angriffs schaffen. Danach liegt die Front zwanzig Kilometer weiter westlich. Das schaffen wir nicht mehr.«

Er setzte sich in Bewegung. Er ging geduckt, nach allen Seiten spähend, langsam und katzengleich. Timm klemmte sich die Panzerfaust unter den gesunden Arm. Er murmelte leise vor sich hin: »Wir kriegen euch alle noch. Wir kriegen euch. Wir werden euch alle umlegen, es wird nicht mehr lange dauern…«

Er meinte die Flieger in den Maschinen mit den roten Sternen und die Artilleristen, die nach Westen schössen, er meinte die Fahrer, die mit ihren Lastwagen Munition zur Front transportierten, und die Schlittenlenker mit den langen Peitschen. Er schleppte die Panzerfaust, und die Maschinenpistole baumelte über seinem Rücken. Der Schmerz bohrte in dem zerschmetterten Schulterknochen. Aber Timm ließ die Panzerfaust nicht fallen. Er torkelte unsicher hinter Zado her, und der Schmerz stachelte ihn zu einer wahnwitzigen, sinnlosen Wut an, die seine Finger zucken ließ.

Sie erstiegen im Schutz einer Baumreihe einen sanften Hügel, von dem aus sie die Straße sehen konnten, die ins Dorf führte. Jenseits der Straße lag das Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte. Timm erinnerte sich in diesem Augenblick an sie. Er glaubte eine Bewegung im Hof zu erkennen, aber er war noch zu weit entfernt, um sicher sehen zu können. Der Wind hatte die Schleier der leichten Wolkendecke stellenweise zerflattern lassen, und ein mattes Mondlicht lag über dem Land. Sie konnten sich bis auf etwas mehr als hundert Meter an die Straße heranarbeiten, aber dann mußten sie zwischen verschneiten Büschen versteckt liegenbleiben und warten, denn auf der Straße bewegte sich eine Kolonne. Sie war lang und bestand aus Schlitten, auf denen Infanteristen hockten. Die Kolonne hielt an. Ihre Spitze hatte das Dorf erreicht und bog dort nach Westen ab, auf die Front zu, wo noch immer die Geschütze brüllten und die Schlaglichter der Explosionen flackerten.

»Wenn wir über die Straße sind, haben wir das Schlimmste hinter uns…«, flüsterte Zado. Er warf sich neben Timm. Der lag mit verzerrtem Gesicht an einen Stamm gelehnt und starrte hinüber auf die Kolonne, auf die Soldaten, die in den flachen Schlitten hockten, und auf das Gehöft, aus dessen Kamin eine dünne, kaum wahrnehmbare Rauchfahne stieg, die er jetzt plötzlich ganz deutlich sah.

Balaschow war gerade damit beschäftigt, sich zu rasieren, als das Artilleriefeuer einsetzte. Er hauste in einem Kellerverschlag, der durch eine Stallaterne erhellt war und vor dessen Eingang eine gescheckte Zeltplane hing. In einer Ecke des Verschlages befand sich eine rechteckig angeordnete Schütte Stroh. Daneben lagen das Gepäck Balaschows, seine Maschinenpistole und sein Mantel. Unter der Zeltplane, die den Eingang verdeckte, lief ein Telefonkabel hindurch, das in einem Feldtelefon in einer Kiste endete. Vor dieser Kiste saß auf einer anderen, kleineren Kiste Balaschow und schabte mit einem nicht sehr gepflegten Messer an seinem Kinn herum. Die große Kiste war sein Schreibtisch. Er hatte alte Zeitungen darübergelegt, und auf diese Weise war die Oberfläche einigermaßen glatt. Als das Gerumpel im Westen vernehmbar wurde, ließ Balaschow das Rasiermesser sinken und sah neugierig auf die Uhr am Handgelenk. Doch er besann sich und rasierte weiter. Als das Telefon klingelte, nahm er den Hörer mit der linken Hand und hielt ihn vorsichtig ans Ohr, um nicht den Seifenschaum abzuwischen, Er brummte etwas in die Muschel und nickte dazu. Dann sagte er mehrmals »Jawohl« und warf schließlich den Hörer auf die Gabel zurück. Er fuhr mit dem Messer noch schnell ein paarmal über das Gesicht, aber er kratzte nur den Schaum ab, der Bart blieb zum größten Teil stehen.

Balaschow sprang auf und beugte sich über eine Schüssel mit Wasser, die in einer Ecke auf einer anderen Kiste stand. Er wusch sich die Seifenreste vom Gesicht und tastete es unbefriedigt mit den Fingern ab. Während er sich abtrocknete, griff er bereits nach der Feldbluse. Er warf sie über und setzte den Stahlhelm auf. Zuletzt nahm er seine Maschinenpistole auf und überprüfte mit einem schnellen Blick das Magazin. Während er das tat, schob sich der Posten durch den verhängten Eingang und sagte: »Leutnant Warasin will zu Ihnen, Genosse Politleiter.«

»Soll ’reinkommen«, forderte Balaschow kurz. Er sah Warasin entgegen, und als der Leutnant vor ihm stand, musterte er ihn erstaunt.

»Sie haben Sorgen, ich sehe es Ihnen an«, sagte er kurz und deutete auf die Kiste vor der Lagerstatt, wo eben noch die Schüssel mit dem Wasser gestanden hatte. »Es ist Gefechtsalarm«, sagte er dabei, »setzen Sie lieber Ihren Stahlhelm auf.«

Warasin nahm den Helm vom Koppel und setzte ihn auf. Balaschow hielt ihm eine Zigarette hin, aber Warasin dankte. Er sagte: »Ich bin zu Ihnen gekommen, Genosse Balaschow, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, die mich betrifft und einen versprengten faschistischen Soldaten, der sich im Dorf aufhält.«

Balaschow öffnete ein wenig den Mund und blickte Warasin neugierig an. Als er Warasins Gesicht sah, zogen sich die Lider über seinen kleinen, runden Augäpfeln ein wenig zusammen. Auf seiner Stirn erschienen die gleichen Falten wie vorhin, als das Telefon ihn beim Rasieren unterbrochen hatte.

»Berichten Sie«, forderte er Warasin auf, »aber fassen Sie sich kurz, es kann jeden Augenblick ein Befehl kommen, der unser Gespräch beendet.«

Er hörte zu, während Warasin sprach, und unterbrach ihn nicht. Er blickte ihn unablässig an, und die Zigarette, die in der Kellerluft feucht geworden war, ging ihm mehrmals dabei aus. Er schüttelte einige Male nachdenklich den Kopf, aber er sagte nichts, bis Warasin schließlich am Ende war und schwieg. Da erhob er sich, ging auf den Leutnant zu und blieb vor ihm stehen. Er griff sich mit der einen Hand ans Kinn, aber er fühlte dort den Bart und ließ die Hand ärgerlich wieder sinken.

»Warum berichten Sie mir erst jetzt davon, Warasin?« fragte er. »Weil vorn angegriffen wird?«

Warasin begriff ihn nicht sofort. Zuerst nickte er verwirrt, aber dann berichtigte er sich schnell: »Nein, ich war auf dem Weg zu Ihnen, Genosse Balaschow. Der Angriff hat nur meine Überlegung etwas verkürzt.«

Balaschow ging ein paar Schritte in der Stube hin und her. Er war ein kleiner, beweglicher Mensch, der seinem Aussehen nach eher einem Mathematiklehrer ähnelte als einem Politleiter in der Armee.

»Diese Sache ist eigenartig«, sagte er dann. Er blieb stehen und rieb sich wieder mit der Hand das Kinn. »Es ist nicht neu, daß sie uns hinter der Front solche Stechmücken absetzen, und es ist auch nicht neu, daß wir sie aufstöbern. Aber daß dabei eine Situation wie diese entsteht, ist einmalig. Sie hätten mir früher davon berichten müssen. Über solche Dinge darf man nicht schweigen, Warasin. Sie sind Offizier und lassen es zu, daß dieser Mensch sich hier im Dorf verbirgt…«

»Der Mann ist ungefährlich«, sagte Warasin schnell, »aber ich sehe ein, daß mich das nicht entschuldigt. Ich habe falsch gehandelt, weil es mir zu schwerfiel, richtig zu handeln.«

Balaschow winkte ärgerlich ab. »Sie haben es nicht fertiggebracht, den Mann einfach gefangenzunehmen, weil es diese Frau gibt, der Sie dankbar sein wollten. Aber das ist nicht die richtige Form von Dankbarkeit.«

»Sie hat mich verborgen gehalten, Genosse Balaschow«, sagte Warasin, »und der Soldat wußte davon.«

»Ich verstehe. Ein Grund, in dieser Frau keine Faschistin zu sehen. Und der Soldat?«

Warasin blickte auf seine Stiefel. Er schwieg einen Augenblick. Von draußen war das ferne Grollen der Geschütze zu hören. Über dem Dorf waren Flugzeuggeräusche.

»Ein ziemlich junger Mensch«, sagte Warasin langsam, »ohne Lebenserfahrung und ohne Maßstäbe. So bekamen sie ihn in die Hände. Das richtige Material, um einen Soldaten daraus zu machen, der bedenkenlos das tut, was ihm befohlen wird. Er tat es, ohne nachzudenken, und es gab wohl niemanden, der ihm erklärte, was wirklich in der Welt geschieht. Erst als es sich zeigte, daß er den kaltblütigen Mord, zu dem sie ihn befohlen hatten, nicht mehr durchhalten konnte, begann er zu überlegen, was sie aus ihm gemacht haben. Er tut es widerwillig. Er hat Angst vor uns. Er reagiert wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier. Anfangs war ich mir nicht schlüssig, ob dieser Mensch wirklich eine Gefahr für die Rote Armee bedeutet…«

Balaschow brannte eine neue Zigarette an. Er rauchte hastig. Er stieß den Rauch aus und zog die Stirn in Falten. Dann sagte er: »Ein Versprengter, der von der Nichteinmischung träumt. Solche Versprengte nehmen wir gefangen, Genosse Warasin.«

»Ich sehe ein, daß ich diesen Grundsatz verletzt habe.«

»Es ist so«, sagte Balaschow, indem er mit der Zigarette in die Luft stach, wie um seine Worte zu bekräftigen. »Wir nehmen sie gefangen. Wir erklären ihnen, was sie getan haben und wofür man sie mißbraucht hat. Wir lassen sie arbeiten und lernen. Sind Sie Verbrecher, dann wird man so mit ihnen verfahren, wie sie es verdienen. Sind sie aber nur Soldaten gewesen, denen die Fähigkeit fehlte, zu unterscheiden, was richtig und was falsch war, dann werden wir ihnen die Fähigkeit beibringen, das zu unterscheiden. So verfahren wir mit ihnen. Und ihren Frauen sagen wir, daß dieser Krieg alles andere war als ein Familienidyll und daß die Gefangennahme ihrer Männer die Folge des Krieges ist. Sie sollen sich damit trösten, daß ihre Männer klüger sein werden, wenn sie aus unserer Gefangenschaft heimkommen, und das wird ihren Familien auch wieder nutzen. Verstehen Sie mich?«

»Ich verstehe«, antwortete Warasin. »Es erschien mir in diesem Falle zu hart, deshalb habe ich gezögert. Ich hätte das nicht tun dürfen.«

»Sie haben uns hart angegriffen, und wir schlagen hart zurück. Bis wir gesiegt haben. Dann kann man über Milde sprechen.«

Ein paar Flugzeuge heulten über das Dorf und ließen ihre Maschinengewehre tacken.

Balaschow hob den Kopf und sagte leise: »Noch ist der Krieg nicht aus, Warasin.«

Warasin nickte. Er sah Balaschow an, und der sagte mit unbewegtem Gesicht: »Dieser versprengte Held und ein Dutzend anderer solcher Stechmücken haben uns in einem Wald zwischen Berziniki und Sudauen zehn Soldaten getötet. Ich denke, auch die Frau wird begreifen, daß es gerechtfertigt ist, wenn wir ihn gefangennehmen.«

»Zehn Soldaten?« wiederholte Warasin. »Ich verstehe nicht…«

Balaschow nickte heftig. »Man hat uns heute früh im Stab darüber informiert. Sechs Fahrzeuge und zehn Mann. Alle mit Pistolen auf kurze Entfernung erschossen. Im Schnee verscharrt. Man hat sie gefunden. Die Fallschirmspringer konnte man erwischen. Sie trugen die Uniformen unserer Armee. Sie haben sich damit außerhalb der Kriegsgesetze gestellt. Und überdies wird die Sache untersucht, denn es gibt da noch einige andere Vermutungen.«

Warasin biß sich auf die Lippe. Er sagte kaum hörbar: »Der Gefreite hat dazugehört.«

»Ich habe nicht daran gezweifelt.«

»Man wird ihn bestrafen.«

»Man wird ihn für nichts verantwortlich machen, was er nicht getan hat.«

Warasin erhob sich. »Ich will ehrlich sein, Genosse Balaschow. Es fällt mir schwer, der Frau das beizubringen.«

Balaschow ging auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. Er mußte sich beinahe auf die Fußspitzen stellen, um Warasin die Hand auf die Schultet zu legen.

»Warasin«, sagte er leise, »noch ist der Krieg nicht zu Ende. Sagen Sie das der Frau. Und sagen Sie ihr auch, daß der Mann auf diese Art und Weise am Leben bleiben und zu ihr zurückkommen kann, während es andernfalls sehr wahrscheinlich ist, daß er als Spion betrachtet und erschossen wird. Es ist…«

Das Feldtelefon klingelte. Balaschow sprang schnell zu der Kiste. Er riß den Hörer ans Ohr und meldete sich. Als er den Hörer wieder auflegte, sagte er zu Warasin: »Gehen Sie jetzt und erledigen Sie, was zu erledigen ist. Beeilen Sie sich, wir haben Alarmbereitschaft. Wir werden zwar nicht eingesetzt, aber diese Sache muß erledigt werden, und zwar sofort.«

»Wir werden nicht eingesetzt?«

Balaschow lächelte. »Wir haben diesen Angriff erwartet. Wir haben vorgesorgt. Es geht ihnen um die Ausgangsposition, die wir an dieser Stelle der Front haben. Die wollen sie zurück gewinnen. Ein ziemlich massiver Angriff, aber wir fangen ihn mit ein wenig Elastizität auf und lassen ihn totlaufen. Es besteht kein Grund, besorgt zu sein. Gehen Sie jetzt. Nehmen Sie Leute mit und erledigen Sie diese Sache gründlich. Verlieren Sie keine Zeit. Bringen Sie den Mann zu mir. Ich werde ihn vernehmen und für seinen Abtransport sorgen.«

Als Warasin die brüchige Kellertreppe hinaufstieg, über sich den blanken Himmel, hetzte eine Kette Nachtjäger in geringer Höhe über das Dorf. Es waren kleine, schnelle schwarze Maschinen. Sie huschten vorbei, nach Westen. Warasin sah ihnen nach. Sie verschwanden im Geflacker des Artilleriefeuers, das noch immer andauerte, Einmal war noch eine von ihnen im Schein einer Explosion zu sehen, die schlagartig den Horizont blaß erhellte, dann war es vorbei. Auf der Straße stand eine Schlittenkolonne. Die Männer saßen rauchend, in ihre Steppjacken gehüllt. Sie hatten Maschinengewehre und zerlegte Granatwerfer auf ihren Schlitten. Ihre Maschinenpistolen funkelten matt in dem schwachen Mondlicht.

Im Dorf war es still. Die Soldaten der Kompanie lagen in ihren Unterkünften und warteten auf Befehle. Manchmal schien es, als rückten die Granateinschläge näher, als wären die Detonationen nicht mehr so weit entfernt wie vorher. Als Warasin am Ende des Dorfes anlangte, merkte er, daß diese Vermutung richtig war. Von der deutschen Seite schossen ein paar schwere Geschütze ins Hinterland. Die Einschläge waren vom Dorfrand aus zu sehen. Die Schlittenkolonne riß ab, und die Straße war mit einemmal frei. Warasin beschleunigte seine Schritte. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Es war kalt in dieser Nacht. Immer wenn die Wolken verschwanden und die Nächte klar und voller Sterne waren, kam die Kälte und ließ den Schnee hart werden unter den Stiefeln.

Hinter dem Dorf gab es keine Soldaten mehr. Eine Stille umgab Warasin, die durch den fernen Lärm der Geschütze nur noch betont wurde. Warasin schritt aus. Er klappte den Kragen des Mantels hoch und stapfte mit gesenktem Kopf über den festgefahrenen Schnee der Straße, bis er an den Weg kam, der zu Annas Gehöft führte. Von hier aus war es nicht mehr weit, und bald konnte Warasin den Rauch erkennen, der aus dem Schornstein stieg.

Das Hoftor war nur angelehnt. Die Haustür war offen. Warasin schloß sie hinter sich und trat in die Küche.

Anna hörte ihm geduldig zu, bis er alles gesagt hatte, was zu sagen war. Sie stand am Herd, das Haar sorgfältig wie immer im Nacken geknotet, ein Wolltuch über den Schultern. Sie hatte traurige Augen, aber ihre Stimme war genauso wie immer, als sie sagte: »Er ist weggegangen. Er wollte mit sich allein sein und nachdenken. Wir hatten darüber gesprochen. Ich habe nicht viel gesagt. Ich bin immer allein gewesen, und wenn er fort ist, werde ich wieder allein sein. Wie immer. Es ist eben mein Leben. Es ist so sehr mein Leben gewesen, das ich nicht einmal mehr die Kraft aufbringe, dagegen zu kämpfen.«

Sie sagte es mit einer Bitterkeit, die Warasin noch nie bei ihr beobachtet hatte. Er saß am Küchentisch und sah ihr zu, wie sie hinten am Herd hantierte.

»Wird er zurückkommen?« erkundigte er sich zögernd. Er war verwirrt. Von der einen Säte stürmten die Worte Balaschows auf ihn ein, von der anderen Seite blickten die Augen Annas, kam ihre Stimme mit dieser Nuance von Bitterkeit und Vorwurf.

Sie wandte den Kopf und sah ihn an. »Er hat mir gesagt, daß er sich draußen irgendwo darüber klarwerden will, was er tun wird. Er ist eigenartig in solchen Sachen. Er läßt Ihnen sagen, wenn er zurückkommt, wird er mit Ihnen gehen. Wenn er nicht zurückkommt, dann sollen Sie die Patrouille nach ihm ausschicken.«

Warasin schwieg. Draußen grummelten die Geschütze.

»Was ist das?« fragte Anna leise. »Kommen sie etwa wieder? Wenn sie wiederkommen und erfahren, daß ich Sie versteckt hatte, werden sie mich erschießen.«

»Sie werden nicht wiederkommen«, sagte Warasin, »Sie brauchen sich nicht mehr vor ihnen zu fürchten. Sie kommen nicht wieder.«

»Haben Sie mit Ihrem Kommandeur gesprochen?«

,Ja.«

Sie atmete tief. Dann sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm: »Wenn jetzt Thomas nicht wiederkommt, dann werden mich eure Leute dafür an die Wand stellen.«

»Das werden sie nicht tun«, sagte Warasin schnell.

Aber die Frau machte eine müde Handbewegung. »Es ist mir gleich. Dieser Krieg zerreibt jeden zwischen seinen Mahlsteinen, zuerst die, die in der Mitte stehen wollen zwischen den beiden Fronten. Ich bin darauf gefaßt. Wenn Thomas fort ist, werde ich hier sitzen und darauf warten, daß ich sterbe. Einmal habe ich geglaubt, stärker zu sein als alles, was um mich herum stark zu sein schien. Das ist vorbei.«

»Hören Sie doch, Anna«, sagte Warasin, »er wird nach dem Krieg zurückkommen. Er ist Soldat, und er wird Gefangener sein, und nach dem Krieg wird er zurückkommen. Hierher.«

»Nach dem Krieg«, sagte die Frau, »dann werde ich eine alte Frau sein mit weißem Haar. Und auf den Feldern wird vor lauter Melde kein Korn mehr gedeihen.

Die Pflüge werden verrostet sein und zerbrechen. Auch wir werden zerbrochen sein. Wir sind es jetzt schon.«

Er stand auf und trat ans Fenster. Er zog den Vorhang in der Mitte ein wenig auseinander und blickte durch den Schlitz hinaus in die Winternacht. Nach einer Weile ließ er den Vorhang achtlos zurückfallen und drehte sich um. Das Tuch bedeckte die Scheibe nicht mehr, aber er kümmerte sich nicht darum. Er setzte sich wieder an den Tisch und sagte: »Einmal werden Sie das alles viel besser verstehen, Anna. Auch Thomas Bindig wird es verstehen.«

»Wenn er zurückkommtl« sagte die Frau. »Wenn er in einer Stunde nicht zurück ist, können Sie die Patrouille losschicken. Er hat es mir gesagt. Es ist mir gleich.«

»Aber mir ist es nicht gleich«, sagte Warasin.

»Ihnen?«

»Ja. Ich kenne ihn besser, als er glaubt. Er ist zu jung, um für die Bande zu sterben, die ihm eingebleut hat, daß er ein Held sei, wenn er für sie stirbt. Und er ist klug und kann ein anderer Mensch werden. Unsere Leute werden ihm dabei helfen.«

»Ihr werdet euch andere suchen müssen als ihn. Welche, die nicht durch die Hölle gegangen sind, aus der er kam.«

»Wir werden uns auch andere nehmen«, sagte Warasin, »bei manchen anderen wird es leichter sein, sie Recht und Unrecht unterscheiden zu lehren. Aber wir werden Bindig nicht auslassen und alle anderen nicht, die seinen Weg gegangen sind. Es wird uns schwer fallen, wenn wir uns erinnern, was sie getan haben, aber wir werden Geduld mit ihnen haben, wenn sie es wert sind.«

Die Frau setzte sich auf einen Hocker in der Ecke hinter dem Herd. Sie stützte den Kopf in die Hände und sagte: »Ihr nehmt euch viel vor. Noch habt ihr nicht gesiegt, aber ihr macht schon Pläne für später. Man weiß nicht, ob man euch belächeln soll oder bewundern…«

Warasin nickte leicht mit dem Kopf. Er stand am Tisch, mit dem Rücken zum Fenster, die Augen auf die Tür gerichtet, und wartete darauf, daß Bindig eintreten würde.

»Den Sieg wird uns niemand mehr nehmen«, sagte er leise, »Bindig und so viele andere Bindigs sollen bis dahin lernen, ein besseres Deutschland zu bauen. Mein Gott, sie können es lernen, wenn sie den Willen dazu haben…«

Das Artilleriefeuer dauerte an. Manchmal lagen ein paar Einschläge so nahe, daß man sie deutlich aus dem allgemeinen Grollen heraushören konnte.

»Es nimmt gar kein Ende«, sagte die Frau, »es ist, als wollten sie aus der ganzen Erde einen einzigen Brei von Blut und Dreck machen. Sie geben keine Ruhe, bis alles tot ist, was sie töten können…«

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