Die Frau

In der Stube war es merkwürdig still. Die Worte tropften zäh, gleichsam zögernd in den Raum. Es war, als bestünden sie aus einer dickflüssigen Masse, die sich schwer von den Lippen löste. Nichts war lebendig, nur die Augen der drei Menschen. An der Wand tickte eine Kuckucksuhr. Sie war aus schwarzem Holz, an der einen Kante ein wenig beschädigt, die Zeiger hell über dem dunklen Zifferblatt, auf dem die Zahlen kaum noch zu erkennen waren.

Die Fenster waren verhängt, obwohl die Petroleumlampe nur einen trüben rötlichen Schein abgab, der nicht weiter reichte als über den Tisch hinweg und alles übrige im Halbdunkel ließ. Es war eine einfache Küche. Der Ofen mit dem träge flackernden Feuer hinter der durchbrochenen Tür. Der Tisch aus rohem Holz, weißgescheuert im Laufe der Jahre. Ein paar Stühle, ebenso weißgescheuert. Ein Schrank, dessen Elfenbeinlack rissig war. Über dem Herd hingen ein paar metallene Küchengeräte. Es war alles einfach und sauber. Von jener nach frischer Milch, nach Stalldunst und Kartoffelbrodem riechenden Sauberkeit.

Thomas Bindig bewegte ein wenig die Hände, die er auf den Oberschenkeln liegen hatte. Er spürte, daß seine Handflächen schwitzten. Was ist mit dir? fragte er sich. Ist es dieses seltsame, vergessene Leben, das dich unsicher macht? Ist es die Frau? Nur die Frau? Der Stumme?

Er blickte die Frau an. Sie saß ihm gegenüber, auf dem Stuhl hinter dem Tisch, unter dem Fenster. Ihre Augen waren auf den Herd gerichtet. Bindig sah sie lange an, und die Frau spürte den Blick, aber sie wandte ihre Augen nicht vom Herd ab.

Es waren große, bernsteinfarbene Augen, die selbst im matten Licht der Petroleumlampe schimmerten. Sie gaben dem vollen, ovalen Gesicht etwas Mütterliches, Madonnenhaftes. Ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch das straff zurückgekämmte, glänzende schwarze Haar mit dem Scheitel in der Mitte des Hauptes und dem Knoten, zu dem die langen Strähnen im Nacken geschlungen waren. Bindig erinnerte sich, daß in den Bewegungen der Frau eine seltsame, ruhige Ausgeglichenheit gelegen hatte. Er war gekommen, und sie hatte ihm die Tür geöffnet, mit großen, weit offenen Augen, in denen er ein wenig Angst zu spüren geglaubt hatte. Sie war vorausgegangen, und er sah noch immer ihren Körper vor sich. Sie trug nicht die Kleidung der Bauern. Nicht jene schwarzen, verwaschenen Röcke, sondern ein billiges, eng anliegendes Kattunkleid. Sie ist eine Frau, dachte Bindig, kein Mädchen. Eine Frau, die dreißig Jahre alt sein mag. Sie scheint keine Kinder gehabt zu haben, aber ihre Bewegungen sind die Bewegungen einer Frau, die Mutter gewesen ist. Ihr Körper ist reif und voll. Sie ist zehn Jahre älter als ich. Warum starre ich sie so an? Was ist an diesen Augen?

Er hatte wenig mit Bauern zu tun gehabt. Er kannte sie nicht und nicht ihre Art. Aber diese Frau hier war weniger Bäuerin als Frau. Bindig hatte nur die zarten, feinnervigen Stadtgeschöpfe in der Erinnerung. Sie hatte er bewußt gesehen und erlebt. Diese Frau war die erste Bäuerin, die ihm begegnete, wenn er davon absah, daß er manchmal in einem Quartier gelegen hatte bei Bauern, die er kaum wahrnahm, kaum in ihrer Art erfaßte, bevor er wieder weiter zog.

Vor ihm auf dem Tisch standen die beiden Fleischbüchsen. Die Frau hatte genickt und das Feuer im Herd angefacht. Er hatte ihr gesagt, daß man auf Zado warten müßte, und sie hatte wiederum genickt. Er entsann sieb, daß es nicht unfreundlich ausgesehen hatte. Eher verständnisvoll. Aber auch mit jener spürbaren Andeutung, daß man auf keinen Fall angenehm überrascht sei von dem unerwarteten Besuch.

Bindig fühlte die Flasche mit dem Schnaps in seiner Hosentasche. Er hatte sie noch nicht ausgepackt. Er wußte keinen anderen Ausweg, als auf Zado zu warten. Zado war mit den Feldgendarmen unterwegs. Was daraus werden sollte? Egal, sie werden Anzeige erstatten, und vielleicht werden sie mich verhören. Ich werde meine Antworten besser überlegen. Wenn es nichts nutzt? Ich kann nicht aus dem Himmel in die Hölle kommen. Höchstens aus einer Hölle in die andere. Er spürte eine eigenartige Gleichgültigkeit gegen diese Gedanken. Sie berührten ihn nicht mehr. Er sah nur die Frau vor sich, und während er sie anblickte, dachte er an nichts anderes. Er richtete sich auf und sagte: »Sie haben noch Kühe?«

»Ja«, sagte die Frau nach einer Weile. Sie sagte es gedehnt, aber ohne Ausdruck. »Zwei Kühe.«

Er merkte, daß sie den Knecht dabei ansah.

»Die Russen haben sie Ihnen nicht genommen?«

Der Knecht hockte auf einer Fußbank am Ofen. Ein großer, breitschultriger Mensch, blond. Das Gesicht wäre schön gewesen, wenn es nicht diesen schlaff geöffneten, feuchten Mund gehabt hätte. Er vernachlässigte sich. Er hatte lange Bartstoppeln. Seine Augen waren mild, verständnislos. Er sah von Bindig zu der Frau und wieder zu Bindig, immer denselben Weg nahm sein Blick. Er folgte allem, was in der Stube geschah, ohne es zu verstehen. Seine langen, kräftigen Arme hingen schlaff herab. Bindig hatte ihm eine Zigarette gegeben. Der Knecht hatte sie mit einem hungrigen Aufblitzen in den Augen geraucht.

Dann hatte er gehen wollen. Er war schon bis an die Tür geschlurft, mit schleppenden, geräuschvollen Schritten, aber die Frau hatte ihn zurückgehalten. Sie hatte ihn wieder zu der Fußbank gewiesen, und er hatte sich hilflos grinsend dort niedergelassen.

»Es ist kalt draußen«, hatte die Frau gesagt, »soll er sich ein bißchen wärmen. In seiner Kammer ist es auch kalt.«

Bindig hatte ihr zugestimmt. Er dachte: Wir werden ihm auch etwas von dem Fleisch geben. Er wird Hunger haben. Er scheint nur ihr Knecht zu sein, nicht ihr Geliebter.

»Die Russen…«, sagte die Frau langsam, »waren einen Tag und eine halbe Nacht in unserem Dorf. Dann mußten sie zurück. Sie hatten keine Zeit, sich mit den Kühen zu befassen.«

»Auch nicht mit Frauen?« fragte Bindig leise. Er spürte sofort den Blick der Frau. Es war wieder einer dieser Blicke ohne jeden Ausdruck.

»Auch nicht mit Frauen«, sagte sie und schwieg wieder.

Bindig preßte seine Hände an die Schenkel. Er rieb den Schweiß von den Handflächen.

»Sie haben Glück gehabt«, sagte er. »Es gibt Frauen, die nicht dieses Glück hatten.«

Die Frau bewegte die Schultern. Was Bindig sagte, schien sie nicht sonderlich zu berühren. Sie erhob sich und sah nach dem Feuer. Es brannte jetzt sehr kräftig.

»Wir könnten das Fleisch aufsetzen«, sagte sie, erwartete aber anscheinend keine Antwort, denn sie nahm aus einem Eimer, der neben dem Ofen stand, einige Kartoffeln und schälte sie mit geschickten Händen. Dann tat sie die Kartoffeln in einen Topf, stellte ihn auf den Herd und trocknete sich die Hände. Sie trug keine Schürze. Bindig sah, daß sie keinen Ring am Finger hatte. So wie sie jetzt am Herd stand, erschien sie ihm sehr jung. Beinahe mädchenhaft. Das Feuer beleuchtete von unten her ihr Gesicht. Diese Frau ist wie ein Verwandlungskünstler, dachte Bindig, nur ihre Augen kann sie nicht verwandeln, die bleiben so glänzend, wie sie sind. Diese Augen werden sich in meinen Träumen wiederfinden. Die Augen und die ganze Frau. Es war nicht gut, daß ich hierher gegangen bin. Die Frau wird mir keine Ruhe lassen.

»Warum sind Sie nicht geflüchtet?« fragte er zusammenhanglos. »Sie sind der einzige Mensch, der noch in diesem Dorf wohnt. Man weiß nicht, was morgen ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Sie das Dorf verlassen hätten…«

Als sich die Frau wieder an den Tisch setzte, nahm sie eine der Büchsen mit dem Fleisch in die Hand und drehte sie hin und her. »Wollen Sie beide Büchsen öffnen?« fragte sie.

»Beide«, sagte Bindig, »nicht nur mein Kamerad und ich wollen essen. Sie werden mit uns essen. Werden Sie hier im Dorf bleiben?«

»Ich habe keinen Büchsenöffner«, sagte die Frau, »wir haben nie aus Büchsen gegessen. Kann man sie so aufbekommen?«

»Geben Sie her«, forderte Bindig. Er war ärgerlich. Er sprach nicht gern zu Leuten, die seine Worte nicht hören wollten. Er zog das Kappmesser aus der Wadentasche, ließ die Klinge vorschnellen und stach mit dem Messer in das weiche Blech am Rand der Büchse. Aus dem Riß quoll eine bräunlich-rote Flüssigkeit. Bindig wollte weiterschneiden. Er setzte auch dazu an, aber im gleichen Augenblick hielt er inne und nahm die Hand von dem Messer. Die Frau beobachtete ihn mit wachen Augen. Sie blickte von seinem Gesicht auf das Messer und wieder auf sein Gesicht.

»Was ist?« fragte sie beunruhigt. »Sind Sie nicht gesund? Ihr Gesicht… es ist ganz weiß…« Sie kam um den Tisch herum auf ihn zu und konnte eben noch die Büchse auffangen. Bindig raffte sich auf. Er sah weder die Frau noch den Stummen.

Nichts, was in der Küche zu sehen war, nahm er noch wahr. Er sah nur den Riß in dem Blech und die rötlich-braune Flüssigkeit, die ihm unter dem Messer entgegenquoll. Mit ein paar torkelnden Schritten taumelte er auf die Tür zu und machte sie auf. Im Flur stieß er einen Eimer um, dann war er auf dem Hof. Die beiden waren hinter ihm.

»Jakob… schnell!« rief die Frau. Sie nahm den Knecht beim Arm und eilte hinter Bindig her. Sie erwischten ihn auf dem Hof, aber sie konnten ihn nicht halten, er schüttelte sie ab. Hinter der Scheune, an die Mauer gelehnt, erbrach er sich. Die beiden hörten ihn, kamen aber nicht näher. Sie blieben auf dem Hof stehen und warteten. Bindig preßte die Hände auf den Leib. Er fühlte den Schweiß auf dem Rücken eiskalt werden. Er stand nicht mehr sicher auf den Beinen, aber die Mauer der Scheune hielt ihn aufrecht. Es dauerte lange, bis er das Messer nicht mehr sah und die Wunde mit dem hervorquellenden Blut. Er hockte sich müde und zerschlagen auf einen Stein hinter der Scheune und legte den Kopf in die Atme.


Die Nacht war kalt. Sie war sternklar wie die letzten Nächte, und Bindig sah wieder den Russen vor sich, an der Brücke. Er hörte seinen Schritt und sah ihn fallen, er sah den Mantel mit dem Blutfleck, dort, wohin er gestochen hatte. Alles drehte sich in seinem Schädel. Die Nahkampfschule und der Einsatzunterricht.

Er wußte es so deutlich, als habe eben erst Klaus Timm erklärt: und dann in die Niere.

Über das Koppel, das Messer ein wenig mit der Spitze nach unten. Bis zum Griff, in einem Zuge durchstechen, dann ein bißchen drehen, und es ist vorbei. Das überlebt keiner. Keine Angst, er schreit nicht! Er stöhnt höchstens einmal auf, aber nicht laut. Man packt ihn mit dem linken Arm um den Leib und läßt ihn langsam zu Boden sinken. Nicht fallen lassen! Das gibt Geklirr! Sie haben manchmal allerhand Zeug in den Taschen. Und die Gewehre scheppern. Das kann euer Tod sein. Los, ’ran an die Puppe! Bindig, was gibt’s draußen vor dem Fenster zu sehen? Hier ist die Musik! Los, Bindig, ’ran an die Puppe! Ich will einen einwandfreien Stich sehen!«

Er hörte alles, und er sah den Russen an der Brücke, er sah den Russen an dem Munitionslager, den Russen vor der Funkstation, den am Flugplatzrand. Er sah sie alle und ihre Gesichter. Und dann sah er wieder das Messer. Dasselbe. Es steckte in dem Riß in der Fleischbüchse.

Ich bin ein Feigling, sagte er sich, Ich vertrage nichts mehr. Seit diesem letzten Mal an der Brücke vertrage ich überhaupt nichts mehr. Ich habe das Messer sorgfältig gereinigt und die kleine Scharte aus geschliffen. Das Messer ist einwandfrei, aber ich tauge nichts mehr. Ich übergebe mich, wenn ich eine aufgeschnittene Fleischbüchse sehe.

Er erhob sich langsam und ging über den Hof. Er wollte die Bilder loswerden. Im Flur wischte der Knecht den Inhalt des umgekippten Eimers auf. Es war Schweinefutter gewesen. Sie haben auch Schweine, dachte er. Sie sind reich. Sie brauchen unsere Fleischbüchsen nicht. Und trotzdem werden sie das Zeug allein essen müssen.

Der Knecht kroch auf dem Fliesenfußboden herum und grinste ihn an. Die Frau erschien in der Tür und sah ihm fragend entgegen. Zum erstenmal glaubte er so etwas wie Anteilnahme in ihren Augen zu sehen.

»Verzeihen Sie«, sagte er unsicher, »ich habe Schaden angerichtet. Verzeihen Sie, bitte…«

Die Frau gab die Tür frei und ließ ihn wieder in die Küche eintreten.

»Kommen Sie«, sagte sie, »Sie sind nicht gesund. Sie haben zu lange das Soldatenessen gehabt und zuviel geraucht dabei, und wer weiß, was noch… Setzen Sie sich, ich mache Ihnen einen Tee, der Ihren Magen in Ordnung bringt…«

Sie hatte einen Topf in der Hand. In der anderen eine Tüte mit Kräutern. Sie setzte den Topf mit Wasser auf den Herd und forderte Bindig erneut auf, sich zu setzen. Er blieb unschlüssig in der Mitte des Raumes stehen und sah der Frau zu.

»Was machen Sie?« fragte er.

»Tee«, erwiderte sie, »aus bitteren Kräutern. Wermut. Er macht Sie in zehn Minuten gesund. Es ist das Beste für den Magen…«

Er trat zu ihr und legte seine Hand leicht auf die Tüte mit den Kräutern.

»Lassen Sie das«, bat er, »ich brauche keinen Tee. Es ist nicht der Magen. Lassen Sie den Tee!« Er war noch immer sehr bleich im Gesicht.

»Sie sind jung«, sagte die Frau mit einem Ton von Mitleid in ihrer Stimme, »Sie sind zu jung für diesen Krieg. Er wird Ihnen nicht nur den Magen ruinieren. Sie sind zu jung dafür.«

Er nahm ihr die Tüte aus der Hand und setzte sich wieder an den Tisch. Sie ging hinter ihm her und hockte sich auf die Kante ihres Stuhles, die Hände unschlüssig im Schoß gefaltet.

»Mag sein, daß ich zu jung dafür bin«, sagte er heiser, »aber es gibt Leute, die jünger sind als ich. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen Ungelegenheiten bereite…«

Die Frau lächelte. Er sah zum erstenmal ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Er nahm es wahr wie eine Offenbarung. Er starrte sie an, und sein Blick hing an ihren Lippen, als sie sagte: »Sie sind so höflich, als wären Sie kein Soldat, sondern ein Diplomat. Ich mag Höflichkeiten nicht.

Höfliche Menschen möchten andern immer etwas vormachen. Sie sind nicht ehrlich. Sie denken: »Stirb“, während ihre Augen sagen: »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verbunden.«

Er sah sie eine Weile an, dann sagte er: »Ich wünsche Ihnen nicht, daß Sie sterben. Ich habe keinen Grund dazu.«

»Verzeihen Sie«, bat die Frau, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich sagte Ihnen nur, wie ich darüber denke. Übrigens sind Sie viel zu jung, um schon zwei Gesichter zu haben. Wer Sie ansieht, weiß alles von Ihnen.«

Sie erhob sich rasch und ging an den Herd. Das Wasser in dem kleinen Topf kochte. Sie nahm Kräuter aus der Tüte und streute sie in das kochende Wasser. Dabei sagte sie bestimmt: »Jetzt werden Sie diesen Tee trinken. Er wird Ihnen helfen. Wenn Ihr Kamerad kommt, werden Sie essen können. Haben Sie lange nichts Richtiges gegessen?«

»Wo ist mein Messer?« fragte er plötzlich. Er fühlte, daß er die Schwäche überwunden hatte. Die Frau stieß die Tür auf und winkte dem Knecht. Er trat mit schlaffen, herabhängenden Armen ein, mit schlurfendem Gang. Wie ein Nachtwandler. In der einen Hand hielt er die Fleischbüchsen. In der anderen das Messer. Die Büchsen waren geöffnet. Das Messer war gesäubert, und die Klinge blinkte. Er trat an den Tisch und setzte die Büchsen ab. Dann hielt er Bindig grinsend das Messer entgegen. Er verbeugte sich dabei.

»Hat er die Büchse mit meinem Messer geöffnet?« fragte Bindig die Frau. Der Knecht blieb, unbeteiligt grinsend, am Tisch stehen. »Sicher«, sagte die Frau, »wir haben keinen Büchsenöffner.« Sie deutete auf die Büchsen, dann auf das Messer und machte dabei ein paar schnelle Handbewegungen, die das öffnen der Büchse andeuten sollten. Der Knecht blickte sie aufmerksam an, aber dann schüttelte er plötzlich energisch den Kopf. Aus seinem Mund kamen ein paar gurgelnde, kehlige Laute. Er gestikulierte wild mit den Händen und. lief in den Hausflur. Von dort brachte er ein altes deutsches Seitengewehr und deutete an, daß er die Büchsen mit diesem Instrument geöffnet habe. Die Frau nickte ihm gutmütig zu.

»Ist gut, Jakob, ist gut…« Sie winkte ihm, und er schlurfte wieder dorthin, wo er zuvor gesessen hatte. Seine Augen leuchteten im Scheine des Herdfeuers. »Er hat sie mit dem alten Ding aufgemacht«, sagte sie zu Bindig. »Wahrscheinlich hat er sich auf Ihr Messer nicht verstanden.«

Bindig steckte das Messer wieder in die Wadentasche. Dabei sagte er: »Das war sein Glück. Sonst hätte das Fleisch keinem von uns geschmeckt.«

Die Frau stellte eine Tasse Tee vor ihn hin. »Trinken Sie!« forderte sie ihn auf. »War das Messer sehr schmutzig?«

Bindig stand auf. Er griff dabei in die Hosentasche, wo die Schnapsflasche steckte. Es war Hennessy. Sie hatten ihn in irgendeinem Verpflegungslager gestohlen, denn Hennessy gab es nur für Offiziere. Er zog die Flasche heraus und riß die Zinnkapsel ab. Er hielt Jakob die Flasche hin und sagte dabei leise: »Aufmachen!« Er deutete es dem Knecht an, und der nickte eifrig.

»Das Messer war nicht schmutzig, liebe Frau«, sagte Bindig, »aber ich habe damit vor drei Tagen einen Russen erstochen. Und zuvor fünf oder sechs andere. Ich habe es jedesmal danach sauber abgewischt und gereinigt. Auch gestern. Und jetzt können Sie diesen Tee wegnehmen. Er wird meinem Magen nicht helfen, denn es ist nicht mein Magen, dem geholfen werden müßte.«

Der Knecht hatte mit ein paar geschickten Griffen die Flasche entkorkt. Er hielt sie Bindig hin und sah ihn dabei an, als habe er einen Kranken vor sich, um dessen Genesung er besorgt sei.

»Gefangene Russen?« fragte die Frau.

»Nein«, sagte Bindig. Er nahm die Flasche. »Ich bitte Sie um drei Gläser«, sagte er. Während die Frau in dem Schrank nach Gläsern suchte, sagte er: »Keine gefangenen Russen. Freie Russen. Rotarmisten. Soldaten. Mit Gewehren über der Schulter. Zehn Kilometer hinter ihrer Frontlinie oder etwas mehr, ich weiß es nicht mehr so genau. Es ist Krieg, liebe Frau, und wie Sie sehen, bin ich nicht zu jung dafür.«

Er goß die Gläser bis an den Rand voll. Dann winkte er dem Knecht. Der schlich zögernd näher, aber Bindig munterte ihn freundlich auf: »Nun trink schon einen mit! Wer weiß, wie lange du noch lebst!«

Er hielt sein Glas der Frau entgegen. Sie griff langsam nach dem, was er vor sie hingestellt hatte.

»Auf was sollen wir trinken?« fragte sie. »Man weiß nicht, auf was man trinken soll…«

»Trinken wir auf diesen Tag«, sagte er, sie anblickend. Ich habe lange keine Frau mehr lächeln sehen. Trinken wir darauf.«

Der Knecht Jakob schlurfte mit seinem Glas in die Ofenecke zurück. Er hielt es mit beiden Händen fest umklammert, als fürchte er, es könnte ihm wieder genommen werden. Er setzte sich und trank den Kognak in kleinen Schlucken. Bindig sah ihm zu und machte eine Bewegung, die andeutete, daß er schnell austrinken solle. Der Knecht trank gehorsam das Glas aus. Bindig ging zu ihm und goß es noch einmal randvoll. Dann drückte er ihm eine Packung Zigaretten in die Hand und sagte: »Trink und rauch! Mancher Schwachsinnige ist klüger als die normalen Menschen.« Er sah nicht das Aufflackern in den Augen der Frau. Es dauerte nur eine Sekunde, und daher entging es ihm. Der Knecht grinste idiotisch und leckte an dem Glase.

»Er wird heute gut schlafen«, sagte Bindig. Er fühlte, daß er jetzt reden mußte, viel reden. Unsinniges, nur, um überhaupt etwas zu sagen, nur, um nicht noch einmal an die Gesichter erinnert zu werden.

»Er ist ein guter Mensch«, sagte die Frau, »ein treuer Mensch. Ich wüßte nicht, was ich ohne ihn anfangen sollte.«

Bindig goß sein Glas noch einmal voll. Er trank es in einem Zuge aus und sagte: »Man sieht, daß er ein guter Mensch ist. Aber man sieht es beinahe bei jedem Menschen, daß er gut ist. Nur wenn man Soldat ist, hat man es nicht zu sehen. Da ist die Geschichte einfacher. Die Guten tragen Feldgrau, die Bösen Erdbraun mit Sowjetstern.«

Er ließ sich auf den Stuhl fallen, in der einen Hand das Glas, in der anderen die Flasche. Der Knecht schnalzte mit der Zunge. Er verdrehte die Augen dabei.

Die Frau strich sich leicht mit der Handfläche über das glatt gescheitelte Haar. Sie blickte mit einem Ausdruck des Staunens auf Bindig. Auf dem Herd brodelte das Wasser über den Kartoffeln.

»Sie sind sehr jung«, sagte die Frau versonnen. Sie strich sich noch einmal über das Haar und ließ die Hand auf der Stirn liegen. »Mein Gott, wie jung Sie noch sind. In Ihrem Alter sollte man seine Arbeit tun und am Abend mit einem Mädchen spazieren gehen. Tanzen. Man sollte…«

»Man sollte…«, sagte Bindig. »Was man nicht alles sollte! Aber die Welt ist eingeteilt in solche, die mit Mädchen spazieren gehen, und solche, die sich gegenseitig totschießen. Ich gehöre zu den letzteren… Daran ist nichts zu ändern. Wenn wir gesiegt haben, wird das alles vergessen sein…«

»Wenn wir gesiegt haben…«, sagte die Frau, »dann werden Sie ein angesehener Mann sein. Vielleicht Offizier. Und dann werden Sie Kinder haben, und Sie werden ihnen Ihr Messer zeigen und sagen…«

Bindig sah sie an, und sie schwieg. Sie senkte den Blick und schob ihr Glas unschlüssig auf dem Tisch hin und her.

»Nach dem Sieg«, sagte Bindig heiser, »man weiß noch nicht, wer ihn davontragen wird, aber nach dem Sieg jedenfalls, dann werde ich vielleicht nicht mehr leben. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich dann nicht mehr leben werde. Und wenn ich doch leben sollte, dann werde ich durch die Straßen laufen, durch die Städte, und ich werde eine Frau suchen, die wie Sie aussieht, die Augen hat wie Sie und eine Stimme wie Sie. Eine Frau, deren Lächeln mich an Sie erinnert… Verzeihen Sie, bitte, vergessen Sie das. Wir wollen noch ein Glas trinken und nicht mehr davon sprechen…« Er schenkte ihr ein, und sie sah, daß seine Hände zitterten.

Sie strich wieder über ihr Haar, obgleich es glatt und ordentlich gescheitelt lag. Ohne ihn anzublicken, sagte sie: »Wir trinken zuviel. Wir sagen dabei Dinge, von denen wir morgen nichts mehr wissen wollen.«

»Wir?« fragte Bindig.

»Ja, wir«, sagte die Frau leise. »Sie und ich. Wir.«

Sie hörten beide, daß die Hoftür knarrte. Die Frau hob den Kopf und nickte dem Knecht zu. Der erhob sich und setzte das geleerte Schnapsglas auf den Fußboden. Er öffnete die Tür und winkte unbeholfen nach draußen. Auf dem Flur gab es ein polterndes Geräusch, dann einen Fluch. Zado erschien in der Tür. Er hielt sich eine Hand an die Stirn. Er hatte sich in der Finsternis an einem Querbalken gestoßen.

»Die Treppe…«, sagte die Frau bedauernd, »sie ist so dumm gebaut…«

»Gottverflucht bis in die Puppen! Verzeihung! Grüß Gott am Abend und frohe Weihnachten allerseits!« Zado polterte in die Küche. Er hielt eine Hand noch immer an die Stirn und reichte die andere der Frau.

»Zadorowski«, sagte er, »Obergefreiter. Rückgrat der Armee. Vater und Mutter waren anständige Leute, der Sohn wurde Soldat.«

Er sah sich um und entdeckte die Gläser auf dem Tisch und die Flasche. Da glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er drückte die Frau wieder auf ihren Stuhl und sagte mit einem befreiten Aufatmen: »Kinder, wie ich mich freue, endlich unter normalen Menschen zu sein! Ich hatte Beklemmungen, gnädige Frau! Ich sah Sie im Dorf, und Sie machten nicht den Eindruck einer Frau, die einen Schnaps mit uns trinkt. Ist noch einer für mich da. Kleiner?«

Noch während Zado das erste Glas leerte, überlegte er sich, daß er Bindig doch sagen mußte, was aus den Feldgendarmen geworden war. Er würde es ihm auf seine Weise sagen. Die Frau saß dabei. Man wußte nicht, was für eine sie war. Er betrachtete seinen Kameraden, und er betrachtete auch die Frau, während er trank. Diese Frau war eigenartig. Sie sprach nicht viel. Sie zeigte sich weder erfreut noch verärgert durch das Auftauchen der beiden Soldaten. Ist sie so, oder tut sie nur so? fragte sich Zado.

Er sah, daß Bindig hinter der Frau herblickte, als sie zum Herd ging, um das Essen zu bereiten. Es war ein sonderbarer Blick. Bindig sah ihr nach, als sei er sehr nachdenklich über die Frau. Nicht so, wie ein Soldat hinter einer Frau herblickt, wenn er ein paar Monate keine Frau gesehen hat. Nicht hungrig nach der Frau. Aber auch wieder nicht so, als ginge ihn die Frau nichts an. Zado kannte diese Art, einer Frau nachzublicken.

Er ließ den Alkohol durch die Kehle rinnen und dachte: Bindig ist verliebt. Es ist kaum zu glauben, dachte er, aber es ist so, es ist keine Täuschung. Er erinnerte sich an die Nacht an der Brücke. Sie hatten über Mädchen gesprochen, er entsann sich. Bindig hatte selten irgendwo ein Mädchen gehabt. Er hatte auch nie viel darüber gesprochen. Aber jetzt ließ sein Gesicht keinen Zweifel darüber, was in ihm vorging. Dieser Junge gehört nicht hierher, dachte er. Er gehört am Sonnabendmittag mit einem Blumenstrauß und klopfendem Herzen vor ein Mädchenpensionat.

»Hören Sie…«, rief er der Frau am Herd zu, das Glas absetzend, »wir machen Ihnen sicher viel Arbeit. Seien Sie uns nicht böse deshalb. Wir sind die besten Söhne Großdeutschlands. Wie siegen augenblicklich zwar nicht, aber wir haben trotzdem Hunger…«

Die Frau wandte ihm das Gesicht zu. Sie sagte: »Schon gut. Ich mache das schon.«

Sie sagte nicht, ob sie es gern oder ungern mache. Sie ließ nicht erkennen, was sie von ihrem Besuch hielt.

»Wir werden vorschlagen, daß Ihnen das Kriegsverdienstkreuz verliehen wird…«, lachte Zado.

Die Frau gab leise zurück: »Gottbewahre! Ich brauche keine Orden!«

»Sie würden auch keinen bekommen«, sagte Zado. »Wenn Sie Zahlmeister wären, ja. So nicht. Rechnen Sie sich zu den vielen namenlosen Helden, die in unwandelbarer Treue der großen Idee unseres Führers zum Siege verhelfen. Wenn es auch nur dadurch ist, daß Sie uns ein Abendbrot kochen.«

Der Knecht saß auf seiner Bank am Ofen und wiegte grinsend den Kopf. Er schielte nach der Flasche, aber Zado merkte es nicht.

»Grinse nicht!« sagte er zu dem Knecht. »Du kannst froh sein, daß du nicht kv bist. Sie hätten einen strammen Soldaten aus dir gemacht. Manchmal wäre ich froh, wenn ich so blöde wäre wie du.«

Die Frau lehnte sich mit dem Rücken an den Herd. Ihre Augen blickten unentwegt auf Zado, als sie fragte: »Wie lange sind Sie Soldat?«

»Seit Kriegsanfang«, gab Zado sachlich zurück.

»Und niemand hat bisher gemerkt, wogegen sich Ihr Spott richtet?«

»Sie sind die erste«, antwortete Zado. »Wenn Sie wollen, können Sie daraus auf die geistigen Qualitäten meiner Vorgesetzten Schlüsse ziehen.«

»Oder auch darauf, wie gut Sie es verstehen, für gewöhnlich den Mund zu halten.«

Zado goß, ohne zu antworten, Schnaps in sein Glas. Er nahm es in die Hand und erhob sich. Er ging auf die Frau zu und blieb vor ihr stehen. Sie sah ihm entgegen, und er glaubte, etwas wie Spott auf ihrem Gesicht zu lesen.

»Hören Sie«, sagte er langsam, »was würden Sie jetzt lieber tun: hier sitzen und sich mit dem abfinden, was ist, ein bißchen hoffen und ein bißchen Furcht haben, oder zu meinem Kompaniechef gehen und ihm sagen: Scheren Sie sich mit Ihren Soldaten fort von hier! Scheren Sie sich heim! Wir wollen nicht hier zwischen Panzern und Granattrichtern hausen, sondern wir wollen Weizen anbauen und Mohn. Wir wollen nichts mit diesem ganzen Kram zu tun haben! Hauen Sie ab! Sie und die ganze Armee! Ich, die Frau aus dem letzten Gehöft von Haselgarten sage das, und ich stehe dafür ein, Herr Leutnant!«

Die Frau sagte, ohne Zado dabei anzublicken: »Ich kenne Ihren Leutnant nicht.«

»Er heißt Alf und wohnt im Gehöft Nummer zwölf. Gehen Sie zu ihm. Jetzt gleich. Wir werden hier auf Sie warten. Sagen Sie ihm das, was ich gesagt habe oder was Sie sonst wollen. Wir werden warten, bis Sie zurückkommen.«

»Sie würden sehr lange warten müssen«, sagte die Frau langsam, »es gibt Dinge, die man tun kann, und es gibt welche, die man nicht tun kann, wenn man zurückkommen will.«

»Sehr zum Wohl!« sagte Zado, das Glas erhebend. Er führte es zum Mund und trank es in einem Zuge aus. Dann sagte er: »Sie haben eine vernünftige Auffassung von der Welt. Und von mir verlangen Sie, daß ich eine unvernünftige haben soll? Glauben Sie nicht, daß auch ich zurückkommen möchte?«

»Ich glaube es«, sagte die Frau leise, »aber an der Front sterben jeden Tag ein paar hundert Leute, die genauso denken wie sie.«

»Ein paar tausend«, verbesserte Zado sie. »Ich kann Ihnen auch sagen weshalb. Der Tod, der unerwartet und schnell eintritt, ist bequemer als der, den man als unabänderliche Folge einer bestimmten Tat voraussieht. Wenn das umgekehrt wäre, dann hätte dieser Krieg keine drei Tage gedauert. Weil es aber so ist, wird er so lange dauern, bis einer der beiden Seiten die Puste ausgeht. Wer dann noch lebt, wird zurückkommen. Vielleicht. Sicher ist heutzutage nichts.«

Die Frau wandte sich wieder dem Herd zu. Sie schob den Topf mit den Kartoffeln an die Seite und wendete das Fleisch in der Pfanne.

Bindig sprach sie an. Er war still sitzen geblieben und hatte kein Wort gesagt. Jetzt aber glaubte er etwas sagen zu müssen. »Seien Sie ihm nicht böse«, bat er die Frau, »er regt sich leicht auf. Er meint es nicht so…«

Die Frau wandte sich um und nickte. Ihr Gesicht war von einem Ausdruck beherrscht, der eine seltsame Mischung von Verstehen und Nachdenklichkeit, Ablehnung und Zutraulichkeit darstellte. »Ich weiß schon…«, sagte sie, »ich weiß, wie es gemeint ist. Ihr seid eigenartige Soldaten. Ich habe immer geglaubt, Soldaten wären anders. Ich scheine mich getäuscht zu haben.«

»Ist Ihnen diese Erkenntnis unangenehm?« fragte Zado.

»Ich weiß nicht«, antwortete die Frau, »sicher gibt es Soldaten verschiedener Art.«

»Vielleicht haben wir Ihre heiligsten Gefühle verletzt«, sagte Zado mit einem Grinsen, »vielleicht sind Sie ein Mensch, der Helden um sich herum braucht. Es tut mir leid, wenn das so ist…«

Die Frau sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so«, sagte sie leise, »ich brauche keine Helden. Ich weiß gar nicht, was dazu gehört, ein Held zu sein. Vielleicht gibt es das, was ich mir unter einem Helden vorstelle, gar nicht. Ich hätte nichts dagegen, wenn es auf der ganzen Welt viel weniger Geschrei um Helden gäbe, dafür mehr Ruhe und gesunde Männer, die einen Acker umbrechen können und eine Frau…« Sie verstummte und wandte sich schnell wieder dem Herd zu.

Zado ging schweigend zum Tisch zurück. Er goß alle Gläser voll, auch das des Knechtes. Seine Augen waren stumpf, als er zu der Frau sagte: »Sie haben eine einfache Art, das Leben zu sehen. Auch die Menschen. Es würde mich interessieren, wofür Sie uns halten…«

Die Frau nahm das Glas, das er ihr entgegenhielt. Sie sagte, ohne nachzudenken: »Für Leute, die andere töten, um nicht selbst getötet zu werden.«

Zado hob das Glas und trank. Die Frau nippte an dem Kognak und stellte das Glas vorsichtig auf den Tisch zurück. Sie begann Teller sauber zu wischen und Bestecke auszulegen. Sie winkte dem Knecht, er solle die Küche verlassen. Sie wies auf die Tür, und dann legte sie den Kopf auf eine Handfläche und schloß die Augen dabei. Der Knecht nickte eifrig und wollte sich entfernen. Aber Zado verfolgte diese Art Verständigung verwundert und sagte: »Was ist denn? Warum lassen Sie ihn nicht mitessen?«

»Es ist Ihr Essen.«

»Gut«, sagte Zado, »und es reicht für vier Leute.«

»Aber er ist nur der Knecht…«

»Hören Sie«, sagte Zado zu ihr, »dieser Mann wird einmal der einzige sein, der bei Ihnen bleibt, wenn wir fort sind. Er wird noch bei Ihnen sein, wenn hier schon längst die Russen eingezogen sind. Geben Sie ihm vorher ruhig noch ein bißchen was zu essen…«

Bindig hatte dem Knecht zugewinkt, sich wieder auf die Bank zu setzen. Er tat es linkisch und gleichsam widerstrebend.

»Die Russen waren schon einmal hier«, sagte die Frau.

»Ich weiß«, erwiderte Zado, »und sie werden wiederkommen. Sie werden dann länger bleiben.«

»Meinen Sie, daß sie wiederkommen?«

»Ja. Ich kann Ihnen nur das Datum noch nicht genau sagen. Aber stattdessen kann ich Ihnen sagen, daß sie mit T 34 kommen werden und mit den neuen Stalinpanzern, mit Orgeln und Sturmgeschützen. Sie werden ausgezeichnete Granatwerfer mitbringen und Leute, die damit umgehen können. In den Taschen werden sie Machorka und Sonnenblumenkerne haben und Zeitungspapier. Sie werden an mich denken, liebe Frau, und Sie werden feststellen, daß ich richtig vorausgesagt habe. Ich habe das nämlich alles schon sehr schön geordnet stehen sehen, was einmal hier anrollen wird. Wenn Sie zu dieser Zeit noch hier sein sollten, werden Sie Gelegenheit haben, meine Angaben zu kontrollieren.«

»Möchten Sie ein paar Kirschen essen?« fragte die Frau.

»Kirschen?«

»Ja. Eingemachte Kirschen.«

»Ich esse gerne eingemachte Kirschen«, sagte Zado, »mein Kamerad auch. Denn wir essen alles gern, was nicht in der Feldküche gekocht wird. Aber wir können Sie nicht ausplündern…«

Die Frau verließ schwelgend die Küche. Zado blickte nachdenklich auf die Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte.

»Mein Gott…«, sagte er dann zu Bindig, »wie hat es diese Frau nur angefangen, so zu sein, wie sie ist?«

»Wir hätten schon eher einmal zu ihr gehen sollen«, sagte Bindig.

»Komm!« forderte Zado den Knecht auf. Er wußte, daß der Mann ihn nicht verstand, daß in seinem Hirn nichts war, was ihm die Gabe verliehen hätte, den Sinn der Dinge zu erfassen, die sich um ihn herum abspielten. Aber er sagte zu ihm: »Komm, trink noch einen, ehe sie zurückkommt. Wer weiß, wie lange du noch lebst, alter Junge…« Er hielt ihm das gefüllte Glas hin, und der Knecht rollte die Augen, als er es nahm.

Die Frau betrat die Küche wieder. Sie brachte ein Glas Kirschen mit und öffnete es. Zado sah ihr gedankenlos zu, ohne etwas zu sagen. Dann erinnerte er sich mit einemmal an die beiden Feldgendarmen. Er sagte zu Bindig: »Was hast du dir dabei gedacht, als du mit den beiden Kettenhunden Krach angefangen hast?«

»Nichts. Sie haben sich angestellt, als hätten sie mir was zu sagen.«

»Solche Leute legen dich schneller um, als du glaubst.«

»Möglich. Aber sie sollen sich nicht so anstellen, wenn sie mal nach vorn kommen…«

»Sie haben es Alf gemeldet.«

»Ja. Sie werden mich vielleicht dieser Tage vorführen. Was tut’s schon? Sollen sie mich ruhig vorführen, sie können mir nichts nachweisen.«

»Sie werden dich nicht vorführen«, sagte Zado. Er sah Bindig dabei an und stellte sein Schnapsglas auf den Tisch neben den Teller. Die Frau folgte ihrem Gespräch, aber sie gab nicht zu erkennen, daß es sie interessierte. Sie hantierte am Herd, und der Knecht leckte genießerisch an seinem Glas.

»So?« fragte Bindig. »Aber es wäre mir auch egal gewesen.«

»Es wäre dir nicht egal gewesen, Junge«, sagte Zado, »du hast jetzt sehr viel Mut, aber das ist gar kein Mut, es ist nur Angst. Wenn sie dich einmal in den Fingern haben, ist es aus, das weißt du genau. Tu nicht so, als ob es dich kalt ließe. Aber sie werden dich nicht vorführen, du hast noch einmal Glück gehabt. Sie sind beide tot.«

Die Frau briet noch Speckstücke in der Pfanne. Sie zischten auf dem Feuer.

»Sie sind tot?« fragte Bindig. Er sah Zado mißtrauisch an.

Der nickte. »Ja. Sie sind tot. Sie sind vorn an der Waldecke, zwischen den beiden Gefechtsständen, auf eine Mine gefahren.«

Bindig blieb eine Weile stumm. Erst dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sie sind in das Minenfeld gefahren? Allein? Ich denke, du warst dabei? Ich denke, du hast sie geführt? Ist dir dabei nichts passiert? Oder…«

»Sie sind auf die Mine gefahren«, sagte Zado, »und ich habe aus einiger Entfernung zugesehen. Mir konnte gar nichts passieren.«

»Dann hast du sie…«

»Ich habe sie bis zu dem Minenfeld begleitet«, unterbrach ihn Zado, »sie sind weitergefahren. Was sollte ich dagegen tun?«

»Ich verstehe«, sagte Bindig mit trockener Kehle. Es klang heiser und gepreßt. Er streckte Zado die Hand hin, aber der übersah sie.

»Wenn du wieder einem Kettenhund begegnest, dann überlege dir gefälligst, mit wem du es zu tun hast«, sagte er barsch zu Bindig. »Es ist nämlich möglich, daß ich einmal nicht in der Nähe bin. Und es wäre verdammt schade, wenn sie dich aufhängten.«

Bindig schwieg. Die Frau brachte das Essen zum Tisch. Sie teilte es aus und stellte zu jedem Teller eine kleine Schale mit Kirschen.

»Sie sind ohne Zucker eingekocht«, sagte sie entschuldigend. »Es gab keinen. Hoffentlich schmecken sie Ihnen.«

»Und Alf?« fragte Bindig. »Was sagt Alf?«

»Er wird nichts sagen«, erklärte Zado gelassen, »er weiß, daß er uns braucht, und er wird nichts sagen. Er wird froh sein, daß es so gekommen ist.«

»Beide tot«, sagte Bindig. »Das ist eine Überraschung.«

»Ja. Beide tot, damit ein Dummkopf am Leben bleibt.« Er erinnerte sich an die Frau und drehte sich nach ihr um. Sie schloß die Herdtür. Zado sagte: »Verzeihen Sie, liebe Frau, wir hatten Sie eben ganz vergessen. Sie haben keinen Zucker, sagten Sie?«

»Nein«, gab die Frau zurück, »hoffentlich schmecken die Kirschen Ihnen auch ohne Zucker.«

»Wir haben einen Küchenbullen«, sagte Zado, »der hat ein paar Säcke Zucker stehen. Wir werden Ihnen davon etwas her schleppen, wenn Sie nichts dagegen haben…«

Die Frau wehrte ab. Sie setzte sich zu Tisch, und auch der Knecht wurde aufgefordert, sich an den Tisch zu setzen. Die Frau blickte die Männer an und sagte: »Ich hoffe, es schmeckt Ihnen. Vergessen Sie die beiden Toten dabei und alles andere auch.«

Zado nahm sein Besteck auf und nickte ihr zu. Sie betrachtete Bindig mit einem seltsamen, versonnenen Bück, der Zado sagte, daß diese Frau nicht so spröde und abweisend war, wie sie äußerlich erschien. Er machte sich über sein Essen, und er hörte dabei Bindig leise zu der Frau sagen: »Ich habe sehr viel Glück heute abend. Ich habe Sie kennengelernt, und nun weiß ich außerdem noch, daß mich in den nächsten Tagen nicht die Feldgendarmerie holen wird. Ich habe wirklich sehr viel Glück…«

»Und einen zuverlässigen Freund«, gab die Frau zurück.

Zado tat, als höre er es nicht. Nach einer Weile begann er das Essen zu loben.


Es fror wieder stark in den Nächten. Der Himmel blieb blank und voller unruhig flackernder Sterne, die spät verlöschten, weil die Nächte lang waren.

Die Luft war klar und kalt. Durch diese klare, kalte Luft grollte der Lärm von der Front heran, tags und auch nachts. Die Front wurde von Tag zu Tag bewegter. Es schien, als beabsichtige sie, noch nicht in den Winterschlaf zu sinken. Sie erwachte gleichsam zu einem geräuschvollen, gefahrverheißenden Leben. Morgens, wenn noch der Dunst über den Äckern lag und das Tageslicht fahl war, weil die Sonne fehlte, kroch das Gedonner der leichten Geschütze von der Front bis nach Haselgarten. Um diese Zeit schoß die Rote Armee gezieltes Feuer. Keine gewaltigen Schläge, keine großen Kaliber, nur eine Art Störungsfeuer, das oft Stunden andauerte. Manchmal setzte es für längere Zeit aus. Dann aber, nach Minuten, manchmal nach einer halben Stunde, schob sich grollend und rumpelnd die nächste Serie Granaten heran. Die Infanteristen in den Erdlöchern hoben um diese Zeit nicht die Köpfe. Sie duckten sich und rauchten, dösten in den beginnenden Morgen. Von deutscher Seite antworteten nur selten ein paar vereinzelte Schüsse. Es war kaum leichte Artillerie vorhanden.

Zuweilen schalteten sich ein paar Sturmgeschütze ein, die irgendwo gut gedeckt standen. Aber sonst blieb es auf deutscher Seite ruhig.

Kurz bevor die sowjetische Artillerie zu schießen aufhörte, fingen die Zweizentimeterkanonen an zu bellen. Tagsüber und auch in der Morgendämmerung schossen sie keine Leuchtspur. Man sah nicht die wirren Linien und Kurven der sich überkreuzenden Feuerbälle, und eigentlich hörte man nur den Abschußlärm, denn die kleinen Geschosse verschwanden fast lautlos in der weichen Erde, wenn sie nicht irgendwohin, weit in die Luft pfiffen.

Stellten die Zweizentimeterkanonen ihren Lärm ein, dann begannen fast automatisch die sowjetischen Schützen aus ihren Löchern zu schießen. Meist mit Maschinenpistolen und mehr um des Lärms willen, als um Treffer zu erreichen. Dafür war der Abstand zu groß und die Tragweite der kleinen Geschosse zu gering. Die Deutschen antworteten mit vereinzeltem Gewehrfeuer, mit Gewehrgranaten, von denen auf rätselhaften Wegen ein paar Kästen nach vorn gekommen waren. Sie schossen auch zuweilen einmal eine Panzerfaust ziemlich ziellos nach der Gegenseite ab und freuten sich, wenn sie wenigstens detonierte. Später merkte man deutlich den Zeitpunkt, wenn der Kaffee in die Stellungen gebracht wurde. Das geschah etwa um die gleiche Zeit auf beiden Seiten der Front. Es wurde ruhiger. Hier und da noch ein Schuß, aber sonst nichts. Auch den ganzen Vormittag über ereignete sich kaum etwas, bis auf gelegentliches Artilleriefeuer. Erst am Nachmittag wurde das Feuer wieder spürbar. Hier und da streute die sowjetische Artillerie ganze Geländeabschnitte ab, setzte ein paar Dutzend Granaten auf engsten Raum und beobachtete die Wirkung oder die Bewegung, die der Überfall auslöste. Man tastete einander ab. Die langsamen Doppeldecker mit dem roten Stern und dem röchelnden Motor schaukelten über die Front, und die Beobachter schossen aus langsam tackernden Maschinengewehren, die auf Drehkränze montiert waten, zur Erde. Es kam auch vor, daß sie Bomben warfen. Sie taten das, indem sie die Explosivkörper mit den Händen anpackten und über die Bordwand fallen ließen. Sie trafen selten etwas, aber dennoch waren diese längst für den Schrotthaufen reifen Flugzeuge unangenehm. Man hörte sie erst, wenn sie bereits sehr nahe waren. Ihr Motorengeräusch täuschte den Lauscher, weil die Maschinen äußerst langsam flogen. Das machte sie zu gefährlichen Nachtschwärmern. Die modernen Maschinen, die während des Vormarsches über den sich zurückziehenden deutschen Kolonnen dahingebraust waren, schienen weit von der Front entfernt auf sicheren Flugplätzen zu stehen. Sie wurden nur selten eingesetzt. Es war, als spare man sie auf für den nächsten Angriff.

Wenn es an der Front für eine Weile still war, konnten die Infanteristen die Motorengeräusche hinter den sowjetischen Linien hören. Es war ein ständiges Kommen und Gehen von Fahrzeugen. Aber sie kamen fast nie in Sichtweite. Immer nur hörte man ihre Motoren, und man wußte nicht, ob es stets die gleichen Fahrzeuge waren oder ob es sich um endlose Kolonnen handelte, die Material, Munition, Truppen und Verpflegungen bis in die Nähe der Erdstellungen heranschleppten.

Am Nachmittag schossen sich die Granatwerfer für den Abend ein. Man kannte das. Drei Schuß und dann noch drei. Manchmal wiederholt es sich. Dann wußten die Infanteristen, daß sich eine Stalinorgel einschoß. Zuweilen konnte man dann beobachten, daß Spaten hervorgeholt wurden und ein emsiges Arbeiten einsetzte. Die Männer wühlten sich weiter in die Erde. Sie wühlten horizontale Gänge von ihren Schützenlöchern aus in das Erdreich, um möglichst weit darin verschwinden zu können, wenn die Orgeln anfingen zu schießen.


Das geschah meist in der Abenddämmerung. Ganz plötzlich kam von weit hinter den sowjetischen Erdlöchern ein rollender, dumpfer Laut. So, als würden einige Dutzend Landsknechtstrommeln zugleich geschlagen. Man hörte die Granaten der Orgel nicht. Man vernahm erst im letzten Augenblick ein gurgelndes Zischen, aber dann krepierten die Geschosse auch bereits. Sie fielen immer eng beieinander auf ein kleines Stück Gelände und wühlten es um. Nicht sehr tief, denn die Zünder waren so eingestellt, daß die Geschosse nur wenig ins Erdreich eindrangen. Sie krepierten oberhalb der Erdoberfläche und schickten einen verheerenden Schwall von Splittern dicht über dem Boden dahin. Man konnte dem Feuerschlag einer Orgel nur selten entgehen. Deshalb zogen sich viele Infanteristen um die Zeit, da die Orgel schoß, aus ihren Stellungen zurück bis an den Waldrand, um dem Feuer zu entgehen.

Die Orgeln schossen nicht lange. Sie wechselten drei- oder viermal ihren Standort und schwiegen dann wieder. Die Granatwerfer setzten das Feuer fort. Die Artillerie mischte sich ein, manchmal mit den Siebzehnzwo, aber dann flaute es wieder ab, und in der Dämmerung zogen die Perlenschnüre der Zweizentimeter-kanonen dicht über der Erde dahin.

Wenn es Nacht wurde, begann die Zeit der Spähtrupps. Sie kamen von beiden Seiten, und sie wurden ebenso von der einen wie von der anderen Seite abgefangen, aufgerieben, versprengt oder verpaßt. Dabei kam es zu örtlichen Schießereien. Das war die Zeit der Leuchtkugeln, die im steilen Bogen aufstiegen, zerbarsten, an Fallschirmen niederschwebten und die Gegend in ihr kaltes, weißes Licht tauchten.

Gelegentlich grollte weit hinter den sowjetischen Linien ein paarmal ein schweres Geschütz auf. Kaliber achtundzwanzig oder schwerer. Es setzte ein paar Granaten in die ersten Dörfer hinter den deutschen Linien und schwieg dann wieder.

Während man auf der deutschen Seite die Verwundeten barg und die Toten auf Zeltbahnen nach hinten schleifte, machte bei den Infanteristen, die ihre Zigaretten in den hohlen Händen verbargen, wie jeden Tag das Gerücht die Runde, daß eine Division Flak eingetroffen sei. Zum Erdkampf kommandiert. Die Artilleristen würden die Schützenlinien verstärken. Sie würden aber auch ihre Kanonen aufstellen, damit es endlich ein Gegengewicht zu der weit stärkeren sowjetischen Artillerie gäbe.

Die Flakartilleristen mit ihren Kanonen trafen nicht ein. Es war nicht daran zu denken, aber das Gerücht hielt sich hartnäckig, und die Offiziere taten nichts, es zu zerstreuen. Sie hatten genug zu tun, alle anderen Gerüchte zu zerstreuen, die unter den Männern die Runde machten und die gefährlicher waren als jenes von der Flakartillerie, das immerhin noch eine Art Hoffnung auslöste, die beinahe angenehm war.

Wegen eines solchen Gerüchtes erschien an einem Abend, der in Haselgarten verhältnismäßig ruhig verlief, Oberst Barden bei seinem Neffen, dem Leutnant Alf.

Barden war ein groß gewachsener, breitschultriger Mann. Er hatte etwas Väterliches an sich, und in der Tat verkehrte er mit Untergebenen stets gern auf eine joviale, begütigende Art, was ihm manche Sympathien sicherte. Er hatte stark ergrautes Haar und die Angewohnheit, Zigarren zu rauchen. Manchmal zündete er eine Zigarre sechs- oder siebenmal an, weil sie ihm immer wieder ausging. Das war jedoch nicht der schlechten Qualität der Marketenderzigarren beim Divisionsstab zuzuschreiben, sondern eher der Gedankenlosigkeit des Obersten, der es einfach vergaß, an den Glimmstengeln zu ziehen, und sie statt dessen zwischen den einwandfrei gepflegten Fingern hielt, während er mit jemand redete oder Aufzeichnungen machte.

Er begrüßte seinen Neffen, indem er ihn umarmte und ihm lebhaft auf die Schultern klopfte. Er konnte Alf recht gut leiden, und Alf wußte das. Diesem Umstand verdankte Alf, wenngleich nicht seine Karriere als Offizier, so doch die verhältnismäßig ungefährliche Aufgabe, eine Truppe zu kommandieren, ohne selbst an einer Gefechtshandlung teilzunehmen. Barden nahm vom Rücksitz des Fahrzeuges ein in Pergamentpapier eingewickeltes Päckchen, klemmte es unter den Arm und schob Alf in sein Quartier, nachdem er den Fahrer angewiesen hatte, den Wagen in Deckung zu fahren und sich in der Nähe aufzuhalten.

»Bubi«, sagte er lächelnd, »erzähle mir, wie es dir geht!« Er nannte Alf stets Bubi. Er wußte seinen richtigen Vornamen nicht einmal, denn jeder in der Familie hatte Alf immer nur so angeredet, weil er der Jüngste gewesen war. Alf stellte zwei Kognakgläser auf den Tisch und griff nach einer Flasche, die in der Nähe seiner Schlafstelle stand. Aber Barden rief erschrocken: »Laß um Himmels willen dieses Gesöff, wo es ist! Hier, nimm das! Der Rest von einer Kiste Martell…« Er wickelte die Flasche aus dem Papier. Es kamen noch ein paar Packungen mit Zigaretten zum Vorschein, die Barden ebenfalls Alf zuschob, eine Blechbüchse mit englischem Kaffee und eine Pralinen Schachtel.

»Du scheinst noch ganz gut versorgt zu sein, Onkel«, sagte Alf, während er die Zinnkapsel von der Kognakflasche abzog. Barden beobachtete ihn schmunzelnd. Der Junge sah gut aus. Bubi hatte immer gut ausgesehen. Ein Wunder, daß er noch nicht verheiratet war. Barden war sich nicht sicher, ob Alf überhaupt ein Mädchen hatte.

»Kaffee«, sagte Alf und nahm die Büchse in die Hand, um die Beschriftung zu lesen, »Beutekaffee! Ich habe seit einem Vierteljahr keinen richtigen Kaffee mehr getrunken.«

Barden nickte. Dann sagte er vorwurfsvoll: »Warum meldest du dich nicht? Es ist immer etwas Kaffee für Offiziere da. Man muß sich nur darum kümmern. Oder nimmt dich deine Aufgabe hier so in Anspruch?«

Alf überhörte die Ironie. Er tippte nur mit dem Finger gegen die Blechdose und sagte: »Beutekaffee. Was würden wir trinken, wenn wir nicht zufällig gegen England Krieg führten?«

Der Oberst lachte breit auf. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, den er eingenommen hatte, und öffnete die Knöpfe seines Uniformrockes. Er trug ein paar Auszeichnungen von 1914 und das Kriegsverdienstkreuz von der Zeit her, als er Lehrer an der Kriegsschule gewesen war.

»Du hast dich ziemlich spartanisch eingerichtet«, stellte er nach einem Rundblick in der Stube fest. Alf quittierte diese Bemerkung mit einem Nicken. Er goß den Kognak in die beiden Gläser und verkorkte die Flasche wieder. Dann brannte er sich eine Zigarette an.

Barden beobachtete ihn dabei und sagte: »Kannst du dich erinnern, wo du deine erste Zigarette rauchtest?«

Alf nickte bedächtig. Er hob sein Glas und sagte: »Die erste Zigarette, ja, das war bei dir. Pohlmann war dabei. Er hustete, und du klopftest ihn auf den Rücken. Er ist im September gefallen. In Holland.«

Sie tranken. Alf ließ das aromatische Getränk langsam durch die Kehle rinnen, kostete seinen Geschmack aus, bedächtig genießend,

Barden kippte es hinunter und schüttelte sich. Dann griff er nach einer Zigarre, und während er sie umständlich beschnitt, sagte er vor sich hin: »Zu Hause ist alles in Ordnung. Ernestine wird Weihnachten heiraten. Deswegen komme ich unter anderem auch zu dir. Hast du Lust dabei zu sein?«

»Ich habe meinen Urlaub gehabt.«

»Und vertrödelt, ohne zu heiraten«, nickte Barden gelassen. »Es läßt sich aber machen. Eine Woche. Ich denke, wir fahren gemeinsam…«

Ernestine war Bardens Tochter. Alf erkundigte sich mit gerunzelter Stirn: »Wie alt ist sie eigentlich?«

»Zwanzig«, gab Barden zurück.

»Ein bißchen früh«, meinte Alf.

Barden sagte: »Ich sehe es lieber, wenn sie heiratet. Die beiden stecken schon lange genug zusammen. So etwas darf man nicht allzu lange anstehen lassen.«

»Es ist der Hauptmann vom Luftgau, nicht wahr?« wollte Alf wissen.

Barden nickte. »Ja. Ehrlicher Kerl. Goldrichtig für Ernestine, Wird nach dem Krieg wieder Pilot bei der Lufthansa.«

»Nach dem Krieg…«, sagte Alf und goß erneut die Gläser voll. »Ich glaube, nach dem Krieg wird er so alt sein, daß er nicht mehr als Pilot fliegen kann.«

Barden sah ihn eine Weile lang nachdenklich an. Dann überzog sich sein Gesicht mit einem abfälligen Grinsen.

»Mein lieber Junge«, sagte er betont, »die strategischen Fähigkeiten unseres Gefreiten reichen nicht mehr für lange aus. Der Krieg geht schneller zu Ende, als wir denken.«

»Vielleicht auch anders, als wir denken.«

»Darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Sie fallen nicht sehr ermutigend aus, wenn man die Sache nüchtern genug be-trachtet und wenn man ein bißchen hinter die Kulissen blicken kann…«

Alf hob das Glas und trank. »Mich quält die Vorstellung, daß wir eines Tages unsere Pistolen abschnallen und sie einem sibirischen Kommissar überreichen.« Er brannte eine neue Zigarette an und hielt Barden das Streichholz hin, weil er sah, daß dessen Zigarre bereits wieder erkaltet war.

»Unser Gefreiter…«, sagte Barden, nachdenklich den Rauch zur Decke blasend. »Versuche dir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die Bombe von Stauffenberg ihn erwischt hätte…«

»Dann wärst du mit deinen Englischkenntnissen vermutlich heute nicht Ic bei unserer Division, sondern Verbindungsoffizier bei den verbündeten englischen Truppen und hättest dein Quartier entweder in Paris oder bereits in Moskau.«

Barden zog nachdenklich an der Zigarre. Er war ein gedankenloser Raucher, er zog so lange an der Zigarre, bis das glühende Ende zentimeterlang war und der Rauch brandig schmeckte.

»Versuche es dir vorzustellen…«, sagte er versonnen, »alles hätte so kommen können, und nun… Ach, laß uns davon aufhören. Ernestines Hochzeit wird im Schwarzwald sein. Wir werden ein paar schöne Tage haben.«

»Schwarzwald im Winter«, sagte Alf, »das könnte mir gut tun. Hoffentlich komme ich hier weg. Ich bin skeptisch.«

»Es wird gehen«, sagte Barden gelassen. »Übrigens mußt du nicht denken, daß deine Kompanie wichtiger ist als irgend etwas anderes auf der Welt.«

Alf verzog das Gesicht. Er sah den Onkel lächelnd an, so verbindlich, wie er das nur konnte, und dann sagte er: »Das weiß ich längst, und ich bin felsenfest davon überzeugt. Aber ich unterstehe dem Ic der Division.«

Sie tranken sich zu und lächelten dabei. Barden schüttelte sich wieder. Seine Zigarre stank.

»Ehe ich es vergesse«, sagte er, »wir haben jetzt einen national-sozialistischen Führungsoffizier. Walte Gott, daß du ihn nie kennen lernst! Er beauftragte mich, mit dir über die Geschichte von den Bordellen zu sprechen…«

»Bordelle?« erkundigte sich Alf interessiert.

»Ja, Bordelle. Es gibt das Gerücht, daß der Russe dicht hinter der Front Wohnwagen stehen hat, die als Bordelle dienen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Alf, »ich werde es meinen Männern sagen für den Fall, daß sie einmal während eines Einsatzes das Bedürfnis haben…«

»Hör zu«, unterbrach Barden ihn, »die Geschichte geht noch weiter…«

Alf gelang es nicht, zu schweigen. Er fragte mit einem zugekniffenen Auge: »Will wohl der Herr NSFO mal mit auf Einsatz gehen, wegen dieser Wohnwagen?«

Barden lachte. Wenn der Junge zwei Kognaks getrunken hatte, wurde er spaßig. »Nicht doch!« sagte er, »Du vergißt, daß wir bei der Division mit weiblichem Personal besser versorgt sind als du bei deiner Kompanie! Die Geschichte hat einen anderen Haken. Ob es diese Wohnwagen gibt oder nicht, weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es das Gerücht darum, und dieses Gerücht will der Herr NSFO auf äußerst geschickte Weise umdrehen.«

»Umdrehen?«

»Ja. Und zwar so, daß es ein für uns positives und für die Russen gefährliches Gerücht ist. Mit einem Schlage.«

»Darauf bin ich gespannt. Wenn ich vorschlagen dürfte: Landser bekommen während Benutzung der Damen unverhofft glühendes Eisen in Form von Sowjetstern aufgedrückt. Dazu der Hinweis, daß die Sowjets keine Brandbinden haben…«

Barden lächelte nachsichtig. »Der NSFO ist auf eine viel bessere Idee gekommen.«

»Ich höre!« sagte Alf. »Vielleicht Genickschuß beim Küssen?«

Barden lächelte wieder sehr nachsichtig. Er sagte mit gerunzelter Stirn: »Du bist zu früh Offizier geworden, Bubi. Du hast keine Vorstellung von einem leichten Mädchen. Da wird nicht geküßt. Nicht einmal gesprochen. Wenigstens nicht viel. Und nun paß auf…«

»Schade…«, sagte Alf. »Ich hatte mir das so schön ausgedacht mit dem Genickschuß…«

»Ja. Also dieses Gerücht wird umgedreht. In deinem Bereich hast du dafür zu sorgen, daß es unter die Leute kommt. Die Frauen in den ominösen Wohnwagen sind Deutsche. Das ist der Dreh!«

Alf kippte einen Martell und fragte dann verständnislos: »Deutsche?«

»Ja…« Barden lachte. »Grandioser Einfall! Verschleppte deutsche Frauen. Aus den paar Dörfern, die die Russen in Ostpreußen besetzt haben, und von sonst woher. Jeder Infanterist wird seine persönliche Ehre darin sehen, sie zu befreien! Guter Einfall, was?« fragte er, als Alf nichts sagte. Er sah seinem Neffen forschend ins Gesicht.

Aber der schüttelte den Kopf und sagte langsam: »Ich kann nicht behaupten, daß mir diese Geschichte gefällt. Sie ist mir zu primitiv.«

Barden zuckte die Schultern.

»Und blödsinnig!« sagte Alf.

»Ich streite das nicht ab«, sagte Barden, »ich übermittle dir nur eine Anweisung des NSFO.«

Nach einer Weile sagte Alf: »Du unterschätzt meine Leute. Sie treiben sich zu oft hinter den Russen herum. Sie kennen sich aus. Man kann ihnen nicht mit solch idiotischen Dingen kommen. Sie sind keine Parteianwärter.«

Barden setzte seine erkaltete Zigarre wieder in Brand. Er tat es mit einem ironischen Lächeln. Dabei sagte er: »Junge, du begehst einen Fehler. Du hältst mich für den NSFO. Ich bin aber nur der Ic. Und diese Geschichte ist nicht meine Erfindung, sondern die des NSFO.«

»Ich werde sie ignorieren. Ich habe keine Lust, diese Geschichte zu kolportieren.«

»Darüber verlange ich von dir keine Entscheidung«, sagte Barden verbindlich. »Das ist nicht mein Ressort.«

Barden setzte seinem Neffen auseinander, was sich in den letzten Wochen im Divisionsstab verändert hatte. Die Einsetzung des Führungsoffiziers hatte manches mit sich gebracht, womit zuvor niemand gerechnet hatte. Aber das betraf vorerst wenigstens nur den Divisionsstab, nicht die Kompanie, und Alf hörte es, ohne besonders beunruhigt darüber zu sein. Wöchentliche politische Schulungen. Abend Unterricht für Offiziere. Nationalsozialistisches Gedankengut. Die Umwandlung der Wehrmacht zu einer politischen Truppe.

Das würde seine Zeit dauern, sagte sich Alf. Und überdies war die Front hier recht dünn. Kein Mensch wußte, ob die Stellungen beim nächsten Angriff zu halten waren. Dann würde sich der neue NSFO vielleicht von selbst aus dem Staube machen. Alf war überzeugt davon, obwohl er nicht wußte, ob es sich um einen fronterfahrenen Mann handelte oder nur um einen Parteitheoretiker in Uniform. Man würde sehen.


»Wie sieht es aus, Onkel?« erkundigte er sich schließlich nach der allgemeinen Lage. »Wir sind hier abgeschlossen, wie man nur abgeschlossen sein kann. Wenn es nicht im Radio den Soldatensender West gäbe, wüßten wir überhaupt nicht, was in der Welt geschieht.«

Barden war ein Mann, der im Stab als zuverlässiger Offizier galt. Er besaß Kenntnisse, das machte ihn wertvoll. Und er verstand es, seine Meinung über die Dinge, die ihn umgaben, für sich zu behalten. Das machte ihn bei seinen Vorgesetzten beliebt. Trotzdem gab es wohl im Stab keinen anderen Offizier, der die Lage, in der sich die Truppe befand, so genau kannte und gleichzeitig so nüchtern einschätzte wie er. Barden hatte keine Illusionen. Er war ohne Pathos und ohne nennenswerte Hoffnungen auf eine Besserung der Kriegslage. Er war das, seit er an der Ostfront stand. Zuvor hatte er sich für den Krieg nur von der theoretischen Seite her interessiert. Manchmal hatte er kleine militärpolitische Abhandlungen für die »Wehrmacht« geschrieben.

Aber das lag lange zurück. Er war ein vorsichtiger Mensch und hatte sich in den Junitagen betont neutral verhalten, als ein alter Kamerad aus dem ersten Weltkrieg ihn etwas umwunden, aber immerhin verständlich genug danach befragt hatte, was er zu tun gedenke, wenn sich ein Teil des gehobenen Offizierskorps dazu entschließe, Hitler abzusetzen und Staatsgeschäfte und Kriegführung selbst in die Hand zu nehmen. Der Gedanke daran war Barden nicht unsympathisch gewesen. Er versprach sich davon sogar einiges und versicherte seinen Kameraden strengstes Stillschweigen und größte Sympathie. Aber er betonte ebenso bestimmt, daß er sich nicht in der Lage fühle, an dieser Auseinandersetzung aktiv teilzunehmen, Barden war ein kluger Mann. Er beurteilte die Lage zu nüchtern, als daß er den Leuten vom Offizierskorps eine Chance gab. Er kannte die scharfen Zähne der Parteimaschine, und er entschied sich dafür, nicht zum Märtyrer zu werden.

Als er nun mit seinem Neffen über die wirkliche Lage an der Front sprach, tat er das, indem er sich an alles erinnerte, was sich ereignet hatte, bis die Heere zum Stehen gekommen waren. Der Herbst dieses Jahres war im gewissen Sinne entscheidend für den weiteren Verlauf des Krieges gewesen. Er war vorüber. Nun kam der Winter. Barden dachte zurück.

Im August durchbrach die Rote Armee die dünnen deutschen Sicherungen an der ostpreußischen Grenze. Beiderseits der Stadt Memel rückten ihre Kolonnen bis zur Ostsee vor. Das hieß für die deutsche Kurlandarmee: »Abtrennung.«


Den August hindurch spitzte sich aber gleichzeitig die Lage auf dem Balkan derartig zu, daß man damit rechnen mußte, beträcht-liche Teile der dort besetzten Länder in Kürze zu verlieren. So kam es auch. Rumänien erklärte Deutschland den Krieg, und die Rote Armee griff an. Bald darauf wälzte sich das deutsche Heer auf seinem Rückzug durch Ungarn. Aber dennoch standen die Teile der Roten Armee, die unter dem Oberbefehl von Rokossowski und Tscherniakow sich zum Angriff auf Ostpreußen vorbereiteten, Deutschland am nächsten. Hier schien sich zu entscheiden, was in den nächsten Monaten geschah. Und es entschied sich auch.


Im September schloß Finnland Frieden mit der Sowjetunion. Bereits Anfang Oktober griff die Rote Armee Ostpreußen zum zweiten Male an. Sie brach gestärkt und unwahrscheinlich gut ausgerüstet aus ihren Stellungen hervor. Sie nahm Goldap und marschierte auf Gumbinnen zu.

Sie griff nicht nur hier an, sondern auch im Bereich der Heeresgruppe Nord, die sie auf dem schmalen Festlandstreifen zwischen der Ostsee and der Rigaer Bucht zusammendrängte.

Unter Aufbietung aller vorhandenen Kräfte gelang es schließlich, den sowjetischen Angriff noch einmal zum Stehen zu bringen. Aber das änderte nichts daran, daß sich die Rote Armee in Ostpreußen befand und daß es sich nur um eine verhältnismäßig kurze Zeit handeln konnte, bis sie erneut antrat, um endgültig zum entscheidenden Schlag auszuholen.

Die moralische Verfassung der deutschen Truppen war schlecht. Zudem mangelte es an Menschen. Die Divisionen wurden mit oberflächlich ausgebildetem Ersatz aufgefüllt. An die Stelle von erfahrenen Soldaten des Landkrieges traten Flieger und Matrosen, Verwaltungsangestellte aus den Stäben und Volkssturmmänner, die der Kampftaktik und den Erfahrungen der sowjetischen Soldaten nichts entgegenzusetzen hatten. Dazu gab es wenig Material. Es schien, als verfüge Deutschland über keine Flugzeuge und Panzer mehr. Man sah nur selten schwere Artillerie. Das vorhandene Material aber war abgenutzt, überholungsreif.

Die Geschütze waren ausgeleiert, und aus den Munitionsfabriken in Deutschland kamen Patronen an die Front, die aus lackiertem Blech bestanden. Sie blieben in den Gewehren stecken, verklemmten die Schlösser. Die Fahrzeuge waren ohne Ersatzteile. In den wenigen Werkstätten gab es nicht einmal Ersatzteile für die letzte Konstruktion der deutschen Rüstungsindustrie, den »Tiger«. Man kratzte das Letzte zusammen, und die nationalsozialistischen Führungsoffiziere überboten sich gegenseitig in der Erfindung zugkräftiger Durchhalteparolen. Immer wieder wurde das unbedingte Vertrauen auf den Führer und den Endsieg gefordert. Es gab Soldaten, die gegenteiliger Meinung waren, und an den Bäumen entlang der ostpreußischen Landstraßen hingen die Leichen der ersten Deserteure. Irgendwoher kamen immer wieder die vielversprechenden Nachrichten von neuen, unerhört schlagkräftigen Waffen, die in Kürze die Lage grundsätzlich zugunsten Deutschlands ändern würden. Von den Soldaten, die an der Invasionsfront im Westen gekämpft hatten, kannte mancher diese Gerüchte längst.

Sie hielten sich sehr hartnäckig, waren wie ein Stückchen aufgeschwemmtes Holz, das einen schiffbrüchigen Nicht-schwimmer durch eine kochende Brandung tragen soll.

Inzwischen waren die Fronten erstarrt. Es schien, als sammle die Rote Armee noch immer Menschen und Material für ihren Angriff, und es schien, daß die riesigen Strecken, die zwischen ihrem Standort und ihren Versorgungsbasen lagen, die Zeit für die Heranführung von Reserven verlängerten. Abgesehen von den wenigen örtlich begrenzten Angriffen, die es ab und zu gab, lagen sich die Heere abwartend gegenüber, als ob sich der Krieg in Ostpreußen und an seinen Grenzen für eine kurze Weile zum Schlaf niedergelegt hätte.


Barden wußte, wie das Erwachen aus diesem Schlaf aussehen würde. Durch seine Hände wanderten die Meldungen der Aufklärungskompanie, die sein Neffe führte. Er wertete diese Meldungen aus und entschied im Einvernehmen mit dem Chef der Heeresgruppe über die Aktionen, die unternommen wurden, um den gegnerischen Aufmarsch im Hinterland zu stören.

Er wußte, wie gering die Chance war, dadurch etwas an den bevorstehenden Ereignissen zu ändern, aber er hütete sich davor, es irgendeinem anderen Menschen einzugestehen außer sich selbst.

»Du hast jetzt neunzehn Mann im Einsatz…«, sagte er m Alf.

Der nickte. »Neunzehn. In vier verschiedenen Gruppen. Es ist das erstemal, daß so viele Leute zugleich im Einsatz sind.«

Barden überlegte eine Weile. Dann sagte er: »In absehbarer Zeit werden wir weitere zwei Gruppen anfordern. Ein Großeinsatz.«

»Mit zwei Gruppen?«

»Ja. Aber beide Gruppen gemeinsam.« Et dämpfte seine Stimme, obgleich nicht die geringste Befürchtung bestand, daß jemand ihr Gespräch mithörte. »Wir setzen eine Anzahl Wlassow-Leute hinten mit ein. Freiwillige. Sie haben bereits ihre Ausbildung hinter sich.«

»Wlassow?« erkundigte sich Alf. »Ist das der übergelaufene Russe?«

Barden nickte. »Er hat nichts zu sagen. Man hat ihn ziemlich kaltgestellt. Aber er hat eine Menge Russen an sich gezogen, für diese Aufgaben sind sie zu verwenden. Ein Teil wird sicher drüben die Uniformen ausziehen und sich aus dem Staube machen, aber es werden immer noch genug übrigbleiben.«

»Wofür?«

Barden beschnitt eine neue Zigarre. Et ging mit seinen Zigarren um wie mit völlig wertlosen Gegenständen. Als wüßte er nicht, daß es teure Importen waren, die sich der Stabsmarketender nur auf Umwegen beschafft hatte und die ohnehin bald zu Ende gingen.

»Wofür?« wiederholte er. »Für verschiedene Dinge. Du darfst nicht vergessen, daß diese Leute Russen sind. Sie sprechen die Sprache und kennen sich in den Gepflogenheiten der Armee gut aus.«

»Mein Gott«, sagte Alf, »glaubst du, das wird den Krieg entscheiden?« Er blickte den Onkel an, aber der lächelte ihm gemütlich ins Gesicht, an seiner Zigarre paffend.

»Natürlich nicht«, sagte er, »im übrigen werden sie verhältnismäßig unbedeutende Aufgaben bekommen. Aber immerhin tragen sie Uniformen der Roten Armee und sind nicht so leicht zu erkennen. Wenn sie auch nichts entscheiden, so richten sie doch Verwirrung an. Allerdings, wie ich die Russen kenne, wird sie diese Verwirrung nicht weiter stören.«

»Das sagst du mir heute, und morgen wirst du ihnen schildern, wie sehr von ihrem Einsatz der Endsieg abhängig ist.«

»Soll ich lieber als Kompaniechef zur Infanterie nach Gum-binnen gehen? Es gibt genug Leute, die auf meinen Posten als Ic lauern…« Barden paffte ein paar Rauchwolken in die stickige Luft des Zimmers. Alf sah nachdenklich auf die Kognakflasche. Barden nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte leise: »Junge, du mußt dir darüber klar sein, daß uns gegenüber dreißig Schützendivisionen liegen und zwölf verschiedene Panzerverbände. Die Artillerie will ich dir gar nicht aufzählen. Aber bis der Russe angreift, wird sich diese Zahl noch erhöhen. Was glaubst du, was sich hier abspielt, wenn es losgeht?«

Alf griff nach einer Zigarette. Als sie brannte, stand er auf und ging ein paar Schritte in der Stube hin und her. Barden konnte sein Gesicht jetzt nicht mehr erkennen, denn die Petroleumlampe, die an der Wand hing, war zu tief angebracht. Er hörte ihn nur sagen: »Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt für den Beginn des Angriffs?«

Barden zog die Stirn in Falten. Er strich sich leicht über sein lockeres, stark gelichtetes graues Haar und sagte dann: »Nach dem, was wir bis jetzt wissen, wird der Angriff noch eine Weile auf sich warten lassen. Ich meine den Großangriff. Den werden die Russen kaum noch im alten Jahr anlaufen lassen. Sie sind vorsichtig. Sie brauchen offenes Wetter. Das heißt Kälte und Schnee. Das ist ihre Zeit. Gestern sind Leute von dir zurückgekommen. Sie haben festgestellt, daß in den Bereitstellungen Schlitten eingetroffen sind. Wenn sie ihre Schlitten in die Bereitstellungen bringen, heißt das, daß sie mit Schlitten fahren wollen. Noch liegt kein Schnee. Vor Weihnachten wird es auch keinen geben. Danach wird der Angriff kommen. Wir werden gerade noch rechtzeitig von Ernestines Hochzeit zurück sein, um ihn zu erleben…«

»Vielleicht ist es der letzte, den wir erleben…«, sagte Alf aus der Dunkelheit.

Barden schwieg. Nach langer Zeit sagte er: »Es wird zuvor noch eine Anzahl kleinerer Plänkeleien geben. An ein paar Stellen werden die Russen versuchen, günstigere Ausgangspositionen zu gewinnen.« Er deutete mit dem Daumen der Hand, die auch die Zigarre hielt, nach der Tür. Es war eine unbestimmte Geste. Dann sagte er: »Sie werden es hier in dieser Gegend auch noch einmal versuchen. Es liegen Anzeichen dafür vor.«

Alf sagte: »Sie waren ja schon einmal bis über Haselgarten hinaus, Damals…«

»Ja«, unterbrach ihn Barden, »sie werden es wieder versuchen. Wie ich die Dinge sehe, werden wir ihnen nichts Wesentliches entgegensetzen. Wir werden sie nur abbremsen, nicht zurückschlagen.«

»Du meinst, wir haben nicht die Kräfte dazu?«

»Es werden andere Dinge gespielt. Alles, was wir noch tun werden, ist, die Russen so lange zu bremsen, bis die Amerikaner weit genug in Deutschland sind. So sehe ich das. Verstehst du?«

»Ich verstehe. Und meine Kompanie?«

»Man wird sie zurücknehmen. Sie ist zu schade als Prellbock. Noch wird sie gebraucht. Man wird sie zurück verlegen, wenn es losgeht. Aber es sieht so aus, als ließe das noch ein bißchen auf sich warten.« Er war kein Trinker, und der Alkohol setzte ihm zu. Er würde am Morgen furchtbare Kopfschmerzen haben, aber das war ihm jetzt gleich.

Auf der Straße vor dem Haus rollte eine Kolonne Fahrzeuge zurück. Munitionswagen. Die Motoren brüllten in die Nacht, und Alf, der mit gesenktem Kopf am Tisch stand, stellte sich die Gesichter der Fahrer vor. Schlecht rasiert, ungewaschen, über das Lenkrad gebeugt, mit angestrengten Augen die Dunkelheit absuchend, die durch die schmalen Lichtstreifen der Tarnscheinwerfer kaum erhellt wurde. Zigaretten in den Gesichtern. Glimmende Punkte in der Finsternis. Schweißgeruch und Tabaksqualm.

»Die Russen haben jetzt auch Radargeräte… «, sagte Barden.

»Im Schwarzwald…«, murmelte Alf. »Ernestine heiratet im Schwarzwald. Mein schwarzer Anzug wird mir nicht mehr passen. Ich werde in der Uniform erscheinen müssen…«

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