Anna: Allein mit dem Schlag meines Herzens

Immer wenn es Frühling wurde, hockte das Mädchen am Abend bei den Weiden am Fluß und sang vor sich hin. Sie war jung, aber sie war schon kein Kind mehr, und die Burschen sahen ihr nach, wenn sie über die Dorfstraße ging.

Sie war sechzehn, als sie zum letztenmal bei den Weiden saß. Sie trug den bunten, handgewebten Rock, der knapp bis über die Knie reichte, und das Haar fiel, zu zwei schweren Zöpfen geflochten, seidenschwarz über die weiße Bluse. Sie hockte bei den Weiden, als die Sonne unterging, und summte, und die Burschen flüsterten einander zu, daß sie es mit dem Kopf haben müsse.

Das war im Frühling, und im Sommer ging sie als Kindermädchen zu dem Zahnarzt nach Gumbinncn. Der Mann flößte ihr Vertrauen ein, und die Kinder machten wenig Arbeit, obwohl sie keine Mutter mehr hatten.


Es gab Bücher in den Regalen des Zahnarztes, und er gab sie ihr zu lesen. Und sie lernte moderne Kleider nähen und Bananen rösten und gestärkte Manschetten faltenlos bügeln und einen Staubsauger bedienen. Sie erfuhr, daß es Leute gab, die ihre Zähne mit Gold überziehen ließen, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen, und andere, die mit einem zerknüllten Zettel von der Krankenkasse kamen.

Und sie wußte, daß die mit dem Gold sagten: »Ich wünsche so behandelt zu werden, daß ich absolut nichts davon spüre.«

Während die anderen die Mütze in der Hand drehten und beklommen murmelten: »Sie haben so viel Arbeit mit mir, Herr Doktor. Wenn ich Ihnen einmal etwas helfen könnte… Ich bin Schlosser, aber ich verstehe auch was von Gartenarbeit, und jetzt, wenn der Herbst kommt…«

Sie bewunderte ihn, weil er sich keine Frau mehr nahm und weil er an manchen Festtagen das Einkommen eines ganzen Monats dafür ausgab, ein paar Kindern, deren Eltern nichts verdienten, Anzüge und Schuhwerk zu schenken.

Ein Jahr lang verschloß sie am Abend, wenn sie in ihrer Stube zu Bett ging, die Tür, denn sie war ein junges Mädchen, und er war ein Mann. Aber als das Jahr um war, begriff sie, daß er nicht so war wie der Rechtsanwalt in der Villa nebenan, der sich das Dienstmädchen ins Bett holte, wenn seine Frau im Thüringer Wald im Rheumabad war. Da verschloß Anna die Tür nicht mehr, und es änderte sich nichts.

Ein Jahr später begrub sie ihren Vater. Die Mutter führte den Hof noch eine Weile weiter, aber ein paar Monate danach lag sie neben ihrem Mann auf dem Friedhof, und Anna verkaufte für ein Spottgeld das Land und das Haus. Sie führte weiter den Haushalt des Zahnarztes, denn außer einer Tante gab es im Dorfe niemand mehr, bei dem sie hätte bleiben können.

Sie kam ab und zu ins Dorf auf Besuch, und dann blieb sie bei der Tante, die eine alte, einfältige Frau war. Sie war es auch, die ihr den Mann aufschwatzte, den sie schließlich heiratete. Aber das war erst viel später.

»Anna«, sagte eines Abends der Zahnarzt zu ihr, »es tut mir leid, aber ich glaube, wir werden uns bald trennen müssen.«

Er war fort gewesen und trug noch Mantel und Hut. Er nahm Anna bei der Hand und führte sie zur Haustür. Irgendjemand hatte dort mit leuchtend weißer Farbe »Judenschwein, ’raus!« auf das Holz gepinselt.

»Ich verstehe gar nicht…«, sagte Anna beklommen.

Der Zahnarzt führte sie wieder zurück ins Haus und sagte: »Wenn ich es nur verstünde! Ich habe diesen Leuten nichts getan, und meine Eltern nicht und nicht meine Großeltern. Ich habe den Leuten ihr Gebiß in Ordnung gebracht, wie es andere auch tun. Jedenfalls nicht schlechter. Aber ich heiße David, und sie haben in ihrem Programm vorgesehen, uns auszurotten. Es wird besser sein, das nicht abzuwarten.“

Anna mochte nicht gern ins Dorf zurückkehren. Sie beschloß abzuwarten, was geschah. Aber das, was geschah, überstieg ihre Vorstellungen gründlich.

Sie stand in der Küche und putzte den Teekessel, als der erste Stein durch die Scheiben flog. Er hinterließ zwei faustgroße Löcher in den Doppelfenstern und polterte auf das Küchenbüfett, Dann kam noch einer und noch einer, und der dritte verletzte Anna an der Stirn, so daß sie nur halb bewußt erlebte, was weiter geschah.

Es waren Leute in Uniformen und in Zivilkleidern, die vor dem Haus tobten. Es waren Schulkinder, kleine, rotznäsige Jungen und Mädchen, die wieselflink Steine heran schleppten und sich freuten, weil es zum erstenmal in ihrem Leben erlaubt war, Fenster einzuwerfen. Sie taten es mit einer Mischung von kindlicher Freude und zunehmender Zerstörungswut. Die Erwachsenen schrien Beschimpfungen, sie erhitzten sich gegenseitig, und schließlich brachen sie in den Garten ein, einer den anderen anfeuernd.

Der Zahnarzt David hatte ein bleiches, verängstigtes Gesicht, und die beiden Kinder verkrochen sich weinend in der hintersten Stube. Er wollte Anna dazu bewegen, das Haus durch die Hintertür zu verlassen, aber es war schon zu spät, denn im Garten wimmelte es von tobenden Menschen. Es waren Alte und Junge. Sie schlugen die Tür ein und rissen die Bilder von den Wänden. Sie warfen die Blumenvasen gegen die Türen der Glasschränke und demolierten die Sprechzimmereinrichtung. Unter den künstlichen Gebissen, die sie grölend durch die Fensterscheiben warfen, war auch das, welches David erst vor ein paar Tagen für den Rechtsanwalt von nebenan angefertigt hatte. Aber er schien es ohnehin nicht abholen zu wollen, denn er stand, mit einer abgebrochenen Zaunlatte bewaffnet, unweit der Haustür und brüllte im Chor der anderen: »Haut das Schwein, das jiddische! Haut ihn!«

Zuerst waren es einige von den Uniformierten, die ihn schlugen. Sie trugen hellbraune Hemden und Stiefelhosen von der gleichen Farbe, und auf dem Kopf hatten sie hohe Mützen, die entfernt an Starkästen erinnerten. Sie ohrfeigten David, der sich vergeblich zu schützen versuchte und der fortwährend beteuerte, nichts Unrechtes getan zu haben. Er blutete leicht an der Lippe, aber dann brüllte einer: »SA – ’ran!«, und da schnallten sie die Schulterriemen ab und prügelten mit dem Leder. Sie zerschlugen alles, was ihnen im Wege stand. Die Möbel und die Nippesfiguren, die Ampullen mit dem schmerzbetäubenden Mittel und die Wachsabdrücke fremder Gebisse. Sie zerschlugen Schränke und Tische und bearbeiteten David selbst so lange mit ihren Lederriemen, bis er am Boden lag, ohne sich zu rühren. Sie rissen den Kindern büschelweise die Haare aus und zerrten dem Mädchen, das ihr letztes Schuljahr absolvierte, die Kleider vom Körper. Sie jagten es nackt in den Garten und von da auf die Straße, bis dort ein Schutzmann eingriff. Er verabreichte dem Mädchen ein paar kräftige Ohrfeigen und stieß es in einen Lastwagen, der schon bereitstand und in dem das Mädchen ein Dutzend andere jüdische Bürger fand, die ihm halfen, seine Blöße zu bedecken.

Zuerst beachtete keiner der Tobenden Anna. Aber dann rief plötzlich der Rechtsanwalt, der inzwischen das Haus betreten hatte: »Da… da steht sie und flennt, die Judenhure!«

Er warf einen Topf nach ihr, der an die Wand polterte, und Anna, der die Angst plötzlich Mut verlieh, schrie ihn an: »Seien Sie still! Sie sind ein Lügner!«

Doch die Leute um sie herum grölten nur. Zuerst hatten sie nicht vermutet, daß dieses schwarzhaarige, schöne Mädchen in das Haus gehörte. Aber nun wandte sich ihre Raserei gegen Anna, und die mit den Starkästen auf den Köpfen schwangen wieder die Schulterriemen. Als es ihr endlich gelungen war, aus dem Hause auszubrechen und durch den Garten in eine stillere Straße zu gelangen, blutete sie am ganzen Körper. Sie hielt über der Brust ihr Kleid zusammen, und ihr Haar flatterte aufgelöst, blutig, hinter ihr her, als sie wie gehetzt davonlief. Man verfolgte sie, und die Meute schrie im Chor »Judenhure! Judensau!«, so daß die Leute, an denen sie vorbeilief, aufmerksam wurden und mit Steinen nach ihr warfen.

Es war, als habe ein Taumel die Menschen gepackt und rasend gemacht. Die Schreie hallten durch die ganze Stadt, und die Scheiben prasselten. Als Anna die letzten Häuser weit hinter sich gelassen hatte und ihr niemand mehr folgte, sank sie zu Boden und weinte, bis Ihr keine Tränen mehr kamen. Blutig und zerschlagen, wie sie war, kroch sie weiter. Irgendwo, abseits der Straße, wusch sie sich notdürftig an einem Bach. Sie wanderte Tag und Nacht, ohne zu essen und zu schlafen. Sie umging die Dörfer und rupfte Sauerklee aus, wenn der Hunger ihr in den Gedärmen wühlte. Der Klee stillte den größten Hunger, aber er konnte Annas Angst nicht vertreiben.

Bei Nacht schlich sie in ihr Heimatdorf, hohlwangig und wund am ganzen Körper. Mit einer Seele, die einem todwunden Tier glich. Die Tante nahm sie auf. Und ein paar Monate später verkuppelte sie das Mädchen an den Mann, den sie im Dorfe seit einiger Zeit nur den »Erbhofbauern« nannten. Dann legte sich die Tante ins Bett und starb noch vor der Hochzeit an einem Blutsturz im Gehirn.

Der Mann war groß und blond, und ihm gehörte der große Hof in Haselgarten, ein wenig abseits vom Dorf. Während er um Anna warb, war er immer nüchtern und gut. Er hörte sich an, was ihm Anna von Gumbinnen erzählte, und sagte nichts dazu. Sie kannte ihn nur oberflächlich, aber die Tante hatte ihr eingeredet, daß sie froh sein konnte, ihn zu bekommen nach allem, was in Gumbinnen mit ihr passiert sei.

Er nahm das Geld von ihr, das sie aus dem Verkauf des elterlichen Hofes behalten hatte, und kaufte noch Land zu seinem Hof. Als er sie heiratete, feierte das halbe Dorf, und Anna weinte zum erstenmal heimlich in ihrer Stube, weil draußen am Gasttisch welche saßen, die ebensolche Uniformen trugen wie die Schläger damals in Gumbinnen.

Als die Gäste davon torkelten, war der Mann schon betrunken. Aber er trank mit den Knechten weiter, und sie grölten Lieder, die Anna nie gehört hatte. Sie schlich in die Schlafstube, aber sie fand keinen Schlaf, denn der Lärm drang bis zu ihr. Und als der Lärm zu Ende war, kam er.

Er nahm sie ohne Zärtlichkeit, grob und trunken. Er hauchte ihr den Schnapsdunst ins Gesicht und bereitete ihr Schmerzen. Aber sie verbiß den Schmerz und die Enttäuschung, und als alles vorüber war, zog sie ihm Hose und Stiefel aus.

Das war im Sommer, und im folgenden Frühling hatte sie eine Fehlgeburt. Er ließ sie nach Gumbinnen schaffen, und die Ärzte erklärten ihr, als sie aus der Klinik entlassen wurde, daß sie kein Kind mehr haben würde.

»Das habe ich nun von dir Judenhure!« begrüßte er sie, als sie nach Hause kam. Sie war noch schwach und hielt sich nur mühsam aufrecht. Aber er trieb sie in den Stall zu den Kühen, und sie arbeitete wie eine Magd.

»Jetzt habe ich einen Erbhof und keinen Erben«, tobte er abends, »aber das geschieht mir recht! Was nehme ich auch so eine, die dieser Zahnjidd verdorben hat!«

Er soff Tag und Nacht. Ein paar Nächte duldete er sie noch neben sich, aber dann jagte er sie am Abend in die Küche und nahm die Großmagd zu sich.

Anna versuchte mit ihm zu reden. Er hörte sie nicht an. Sie schrie, und er schlug sie. Sie beschimpfte die Magd, aber da wurde er noch wütender. Als sie ihm drohte, sich von ihm scheiden zu lassen, lachte er sie aus: »Das wage nur! Dann werd’ ich deine Schweinereien mit dem Jidd anbringen! Sie werden dich zu ihm ins Lager sperren!«

Manchmal saß sie jetzt wieder an ihrem alten Platz bei den Weiden am Fluß. Aber sie sang nicht mehr. Und die Leute aus dem Dorf seufzten leise, wenn sie sie von weitem sitzen sahen.

Als sie ihn zum Militär eingezogen hatten, erwachte ihre alte Kraft wieder. Zuerst entließ sie die Magd und dann einen Knecht nach dem anderen. Sie behielt nur zwei Knechte, und mit ihnen schaffte sie die ganze Arbeit. Der Hof brachte wieder etwas ein. Sie zog mehr Vieh auf als früher. Die Leute im Dorf nickten mit den Köpfen.

Er erfuhr, daß sie die Magd entlassen hatte, und da schrieb er ihr, daß er eines Tages heimkommen werde. Sie solle einstweilen ihre Koffer packen, und wenn der Jude noch am Leben sein sollte, dann werde er dafür sorgen, daß man sie zu ihm sperre. Das war einen Monat bevor die Nachricht von der Kompanie kam, er wäre in heldenhafter Pflichterfüllung gefallen. Und einen Monat später kam der Mann der Nachbarin auf Urlaub und erzählte ihr die Sache von dem Lastwagen mit dem Wein.

Die Nacht bevor die Rote Armee das Dorf eroberte, war eine der unruhigsten Nächte, die das Dorf jemals erlebt hatte. Es blieb niemand auf seinem Anwesen. Mit vollgepackten Leiterwagen verließen die Bauern ihre Höfe. Die beiden Knechte Annas waren längst fort, als der Parteibonze aus dem Dorf in aller Eile bei Anna erschien und ihr riet, schnell zu packen.

»Die Russen sind wie die Teufel! Sie werden hier einbrechen wie die Sintflut!«

Anna sagte nichts. Sie kannte die Russen nicht, aber der Parteibonze hatte die gleiche Uniform an wie die in Gumbinnen.

»Sie werden keinen Stein auf dem anderen lassen!«

Anna blickte zu Boden und erinnerte sich daran, daß der Mann damals mitgetrunken hatte, als sie Hochzeit feierten.

»Und dann die Frauen…«, flüsterte der Mann. Er kam vertraulich näher und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er hatte ein faltiges, bräunliches Gesicht, und seine Zähne waren schwarz vom Tabak. Es stank, wenn er den Mund aufmachte. Er betrachtete Anna mit Augen, die mehr sagten als sein stinkender Mund. »Sie sind zu schade dafür…«, flüsterte er. »Sie sind eine tapfere Frau. Ich bewundere Sie schon lange, wie Sie den Hof in Ordnung gehalten haben. Ist es Ihnen eigentlich nie einsam gewesen, so ganz ohne Mann?«

Er kniff ein Auge zu, und sie sah, daß seine Adern am Kopf angeschwollen waren.

»Ich habe bereits in einem Dorf weit im Westen Quartier gemacht«, flüsterte er. »Sie können ruhig…«

Sie nahm langsam seine Hand von ihrer Schulter. Sie spürte, daß diese Hand feucht von Schweiß war.

»Es wird gut sein, wenn Sie jetzt gehen«, sagte sie ruhig, »ich habe noch eine Menge zu tun.«

»Ja, wollen Sie denn nicht…«

»Ich weiß nicht. Ich werde es mir überlegen«, antwortete sie ihm.

Als die Truppen, die das Dorf verteidigten, sich zurückzogen, waren Annas Ohren halb taub von der Schießerei. Sie zitterte, denn sie hatte es nicht im Keller ausgehalten, und nun hörte sie das Gerassel der Panzerketten, und durch den Garten sah sie, wie in der Ferne die letzten Soldaten hinter den Bodenwellen verschwanden. Nur auf der Straße wurde noch geschossen. Ein paar der Soldaten konnten nicht zurück und verschossen ihre letzten Patronen. Die Russen waren bereits im Dorf, und sie riefen sich mit rauhen, kehligen Stimmen Befehle zu. Anna nahm das alles wahr, als sähe sie einem Film zu. Sie stand, in ihr Tuch gehüllt, an das Haus gelehnt und wußte nicht, was nun kommen würde.

Auf der Straße platzten schnell hintereinander ein paar Handgranaten. Eine heisere Stimme schrie laut: »Dawai… Dawai!« Sie hörte das Wort zum erstenmal, und sie wußte nicht, was es hieß. Aber es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, als sie es so hinter dem Bretterzaun hörte, der das Gehöft zur Straße abschloß. Dann prasselten Kugeln durch das Holz, und Anna duckte sich. Sie stopfte sich den Zipfel des Tuches in den Mund, um nicht aufzuschreien. Draußen wurde gekämpft, das begriff sie. Also mußten doch noch Soldaten im Dorf sein, die auf die Russen schossen.

Als die erste Handgranate auf dem Hof detonierte, warf sich die Frau flach auf die Steinfliesen des Hausflurs. Sie hörte das Poltern vom Tor her und vernahm auch den Fall, aber sie sah den Soldaten erst nach einiger Zeit, als sie den Kopf hob. Er lag im Hof und blutete aus der Schulter. Er bewegte sich nur sehr matt, und sein Stahlhelm scharrte dabei über den Boden. Die Maschinenpistole war ihm aus der Hand gefallen, als er über den Zaun setzte. Sie war im Hof aufgeschlagen, und der Kolben war abgebrochen.

Mit einem Male wurden die Geräusche schwächer. Die Schießerei verzog sich weiter auf das Dorf zu. Ein paarmal rasselten Panzer vorbei, dann war es still um das Gehöft. Da raffte sich Anna auf und lief quer über den Hof zu dem Russen, der ihr mit verbissenem Gesicht entgegensah und sich aufzurichten versuchte.

Sie prallte zurück, als er sie auf deutsch anschrie: »Weg da!« Aber sie sah auch, daß er bleich im Gesicht war und eine Menge Blut verloren hatte. Sie merkte, daß seine Kräfte nachließen und das Blitzen in seinen Augen schwächer wurde.

»Sprechen Sie denn Deutsch?« fragte sie ratlos.

»Weg da!«

»Sie sind verwundet…«

»Rühren Sie mich nicht an«, warnte der Mann sie drohend, »ich habe noch genug Kraft, um zehn solche Faschisten wie Sie zu töten!«

Dann sank er zurück. Er war bewußtlos geworden.

Wie sie ihn ins Haus geschleppt hatte, konnte sie nachher nicht mehr genau sagen. Sein Blut beschmutzte ihr Kleid. Aber sie hatte nur den einen Gedanken, daß er nicht sterben durfte. Sie tat es, ohne zu überlegen, und sie hätte genau das gleiche getan, wenn dieser Verwundete nicht ein Russe, sondern ein Deutscher gewesen wäre. Sie zog ihn aus und verband seine Wunde an der Schulter. Es war ein großes, tiefes Loch; das Geschoß mußte ihn in dem Augenblick getroffen haben, als er sich auf den Holzzaun schwang. Es gelang ihr, das Blut zu stillen und den Soldaten für kurze Zeit ins Bewußtsein zurückzurufen. Aber er war zu sehr ausgeblutet, und von seinen Lippen kam nur ein undeutliches Lallen.

Als eine Patrouille später die Häuser durchsuchte und auch zu Anna kam, führte sie die Soldaten zu dem Verwundeten. Sie stellten Anna mißtrauisch mit dem Gesicht zur Wand auf und durchsuchten das Haus. Einer lief ins Dorf und holte einen Offizier, der ein paar Worte Deutsch verstand. Er verhörte Anna und fragte sie ein dutzendmal immer wieder dasselbe. Wie sie dazu gekommen sei, ihn zu verbinden und im Haus unterzubringen. Warum sie nicht geflüchtet sei. Wer ihr Mann wäre.

Der Offizier war ein Jude, und er sagte ihr das auch. Er beobachtete ihr Gesicht scharf.

»Ich habe einmal bei einem Juden gearbeitet«, sagte Anna leise. Sie stand noch immer an der Wand, aber nun mit dem Gesicht zur Stube, und sie sah den Offizier an. Zugleich sah sie den anderen auf dem Bett liegen und unruhig atmen, bei geschlossenen Augen.

»Bis sie ihm alles zerschlugen und ihn abholten, habe ich bei ihm gearbeitet«, sagte sie, »bis zur letzten Minute war ich bei ihm. Er war der einzige Mensch, der gut zu mir gewesen ist.«

Der Offizier biß sich auf die Lippen. Er sagte leise, wie um den Verwundeten nicht zu stören: »Bis zur letzten Minute. Und dann hast du seinen Schmuck genommen und sein Geld und bist gegangen. Wir wissen alles.«

»Nein«, sagte sie. »Ihr wißt nicht alles.«

Aber er herrschte sie böse an: »Still! Ich habe noch keinen Deutschen getroffen, der für das geradestehen will, was die Deutschen verbrochen haben!«

Der Verletzte murmelte ein paar undeutliche russische Worte.

»Geben Sie ihm Wasser!« befahl der Offizier.

Er ließ einen Posten bei dem Verwundeten, denn sie konnten ihn nicht transportieren, und es waren noch keine Sanitätsautos im Dorf. Der Posten hockte sich neben das Bett und hielt die Maschinenpistole schußbereit in den Händen. Er beobachtete Anna, und wenn sie dem fiebernden Verwundeten Wasser gab, mußte sie zuerst selbst davon trinken.

Die Flieger kamen, zwei Stunden bevor die Deutschen das Dorf wieder angriffen. Sie heulten über die Felder und schossen auf alles, was sich bewegte. In der Ferne rumpelten ein paar Panzermotoren. Das waren deutsche.

Anna kam nie dahinter, ob sie den Verletzten einfach vergessen hatten oder ob es keine Möglichkeit gab, ihn fortzuschaffen. Der Posten machte eine drohende Gebärde und lief ins Dorf. Sie vermutete, daß er ein Fahrzeug holen wollte, das den Verletzten wegbringen sollte. Aber er kam nicht weit, denn die Flieger kreisten über der Straße, und auf halbem Wege zwischen Annas Gehöft und dem Dorf stieß eine der gescheckten Maschinen herab, und der Posten blieb am Straßenrand liegen. Zu dieser Zeit heulten schon die ersten Panzergranaten über das Gehöft hinweg und schlugen im Dorf ein. Ein paar Stunden lang tobte das Gefecht, aber die deutsche Einheit war stärker als die sowjetische, die das Dorf erobert hatte, und die nächste Patrouille, die in Annas Gehöft kam, war eine deutsche. Anna ging ihnen auf dem Hof entgegen. Sie glotzten sie an wie ein Gespenst, und dann fragten sie nach Russen. Anna schüttelte den Kopf. Sie wage es nicht, dem Führer der Patrouille in die Augen zu blicken, aber der faßte das wesentlich anders auf und verzichtete darauf, das Haus zu durchsuchen. Er sagte nur mitfühlend zu Anna: »Arme Frau, Sie haben bestimmt viel gelitten. Wenn Sie Hilfe brauchen, kommen Sie ins Dorf. Wir werden sehen, was wir tun können.«

Sie hatte nicht darauf geachtet, daß sie die Tür zu der Stube, in der der Verletzte lag, offengelassen hatte. Als die Patrouille verschwunden war und sie zu dem Russen zurückging, lag er mit offenen Augen da und fragte leise: »Warum haben Sie das getan? Wissen Sie, was das für Sie bedeutet?«

»Wollen Sie Wasser?« fragte sie ihn. »Ich habe Früchte im Keller und Kirschsaft. Wollen Sie?«

»Man wird Sie erschießen.«

»Schmerzt Ihre Wunde noch stark?« fragte sie.

»Die Leute im Dorf werden Sie anzeigen…«

»Es ist niemand außer mir in diesem Dorf«, sagte sie eigensinnig. »Legen Sie sich hin, Sie dürfen sich nicht so anstrengen.«

Er betrachtete sie einen Augenblick lang, dann verlangte er: »Geben Sie mir meine Uniform. Wo haben Sie meine Uniform gelassen?«

Sie deutete auf den Schrank. »Es braucht nicht jeder gleich zu sehen, wer hier liegt.«

Sie brachte ihm seine Kleidung, und er zog aus einer Tasche die Pistole und steckte sie unter das Kopfkissen.

»Wann werden Ihre Leute zurückkommen?« erkundigte sie sich nach einer Weile. »Wie lange wird das dauern?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie sprechen so gut Deutsch. Man könnte Sie für einen Deutschen halten.«

»Ich habe einmal diese Sprache gelehrt«, sagte er langsam, »als noch kein Krieg war. Ich habe sie jungen, wißbegierigen Menschen bei uns zu Hause beigebracht, damit sie Marx und Engels im Original lesen konnten.«

Sie sah ihn an. Sie sah, daß auf seiner Stirn Schweißtropfen standen.

»Wer sind Marx und Engels?« fragte sie.

Er antwortete nach einem langen Schweigen. »Es waren Deutsche«, sagte er, »vorhin habe ich geglaubt. Sie würden wenigstens ihre Namen kennen.«

»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd, »ich kenne sie nicht. Wollen Sie nicht etwas essen? Sie müssen zu Kräften kommen.«

»Ich habe in meiner Tasche eine Handvoll Sonnenblumenkerne«, sagte er, »die können Sie mir geben. Wir Russen essen gern Sonnenblumenkerne.«

Sie gab sie ihm, aber er war zu schwach, die Kerne zu knacken. Sie fielen ihm aus der Hand, und als sie es sah, brach sie die Schalen mit den Fingern auf und steckte ihm die Kerne zwischen die Lippen.

Es war dunkel, und es gab keinen Strom. Aber sie hätte ohnehin kein Licht gemacht. Sie drängte ihm ein paar Früchte auf und Kirschsaft, mit Wasser verdünnt. Einmal fragte sie ihn: »Muß ich jetzt auch noch von dem Wasser trinken, bevor ich es Ihnen gebe?«

Er antwortete nicht. Er sah sie an, obwohl er in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht mehr genau erkennen konnte.

Draußen war es stiller geworden. In der Ferne war der Donner von Geschützen zu hören. Das konnten die Panzer sein. Ab und zu leuchtete es am Himmel auf, wenn es eine größere Explosion gab. Es war still in der Stube.

»Wo werden Sie schlafen?« fragte er plötzlich. »Das hier ist Ihr Ehebett…«

»Ja, das ist mein Ehebett«, sagte sie, »und wenn ich müde werde, dann werde ich mich ein bißchen dort auf die andere Seite legen, neben Sie, damit ich höre, wenn Sie irgend etwas brauchen.«

»Damals, an jenem Abend«, sagte Anna leise zu Bindig, »da wollte ich es dir sagen. Aber dann habe ich es doch nicht gesagt. Ich weiß nicht warum. Ich wußte, daß du begreifen würdest, warum ich ihn aufnahm und nicht verriet. Aber ich habe es trotzdem nicht gesagt…«

Sie hörten ihn oben in seiner Kammer hin und her gehen. Bindig richtete sich ein wenig auf. Er war schwach. Das Fieber war zurückgegangen, und seine Glieder hatten aufgehört, im Schüttelfrost zu beben. Er hatte Hunger, aber er sagte nichts, denn er wollte nicht, daß sie aufstand und ihm etwas zu essen holte. Er wollte sie jede Sekunde neben sich haben.

Zado hatte ihm Zigaretten und Schokolade gebracht. Er versuchte, eine Zigarette anzubrennen, und es gelang ihm auch. Das aufflackernde Streichholz beleuchtete sekundenlang sein Gesicht. Es war blaß, und um die Augen herum lagen tiefe Schatten. Aber das Hölzchen brannte nur wenige Sekunden. Als es wieder dunkel war, sagte Anna: »Du solltest schlafen. Schlafen ist gut. So lange schlafen, bis alles vorbei ist. Das Fieber und die Schwäche und der ganze Krieg überhaupt…«

Sie hatten ihn nicht ins Lazarett geschickt. Wer in diesen Tagen ins Lazarett kam, der kehrte nicht mehr zu seiner alten Einheit zurück. War er geheilt, dann steckte man ihn irgendwohin, wo gerade ein paar Leute fehlten. Es gab keine Ordnung mehr, nur noch die Hast. Timm hatte eine einfache Rechnung aufgestellt. Wenn Bindig ins Lazarett kam, war er für die Kompanie verloren. Hatte er hier in Haselgarten ein paar Tage Ruhe, dann war es immerhin möglich, daß er sich ohne Zutun eines Arztes erholte, wenn nicht, dann konnte man ihn immer noch ins Lazarett schaffen, aber dann war der Verlust für die Kompanie nicht größer, als wenn man ihn gleich dorthin gebracht hätte.

Bindig erholte sich schnell. Sein Körper war auf Härte trainiert. Kaum waren drei Tage vergangen, da war Bindig über den Berg. Er rauchte die Zigarette mit Genuß, und da wußte er, daß er es geschafft hatte. Aber er wußte nicht, was nun werden sollte. Die Gedanken zermarterten sein Gehirn. Er konnte niemandem sagen, was geschehen war, nicht einmal Zado. Er hatte nur Anna und sonst nichts mehr.

»Ich hatte Angst«, sagte die Frau leise. Sie lag still neben ihm in der Dunkelheit, die nur durch den hellen Schimmer, den der Schnee vor den Fenstern verursachte, etwas von ihrer zähen Schwärze verlor,

»Angst…«, wiederholte er gedankenlos.

»Ja. Angst um mich und Angst, daß sie Georgi ausfindig machen würden.«

»Er heißt Georgi?«

»Georgi Warasin.«

Er blies den Zigarettenrauch in die Dunkelheit. Dann wandte er den Kopf und sah sie an. Über ihnen waren noch immer die Schritte des Russen.

»Wenn sie dahintergekommen wären, hätten sie ihn an die Wand gestellt, ihn und dich.«

Die Frau bewegte sich ein wenig. Bindig hörte, wie sie mit den Handflächen das Deckbett glattstrich.

»Ich habe es immer gewußt«, hörte er sie sagen, »aber ich hätte ihn um nichts in der Welt verraten. Es hat lange gedauert, bis seine Wunde geheilt war. Und ich habe manchmal gezittert, wenn welche von euch kamen. Ich hätte es bei Gott lieber gesehen, wenn es Russen gewesen wären —«

»Warum hast du das eigentlich getan?« fragte er.

»Warum?« Eine Weile war es ganz still. Dann sagte die Frau langsam und bedächtig: »Weil es genug Jammer auf der Welt gibt. Und weil ich kein Soldat bin, sondern eine Frau und es mir um jeden Menschen leid tut, der sterben muß, deshalb.«

»Es ist Krieg!« sagte er.

»Georgi hat mir einmal gesagt, diesen Krieg haben nicht die Russen gemacht, sondern die Deutschen. Hitler hat ihn gemacht. Und solche Jungen wie dich haben sie so lange belogen, bis sie nur noch den einen Ehrgeiz hatten, Helden zu sein. Das war damals, als ihr zwei bei mir gegessen habt. Als du die Büchse mit dem Messer öffnen wolltest. Damals sagte Georgi, es ist ein Jammer, was sie aus euch gemacht haben…«

»Ein Menschenfreund«, sagte Bindig, »ein Weiser, der alles versteht und alles verzeiht. Vielleicht möchte er mich aus lauter Mitleid adoptieren!«

»Du bist krank«, sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest, »du solltest nicht streiten, sondern schlafen…«

»Ich bin nicht krank!« begehrte er eigensinnig auf. »Aber ich kann Leute nicht leiden, die mit Weisheit um sich werfen. Ich lasse mich nicht gern als ein kleines Kind behandeln, denn sie haben uns verdammt zeitig abgewöhnt, uns als Kinder zu fühlen!«

Sie widersprach ihm nicht, und auch er schwieg. Er drückte die Zigarette aus und starrte in die Dunkelheit. Dann fragte sie zögernd: »Du hast ihn geschlagen?«

»Ich habe verhindert, daß er auf mich schoß. Er ist zwar weise, aber mir ist es ziemlich egal, ob ein Weiser oder ein Narr auf mich schießt. Ich wehre mich gegen beide.«

»Mein Gott!« sagte sie. »Vielleicht wäre ich heimgekommen und hätte deine Leiche gefunden. Ich darf nicht mehr daran denken.«

»Du kannst ruhig daran denken!« Er lachte leise auf. »Und du brauchst keine Angst zu haben. Ich weiß zwar nicht sehr viel vom Leben und von der Welt. Nur das, was man in Büchern findet. Aber dafür kenne ich sieben verschiedene Arten, mit der bloßen Hand zu töten.«

»Wenn doch dieser Irrsinn ein Ende nähme«, sagte sie. »Man hat dieses bißchen Leben, und man weiß nicht, an welchem Tag sie es einem nehmen. Ein Dreck ist das ganze Leben gewesen. Und sie lassen einem nicht einmal diesen Dreck!«

Sie richtete sich auf und beugte sich über ihn. In der Dunkelheit konnte er die Umrisse ihres Körpers erkennen. Er spürte ihre Wärme und sah, wie ihre Lippen sich bewegten.

»Ich bin immer allein gewesen«, sagte sie, »als Kind und als Mädchen und als Frau. Es war immer das gleiche. Ich war allein mit dem Schlag meines Herzens. Und seit ein paar Tagen habe ich Angst, daß du einmal nicht mehr zurückkommst. Es ist, als hätten sie mich mein ganzes Leben lang auf eine Folterbank gefesselt. Immer Angst und Haß und ein bißchen Hoffnung. Und jetzt nur noch Angst. Um dich.«

Er strich über ihr Haar und ließ die Hand auf ihrer Schulter liegen. »Wenn sie dahinterkommen, was in diesem Hause los ist«, sagte er, »dann werden wir alle drei in der gleichen Stunde sterben. An einer Wand hier im Dorf, an der man schon hundertmal vorbeigegangen ist. Oder an einer in dem Nest, in dem die Division ihr Quartier hat und die Feldgendarmerie.«

Sie ließ ihren Kopf auf seine Brust sinken. Er spürte, daß sie weinte, und biß sich auf die Lippe,

»Mein Gott«, flüsterte sie, »mein Gott im Himmel, wenn es dich gibt, warum machst du nicht diesem Irrsinn ein Ende!«

Er erinnerte sich plötzlich an die Pistole, die er dem Russen abgenommen hatte. Leise fragte er sie: »Wo hast du die Pistole hingetan?«

»Es waren zwei Pistolen«, sagte sie, »die eine steckt in deiner Tasche.«

»Und die andere? Die von dem Russen?«

»Ich habe sie ihm gegeben.«

Er lag ganz still. Er bewegte auch seine Hände nicht. Er fragte nur: »Er hat die ganzen Tage, als ich hier lag, die Waffe gehabt?«

»Ja«, sagte sie einfach, »er hat sie gehabt.«

Nach einer Weile fügte sie hastig hinzu: »Du brauchst keine Angst zu haben. Er wird dich nicht erschießen.

»Ich habe keine Angst. Aber es war unklug, ihm die Waffe zu geben.«

Sie sagte leise: »Nein. Es war nicht unklug. Denn er wird nicht auf dich schießen und überhaupt auf niemanden. Er hat die Pistole, und er braucht sie, denn sie würden ihn quälen, wenn sie ihn erwischten. Deswegen braucht er die Pistole. Er weiß, daß du ihn nicht verraten wirst, und er wird nicht auf dich schießen.«

»Du glaubst ihm ziemlich viel.«

»Man kann ihm glauben.«

»Das ist es ja gerade«, sagte er gequält, »man kann ihm glauben, und man glaubt sich selbst nicht mehr.«

»Es ist eine grausame Zeit«, sagte sie. Er merkte, daß sie wieder weinte. Eine Weile preßte er ihren Kopf an seinen Körper, als könne er sie so beruhigen. Aber dann konnte er nicht mehr stille sein. Er konnte nicht mehr so mit ihr im Arm in der Dunkelheit liegen und spüren, wie sie weinte.

»Es ist eine verfluchte Zeit«, sagte er zornig, »schlimmer als alle Zeiten, die es jemals gegeben hat! Aber wer hat sie gemacht? Du? Oder ich? Ich habe mich schon als Kind nicht gern für Dinge schlagen lassen, die ich nicht getan hatte. Und ich habe weiß Gott nicht die Schuld, daß es diese mörderische Zeit gibt. Sieh mich an! Wie alt bin ich? Ich brauche noch die Genehmigung meiner Eltern, wenn ich heiraten will.

Aber ich habe schon ein paar Dutzend Menschen getötet. Bin ich schuld daran? Bin ich denn ein solcher Weiser, daß ich als Kind etwa schon alles besser hätte wissen können als die, von denen ich erzogen wurde? Ich habe diese Zeit nicht gemacht und nicht den Krieg, und ich habe nicht die Menschen aufgeteilt in Christen und Heiden und Deutsche und Russen und Nationalsozialisten und Kommunisten! Ich habe noch das Abc gelernt, als das alles, was jetzt geschieht, beschlossen wurde. Ich habe die Alten in den braunen Fräcken herumlaufen sehen, und sie waren für mich der Inbegriff aller Lebensweisheit. Ich habe mit dem Abc gelernt, wer gut und wer schlecht ist. Und wie man die Hand hebt, um den Führer zu grüßen. Sie haben mir alles erklärt, bis ich es lückenlos begriffen hatte. Sie haben mir vorgesagt, was ich nachsprechen mußte, und sie haben mir die Gedichte in die Hand gedrückt und am ersten Mai die Hakenkreuzfahne. Wo waren die Weisen dieser Zeit? Ich habe sie nicht gesucht, denn ich habe nicht gewußt, daß es sie gibt. Und sie sind nicht zu mir gekommen, bis ich reif fürs Militär war. Dort hat man einen Helden aus mir gemacht, ohne mich zu fragen, ob ich einer werden wollte oder nicht. Sie haben keinen von uns gefragt. Sie haben uns hierhergeschickt, ausgebildet und bewaffnet. Aber wer ist daran schuld? Ich? Oder du? Wer ist im Recht und wer im Unrecht? Die meisten von uns werden es nie erfahren, und wenn sie es erfahren, wird es zu spät sein, und deshalb werden sie nichts ändern können. So wie ich nichts ändern kann. Oder weißt du einen Ausweg?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. Über ihnen war noch immer der Schritt des Russen.

»Frag mich nicht«, bat sie leise, »ich weiß keine Antwort. Ich kann dir auf nichts von allem eine Antwort geben…«

An der Front wurde geschossen. Es mußten schwere Kaliber sein, denn das Gedröhn der Einschläge ließ die notdürftig zusammengeflickten Scheiben in den Fenstern erzittern.

»Schlaf«, sagte die Frau leise zu Bindig, »schlaf, wenn du kannst. Wir sind die, denen dieser Krieg und diese ganze verfluchte Zeit ihr Glück genommen hat. Wir und der da oben auch. Jedem ist es auf eine andere Weise genommen worden. Er hat es mir gesagt. Ihm haben wir es genommen. Ohne daß wir selbst es wollten. Wir haben anderen Unglück gebracht. Aber wir sind selber Unglückliche…«

Sie lagen still. Über ihnen waren die Schritte und draußen das Gewummer der Artillerie. Und die weiße Nacht mit ihren blauen Schatten, ohne Sterne. Die Schreie der Verletzten waren in diesem Zimmer nicht zu hören und die verschwitzten Gesichter der Kanoniere nicht zu sehen. Das Geratter der Maschinengewehre drang nicht bis hierher, und das Blut, das den Schnee befleckte, war weit entfernt. Und doch war alles in diesem Zimmer mit den zitternden Scherben in den Fensterrahmen und den Schritten des Russen, und der Frau, die lautlos an der Schulter des erschöpften Soldaten weinte.

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