Eine Messe lesen

Während sich Zado sehr sorgfältig wusch, überlegte er, was das Mädchen gesagt hatte.

Er war den ganzen letzten Abend bei ihr gewesen, die Nacht hindurch und den folgenden Tag. Erst in der Dämmerung war er nach Haselgarten zurückgekommen. Er hatte sich zuvor bei Alf abgemeldet. Der hatte ihn verpflichtet, nicht länger als bis zur Dämmerung zu bleiben, und Zado war zur abgemachten Zeit wieder im Dorf gewesen. Er hatte in der Unterkunft niemand vorgefunden außer einem Obergefreiten, der dafür bekannt war, daß er zwischen den Einsätzen nur stundenweise nüchtern war und im übrigen ständig schlief, weil er sich von seinem Lager auf der Strohmatratze am Boden nur erhob, um weiter zu trinken, bis er wieder umsank. Der Mann war harmlos. Er redete viel, wenn er trank, aber er war gemütlich. Er lag auf einer Strohmatratze und sah aus glasigen Augen zu, wie Zado eine große Schüssel mit Wasser hereinholte und sie auf den Ofen stellte. Die Stube, in der sie lagen, war einmal die gute Stube der Bauernfamilie gewesen. Sie hatten die Möbel ausgeräumt und in die Scheune gestellt. Die Matratzen hatten sie nebeneinander auf dem Fußboden ausgelegt. So gab es mehr Platz in der Stube. Sie lagen zu sechs Mann darin, mit ihrem Gepäck und einer Anzahl Gegenständen, die zum täglichen Gebrauch bestimmt waren: die Waschschüssel, ein paar große Töpfe, eine Kaffeekanne mit einer gestrickten Wärmemütze, Eßbesteck, das aus sechs verschiedenen Häusern zusammengesucht war, Decken, alte Gardinen, die sie zum Putzen der Waffen benutzten, und ein Wetzstein, den Zado in der Küche irgendeines Hauses entdeckt hatte. In der Nähe des eisernen Ofens stand auf der Erde ein Grammophon mit einem riesigen Schalltrichter. Zuerst war nur das Grammophon dagewesen. Den Schalltrichter hatten sie später hinter den Häusern auf einem Gerümpelhaufen gefunden. Kraftfahrer hatten ihn als Benzintrichter benutzt. Er stank noch jetzt danach. Aber der Apparat spielte. Die Männer hatten ein paar Platten aufgetrieben. Es waren alte Lieder aus Großmutters Zeiten, aber irgendeiner hatte später aus dem Ort, in dem der Stab lag, ein halbes Dutzend neuer Platten mitgebracht. Die spielten sie abwechselnd. Es gab keinen, der sie nicht schon auswendig kannte. Als das Waschwasser warm war, stellte Zado die Schüssel auf einen Stuhl und zog sich aus. Der andere in der Ecke sah ihm unbewegt zu. Zado rieb sich den Oberkörper ab, dabei leise vor sich hin pfeifend. Das Mädchen hatte etwas von Liebe gesagt.

Der Obergefreite in der Ecke griff nach der Flasche. Es war Bols, und er stammte noch aus Holland. Der Obergefreite besaß noch eine halbe Kiste dieser Flaschen. Er hatte sie selbst gestohlen. Als sie Harderwijk räumten, war er mit einem Kraftfahrer zum Verpflegungslager gefahren, um für die Kompanie einen Zentner Brot, einen Viertelzentner Butter, ebensoviel Käse, zweitausend Zigaretten und hundert Flaschen Bols zu empfangen. Die Posten hatten um diese Zeit nicht mehr genau aufgepaßt, und der Obergefreite hatte zusammen mit dem Kraftfahrer zwei Kisten Bols zusätzlich aufgeladen. Nachher hatten sie geteilt. Die halbe Kiste, die er noch besaß, war der Rest seines Anteils. Er war nicht geizig, und aus diesem Grunde stahl ihm auch keiner etwas von dem Bols. Man brauchte ihm nur zu sagen, daß man eine Flasche haben wolle, und man bekam sie. Aber es gab besseren Schnaps als diesen Bols, und daher hielt sich der Rest in der Kiste des Obergefreiten ziemlich lange. Der Kraftfahrer hatte die Kiste heimlich auf seinem Wagen von Holland bis nach Haselgarten gefahren. Manchmal kam er, und dann trank er mit dem Obergefreiten gemeinsam eine Flasche aus. Die beiden waren seit der Ausbildung befreundet.

»Da!« grunzte der Obergefreite. Zado blieb keine Zeit, zu überlegen, was der Betrunkene wollte. Er sah die Flasche auf sich zufliegen und mußte sie auffangen. Sie glitt ihm beinahe aus der Hand, denn seine Handflächen waren glatt von der Seife. Aber er fing sie, indem er sie an den Körper preßte, und dann nahm er einen Schluck und warf sie zurück.

»Schnall die Pistole ab«, grunzte der Obergefreite, »man wäscht sich nicht mit umgeschnallter Pistole…«

Zado kniff ein Auge in seinem Raubvogelgesicht zu und riet dem Obergefreiten: »Sauf nicht so viel. Wenn sie dich wieder einsetzen, wirst du keine sichere Hand haben.«

»Pistole…«, brummte der Mann. »Geladen und gesichert… hi… ein Idiot… damit geht er baden…«


Das Mädchen war nicht mehr sehr jung. Eine von den Frauen, die niemand besaßen, der an ihnen interessiert war. Keine Familie, keinen Mann. Nur Soldaten.

Zado hatte ihr etwas zu essen mitgenommen. Ein paar Rationsbüchsen Mulifleisch, ein Brot in Zellophan, ein paar Dosen Ölsardinen. Alles aus der Offiziersküche. Zado war einer der wenigen, mit denen der Koch pokerte. Für solche Leute stand immer etwas herum. Zado ließ den Koch gewinnen. Wenn er mit dem Koch pokerte, betrachtete er es als persönliches Pech, einen Flash zu haben. Man mußte den Koch gewinnen lassen. Dann geriet er in Stimmung und rückte Sachen heraus, die knapp waren. Zigaretten und Schokakola waren mehr wert als ein paar lumpige Markscheine, die man verlor.

»Alles keine Soldaten mehr…«, lallte der Obergefreite. Er setzte die Flasche an und trank wieder. Er war vor zwei Tagen vom Einsatz zurückgekommen. Die anderen gingen gern mit ihm zusammen, denn er besaß Kräfte wie ein Bär. Einmal hatte er einen Verletzten achtzehn Kilometer auf dem Rücken getragen und gerettet. Der Mann hatte schon mit der Mündung der Beretta im Mund in einem Gebüsch gelegen, und der Obergefreite war der letzte gewesen, der an ihm vorbeizog. Er nahm ihn mit… Er setzte die Flasche ab und rülpste wohlig. Dann griff er nach einer Zigarette und sah zu, wie Zado seine Haut trockenrieb.

»Paß auf, daß du nicht explodierst…«, grinste Zado. Der Obergefreite winkte lässig mit der Hand. Er kam dabei mit dem glühenden Ende der Zigarette an seinen Arm. Die Funken stoben, aber der Mann schien das nicht zu merken.

Wir müssen immer beieinander bleiben, hatte das Mädchen gesagt. Es war dunkel gewesen, und im Zimmer hatte es nach einem Parfüm gerochen, das Zado kannte. Sie hatten einen Ballon davon in irgendeinem holländischen Parfümladen entdeckt und mitgenommen. Der Ballon war zuletzt beim Stab gelandet, und die Offiziere hatten es für sich in Bierflaschen abgefüllt. Es hatte eine Zeit gegeben, zu der man bereits auf der Straße des Ortes, in dem der Stab lag, riechen konnte, welches Haus er besetzt hatte. Es hatte wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer dem Mädchen wohl das Parfüm geschenkt hatte.

»Vielleicht verändert sich die Front nicht mehr«, hatte das Mädchen gesagt, »dann bleiben wir immer zusammen, und wenn der Krieg vorbei ist, wohnst du bei mir. Es wird sehr schön sein…«

Zado hatte mit ihrem Haar gespielt. Er liebte dieses volle, schwere Haar. Er hatte sie nicht angesehen, nur ihre Stimme hörte er. Diese Mädchen waren in dunklen Zimmern besser zu ertragen als in hellen. Er erinnerte sich nicht mehr genau an das, was er ihr geantwortet hatte. Aber er wußte, daß er ihr Hoffnungen gemacht hatte. Es gab nicht sehr viele Mädchen in diesem Dorf. Es war gut, wenn man wußte, zu wem man gehen konnte, wenn wieder ein Einsatz vorüber war.

Dieses Mädchen hatte etwas Mütterliches. Wenn er müde war, zog sie ihm Schuhe und Strümpfe aus. Sie kleidete ihn aus und legte alles ordentlich zusammen. Sie bügelte seine Hosen und wusch seine Hemden. Sie war nicht besonders schön. Nicht einmal besonders verdorben. Nur lebte sie in einem Dorf, das von der Wehrmacht besetzt war.

Zado rieb sich nachdenklich das Haar trocken. Auf dem Fußboden stand neben der Waschschüssel eine kleine Pfütze. Sie ist einsam, dachte Zado, sie ist ebenso einsam wie wir. Sie hat angefangen, sich die Langeweile mit ihrem Körper zu vertreiben, und sie findet kein Ende mehr. Das ist es. Sonst nichts. Sie nennt das Liebe. Weiß man überhaupt noch, was man Liebe nennen soll? Vielleicht das, was sich zwischen Bindig und dieser Anna abspielen wird? Sicher wird es dazu kommen. Ist das dann Liebe?

Der Obergefreite quengelte: »Übermorgen geht’s los… ich weiß es ganz genau. Und sie werden mich wieder… alles egal… wenn der Bols alle ist…«

»Dann bringst du dir eine Kiste Wodka von drüben mit, wie ich dich kenne«, sagte Zado. Er zog das Hemd an und griff nach der Uniform.

»Wodka…«, lallte der Betrunkene angeekelt, »das ist Brennspiritus mit Flöhen…«

Er grinste: »Davon kriegt man den Tripper… ins Gehirn… und in die Backenzähne! Stell dir vor: Tripper in den Backenzähnen…«

»Du bist ein Schwein«, sagte Zado sachlich. »Du solltest wenigstens einmal am Tag für eine halbe Stunde nüchtern sein, damit du begreifen kannst, daß du die übrige Zeit besoffen gewesen bist.«

Der Obergefreite gehörte zu Timms Zug. Wenn sie zwischen den Einsätzen Dienst machten, dann erschien Timm ein paar Stunden zuvor und nahm dem Obergefreiten die Flasche weg. Ein paar Stunden genügten, daß er dienstfähig wurde. Timm behandelte ihn wie ein krankes Kind. Wenn er damit keinen Erfolg hatte, brüllte er ihn an. Das half immer, denn der Obergefreite hatte das Gemüt eines Kindes.

Er sah Zado schief an und bettelte: »Nicht doch Schwein… du kannst nicht sagen…«

Zado erinnerte sich wieder an das Mädchen. Er sah es so vor sich, wie es in dem Bett lag, und über dem Bett, an der Wand, hing ein kleiner, gläserner Weihwasserkessel mit einem Engel darüber. Er war leer, denn das Zimmer, in dem das Mädchen wohnte, gehörte ihr nicht, und überdies war das Mädchen nicht religiös genug, um den Kessel wieder mit Weihwasser zu füllen. Sie benutzten ihn als Aschenbecher, und es war schön, in der Dunkelheit zu liegen, einen Zigarettenstummel in das durchsichtige Gefäß zu werfen und zu beobachten, wie er langsam verglomm.

Himmel, dachte Zado, wie lange wird es dauern, und sie werden sich die Perlen von den Rosenkränzen als Knöpfe an die Kleider nähen! Wenn es das Mädchen nicht gäbe, würde ich auch saufen, dachte Zado. Immer wenn es kein Mädchen gab, habe ich gesoffen. Und ich würde es auch jetzt tun. Sie hatte ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. Ein blaß violetter Bilderbogen, von einem Pfuscher gezeichnet. Die Tochter eines Bäckers aus Goldap. Die Eltern auf der Flucht bei einem Fliegerangriff getötet. Die Wehrmacht nahm das Mädchen weiter mit. Und sie sorgte auch für sie. Man ließ sie in der Küche helfen. Sie bekam das Essen dafür. Nachdem der Küchenbulle sie gehabt hatte, brachte sie sogar gelegentlich Zigaretten und Schokolade nach Hause. Später das Parfüm. Ein parfümierter Bilderbogen. Zado fuhr in seine Schuhe und dachte angeekelt an die aufgeschwemmten Finger des Küchenbullen. Die Pokerkarten klebten an diesen Fingern, als wären sie mit Kleister bestrichen. Er erinnerte sich, daß er schon oft an diese Finger gedacht hatte. Er hatte dann überlegt, ob es möglich war, daß diese Finger ein klebriges Gefühl auf der Haut des Mädchens zurückgelassen hatten. Er hockte auf seiner Matratze und schnürte die Schuhe zu. Zado, dachte er, was wird aus dir? Eine Frau? Diese? Unsinn. Du wirst jede Nacht glauben, ihre Haut klebe noch von den Fingern des Küchenbullen. Und eine von zu Hause? Du wirst jede Nacht den Rekruten vor dir sehen, der es mit ihr trieb, während du hier an deinem Fallschirm baumeltest.

»Ich habe dich sehr lieb«, hatte das Mädchen gesagt. Sehr leise und so, daß man es ihr glauben konnte.

Die auswechselbare Liebe, dachte Zado. Die Liebe der kämpfenden germanischen Rasse. Die Liebe zwischen den klebrigen Fingern des einen und den entzündeten Pickeln des anderen. Die Liebe des Jahres neunzehnhundertvierundvierzig und später. Die Liebe der Helden unserer Zeit. Über was man nicht alles nachdenkt, sagte er sich. Aber es ist nichts daran zu ändern. Sie haben es geschafft. Sie haben die Männer zu Helden gemacht und die Frauen zu Huren.

»Hör mal, du Stint!« sagte er unvermittelt zu dem Obergefreiten. »Wo sind eigentlich die anderen hin?«

Der Betrunkene grinste über das ganze Gesicht. Er rollte die Augen und griff, als wäre er durch Zados Frage aufgewacht, wieder nach der Flasche. »In der Kirche…«, lallte er glucksend. Er nahm einen Schluck und wischte sich den Mund. »Alle in der Kirche. Mosek an der Spitze, hü Aber nicht… beten…« Da streifte Zado sich die Tarnjacke wieder über und setzte die Mütze auf. Der Betrunkene kicherte hinter ihm her, als er den Raum verließ.

Er hörte die Musik schon, als er sich der Kirche näherte. Er blieb stehen und lauschte einen Augenblick ungläubig.

Die Kirche stand am Rande eines kleinen Platzes, mitten im Dorf. Ihre Mauern waren von Ranken bewachsen. Ein altes, ehrwürdiges Bauwerk. Der Glockenstuhl war zerstört, obgleich die Glocke noch unversehrt hing. Eine Granate war in den Turm gefahren, hatte ihn stark beschädigt und auch einen Teil des Daches aufgerissen, so daß die Dachziegel unordentlich umherlagen.

Wenn der erste Schnee kommt, wird er durch dieses Loch hindurch fallen, dachte Zado. Er hörte jetzt ganz deutlich die Orgel spielen. Die Orgel war also nicht getroffen worden. Er stieg die Stufen hinauf und öffnete langsam die Tür. Sie quietschte leise in den Angeln, aber sie ließ sich leicht öffnen. Es war dunkel, bis auf die trübe Flamme eines Hindenburglichtes, das auf den Stufen zum Altar brannte. Um dieses Licht herum hockten etwas mehr als ein Dutzend Männer. Sie hatten den Läufer, der die Treppen hinaufführte, so zusammengelegt, daß jeder davon ein Stück als Sitzunterlage abbekam. Zado bemühte sich, auf das Licht zuzugehen, aber es war dunkel in der Kirche, und er stieß sich an den Holzbänken, bis er sich zum Mittelgang durchgearbeitet hatte. Er stolperte über einen zusammengeschobenen Teppich und fluchte laut. Es wurde ihm erst jetzt bewußt, daß diese Situation in der Kirche von Haselgarten eigenartig war. Er erinnerte sich nur noch schwach, wie eine Kirche ausgesehen hatte, in der er als Kind gewesen war. Und jetzt, in diesem Dorf, bei sinkender Nacht mit einem Dutzend Soldaten vor dem Hauptaltar. Um ein Hindenburglicht geschart. Das mutete gespenstisch an, irrsinnig. Die Orgel auf der Empore begann »Heimat, deine Sterne« zu spielen.

Einer der Soldaten, die auf den Stufen hockten, hatte Zado erkannt und rief gedämpft: »Zado… Komm her, wir haben deinen Schnaps hier!«

Es hatte Genever gegeben. Es gab öfters Genever, denn die Kompanie hatte in Holland selbst geholfen, allen Genever, der erreichbar war, in die Fahrzeuge der Division zu verladen. Nun wurde er ausgegeben. Es war klares, scharfes Zeug. Zado trank es nur, wenn er nichts anderes hatte.

Als er auf den Soldaten zuging, der ihn gerufen hatte, erkannte er, daß es Paniczek war. Einer aus Rybnik, der kein Wort Deutsch lesen und schreiben konnte. Einer, der in die Grube eingefahren war, ohne sich darum zu kümmern, ob die Leute ihn für einen Polen oder für einen Deutschen hielten. Bis die Deutschen kamen und Paniczek merkte, daß es die »Rzeczpospolita« nicht mehr gab. Da entdeckte er, daß ab seiner Großmutter alle Vorfahren deutsch gewesen waren, und er brauchte nicht zum Amt wegen der Volksliste. Paniczek war Reichsdeutscher, der zwar nicht lesen und schreiben, dafür aber in beiden Sprachen sehr abwechslungsreich fluchen konnte und zuweilen zum Spaß seiner Freunde Markstücke zwischen Daumen und Zeigefinger krumm bog. Er war ein hünenhafter Kerl mit breiten Schultern und Händen wie Sandschaufeln. Er hatte die Kräfte eines Stieres, aber er war so gutmütig, daß es den anderen schon keinen Spaß mehr machte, ihn zu hänseln.

»Komm…«, forderte er Zado auf, als dieser bis zu ihm getappt war.

»Was macht ihr denn hier?« erkundigte sich Zado verständnislos. »Seid ihr verrückt oder nur besoffen?«

»Alles!« grinste Paniczek. »Verrückt und besoffen auch. Hier hast du Schnaps. Schnaps ist da und Musik.«

Er hielt Zado die Flasche hin, und der nahm sie. Er sah, daß sie zur Hälfte gefüllt war. Ein halber Liter Schnaps bedeutete, daß es in spätestens drei Tagen den nächsten Einsatz gab.

Die Orgel dröhnte noch einmal auf, und dann verklang der letzte Ton. Der Spieler setzte zum nächsten Stück an. Er ließ das Instrument voll tönen, so daß es den großen Raum der Kirche mit seinem Klang ausfüllte. Er spielte: »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen…« Ein paar von den Soldaten, die auf den Altarstufen hockten, sangen mit. Es waren rauhe, kehlige Stimmen, etwas heiser.

»Ihr seid verrückt«, sagte Zado, »ihr könnt doch nicht in der Kirche Musik machen. Und saufen…«

»Setz dich hin und halt die Schnauze«, sagte Paniczek, »setz dich hin, du Katholik, und sauf. Aber halt die Schnauze.«

Das Hindenburglicht beleuchtete die Gesichter der Männer, die auf den Stufen saßen. Es waren die gleichen Gesichter wie immer. Es war nichts Besonderes in ihnen. So, als säßen sie nicht in einer Kirche, sondere um ein Lagerfeuer zwischen zwei Seen in Masuren.

»Ich bin kein Katholik«, sagte Zado, während er sich neben Paniczek hockte, »aber es wird sicher welche geben. Gibt es denn keinen, der euch von dieser Schnapsidee hätte abhalten können?«

Der Hüne klopfte ihm auf die Schulter. »Sauf, Zado. Musik und Schnaps sind das halbe Leben. Die andere Hälfte ist Scheiße. Es gibt keine Katholiken mehr. Und keinen Pfaffen, der diese Kirche behütet. Bald wird es die ganze Kirche nicht mehr geben. Das Dach ist schon kaputt. Dann wird die Orgel nicht mehr spielen, und die andere Hälfte vom Leben wird auch noch Scheiße sein. Und wir vielleicht tot…«

Die Musik rauschte durch das Gewölbe. Mosek war ein guter Spieler. Sie hatten ihn schon oft zum Stab geholt, wenn sie dort ein Fest feierten. Mosek war beliebt. Er spielte einen Swing, und die Tone hüpften aus dem Instrument, überschlugen sich und erklangen voll und schön in der ausgezeichneten Akustik des Kirchenbaues.

Sie spielen Swing in der Kirche, dachte Zado. Er riß den Korken aus der Flasche und nahm einen langen Zug. Eigentlich war nichts dabei. Paniczek hatte recht. Wer weiß, wie lange die Kirche noch stand. Es war dieses riesengroße »Wer weiß«, womit man alles begründen konnte, was geschah. Die lang gezogenen Orgeltöne brachten seine Trommelfelle zum Schwingen. Es war, als säße er auf der Empore, zu nahe an der Orgel. Er blickte nach der Decke und sah die Sterne durch das zerfetzte Dach. Es roch noch immer nach Weihrauch in der Kirche. Sie war wohl wochenlang nicht benutzt worden, und das Loch im Dach war ebenfalls Wochen alt. Aber der Geruch des Räucherwerks hatte sich erhalten. Er kam von jedem Stück Mauer und von jeder der Holzbänke, aus den Läufern und aus den golddurchwirkten Decken, die auf dem Altar lagen.

Die Christusfigur stand noch dort, und das flackernde Licht spielte darauf. Die Farben leuchteten nicht, dafür war das Licht zu schwach. Das Blut an den Nägeln, die durch die Füße geschlagen waren, erschien ebenso schwarz wie die Falten des Lendentuches und die Dornenkrone auf dem Haupt des Gekreuzigten. Um das Licht herum glimmten die Zigaretten. Zado schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. Mosek spielte »Sing, Nachtigall, sing«, und die Soldaten summten andächtig mit. Die Sterne in der Lücke im Dach flimmerten unruhig.

Zado versank in dieser gespenstischen Atmosphäre, bis Paniczek ihn plötzlich anstieß und fragte: »Warum säufst du nicht? Sauf doch! Gibt nicht alle Tage Schnaps und Musik!«

»…als der Liebste mich besessen…«, sagte einer der Männer. Zado erkannte Klaus Timm an der Stimme, Timm, dachte er. Das läßt er sich nicht entgehen. Das ist was für Timm. Genever und Weihrauch, und der Jesus am Kreuz, im Schein des Hindenburglichtes, und dabei »…als der Liebste mich besessen«.

Wir sind alle sentimental, dachte er. Wir sind wie die alten Jungfern, wenn es uns packt. Wir sind keine Männer mehr. Sentimentale Waschlappen, perfekt im Töten und im sachkundigen Anlegen von Sprengungen. Und ein Schmarren bringt uns zum Heulen. Wir gäben allesamt den Inhalt für ein Museum ab, in dem die Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts für die Nachwelt zur Schau gestellt werden. Die Russen würden heute noch ohne Artillerie und Panzer angreifen, wenn sie wüßten, wer in unseren Uniformen steckt.

Die Orgel brach jäh ab, und Moseks Stimme rief von der Empore im breiten, gemütlichen Dialekt des Rheinländers herunter: »Bringt mir was Schnaps, Jungens!«

Sie brachten ihm Schnaps und auch dem anderen, der den Balg trat. Sie brannten ihm eine Zigarette an und steckten sie ihm zwischen die Lippen. Sie waren großartige Kameraden, denn es war Schnaps von ihrem Schnaps, und es war eine Zigarette von ihren Zigaretten. Sie hockten da und summten mit, und wenn er etwas Lustiges spielte, hellten sich ihre Gesichter auf, und sie lächelten einander zu und schlugen sich auf die Schenkel. Mosek spielte »Anna Marianna«, und Klaus Timm grölte plötzlich laut: »Spiel was Schräges, nicht diesen alten Fetzen!« Aber einer von den anderen verlangte sofort: »Weiterspielen! Das ist mein Lieblingslied !« Zado trank wieder. Er merkte, wie ihm der Genever langsam zu Kopfe stieg. Es ist ein verdammtes Zeug, dachte er. Morgen werde ich einen Brummschädel haben. Ich hätte lieber von dem Besoffenen eine Flasche Bols mitnehmen sollen.

Er merkte, daß der Schnaps ihn in Stimmung brachte, und sagte grinsend zu Paniczek: »Wenn der jetzt. ,Deutschland, Deutschland über alles‘ spielt, was machen sie dann? Stehen sie auf und heben die Hand, oder knien sie und schlagen sich an die Brust?«

Der Hüne lachte, behäbig auf und stieß mit seiner Flasche an die Zados. Er grunzte dabei: »So gefällst du mir, Zado!«

Zado wußte nicht mehr genau, wie viele Lieder Mosek gespielt hatte, als sich die Tür der Sakristei öffnete und einer mit dem Messbuch in der Hand heraustrat. In der anderen Hand hielt er ein zweites Hindenburglicht.

»Kein Wein mehr«, sagte er zu den anderen, »den hat der Herr Pfarrer mitgenommen. Bloß die Bibel hat er uns dagelassen.« Er hockte sich zu den anderen und blätterte in dem Buch. Und die Orgel tönte weiter, und die Sterne flimmerten dort, wo das Dach geborsten war.

»Diese Bibel«, sagte der Soldat mit erhobenem Zeigefinger, »die hat es in sich!« Er drückte seine Zigarette auf dem Läufer aus und begann vorzulesen.

»Jetzt liest er auch noch eine Messe…«, brummte Zado. Er hatte viel von dem Genever getrunken und hatte sich an die Kirche und die Orgel, an den Weihrauchduft und die Christusfigur gewöhnt.

»Dies ist das Buch von des Menschen Geschlecht«, las der Soldat mit erhobenem Finger, »da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Gleichnis Gottes. Und schuf sie, ein Männlein und ein Fräulein, und segnete sie und hieß ihren Namen Mensch, zur Zeit, da sie geschaffen wurden. Und Adam war hundertunddreißig Jahre alt und zeugte einen Sohn, der seinem Bilde ähnlich war und hieß ihn Seth. Und lebte danach achthundert Jahre und zeugte Söhne und Töchter. Daß sein ganzes Alter ward neunhundertunddreißig Jahre – und starb. Seth war hundertundfünf Jahre alt und zeugte Enos…«

Einer der Männer lachte laut auf, und der Leser unterbrach sich. »Hundertundfünf Jahre alt und zeugte Enos!« grölte Timm. »Stellt euch vor, was der mit dreißig gemacht hat! Oder mit fünfundzwanzig! Das waren noch Zeiten!«

»Da hatten sie alle sieben Weiber…«, sagte ein anderer, »ich hab’s irgendwo gelesen. Die Juden hatten alle sieben Weiber. Und damals gab’s nichts als Juden auf der Welt. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Diese Bibel ist gut«, sagte der Vorlesende, »ich werde sie mitnehmen. Sie ist beinahe so interessant wie ein Dreißig-Pfennig-Roman.« Er vertiefte sich wieder in das Buch, und die anderen begannen, sich gedämpft über ein Bordell in Amsterdam zu unterhalten, an das sie sich alle noch erinnerten, weil es dort ein Zimmer mit einem Filmapparat gegeben hatte. Mit acht Lagerstätten und einem Filmapparat und einer Leinwand an der Stirnseite des Raumes.

»Hör mal…«, wandte sich Paniczek an Zado, »willst du dir eine Flasche Schnaps verdienen?«

Zado schaute geringschätzig und antwortete: »Ich habe noch ein paar im Gepäck. Besseren, als du hast.«

»Aber trotzdem«, beharrte der andere, »Schnaps kann man nie genug haben. Willst du?«

»Was?«

»Du sollst mir was schreiben und kriegst eine Flasche Schnaps. Guten deutschen.«

Paniczek wandte sich manchmal an einen der anderen, wenn er etwas zu schreiben hatte. Ein Urlaubsgesuch, eine Meldung oder wie damals, als Zado ihm geholfen hatte, eine Anweisung nach Hause, daß irgendein Janek Streletzki das Zimmer von Paniczek ausräumen, alles verkaufen und ihm das Geld schicken solle. Paniczek konnte nicht schreiben, er hatte es nie gelernt.

»Was soll ich dir schreiben?« fragte Zado. »Ein Urlaubsgesuch?«

»Nein. Nicht Urlaubsgesuch. Andere Sache.«

»Was für eine Sache?«

»Komm mit. Oder willst du noch Musik hören?«

»Ich höre seit einer Viertelstunde keine Musik mehr«, sagte Zado und erhob sich, »meine Ohren sind voll Schnaps.«

Sie gingen den Mittelgang entlang, diesmal ohne sich zu stoßen, weil sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.

Sie gingen trotzdem langsam, und Mosek begann »Lilli Marien« zu spielen, und sie hörten Klaus Timm grölen; »…werd’ ich bei der Laterne stehn…« Dann schlug die Tür hinter ihnen zu, und die Kälte der Nacht fiel sie an. Sie stolperten die Stufen hinab, und die Musik klang dünn hinter ihnen her.

An der Front rollte der Donner ferner Geschütze. Das Dorf lag dunkel. Die Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden. Paniczek schlug den Kragen der Tarnjacke hoch und sagte: »Du brauchst nicht viel zu schreiben. Bloß ein bißchen. Einen Brief, kleinen. An ein unbekanntes Mädchen…«

»Eh…«, sagte Zado, »du und ein unbekanntes Mädchen. Wo hast du die aufgegabelt?«

Paniczek legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Er hauchte ihm eine Wolke Schnapsdunst ins Gesicht und sagte treuherzig: »Ein schönes Mädchen. Viel zu schön für unbekannt. Sie haben mir heute mittag ein Päckchen von ihr gegeben. Ein schönes Mädchen…«

»Hast du ein Bild von ihr?«

»Fünf Stück. Große Bilder.«

»Ich werd’ verrückt«, sagte Zado. »Zum Schluß wird aus diesem Krieg noch eine Ehevermittlung!«

Paniczek zeigte ihm das Päckchen, als sie in dem Hause angekommen waren, das sie bewohnten. Zado rückte die Schnapskiste des betrunkenen Obergefreiten in die Nähe des Ofens, stellte die Petroleumlampe auf und holte einen Bogen sauberes Papier aus seinem Rucksack. Er hockte sich auf den Fußboden und schrieb. Er hatte eine saubere Handschrift, und er wußte, wie man Briefe schreiben muß. Paniczek zeigte ihm alles, was in dem Päckchen gewesen war, und er gab ihm zu lesen, was das Mädchen geschrieben hatte. Er holte die Flasche Schnaps und noch eine andere, halbvolle, und hockte sich neben Zado. Er legte ihm eine Packung Zigaretten hin und nahm die Mütze ab, als fände eine Feier statt.

In dem Päckchen waren zwei Paar Socken und drei Taschentücher gewesen, die Zigaretten, die vor Zado lagen, eine Tafel erstaunlich guter Schokolade und ein grün-gelb gemusterter Seidenschal. Das Mädchen schrieb einen langen Brief, und sie erzählte dem unbekannten Empfänger, daß sie aus dem gleichen Stoff, von dem der Schal gemacht war, ein Kleid habe. Ihr Vater habe den Stoff aus Frankreich geschickt. Er sei ein leitender Angestellter bei der IG-Farben in Frankfurt, und er reise oft ins Ausland.

»Wo ist das, Frankfurt?« fragte Paniczek.

»Am Main«, sagte Zado und las weiter.

»Aha, am Main.« Paniczek nickte.

Das Mädchen schrieb, daß sie siebzehn Jahre alt sei und daß sie sich auf das Abitur vorbereite. Sie erlebe alle Taten der Soldaten so intensiv mit, daß sie es als ihren persönlichen Wunsch betrachte, wenigstens einem einzelnen hin und wieder eine Freude zu machen. Sie würde ihn auch im Urlaub einladen, denn sie führten zu Hause ein gastliches Haus, und ihre Schulkameradinnen würden staunen, wenn einmal ein Soldat zu ihr auf Besuch käme und sie mit ihm ausginge. Ob der Empfänger Orden habe? Wer er überhaupt sei? Er solle unbedingt schreiben, und er solle sich etwas zu Weihnachten wünschen, sie würde es schon beschaffen. Ob er blond wäre?

»Jesus Maria«, grinste Zado, »ein Glück, daß du wenigstens blond bist!«

»Ich habe auch Orden«, sagte Paniczek zögernd. »Das Mädchen spielt Klavier…«

»Du wirst sie kaum begleiten können«, sagte Zado bissig. »Aber vielleicht brauchen sie in ihrer Villa nach dem Krieg mal einen Portier.«

Er besah sich die Fotografien. Es waren Aufnahmen von einem sehr jungen, aber bereits erstaunlich entwickelten Mädchen, das gute Kleider vom letzten Schnitt trug und moderne Korksohlen- schuhe. Sie hatte ein nichtssagendes Gesicht, aber Paniczek fand es schön. Besonders auf dem einen Bild, auf dem das Mädchen an einem Klavier saß, in einem Kleid, das sehr viel von ihren Schultern frei ließ.

»Sie braucht keine Angst zu haben, daß ihr das Kleid herunterrutscht…«, brummte Zado, »na, wir werden ihr einen Brief hinschreiben, über den sie sich freut!«

Jung und verwöhnt, dachte Zado. Ein Töchterchen in der Pubertät. In einer gepflegten Villenviertelpubertät. Man könnte zum Helden werden, wenn man sich überlegt, daß man für so was Soldat spielt.

Er starrte auf den Briefbogen, auf den er geschrieben hatte: »Mein liebes, unbekanntes Mädchen!«, und sah das Haus vor sich, wenn morgens das Dienstmädchen an das Zimmer des jungen Fräuleins klopfte. Und dann sah er, wie sich das Mädchen im Bett aufrichtete und nach dem Wetter schaute. Wie es einen Flunsch zog und sich aus dem Bett rekelte. Wie es in einem sauber gekachelten Badezimmer unter der Brause stand, eine dicht abschließende Badekappe auf dem sauber ondulierten Haar. Er sah es ein Kleid auswählen. Mit Bedacht und mit viel anerzogenem Geschmack. Und ein paar passende Schuhe dazu. Strümpfe. Er sah es die Fingernägel maniküren und schließlich seinen Kakao trinken, ein paar Honigbrötchen essen und dann in der Schule sitzen, ein wenig uninteressiert schon, halb erwachsen. Er sah es durch die Straßen bummeln, mit leichtfüßigem, graziösem Schritt, und er sah es an den Knöpfen des Radios drehen und einen jungen Tanzstunden-dandy mit ihr tanzen. Und die Stunden daheim, wenn sie die Langeweile plagte. Den abgekauten Federhalter, wenn sie an den unbekannten Soldaten schrieb, und Rilkes Gedichte auf dem Nachttisch, neben einer angeknabberten Schokoladentafel und einem Flakon »Cat noir«, den der Vater aus Paris geschickt hatte. Und dann blickte er zur Seite und sah Paniczek andächtig neben sich hocken.

Und er sagte: »Jesus Matta, Panje, das hätte ich bald übersehen: Sie trägt ja ein Kreuz an dem Kettchen um den Hals!«

»Katholisch«, brummte Paniczek.

Der betrunkene Obergefreite in der Ecke hob den Kopf und rülpste. »Ist die Kirche schon aus?« fragte er.

Zado antwortete: »Sie ist eingefallen. Jesus hat den Finger bewegt.« Dann begann er zu schreiben. Er schrieb eine Zeile um die andere. Paniczek beobachtete ihn mit wachen Augen und bot ihm eine Zigarette nach der anderen an.

»Was schreibst du ihr nur alles?« erkundigte et sich unsicher. »Du mußt mir das vorlesen…«

Der Betrunkene kicherte: »Ein Kerl wie Samt und Seide…«

Zado griff nach der Flasche. Er schrieb dem Mädchen, das Barbara hieß, alles, was er immer hatte irgendeiner Frau schreiben wollen und doch keiner geschrieben hatte. Seine Sehnsucht und seine Hoffnung, sein Bedürfnis nach Liebe. Er schrieb alles, was man einem solchen Mädchen schreiben mußte. Die alte, glatte Geschichte von der unerschütterlichen Standhaftigkeit des deutschen Soldaten, von seiner Siegesgewißheit und von seinem Mut, den keine Angst trübte. Er schrieb von den Träumen in den kurzen Nächten und von den Stunden, in denen die Artillerie die Schützenlöcher umwühlte, wenn Menschen starben, Fahrzeuge hellauf brannten und die Geschosse die Finsternis durchsiebten. Er schilderte ihr die Salven der Stalinorgeln und das Heulen der Do-Werfer und das Geprassel der Flieger-MGs, die rasselnden Ketten der Panzer und den kurzen, trockenen Knall der Handgranaten. Die Worte flössen aus seiner Feder und formten sich zu einem Gemälde, dessen Düsternis ebenso trügerisch war wie seine grelle Prägnanz. Es war ein Brief, in dem kein Wort von Liebe sprach, und es war doch ein Liebesbrief von jener Eindringlichkeit, die das Herz der jungen Mädchen dieser Zeit bezauberte.

Paniczek saß still und trank nur ab und zu. Er schob Zado immer wieder die Zigaretten hin.

In seiner Ecke grunzte der Obergefreite: »Denen gefällt’s in der Kirche… hi… beten!«

Draußen war ganz plötzlich Sturm aufgekommen. Noch während Zado schrieb, überlegte er instinktiv, daß dieser Sturm Schnee ankündigte. Er hörte das Stöhnen vor den verhängten Fenstern und das Klappern der Hoftore. Morgen, beim Dienst, werden sie uns die weißen Tarnjacken verpassen, dachte er. Dann werden sie Farbe bringen, und es wird ein paar Stunden freigeben, damit wir die Helme und die Koppel und das andere Zeug weiß streichen. Er schrieb von Weihnachten und davon, daß es vermutlich keinen Urlaub geben würde. Und daß er keinen besonderen Wunsch habe, nur den, daß sie an ihn denken möge, wenn der Lichterbaum brennt. »Noch drei solche Briefe, und sie läßt sich ferntrauen«, sagte er zu Paniczek, als er zu Ende geschrieben hatte, »sie wird das so lange lesen, bis sie dich so vor sich sieht, wie sie dich gern haben möchte, und dann wird sie überzeugt sein, daß du so bist, und sie wird zum Standesamt gehen, und du wirst deinen Topf aufsetzen und zu Alf marschieren. Händedruck, Unterschrift, zwei Zigarren, Flasche Schnaps, und du bist Ehemann, paß auf, es wird so kommen!«

Paniczek machte einen versunkenen, trübsinnigen Eindruck. Er hatte den Kopf gesenkt und hob ihn nicht. Erst als Zado ihm den langen Brief vorgelesen hatte, blickte er ihn an und sagte leise: »Das hast du sehr schön gemacht. Ich danke dir.« Nach einer Weile schüttelte Paniczek traurig den Kopf und sagte: »Ich weiß nicht, ob das überhaupt geht mit dem Mädchen. Es ist eine schlimme Sache. Wenn du fällst, dann bin ich für dieses Mädchen gefallen, denn niemand wird wieder so einen Brief schreiben können. Und wenn ich falle, dann kannst du ihr so weiter schreiben wie bisher, und du kannst sie heiraten.«

Zado nahm einen langen Zug aus der Flasche. Er trat seinen Zigarettenstummel aus und wandte dann Paniczek sein scharf geschnittenes Raubvogelgesicht mit der gebogenen Nase zu. »Hör zu«, sagte er kalt, »du bist ein bedauernswerter Idiot. Du liegst hier in diesem Dreck, und übermorgen wirst du wieder springen, und wer weiß, ob sie dich nicht erwischen oder ob du irgendwo liegenbleibst und verreckst. Oder ob dich irgendwas anderes erwischt. Und dieses Mädchen sitzt daheim, zwischen Klubsesseln und Weingläsern und Kleiderstoffen aus Paris. Und du bist ein armes Schwein, das Krieg führt und nichts davon hat als die Möglichkeit zu krepieren. Und das Mädchen lebt in einer ganz anderen Welt. Glaubst du, sie kann sich vorstellen, was uns hier bewegt? Glaubst du, sie wird dich jemals verstehen, auch wenn sie wirklich darüber hinwegsehen sollte, daß du weder lesen noch schreiben kannst und ein armes Schwein bist? Glaubst du, daß dieses Mädchen jemals im Leben einen Menschen begreifen wird, der so viel Dreck und Eiter und Blut und Läuse und schreiende Männer und Angst und Feigheit gesehen hat wie wir? Du wirst mit ihr zusammen sein, und ihr werdet aneinander vorbeireden. Du wirst dich in dieser Welt der Klubsessel und Kleiderstoffe nicht zurechtfinden. Keiner von uns wird es jemals wieder lernen, es sei denn, er belügt sich und er denkt an gar nichts mehr, was einmal gewesen ist. Du wirst immer einer der sein, der an Blut denkt, wenn er Sekt trinkt. Du wirst an die letzte Hure denken, wenn du bei diesem Mädchen schläfst, und wenn sie klug ist, wird sie es merken. Ihre ganze lächerliche Welt mit dem Klavier und den Schulbüchern und den Pralinenschachteln wird dir vorkommen wie ein Narrenhaus, wenn du zurückdenkst. Und du wirst herumlaufen wie einer, dessen Verstand ausgehakt hat. Du wirst das große Kotzen kriegen, wenn du dich jemals wieder vor einer Dame verbeugen sollst und ihr die Hand küssen, denn du wirst den zerschossenen Unterleib der Alten sehen, die wir nach dem Fliegerangriff bei Gumbinnen fanden, und anstatt des Parfüms wirst du den Gestank der Därme riechen, die dem Pionier aus dem Leib hingen, der auf die Mine gelatscht war. Und hinter den lächelnden Salongesichtern wirst du die Fratzen der Angst sehen und die Fratzen der Gier wie damals, als die beiden deutschen Weiber in Apeldoorn unserem Wagen nachliefen und wir sie über die Planken zogen und sie Angst hatten, daß im nächsten Moment der Jabo, der über uns kreiste, seine Bombe genau auf unseren Wagen werfen würde. Weißt du noch, wer ihnen zuerst den Rock hob?

Das wirst du dann immer sehen, und es wird keine Möglichkeit geben, es zu vergessen, oder du mußt saufen, und du wirst selbst im Delirium noch schreien: ,Tiefflieger von links!‘ – Das sind wir, Junge, und die anderen sind wie deine Barbara. Belüg dich, wenn dir wohl genug dabei ist. Und sauf, wenn dir das Kotzen hochkommt. Aber was wir sind, das haben sie aus uns gemacht, und die Hände, in denen du das Messer hattest, werden in jeder Dunkelheit leuchten, in der du ein Mädchen streichelst. Danke Gott, den es nicht gibt, wenn du den Krieg überlebst. Oder danke ihm lieber nicht, denn du wirst kein Mensch mehr sein unter denen, die in den Villen am Stadtrand gelebt haben, zwischen Klavieren, auf denen sie »Lilli Marien“ spielten, und zwischen Kleidern aus Paris. Du wirst entweder ein Kommunist werden wie die, die neunzehnhundertachtzehn aus dem Krieg heimkamen und die Soldatenräte gründeten, oder du wirst an deinen eigenen Gedanken verfaulen. Das ist die Auswahl. Und nun überleg dir selber, ob sich die Liebe zu dem Mädchen Barbara lohnt oder nicht.« Der Sturm rüttelte an der Haustür. Er fuhr heulend unter die Dachsparren und winselte in den Kaminen.

»Oh…«, stöhnte der Betrunkene. »Oh… Zado… sauf!«

»Du bist ein eigenartiger Mensch…«, sagte Paniczek zu Zado,

»Ich bin ein Verrückter«, antwortete er. Er besah sich noch einmal die Fotografien des Mädchens. »Aber ich bin nicht als Verrückter geboren worden. Auch nicht eingezogen.«

Er hielt inne. Da war das Porträt des Mädchens. Und da war um ihren Hals ein schmales Kettchen mit einem Kreuz daran. Zado nahm noch einmal den Briefbogen und überlegte. Dann sagte er zu Paniczek: »Ich habe was vergessen.«

Er schrieb einen Nachsatz unter den Brief. Er las ihn Paniczek vor: »Eben waren wir alle in der Kirche. Es gibt hier in unserem Dorfe eine. Sie ist halbzerstört, aber es wurde eine Messe gelesen. Es ist ein seltsames Gefühl gewesen, in einem Gotteshaus ehrfürchtig zu verweilen, dessen Dach von Granaten zerrissen ist und dessen Altar von Splittern getroffen wurde. Man sieht die unendlich fernen Sterne durch das geborstene Dach, und man weiß um die Unendlichkeit dieser Welt. Man hört das Wort des Priesters, und man schaut auf das Kreuz und ist gebannt von der Kraft des geheiligten Ortes. Und die Front grollt, und über dem geborstenen Dach zucken die Leuchtkugeln. Aber das Wort des Herrn übertönt alles und verleiht Kraft und Glauben. Man fühlt, wie die Weihe dieses Augenblickes einen erhebt und mit fortnimmt. Nie habe ich eine Messe so tief empfunden wie diese.«

»So«, sagte er, »hier hast du deinen Brief. Werde glücklich mit deiner Barbara. Die Flasche Schnaps kannst du wieder mitnehmen. Ich brauche sie nicht.«

»Hi…«, grinste der betrunkene Obergefreite, »hi… Schnaps braucht er nicht… war in der Kirche…«

Draußen schwoll das Geheul des Sturmes an. Er trieb bereits jetzt Schnee mit sich, der gegen die Fenster klatschte, in großen, nassen Flocken.

»Eine Messe gelesen…«, sagte Paniczek mit großen Augen.

Die Tür flog auf, und einer von denen aus der Kirche torkelte in den Raum. »Scheiße, es schneit…«, brüllte er.

Der Betrunkene in seiner Ecke kicherte, eine Hand an der Flasche. »Es schneit… es schneit Scheiße… hi…«

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