Klaus Timm: Wo ich bin, wird gestorben

Seinen ersten Lebenslauf schreibt dieser hagere Mann mit den kalten Augen, als er zur Unteroffiziersschule kommandiert wird. Er ist sechsundzwanzig, und er ist verheiratet mit einer Frau, die in jeder Nacht weint, die er bei ihr verbringt. Timm schreibt nicht gerne, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zum Federhalter zu greifen. Er holt sich drei Flaschen Bier aus der Kantine, und dann beginnt er. Auf dem Zettel, den er abgibt, steht:

»Ich heiße Klaus Timm und wurde 1912 geboren. Mein Vater, Max Timm, war Schuhmachermeister, und auch ich lernte dieses Handwerk. Ich war in Hanau in der Lehre. Habe zwei männliche Geschwister. Gehöre seit 1930 der SA an. In der Kampfzeit war ich bei vielen Kämpfen dabei. 1931 habe ich zum erstenmal den Führer gesehen. 1932 verlor ich die Arbeit wegen nationalsozialistischer Betätigung. Sollte wegen Körperverletzung bestraft werden, der Prozeß wurde aber eingestellt, als der Führer die Macht übernahm. Danach bin ich beim Westwallbau gewesen und bis zur Wehrmacht im Reichsarbeitsdienst als Truppführer. Mein Ziel ist die Unteroffizierslaufbahn.«

Klaus Timm war aus dem Material, aus dem man Unteroffiziere macht. Er stand noch aufrecht, wenn die anderen schon keuchend am Boden lagen. Wenn er auf dem harten Boden der Turnhalle seine Fallübungen machte, zogen die anderen die Köpfe ein. Er war als erster auf den Beinen, wenn vom Turm gesprungen wurde. In der Maschine, wenn sie über den Exerzierplatz flogen, saß er mit eisernem Gesicht, bis gesprungen wurde. Er lief bereits mit vorgestreckter Maschinenpistole vorwärts, wenn die anderen noch ihre Schirme unterliefen. Er wurde nicht müde. Seine Schuhe waren genauso geputzt, wie die Ausbilder es wünschten, und auf seinem Spind fand sich trotz genauester Untersuchung nicht das geringste bißchen Staub. Er tat alles gewissenhaft und vorschriftsmäßig. Als er sein Patent in der Tasche und die Litzen auf den Schulterstücken hatte, ärgerte er sich, weil sie ihn nicht nach Spanien ließen. Aber er wurde wenig später entschädigt. Das war, als Conrad seine Besichtigung abhielt. Conrad war General. Er war der Chef der Truppe und ihr Schrecken. Wenn er kam, ließ er den Soldaten Ausgang geben und ließ dafür die Unteroffiziere über den Exerzierplatz robben. Er tat es mit System, aber nur wenige dachten darüber nach. Jeder wußte: Wenn Conrad erscheint, gibt es einen Tag lang keine Gnade.

Timm stand vor seinem Zug und kommandierte: »Rührt euch!«

Er ging ein paar Sehritte näher an die Soldaten heran und musterte sie. Dann blieb er stehen und stemmte die Arme in die Seiten. »Herrschaften«, sagte er gemütlich, »morgen früh kommt Conny. Ihr wißt, wer das ist. Eine Besichtigung mit Conny ist kein Tanzvergnügen. Ich warne jeden, aufzufallen. Meinetwegen könnt ihr die ganze Nacht durch an euren Klamotten herumschrubben, aber wenn mir einer mit einem Knopf auffällt oder mit Schuhen, dann wird er noch an mich denken, wenn er schon im Grab liegt. Wenn einer mit Waffen auffällt, wird er noch länger an mich denken. Ich mache jeden fertig; ihr wißt, wie es aussieht, wenn ich euch fertigmache. Aber so, wie ich euch fertigmache, wenn einer von euch bei Conny auffällt, seid ihr noch nie fertiggemacht worden. Der ganze Haufen ist dran, wenn einer auffällt. Das ist alles. Mehr hört ihr nicht von mir.«

Sie liefen mit aufgesetzten Gasmasken im Kreis, als der Heilgehilfe erschien und sich bei Timm meldete.

Timm hörte sich an, was er ihm mitteilte, dann fragte er lauernd zurück: »Untersuchung? Wer hat die angeordnet?«

»Der Regimentskommandeur, Herr Unteroffizier«, sagte der Heilgehilfe, »es muß unbedingt heute noch gemacht werden.«

»Bei mir ist niemand krank«, erklärte Timm. Er wandte sich an die Soldaten, die immer weiter im Kreis liefen.

»Jemand von euch krank?«

Es kam keine Antwort.

»Haben Sie was gehört?« fragte Timm den Heilgehilfen.

»Nein, Herr Unteroffizier.«

»Dann verschwinden Sie,«

Aber am Nachmittag wurden sie doch untersucht. Der Kompaniechef befahl Timm persönlich, seinen Zug zum Revier zu führen. Im Revier hatten sie sich auf Massenbetrieb eingerichtet. Das bedeutete irgendetwas. Die Männer standen nackt in einer Reihe nebeneinander, und Timm ging vor ihnen auf und ab, bis der Stabsarzt kam. Es war keine sehr gründliche Untersuchung, aber es war auch nicht nötig, gründlich zu untersuchen, denn diese Männer waren das gesündeste Material, was man hatte auftreiben können. Sie waren ausgesucht. Eine einzige Untersuchung führte der Stabsarzt gründlich durch. Er drückte das Geschlechtsteil jedes Soldaten und befahl zu husten.

Timm stand mit gerunzelter Stirn dabei.

Nach dem Stabsarzt kam der Oberarzt vom Revier. Er ging die Reihe der Männer entlang und sah ihnen in den Mund. Bei dem einen oder anderen klopfte er mit einem Nickelinstrument gegen die Zähne. Dann wiederholte er dasselbe, was zuvor schon der Stabsarzt getan harte. Timm wippte mit den Fußspitzen. Nach dem Oberarzt kam der Revierarzt. Er besah sich die Augäpfel der Männer, indem er die Lider herunterzog. Dann wiederholte er das gleiche wie die beiden anderen vor ihm. Die Männer grinsten. Timm trat näher. Er blieb neben dem Arzt stehen und fragte: »Was ist eigentlich los? Ist morgen Besichtigung oder wird ein Bordell gestürmt?«

Der Arzt lächelte. Dann sagte er zu Timm: »Unteroffizier, das hat mit der Besichtigung nichts zu tun. Das ist eine andere Sache. Sie werden davon zu gegebener Zeit erfahren.«

Es war die kürzeste Besichtigung, die Conrad jemals abgehalten hatte. Er kam und nahm die Meldung entgegen. Sein Gesicht blieb unbewegt, als die Kompanien den Präsentiergriff ausführten. Conrad ordnete an, daß keine Übung stattfand. Er trat in das Viereck, das die Truppe bildete, und erklärte mit seiner etwas heiseren Stimme: »Soldaten der Fallschirmtruppe! Eure Ausbildung ist zu Ende. Ihr seid jetzt mit allen Waffen vertraut und für alle Aufgaben vorbereitet. Die erste Aufgabe erwartet euch in wenigen Tagen. Ich erwarte von euch, daß ihr sie ehrenhaft erfüllt. Der Führer blickt auf euch. Denkt immer daran, wenn ihr in den nächsten Tagen euren Standort wechselt und auf einen Posten gestellt werdet, auf dem wir harte, unüberwindliche Männer brauchen. Ich erwarte von euch, daß ihr eure Pflicht tut. Der heutige Tag ist dienstfrei.«

Der September war heiß. Die polnische Landschaft bestand aus Wald und flimmerndem Staub. Die Kompanie marschierte. Wenn einer den Mund öffnete, um etwas zu sagen, brachte er nichts weiter heraus als ein Krächzen.

Die Fallschirme lagen irgendwo in Deutschland. In diesem Land wurden keine Fallschirme gebraucht. Hier wurde marschiert.

An den Fluß kamen sie gegen Mittag. Es führte nur eine leichte Holzbrücke über das Wasser. Offenbar war es nicht mehr möglich gewesen, sie zu sprengen. Das Feuer kam von der anderen Seite. Es tötete die beiden Soldaten, die zuerst die Brücke betraten.

Timm lag eine Weile im Gehölz, ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt, und preßte das Glas an die Augen. Es war ein einziges Maschinengewehrnest, aber es lag günstig und war mit zwei Maschinengewehren besetzt. Als Timm genug gesehen hatte, kroch er zurück und sprach eine Minute mit dem Leutnant. Der nickte und tippte an die Mütze.

»Ein Spucker! rief Timm nach hinten. Er krempelte sich die Ärmel hoch und wählte sechs Männer aus, die mit ihm gingen. Dazu kam die Bedienung des Granatwerfers.

Sie gingen flußab. Dort war niemand mehr, der von der anderen Seite schoß. Eine Dreiviertelstunde später lagen sie jenseits des Wassers im Rücken des Maschinengewehrnestes. Sie hatten es ein wenig tiefer vor sich liegen und konnten die Stahlhelme der Soldaten sehen. Es waren fünf. Sie hockten um die beiden Maschinengewehre und beobachteten das andere Ufer.

Als der Granatwerfer aufgestellt war, sagte Timm zu der Bedienung: »Der dritte Schuß muß sitzen, verstanden?«

Die Männer brachten es fertig, mit dem zweiten Schuß bereits so nahe an das Maschinengewehrnest heranzukommen, daß dort zwei von den Polen starben. Die anderen drehten die Waffen herum und schossen zurück. Der Granatwerfer spuckte seine Geschosse auf das Loch. Die Einschläge saßen immer nur wenige Meter neben dem Rand, und es starben dort zwei weitere Männer. Der letzte schoß noch eine Weile, aber er kam gegen das Feuer der sieben Deutschen und gegen den Granatwerfer nicht an. Er deckte sich ausgezeichnet. Wenn Timm dachte, er sei tot, ließ er wieder das Maschinengewehr aufbellen. Sie hatten keine Granaten mehr für den Werfer, und Timm befahl anzugreifen. Er selbst blieb in der Deckung hocken und zielte genau auf die Stelle, an der stets der Kopf des Polen auftauchte. Die Männer waren ein paar Schritte gelaufen, als dort der Kopf auftauchte und das Maschinengewehr wieder zu rattern begann. Timm schoß, und das Maschinengewehr schwieg, aber Sekunden später ratterte es wieder. Die Männer warfen sich jedesmal hin und schossen. Auch Timm schoß. Aber er traf den Polen nicht, weil der zu geschickt war. Das ging einige Minuten so. Doch Timm war nicht der Mann, der das mit ansehen konnte. Er sprang ganz plötzlich auf und schrie den Männern zu: »Los, schießen! Nicht aufhören!«

Es waren hundert Meter oder etwas mehr zu laufen. Nur einmal kamen ein paar Schüsse aus dem Maschinengewehr, aber die trafen Timm nicht, weil der Pole nicht wagte, weit genug aus dem Loch herauszublicken. Er erwartete Timm mit der Pistole in der Hand. Doch Timm war schneller. Seine Maschinenpistole traf sicherer als die kurzläufige Pistole des MG-Schützen. Der Leutnant drückte ihm die Hand, als er die Kompanie über die Brücke geführt hatte.

Sie hatten keine Lust, die beiden Maschinengewehre mitzunehmen, die in dem Loch lagen, vom Blut der Polen bespritzt und von einzelnen Kugeln getroffen. Als die anderen weiterzogen, warf Timm vier Zusammengebundene Handgranaten in das Loch. Die polnischen Soldaten waren danach nicht mehr zu erkennen und die Maschinengewehre unbrauchbar. Im nächsten Dorf, durch das sie marschierten, erschoß er im Vorbeigehen einen Hund, der neben der Kompanie herlief. Es war ein kleiner, spitznasiger Dorfköter. Die Kinder, die noch nicht geweint hatten, als sie die Soldaten hatten kommen gesehen, weinten nun, nachdem sie durchmarschiert waren. Zwei Tage vor Ende des Feldzuges verlieh der Leutnant Timm das Eiserne Kreuz. Dann wurden sie verladen, und die Ausbildung ging weiter. Die Kompanie wurde verstärkt. Sie bekamen neue Schirme, obwohl sie die alten noch nicht einmal benutzt hatten.

Bei Eben Emael nahm Timm einen Major gefangen. Es war ein alter Mann, der mit erhobenen Händen aus einem der Forts geschlichen kam und unsicher ins Sonnenlicht blinzelte. Es ging alles sehr schnell, und als es vorbei war, ärgerte sich Timm, daß es keine Ziele mehr für seine Maschinenpistole gab. Dafür gab es Mädchen. Dort und später in Frankreich. Und in Frankreich kam der Wein dazu.

Einmal ging Timm mit einer ganzen Gruppe in ein Bordell. Sie stellten einen Posten an die Tür, der jedem erklärte, hier fände eine Razzia statt. Sie hatten in der Gruppe einen, der war erst vier Monate Soldat. Ein stiller Gärtnergehilfe aus Kassel. Er war so unvorsichtig, zu sagen, daß er in diesem Bordell zum erstenmal eine ausgezogene Frau sähe. Sie schleppten ihn mit Hallogeschrei in den Raum, wo um das breite Bett die Stühle für die Zuschauer standen, und als er sich verschämt weigerte, brüllte Timm mit vom Wein geröteten Augen: »Ausziehen, marsch! Dienstlicher Befehl!«

Das Mädchen lag auf dem Bett und kicherte. Ihr fehlten zwei Schneidezähne im Oberkiefer.

Gegen Morgen, als sie grölend heimzogen, versprach Timm dem Gärtnergehilfen gönnerhaft: »Für dich ist heute dienstfrei, mein Lieber!«

Er trainierte seinen Zug drei Wochen, bevor sie in Kreta abgesetzt wurden, Um diese Zeit begannen die Männer Timm zu hassen, aber er lachte sie aus. Er wußte, was sie brauchten, um den Haß wieder zu vergessen. Am letzten Tag der Ausbildung ging er mit ihnen in eine Kneipe am Rand der Lüneburger Heide. Einen Kilometer von dieser Kneipe entfernt lag ein Arbeitsdienstlager, in dem zweihundert Mädchen untergebracht waren. Die Mädchen bekamen nur Ausgang, weil Timm eine Kiste Wein zu der Lagerführerin hatte schaffen lassen. Er lud die Mädchen zu einer weiteren Kiste Wein ein, die noch aus Frankreich stammte. Als er dreimal mit der stillen, blonden Apothekerstochter aus Barmen getanzt hatte, sagte das Mädchen: »Ich habe sehr viel Achtung vor Ihnen. Sie haben ein gefährliches Leben. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal mit so vielen Fallschirmjägern zusammentreffen würde. Es gibt sicher nicht sehr viele von ihnen?«

Timm bemerkte, daß sie noch zuwenig Wein getrunken hatte. Er goß ihr ein und sagte gelangweilt: »In vierzehn Tagen wird es noch weniger von uns geben. Trinken wir einstweilen einen darauf.«

Als das Mädchen betrunken war, erzählte es von ihrem Verlobten.

»Oh«, machte Timm, »das ist ja ganz neu. Sie tragen doch gar keinen Ring…«

»Nicht nötig«, sagte das Mädchen, »den trage ich im Herzen. Er ist bei der Infanterie.«

»Wunderbar!« lachte Timm. »Bei der Königin der Waffen! Trinken wir einen auf ihn!«

»Er schreibt mir oft«, sagte das Mädchen. »Er ist auf dem Balkan. Ich weiß nur nicht genau wo.«

»Trinken wir einen darauf, daß es ihm gut geht.«

Hinter der Kneipe lag der Garten, und hinter dem Garten begannen die Büsche. Sie säumten den Weg, der zum Lager der Mädchen führte. Der Weg war lang. Es war eine warme Nacht. »Ich heiße Ursula…«, flüsterte sie, als Timm sie untergefaßt neben sich herschob.

»In Ordnung«, gab er zurück, »ich heiße Klaus. Bist du auch so müde wie ich?«

»Furchtbar müde.« Sie war betrunken.

»Laß uns ein bißchen ausruhen, nachher geht’s besser.«

Sie waren nicht das einzige Paar. Als er das Mädchen losließ, torkelte es zwischen die Büsche. Er fing es rasch auf und ließ es behutsam zu Boden gleiten. Es war weicher, ein wenig staubiger Heideboden. Es roch nach Heidekraut und Schafgarbe.

»Du… das darfst du nicht…«, flüsterte das Mädchen. Es sprach sehr leise, als müsse es darauf achten, daß niemand es hörte.

»Ich darf das nicht«, sagte Timm, »aber es ist ganz schön, wenn man es tut. Himmel, habt ihr alle so viel an bei dieser Hitze?«

Das Mädchen bewegte sich schwach. Es hatte Angst und wollte das alles nicht mittun, aber es war viel zu spät, das zu überlegen, und Klaus Timm wußte genau, wie spät es war.

»Aber ich kann… nein…«, stotterte das Mädchen. Timm brummte irgendetwas Beruhigendes zur Antwort. Er war mit seinen Gedanken woanders. Und doch flogen seine Gedanken ganz plötzlich zu diesem Mädchen zurück, das er hielt. Mit geschlossenen Augen dachte er eine Sekunde lang: Zwei Kisten Wein und ein Mädchen, das noch keinen Mann gehabt hat. Später, als er mit ihr in der Nähe des Lagers angelangt war, wo ringsum die anderen von ihren Mädchen Abschied nahmen, fragte er sie: »Sag mir, ist das wahr gewesen mit deinem Verlobten, oder…«

Das Mädchen sah ihn nicht an, aber sie nickte ein paarmal, und dann kamen ihr die Tränen. Sie sagte schnell und sehr leise: »Ja…« Dann drehte sie sich um und lief davon. Timm sah, wie sie den Kopf senkte und das rote Kopftuch unter dem Kinn zusammenhielt.

Er lachte lautlos und brannte sich eine Zigarette an. Er rauchte sie halb auf, dann fiel ihm plötzlich ein, daß er allein stand. Er sah sich um. Hier und dort erblickte er ein paar Gestalten, die beieinander standen. Da zog er das Koppel stramm und schrie unvermittelt mit seiner hellen, schneidenden Stimme: »Los! Auf, ihr Scheiche! Macht Schluß, wir marschieren ab!«

Acht Tage später saß er mit den anderen in der Maschine, und die Hupe ertönte. Er erhob sich und blieb am Schott stehen, auf den nächsten Hupenton wartend.

»So«, sagte er dabei, »jetzt werden wir denen da unten zeigen, was Krieg ist, bis sie nicht mehr wissen, ob sie das Vaterunser in der Schule gelernt haben oder im Hurenhaus!«

Unter ihnen lagen die Gebirge von Kreta.

Timm durchstreifte diese Gebirge, nachdem in den Tälern und um die Stützpunkte herum der Kampf beendet war. Er haßte die Ruhe. Er wußte, daß es in den Gebirgen noch Wild zu jagen gab. Menschliches Wild.

Mittag. Keine Wolke über dem Blau des Himmels. Jeder Stein ist so heiß, daß man glaubt, auf einem geheizten Ofen zu liegen. Timm hat längst die Orientierung verloren. Er hat auch keine Zeit, jetzt die Karte zu betrachten. Er ist auf der Spur. Die anderen folgen ihm in langen Abständen. In den Bergen darf man nicht zu dicht beieinander sein.

Unten, an der verlassenen Wasserstelle, hatten sie die Corned-beef-Büchsen gefunden, und ein Stück weiter westlich, im Gestrüpp zwischen den Oliven, das Motorrad. Die Büchsen waren leer gewesen, und im Tank des Motorrades war kein Benzin mehr. Timm wußte genau, daß er die beiden Engländer, denen das Motorrad gehörte, heute noch ausfindig machen würde. Er hatte keinen Anhaltspunkt, wohin sie sich gewandt haben konnten. Überall waren die Felsen glatt, es gab keine Spuren, nichts. Aber Timm brauchte keine Spuren. Zwei Männer, die sich verstecken müssen, wählen dafür die günstigste Möglichkeit. Und Timm tat weiter nichts, als sich vorzustellen, daß auch er sich verstecken müsse.

Zwei Stunden später fiel der erste Schuß. Er kam aus einem Gewirr von Geröll und halbhohem Krüppelholz. Er traf niemand. Timm ließ sich sofort zu Boden gleiten und blieb regungslos auf dem heißen Gestein liegen. Der Schuß hatte nicht ihm gegolten, sondern einem Soldaten seiner Gruppe, der weiter links ging. Nun lauerte Timm. Er lag hinter einem Felsbrocken und schob die Maschinenpistole langsam nach vorn. Er lehnte sie seitlich an den Felsen und legte zwei Handgranaten daneben. Einer von den anderen kam zu ihm herangekrochen. Es war Zado. Er war braungebrannt. Der Schweiß tropfte von seiner Stirn. »Zurück«, fragte er, »und dann vielleicht um dieses Geröllfeld herum?«

Timm schüttelte den Kopf. Leute wie diese beiden Engländer mußte man belagern, bis ihnen die Nerven ausgingen. Man mußte sie im unklaren lassen über das, was man tat.

Das Geröllfeld, das vor ihm lag, stieg steil an. Irgendwo dort mußten sie liegen. Sie überblickten den Abhang, aber sie waren eingeklemmt zwischen den Verfolgern und der steilen, nackten Wand, die über ihnen lag. Die Wand war der eine Tod, die Verfolger waren der andere. Timm grinste. »Nimm dir zwei Mann«, sagte er zu Zado, »geht zurück und raucht eine Zigarette. Laßt euch Zeit. Dann steigt ihr seitwärts von dieser Geröllhalde so hoch, bis ihr über der Wand seid. Ihr könnt dann hin unter sehen, denn wenn sie nach euch schießen wollen, müssen sie aus der Deckung, und dann erwischen wir sie. Seht euch genau an, wo sie liegen, und dann laßt Handgranaten hinunterrollen.«

»In Ordnung«, sagte Zado. Ein zweiter Schuß bellte im Geröll auf. Das Geschoß klatschte weit hinten gegen einen Stein, hinter dem einer der Jäger lag. Es traf nicht.

Zado rollte sich seitwärts und kroch zurück. Er suchte sich zwei andere, und sie klommen, nachdem sie sich ausgeruht hatten, an der Seite der Wand aufwärts. Timm verlor sie aus den Augen. Er legte das Kinn auf die verschränkten Hände und gähnte. Er war müde von der Hitze, und die Augen schmerzten ihm von dem grellen Licht.

Einer von seinen Leuten schoß in das Geröll. Das Geschoß prallte ab und sirrte mit hellem Ton davon. Ein paar Sekunden später kam die Antwort. Es war ein einzelner Schuß, aber der Schütze hatte gute Augen, und er schoß dem letzten Mann der Gruppe in den Ellbogen. Timm beobachtete mit verkniffenem Gesicht, wie zwei andere ihn nach hinten schleppten. Dann entsicherte er die Maschinenpistole und sah auf die Uhr.

Als eine Stunde vergangen war, hatten Zado und die zwei anderen sich hinaufgearbeitet. Sie tauchten mit einemmal sehr weit oben auf, und Timm konnte sehen, wie sie einander Zeichen gaben. Sie konnten sich frei bewegen, denn die beiden Engländer durften es nicht wagen, sich aufzurichten und nach ihnen zu schießen.

Zado rief sie von oben an. Er erinnerte sich an ein paar Brocken Englisch und forderte sie auf, sich zu ergeben. Er bekam keine Antwort. Timm lag mit der Maschinenpistole im Anschlag. Jetzt wußte er, wo die beiden versteckt waren. Zado zeigte es ihm mit dem ausgestreckten Arm. Es waren zwei große Geröllbrocken vor einem struppigen Busch, dessen Zweige verdorrt herabhingen. Zado ließ drei Handgranaten hinabrollen. Sie rollten über die Felswand und hüpften auf die beiden Geröllbrocken zu. Eine blieb unterwegs hängen und explodierte, ohne Schaden anzurichten. Die beiden anderen krepierten ein paar Meter über dem verdorrten Busch. Vor dort kamen schnell hintereinander noch ein paar Schüsse, denn einer von Timms Leuten hatte sich aufgerichtet und war ein paar Schritte nach vorn gesprungen. Die Schüsse trafen ihn nicht. Sie waren unsicher gezielt, denn der Schütze mußte das Gewehr mit einer Hand festhalten, weil die andere von der Handgranate verletzt war.

Die nächsten drei Handgranaten töteten den einen der Engländer und rissen dem zweiten den linken Fuß ab. Sie waren direkt zwischen die Geröllbrocken gerollt und explodiert. Der Verletzte warf zwei kurze Automatgewehre aus der Deckung heraus und winkte mit einem Taschentuch. Es war ein hagerer, rötlichblonder Mann mit ordentlich gestutztem Schnurrbart. Er verzog vor Schmerz das Gesicht, als Timm hinter die Deckung trat. Timm nahm ihm die Pistole ab, aber sie war leer geschossen. Dann untersuchte er den Toten. Er nahm nur ein Päckchen Papiere, die er in der Brusttasche fand. Dann sah er auf die Uhr. Sie mußten sich beeilen, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit zum Stützpunkt zurückkommen wollten. Er besah sich den Fuß des Verletzten. Die Handgranate mußte wenige Zentimeter neben dem Fuß explodiert sein, denn der Fuß war dicht über dem Knöchel abgesplittert. Unter dem zusammengekrümmt daliegenden Soldaten bildete sich eine Blutlache. Der Mann hatte dicke Schweißtropfen auf der Stirn stehen, aber er sagte keinen Ton, er biß nur die Zähne in die Lippen.

Von oben stieg Zado herunter. Er hatte eine Zigarette zwischen den Lippen hängen. Timm griff, ohne ein Wort zu sagen, nach den Papieren in der Brusttasche des Verwundeten. Der Mann sah ihn mit schmerzverkniffenem Gesicht an, aber er tat den Mund nicht auf.

»Gib ihm eine Zigarette…«, sagte Zado, als er neben Timm stand, »er macht nicht mehr lange.«

Er brannte selbst eine seiner Zigaretten an und steckte sie dem Soldaten zwischen die Lippen. Der Mann zog ein paarmal daran, aber er war bereits zu schwach, die Zigarette zu halten. Sie fiel ihm aus dem Mund.

Timm befahl seinen Leuten kurz: »Los, haut ab! Ich komme nach.«

»Willst du ihn allein schleppen?« erkundigte sich Zado. »Man könnte ihm den Fuß abbinden. Vielleicht…«

»Haut ab!« sagte Timm noch einmal. Er hielt die eine Hand in der Hosentasche, wo er die beiden Handgranaten hatte. Die anderen entfernten sich langsam. Sie stolperten über das Geröll abwärts, und ihre Schritte verklangen.

Als Timm nach dem Verbandpäckchen griff, leuchtete es in den Augen des Verwundeten schwach auf. Timm erhob sich und ging mit dem Verbandpäckchen hinter den großen Steinbrocken. Er nestelte an der Verschnürung herum, aber er öffnete es nicht. Hinter dem Stein konnte der Engländer ihn nicht mehr sehen. Er zog die eine Handgranate aus der Tasche und schraubte die blaue Kapsel ab. Es war eine von den gekerbten Eierhandgranaten. Timm zog langsam den Zünder ab und zählte. Dann drehte er sich um und warf dem Engländer die Handgranate auf die Brust. Während er sich hinter den Stein duckte, explodierte die Granate. Timm schüttelte den Kopf und öffnete ein paarmal den Mund, um den Druck auf den Trommelfellen loszuwerden. Dann ging er hinter den Stein, warf noch einen Blick auf die beiden Toten und folgte seinen Leuten den Hang abwärts. Er holte sie auf halbem Wege ein. Sie sagten nichts. Nur Zado erkundigte sich: »Hätten wir ihn nicht lieber mitnehmen sollen?«

Nach ein paar Sekunden, während sie schweigend nebeneinanderher gingen, fragte Timm: »Hättest du ihn tragen wollen?«

Zado schwieg.

»Hätte ihn irgendeiner von euch tragen wollen?« fragte Timm die anderen.

Als keine Antwort kam, sagte er langsam: »Die beiden werden bis morgen mittag ganz schön stinken.« Mehr sagte er nicht.

Sie stiegen abwärts und ließen in den Tank des Motorrades eine Handgranate fallen. Sie kehrten zum Stützpunkt zurück wie eine Gruppe von Jägern, die gute Beute gemacht haben.

»Himmel, ist das ein Krieg!« lachte Timm, wenn sie durch die Berge streiften. Manchmal sahen sie in den Dörfern ein Mädchen. Dann wurden ihre Augen groß.

Aber die Mädchen in den Dörfern waren spröde wie dünnes Glas. Sie sahen mit ausdruckslosen Gesichtern den Soldaten nach und sprachen kein Wort.

»Dieses Pack ist stolz«, stellte Timm erbost fest, »warte, nach einem Vierteljahr werden sie wissen, wer ihr neuer Herr ist. Dann werden sie um ein halbes Kommißbrot betteln kommen.«

Die Mädchen kamen nicht. Aber Timm bekam Urlaub.

Die Gespräche in der Kneipe an der Straßenecke. Sie kannten ihn dort noch aus der Zeit, in der er einmal mitgeholfen hatte, den Saalbau gegenüber auszuräumen, in dem eine sozialdemokratische Versammlung stattfand. Sie feierten ihn. Es waren die, von denen alle Soldaten gefeiert wurden, die auf Urlaub kamen. Die Rentner aus dem ersten Krieg, die zwei Leute vom Luftschutz, die Weiber von der NSV und eine, deren Mann verschollen war.

»Erzählen Sie mir, wie es da draußen zugeht…«, bat sie Timm.

Er hatte etwas getrunken, aber er sah, daß die Frau buschige, schwarze Augenbrauen über sehr dunklen, großen Augen hatte.

»Sie wohnen wohl noch nicht lange in dieser Gegend?« erkundigte er sich. Um ihn herum tranken die anderen das dünne Bier und rauchten von den Zigaretten, die er auf den Tisch gelegt hatte.

»Ich wohne seit zwei Jahren hier«, sagte die Frau. Sie sagte es nicht sehr laut Und noch etwas leiser sagte sie: »Ich habe eine sehr nette kleine Wohnung. Viel zu nett für mich allein.«

Timm sah die Wohnung zwei Stunden später. Die Frau hatte nicht übertrieben. Sie knipste eine Stehlampe hinter der Couch an und stellte ein paar Gläser und eine Flasche Kognak hin.

»Stürze dich nicht in Ausgaben«, sagte Timm grinsend. Die Frau trug einen Morgenrock. Timm sah, daß sie lange, schlanke, gut geformte Beine hatte.

»Ich habe nicht oft Besuch«, sagte die Frau. Sie goß ein und erhob das Glas: »Auf unsere Bekanntschaft!«

Timm prostete ihr zu. Er überlegte, wie lange er noch Urlaub hatte. Dann sagte er zu der Frau: »Wenn du einverstanden bist, können wir noch genau elf Abende miteinander trinken.«

Die Frau stutzte einen Augenblick. Dann lachte sie leise. Sie verstand. Aus dem Morgenrock schob sie ihr Knie. Sie trug sehr dünne, teure Strümpfe. »Und deine Frau?« fragte sie lächelnd.

»Meine Frau?« sagte Timm. »Sie bezieht meine Löhnung.«

Die Frau kochte Kaffee. Es war außerordentlich guter Kaffee, und Timm wunderte sich, woher sie ihn hatte. Aber sie lächelte nur zur Antwort.

»Bist du schon lange allein?« erkundigte sich Timm.

»Sagen wir, ich bin öfters allein«, gab die Frau zurück,

»Oh…«, machte Timm, »das ändert den Stoff nicht. Nur die Farbe.«

Die Frau war unruhig. Sie hatte schon zu lange gesessen und getrunken. Sie erhob sich. An den Knöpfen des Radios drehend, fragte sie über die Schulter: »Mußt du nach Hause, oder kannst du dir erlauben fortzubleiben?«

»Ich habe noch nie eine Einladung ausgeschlagen«, sagte Timm. Er band den Schlips auf und brannte eine Zigarette an. Er sah gut aus in der nach Maß geschneiderten Uniform. Er hatte auch hier, in dem Sessel, noch etwas von der Elastizität, mit der er über die Steine Kretas gesprungen war, von der Gewandtheit, mit der er sich aus der Maschine schwang. Das Hemd spannte über der Brust. Er war sehr glatt rasiert heute.

»Dann werde ich nämlich jetzt die Haustür abschließen gehen«, sagte die Frau. Sie erhob sich aus der knienden Stellung vor dem Radio. »Ich bin diese Woche dafür verantwortlich.«

Sie ging. Aber sie kam noch einmal zurück und gab Timm einen Bademantel. »Mach es dir bequem. Diese Uniformen sind eine scheußliche Erfindung.«

»Ist er von deinem Mann?« fragte Timm.

Sie ging aus dem Zimmer. An der Tür sagte sie: »Wenn du dich ein bißchen frisch machen willst — im Bad ist eine Brause.«

Zu Hause lag er an den Vormittagen im Bett und schlief einen schweren, traumlosen Schlaf. Manchmal hockte sich seine Frau neben ihn auf die Bettkante und sah ihn mit einem traurigen, nachdenklichen Blick an. Sie ging stets fort, wenn er erwachte. Sie bereitete Essen für ihn und brachte seine Wäsche in Ordnung. Sie war eine schmale, reizlose Frau. Einmal war sie ansehnlich gewesen, aber das lag lange zurück. Sie schlich um Timm herum und sah ihm selten in die Augen. Es war ihm unbehaglich, längere Zeit mit ihr allein zu sein, und er brachte oft tagsüber Freunde mit. Dann spielten sie Skat oder tranken. Aber gegen Abend kleidete sich Timm sorgfältig und ging aus.

»Klaus«, sagte die Frau eines Abends, als er wieder fortging, »die Leute reden schon. Es ist mir ja egal, aber vielleicht solltest du lieber…«

»Jesus Maria…«, sagte Timm. »Wozu habe ich dich bloß geheiratet? Dafür, daß du mir erzählst, was die Leute reden, oder wofür sonst?«

»Ich dachte nur…«, wandte die Frau schüchtern ein. Sie war geduckt, zaghaft. Sie war das kraftlose Überbleibsel einer Frau, die zehn Jahre mit Klaus Timm verheiratet war.

»Laß die Pferde denken«, sagte Timm gleichmütig, »du weißt, daß sie größere Köpfe haben als du…«

Als es bekannt wurde, daß die Truppe nach der Ostfront verlegt werden sollte, sagte Timm nachdenklich: »Das gefällt mir nicht. Ich kann nicht behaupten, daß mir das Freude macht. Das hätte ich mir gerne erspart.«

Zado war der letzte von denen, die damals die Siege der Kompanie miterlebt hatten. Er kannte noch die Forts von Eben Emael und die französischen Mädchen. Er wußte um die Abenteuer in Holland und erinnerte sich an die aufgekrempelten Ärmel in Kreta. Es war vorbei. Hier war der Osten.

Sie lagen an der Straße, ein paar Kilometer hinter der Front der Roten Armee. Im Westen grummelte die Artillerie. Der Frost biß in Timms Wunde. Zado lag neben ihm, ausgepumpt und erschöpft wie er. Das ist unsere letzte Station, dachte Timm. Hier haben sie uns fertiggemacht. Nirgends sonst haben sie uns so fertiggemacht wie hier. Mit Sonnenblumenkernen im Magen und Machorka in den Manteltaschen haben sie uns fertiggemacht und mit Stalinorgeln und T 34 und Granatwerfern und mit allem, was die anderen auch hatten. Die anderen haben es nicht geschafft, aber sie sind dabei, es zu schaffen. Irgendetwas ist vorgegangen. Irgendetwas hat sich verändert. Nicht bei uns. Wir sind immer so gewesen. Die Gegner sind anders geworden. Und wir haben keine aufgekrempelten Ärmel mehr wie in Kreta. Wir haben Löcher im Fell und Zähneklappern.

Er fluchte leise vor sich hin. Zado reagierte nicht darauf. Vor ihnen lag die Straße und dahinter, in einiget Entfernung, das Gehöft Annas. Die Straße war leer. Es war kein Fahrzeug zu sehen. Nur eine Gestalt kam aus dem Dorf und ging mit schnellen Schritten hinüber auf das Gehöft zu. Es war ein Russe, Timm erkannte ihn an der Uniform und an der Pelzmütze. Er trug kein Gewehr. Ein Offizier, dachte Timm. Das Gehöft dort drüben scheint sein Quartier zu sein. Es ist zu still für einen Stab. Er sah der Gestalt nach, die sich undeutlich von dem matt beleuchteten Schnee abhob. Diese einzelne Gestalt, die quer über die verschneiten Felder auf das Gehöft zuging, flößte ihm wieder den Gedanken ein, daß diese Armee und ihre Front so stabil waren, wie die deutsche Armee vielleicht niemals gewesen war.

Er überlegte, wie sie diese Front überschreiten könnten, aber die Zuversicht, die er noch vor Stunden gehabt hatte, war nicht mehr da. Er fühlte, daß es ihm schwerfallen würde, sich zu erheben. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er überlegte, daß er es vielleicht nicht mehr schaffen könnte. Als der Soldat in dem Gehöft verschwunden war, erhob sich Timm mühsam und sagte zu Zado: »Los, komm! Entweder schaffen wir es jetzt, oder…«

»Oder wir schaffen es nicht«, gab Zado zurück. Ihm war alles gleichgültig, was nun noch geschehen konnte.

Timm schleppte sich vorwärts. Manchmal torkelte er und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Nach einigen hundert Schritten wußte er, daß er es nicht mehr bis zur Front schaffen würde. Er nahm diese Erkenntnis mit einem gewissen Gleichmut hin, aber zugleich saugten sich seine Augen an dem Gehöft fest, in dem der Offizier verschwunden war. Bis zu diesem Gehöft wird Klaus Timm noch marschieren, dachte er. Bis zu diesem Gehöft. Und dort wird er den Krieg beenden. Sie werden in diesem Dorf merken, daß Klaus Timm hier den Krieg beendet hat. Die letzten hundert Meter stolperte er mehrmals, und einmal fiel er mit dem Gesicht in den Schnee. Zado keuchte neben ihm. »Ich kann dich nicht schleppen«, sagte er, »ich bin fertig.«

»Mich braucht keiner zu schleppen«, antwortete Timm, »mich hat noch nie einer geschleppt.« Er torkelte weiter, aber er gab die Panzerfaust nicht aus der Hand. Als er nach dem Gehöft einbog, sagte Zado: »Was willst du um Himmels willen dort drüben? Da ist der Russe drin…«

»Genau den will ich«, knurrte Timm. »Wo ich bin, wird gestorben. Das war schon immer so…«

Er schleppte sich durch das Tor, an dem der erschöpfte Zado stehenblieb, sich an den Pfosten lehnend, überlegend, was er jetzt tun sollte. Timm klappte das Visier der Panzerfaust hoch. Er hatte sich davon überzeugt, daß sie scharf war. Er brachte es fertig, lautlos bis an das Fenster zu gelangen, aus dem ein schmaler Lichtschein nach draußen drang. Vor dem Fenster stand ein umgekippter Futtertrog. Timm stieg hinauf und sah durch den Spalt im Vorhang in die Küche. Er sah den Rücken des Russen vor sich, der am Tisch saß, den Kopf in die Hände gestützt. Eine Sekunde lang sah Timm ihn so sitzen. Dann stieß er mit einer schnellen Bewegung, die seine Schulter schmerzen ließ, die Panzerfaust durch die zusammengeflickte Scheibe. Sie fuhr zwischen die beiden Kanten des Vorhanges. Timm drückte auf den Knopf und ließ sich fallen. Er schrie auf, denn er fiel auf die zerschmetterte Schulter. Über ihm schoß ein greller Lichtschein aus dem berstenden Fenster. Die Welle der Detonation fegte Splitter und Fetzen über Timm hinweg. Dann war es still. Zado stand gehetzt am Tor. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Dahinten war das Dorf. Aber es war fraglich, ob sie dort die Explosion gehört hatten. Die Artillerie schoß, und auf diese Entfernung würde kaum einer darauf kommen, daß diese Explosion nicht von der Artillerie herrührte. Die Straße war still. In der Ferne rumorten Motoren, aber sie schienen nicht näher zu kommen. Fort! hämmerte es in Zados Kopf. Er lief am Zaun entlang, geduckt, keuchend. Nach ein paar Schritten sah er die Gestalt, die von der anderen Seite heranhetzte und in den Hof sprang. Er sah sie auf das Häufchen Mensch zulaufen, das unter dem Fenster lag, aus dem ein Fähnchen Rauch stieg, und er hörte die Stimme, als die Gestalt sich über dieses Häufchen beugte. Die Stimme rief nur ein Wort Sie rief: »Timm!«

Dann sprang die Gestalt durch die Tür ins Haus. Zado erhob sich langsam und ging zurück in den Hof. Er blieb stehen und wartete, bis die Gestalt langsam aus der Haustür trat. Dann sagte er: »Kleiner…«, und noch einmal, leiser: »Kleiner…« Er stolperte auf Bindig zu.

Загрузка...