Die Einsatzübung war diesmal nur von kurzer Dauer. In einer Halle auf dem Flugplatzgelände war, den Luftaufnahmen eines Aufklärers entsprechend, das Einsatzgelände in verschiedenen Sandkästen nachgeformt worden. Ein Major, den sie noch nie zuvor gesehen hatten, erläuterte die Aufgaben, die von den drei Gruppen zu lösen waren. Dann zogen sie getrennt auf ein Übungsgelände, das annähernd dem Einsatzgebiet entsprach. Sie exerzierten zwei Tage, dann empfingen sie Ausrüstung und weiße Kleidung. Der Einsatz-Befehl wurde ausgegeben, und Leutnant Alf fuhr, noch bevor die Maschinen starteten, zurück nach Haselgarten.
Fünf Männer starteten mit der Aufgabe, am Rande einer Verbindungsstraße Posten zu beziehen und ein Stabsfahrzeug abzufangen. Diese Aktion zielte auf die Gefangennahme eines Stabsoffiziers, weil man Informationen über die Angriffsabsichten aus ihm herausholen wollte.
Eine zweite Gruppe von fünf Männern, unter denen sich zwei Eisenbahner befanden, hatte die Besatzung des Befehlsstellwerks auf einer kleinen Bahnstation, an der sich zwei Strecken kreuzten, zu überrumpeln, mit dem Ziel, den Zusammenstoß zweier Transportzüge herbeizuführen.
Die letzte Gruppe schließlich, zu der auch Bindig und Zado gehörten und die von Timm geführt wurde, hatte ein unübersichtliches Waldgebiet nach einem gut getarnten Munitions-lager abzusuchen und nach Lösung dieser Aufgabe mit Hilfe der fünf Minen, die sie mitführte, eine Anzahl Fahrzeuge zu vernichten.
Es war zum erstenmal, daß zu gleicher Zeit drei Gruppen in verhältnismäßig geringer Entfernung voneinander zu solchen Aufgaben eingesetzt waren. Die Männer waren darüber verärgert, denn jeder wußte, daß nur eine Aktion Aussicht auf Erfolg hatte, an der möglichst wenig Personen beteiligt waren.
Es war eine kalte, klare Sternennacht, als sie starteten. Der Wind fegte dünnen, körnigen Schnee über den Flugplatz, und die Männer schlossen die Kombinationen und zogen dünne, seidene Kopf- schützer unter die Helme. Sie hatten weiße Überkleidung angelegt. Helme und Lederzeug, Waffen und Ausrüstungsgegenstände waren mit weißer Farbe überspritzt. Die beiden Maschinen stiegen schnell auf einige tausend Meter Höhe und drehten dann ostwärts ab. Die drei Gruppen wurden dicht beieinander in einem einsamen Waldgebiet abgesetzt, in dem es eine Anzahl Seen und Wasserläufe gab.
Die Männer rollten schweigend ihre Schirme zusammen und verscharrten sie. Die Minen und ein paar andere Geräte wurden aus den Behältern genommen und verteilt. Dann tauchten die weißen Gestalten, die sich kaum von der Schneelandschaft abhoben, ins Dunkel unter den Bäumen. Es war kein Laut zu hören, und die buschbewachsene Schneefläche, auf der die Landung vor sich gegangen war, lag still wie zuvor. Aber der Himmel hatte sich mit einer schweren, tief hängenden Wolkenschicht überzogen, und eine Stunde später fiel Schnee.
Wenn Bindig den Zweig, der vor seinem Gesicht hing, ein wenig beiseite zog, konnte er den Posten sehen, der unter dem »Pilz« stand. Es war ein kleiner untersetzter Soldat mit einem breiten, mongolisch anmutenden Gesicht und schräg stehenden Schlitz-augen. Er war nur einen schwachen Steinwurf von Bindigs Versteck entfernt, und Bindig war ihm nur deshalb nicht in die Arme gelaufen, weil der Mann eine dicke, mit Zeitungspapier gedrehte Machorkazigarette rauchte, deren Geruch Bindig früh genug wahrgenommen hatte.
Er war müde. In den letzten Stunden der Nacht war er nur langsam, Schritt für Schritt vorwärts gekommen. Der Schneefall war gegen Morgen geringer geworden. Dafür aber hatte die Kälte zugenommen. Und obwohl es hieß, daß die Kombination, die er trag, wasserdicht sei, fror er, denn es war zuviel Schnee auf dem Stoff geschmolzen und wieder erstarrt. Das Gewebe war steif und zäh. Bindig war versucht, aufzuspringen und durch ein paar schnelle, schlagende Bewegungen das ekelhafte Gefühl der Kälte wenigstens für ein paar Minuten zu vertreiben. Aber er blieb doch bewegungslos hinter dem schneebedeckten Ast liegen, denn da vorn stand der Posten, und dieser Posten war in einen dicken Steppmantel gehüllt, der ihn wärmte. Er trug eine Pelzmütze mit lose herabhängenden Ohrenklappen, und er war hellwach, man sah es an seinen Bewegungen.
Sie haben einen »Pilz« für ihn gebaut, dachte Bindig. Das tun sie da, wo sie sich für längere Zeit fest einrichten. Es ist also ein Posten, keine Streife. Aber bewacht er nun das Lager oder nicht? Denn wenn er einer von den Lagerposten ist, dann müßte man das Lager sehen können. Er zog den Zweig so weit fort, daß er einen Rundblick tun konnte. Aber hinter dem Posten war nichts weiter als dick verschneites lichtes Fichtengehölz. Nach einer Weile sah er, daß von dem »Pilz« ein schmaler Trampelpfad zwischen die Bäume führte. Er zog vorsichtig den Reißverschluß der Brusttasche auf und betrachtete die Karte. Es gab keinen Weg in dieser Gegend. Ein paar hundert Meter hinter der Stelle, wo der Posten stand, waren zwei große Kahlschläge verzeichnet, zwischen denen eine Straße verlief.
Das kann nur eine von diesen schmalen Landstraßen sein, überlegte er. Vielleicht nicht einmal das, sondern so etwas wie ein Waldweg, der ein wenig breiter ist als gewöhnlich. Und weshalb steht der Posten nicht an dieser Straße, sondern hier? Er war unschlüssig. Außerdem verspürte er Hunger, und das Verlangen nach einer Zigarette quälte ihn. Er zog einen Riegel Schokolade aus der Tasche und schob ihn in den Mund. Ich muß hier verschwinden, sagte er sich, hier ist weiter nichts als dieser Posten. Ich muß an die Straße, und wenn es in dieser Gegend überhaupt ein Munitionslager gibt, dann werden Fahrzeuge auf der Straße sein und dort hinfahren.
Langsam kroch er zurück. Er hatte die Maschinenpistole um den Hals gehängt und den Tragriemen so eng gezogen, daß die Waffe ganz dicht an seinem Körper lag. Als er weit genug von dem Posten entfernt war, daß er sich unbemerkt erheben konnte, nahm er sie in die Hand und bewegte sich weiter vorwärts. Aber er kam nicht weit, denn plötzlich hörte er Stimmen und sah, als er auf die Stimmen zukroch, daß wenige hundert Meter von dem Posten, den er zuerst entdeckt hatte, ein zweiter stand, der eben abgelöst wurde.
Um die Mittagszeit etwa befand er sich endlich unweit der Straße zwischen den beiden großen Kahlschlägen. Aber er hätte die Fahrzeuge nicht zu hören brauchen, die hier einzeln oder in Kolonnen fuhren, denn bereits als er die Kette der Posten umging, hatte er dort, wo die Fichten dünner standen, das Lager erkannt.
Es war ein großes, weit auseinander gezogenes Lager, das die beiden Kahlschläge rechts und links der Straße einbezog. Aber nirgendwo war über der Erde gebaut worden. Sie hatten vor dem Frost Gruben in der Erde angelegt, die nach oben mit Zweigen und Zeltbahnen abgedeckt waren. Nun hatte noch der Schnee alles zugedeckt, und es gab keine bessere Tarnung als diese weiße, unberührte Schneedecke. Selbst die Fotografie eines Nahaufklärers würde kaum Aufschluß darüber geben können, ob sich unter der Schicht der gefrorenen Kristalle eine militärische Anlage befand.
Bindig hatte sich genau orientiert, wo die Posten standen. Sie waren in einer Kette dicht beieinander in einigem Abstand von dem Lager aufgestellt, und die Wachmannschaften waren in Erdbunkern untergebracht, deren Einstiege am Waldrand unter den ersten Fichten lagen. Lediglich die Straße war belebt. Dort hielten Fahrzeuge. Einmal kam eine Kolonne geschlossener Lastwagen. Aus den Erdbunkern krochen ein paar Gestalten und schleppten Kisten von den Wagen fort. Bindig sah, wie sie ihre Lasten in vorbereitete Gruben legten und sie mit Zeltplanen und Schnee bedeckten. Es war eins der Lager, die Munition für die Offensive speicherten. Bindig zerbrach sich den Kopf, wie der Divisionsstab erfahren habe, daß dieses Lager hier zu suchen sei.
Es war jetzt nicht mehr so kalt wie in den Vormittagsstunden. Die Sonne war über Mittag hinaus, und stellenweise troff Schmelzwasser von den Bäumen. Aus dem Lager kamen Musikfetzen. Irgendwo mußte ein Radio spielen.
Bindig hörte, daß gelegentlich eine Sopranstimme sang, aber er war zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen.
Eigentlich hatte er hier nichts mehr zu tun. Er hatte das Lager gefunden und wußte auch, wie weit es sich ausdehnte. Er war in der Lage, das genau auf der Karte, die sie ihm mitgegeben hatten, einzuzeichnen. Das Lager erstreckte sich über die Fläche der beiden Kahlschläge, und die Straße wurde nur von Fahrzeugen befahren, die im Lager zu tun hatten. Er schätzte, daß es sich um Artilleriemunition handelte. Die Kisten waren ziemlich groß, und sie mußten auch schwer sein, denn die Soldaten schafften sie auf kleinen Schlitten zu den Gruben, In die sie versenkt wurden.
Eine primitive Art, Munition zu stapeln, überlegte Bindig. Aber er begriff, daß dieses Lager selbst bei genauer Kenntnis von der Luft her schwer zu vernichten war. Die Gruben lagen weit auseinander. Wenn eine Bombe zwischen sie fiel, konnte es sein, daß sie nur wenig Schaden anrichtete. Um das Lager empfindlich zu treffen, würde man einen Teppich von Bomben werfen müssen, und dann würde der Erfolg trotzdem gering sein.
Das ist es, was wir primitiv nennen, dachte Bindig. Es sieht so primitiv aus, daß man glaubt, sie tun es zum erstenmal in ihrem Leben. Aber sie wissen genau, weshalb sie es so tun und nicht anders. Sie sind die Praktiker dieses Krieges. Sie hatten gar keine Zeit, eine Theorie dafür auszuarbeiten. Sie mußten sich einfach wehren, und inzwischen haben sie so gut zuschlagen gelernt, daß ihre Praxis zur Theorie geworden ist. Auch zur Theorie des Aufstapelns von Artilleriemunition unweit der Stellungen schwerer Batterien. Und das sieht so aus wie hier. Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen zog sich Bindig ein wenig tiefer zwischen die Fichten zurück. Dort nahm er die Karte und zeichnete mit dem Stift eine dicke Linie um den Platz, an dem sich das Lager befand. Er trug noch die Standorte der Posten ein, die er gesehen hatte, und als er damit fertig war, überlegte er, wo er den Rest der Zeit verbringen konnte. Die Maschine kam um drei Uhr nachts, und die Stelle, an der sie die Gruppe aufnehmen würde, lag nur wenige Kilometer entfernt hinter dem Wald.
Als er die Posten hinter sich hatte, schlug er die Richtung auf den Waldrand ein, von wo er gekommen war. Er bewegte sich gebückt und sehr langsam vorwärts, oft längere Zeit still an die Schneedecke geschmiegt, lauschend und die Gegend, die vor ihm lag, absuchend. Als er mit einemmal eine Schrittspur vor sich sah, blieb er zunächst minutenlang bewegungslos liegen, bevor er näher kroch und die Fußtapfen untersuchte. Sie hatten sich tief in den weichen Schnee eingeprägt und stammten von Schuhen, wie er selber sie trug. Der Abdruck der Gummisohle war unverkennbar. Als er die Hand in die Vertiefung im Schnee legte, merkte er, daß die Spur frisch war. Der Schnee war an den Rändern noch locker. Er war, seit der Mann hier vorbeigegangen war, noch nicht gefroren. Es war eine Spur, die nicht älter war als eine halbe Stunde.
Eigentlich gab es keinen Grund, ihr zu folgen, aber Bindig folgte ihr trotzdem. Das Lager war gefunden. Wenn die Spur einem gehörte, der es noch immer suchte, dann konnte er ihm sagen, daß er sich die Mühe sparen soll. Und zu zweit war es möglich zu schlafen. Man war sicher, wenn der andere wachte und man selbst in der feuchten, halbgefrorenen Kleidung im Schnee schlief. Die Spur führte immer weiter vom Lager fort. Manchmal verlor sie sich auf einem Stück festgefrorenem Boden, aber es gelang Bindig immer wieder, sie zu finden. Als er beinahe den Waldrand erreicht hatte, blieb er plötzlich stehen und duckte sich instinktiv. Es war nichts zu sehen und kein Laut zu hören, aber er spürte trotzdem, daß sich ein Lebewesen in seiner Nähe befand. Auf dieses Gefühl war Verlaß, es hatte ihn noch nie betrogen. Er war sicher, daß jemand nahe war, aber das mußte nicht unbedingt der sein, dessen Spur er folgte.
Eine lange Zeit blieb er bewegungslos, an den dünnen Stamm einer Fichte geschmiegt, hocken. Er drehte den Kopf und lauschte. Es geschah nichts. Schließlich kroch er langsam weiter. Die Bäume standen hier lichter, und nach einigen hundert Metern lag eine kleine verschneite Lichtung vor ihm. Die Sonne stand schon ein wenig tiefer, und sie schien Bindig ins Gesicht, so daß er die letzten Bäume vor der Lichtung nur als Silhouetten erkennen konnte. Und dann sah er die Gestalt, die sich zwischen diesen Silhouetten bewegte. Sie glitt am äußersten Rand der Lichtung entlang und vermied es, die unberührte, deckungslose Schneefläche zu betreten. Bindig erkannte im gleichen Augenblick Timm. Er mußte sich bereits auf dem Rückweg befinden.
Bindig wußte nicht, ob er sich freuen sollte, ihn getroffen zu haben, oder ob er lieber allein weitergehen sollte. Aber er entschloß sich doch, Timm anzurufen. Er ließ ihn den gegenüberliegenden Rand der Lichtung erreichen, und dann blieb er noch eine Weile an der gleichen Stelle hocken, bis er sicher war, daß niemand Timms Spur folgte. Erst dann ging er ihm nach, und als er bis auf kurze Entfernung an ihn herangekommen war, rief er ihn leise an.
»Na…«, begrüßte ihn Timm. »Eine Frau finden ist leichter als ein Munitionslager, was?«
Bindig zog die Karte aus der Tasche und hielt sie ihm hin.
»Hier ist das Lager. Die Kreuze sind die Posten.«
»Oho…«, machte Timm, »du hast es gefunden?«
»Alles.«
»Und keinen dabei umgelegt?«
Bindig schüttelte den Kopf. Sie hockten sich zwischen ein paar niedrige Fichten, und Timm besah sich genau die Eintragungen auf der Karte.
»Mann…«, brummte er dann, »das ist ja gleich nebenan!«
»Willst du es dir noch mal ansehen?« erkundigte sich Bindig. »Ich führe dich hin…«
»Danke.« Timm grinste. »Mir genügt der Anblick auf der Karte. Wie haben sie es angelegt?«
Bindig beschrieb es ihm. Timm nickte, und dann steckte er Bindigs Karte ein.
»Ist erledigt«, sagte er. »Und jetzt bist du wohl mächtig stolz, was?«
»Hunger habe ich«, antwortete Bindig ausweichend, »und eine Zigarette täte mir auch gut.«
»Bist nicht zufrieden, was?« fragte Timm. »Konntest keinen umlegen, und das war nicht dein Fall. Kann ich verstehen.
Aber wir beide machen heute noch ein paar Leichen, verlaß dich drauf!«
Er blinzelte Bindig zu, als habe er ihm eben ein besonders interessantes Vergnügen versprochen. Ein Ausdruck von Grausamkeit beherrschte in diesem Augenblick sein Gesicht.
»Ich habe Hunger«, sagte Bindig. Er zog den Verschluß der Hosentasche auf und entnahm ihr ein Päckchen mit konzentrierter Verpflegung, bestehend aus salzigen Keksen, gepreßtem Dörrobst, Fruchtschnitten, steinharter Trockenwurst und Schokolade. Er aß ohne Appetit eins nach dem anderen. Die Fruchtschnitten schmeckten widerlich süß.
»Wenn sie bloß nicht so viel Zucker in das Zeug tun würden«, sagte er zu Timm, »die Hälfte wäre auch genug.«
»Zucker«, sagte Timm, »ist gut für Leute, wie wir es sind. Er ist gut für die Nerven.«
»Sie sollten ein paar Stücke Zucker in die Packung legen. Dieses Zeug kann man kaum genießen.«
»Iß du mal Zucker«, grinste Timm, »du hast ihn dir heute verdient. Und du wirst ihn noch für deine Nerven brauchen können.«
»Ich brauche aber keinen Zucker. Meine Nerven funktionieren mit Zucker ebenso wie ohne. Sie sollten ihn lieber den Zahlmöpsen geben bei der Division.«
»He…«, lachte Timm leise, »der Herr Gefreite Bindig belieben auf die Zahlmöpse wütend zu sein! Ist mir ganz neu. Warum nimmst du eigentlich nie was zu saufen mit? Zusammen mit Schnaps läßt sich dieses Zeug nämlich ganz gut essen.«
»Ich trinke kaum Schnaps«, sagte Bindig.
»Klar, wenn’s dein eigener ist! Aber ich gebe dir was von meinem ab.« Er zog die kleine, flache Flasche aus der Wadentasche. Eine ebensolche, wie sie auch Zado stets in der Kombination trug. Bindig setzte sie an und spülte den Geschmack der Fruchtschnitten mit dem scharfen Getränk hinunter.
»Hast du keinen Hunger?« fragte er hustend Timm. Der schüttelte den Kopf. Er brannte sich eine Zigarette an und sagte: »Vorläufig nicht.« Er klopfte nachdenklich die Asche von der Zigarette, dann sprach er weiter.
»Ich habe mir mal angesehen, wie weit ihr alle mit Auszeichnungen seid. Man sollte das öfter tun. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Wenn beispielsweise ein gewisser Bindig heute noch einen Nahkampf eingetragen bekommt, ist er reif für die bronzene Nahkampfspange. Was hältst du davon?«
»Hm…«, machte Bindig unsicher. »Ich zähle das nicht so genau mit.«
»Aber ich.«
»Dann wird’s wohl stimmen.«
»Es stimmt auch. Zado braucht noch drei Tage für die silberne.«
»Und du?«
»Du wirst vor Neid erblassen«, grinste Timm gemütlich, »aber mir fehlt genau noch der heutige Tag für die goldene.«
»Ach so«, sagte Bindig, »deshalb willst du heute noch was unternehmen. Ohne Befehl sozusagen…«
»Erraten!« Timm kniff ein Auge zu und blinzelte ihn an, »du und ich. Wenn wir heimkommen, kann Alf uns zur Auszeichnung einreichen. Und deshalb werden wir jetzt von hier verschwinden und zusehen, daß wir noch ein bißchen in Schwung kommen.«
»Ohne die anderen?«
»Die anderen suchen inzwischen weiter nach dem Lager. Sie werden müde sein, wenn sie damit aufhören. Mit müden Leuten kann man keine Leichen machen. Aber wir beide schnappen uns jetzt die Minen, und dann ist Polen offen! Klar?«
»Meinetwegen.« Bindig sagte nichts dagegen, denn dieser gemütliche, spaßige Timm, der ihm hier im Wald hinter der sowjetischen Front gegenüberlag, würde sich spätestens morgen wieder in den verwandeln, der den Lebensfaden jedes einzelnen aus der Kompanie in der Hand hielt.
Ich hätte besser daran getan, ihm nicht zu folgen und ihn nicht anzurufen, dachte Bindig. Am besten wäre es gewesen, ich hätte mich irgendwo so lange verkrochen, bis es dunkel würde, und wäre dann zu unserem Treffpunkt gegangen. Damit wäre der Einsatz für mich erledigt gewesen. Nun bin ich dabei, was Timm immer auch ausheckt.
Mit einemmal erinnerte er sich an Anna. Er biß sich auf die Lippe und dachte an das, was Timm über die Nahkampfspange gesagt hatte. Es war ihm zuweilen schwer gefallen zu töten, besonders in den letzten Monaten, weil die Art, in der die Leute von der Aufklärungskompanie töteten, ihn einfach au Mord erinnerte; weil er meinte, daß es einen Unterschied zwischen Soldaten und Mördern geben müsse. Aber es war ihm eigentlich nie schwer gefallen, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Sie hatten ihn dazu erzogen, daß es ihm nicht schwer fiel. Doch nun war dieses Gefühl da. Er hatte es zum erstenmal, ein lähmendes, bedrückendes Gefühl. Am liebsten hätte er sich irgendwo im Unterholz verkrochen, bis die Maschine kam.
Aber da saß Timm, und dessen Gesicht drückte die ganze eiskalte Gelassenheit aus, mit der er seinen Plan auszuführen gedachte. Dieses Gesicht vor ihm lächelte nicht mehr. Timm hatte viele Gesichter, aber er blieb immer der gleiche. Er war jetzt wieder der, den Bindig als Klaus Timm kannte und von dem er nicht wußte, ob er ihn verfluchen sollte oder lieben, weil er von ihm erzogen worden war, weil er von ihm das Töten gelernt hatte und hunderterlei andere Dinge, die es ihm bisher ermöglichten, das eigene Leben zu bewahren. Es war der Timm, den er von dem Bahnwärterhäuschen beim letzten Einsatz kannte, der aus der Maschine, der den kleinen Oberkellner zusammenschlug. Der Timm, dem beim Nahkampftraining mit der Puppe kein Stich gut genug saß. Das war Timm, und das war der Lehrer und der Gott und der Führer und die Mutter und manchmal der Kamerad. Bindig konnte ihn nicht lieben, weil es ihn vor ihm ekelte. Und er brachte es nicht fertig, ihn zu töten, weil er ihn fürchtete.
»Gehen wir…«, hörte er ihn sagen.
Bindig nickte. Während er zusah, wie Timm die Zigarette ausdrückte, sagte er: »Den Posten vorhin habe ich nur ausfindig gemacht, weil er rauchte. Wer weiß, ob ich ihn bemerkt hätte, wenn ich nicht den Machorka gerochen hätte. Wir sollten in dieser Gegend lieber nicht rauchen…«
»Komm«, forderte Timm ihn auf, »wir haben eine Stunde Weg bis dahin, wo die Minen versteckt sind.«
Als sie aus dem Wald heraus waren, wurde das Gelände eia wenig übersichtlicher. Es gab keine Ansiedlungen, nur ab und zu einen eingeschneiten Weg und in der Ferne die Landstraße, von der zuweilen Motorengeräusch herüberkam. Es wurde wieder kalt, und der Himmel war klar. Irgendwo blieb Timm einmal stehen, zog sein Messer und schnitt damit ein paar Fichtenäste ab. Er nahm ein Stück Schnur aus der Tasche und band die Äste zusammen. Wenn er die Schnur in der Hand behielt und das Bündel Äste hinter sich über den Schnee schleifen ließ, verwischte es die Spur. Als sie an einem kleinen See vorbeigingen, dessen Oberfläche blank und schneefrei war, sagte er: »Bloß gut, daß die Kälte anhält. Sonst könnte keine Maschine landen…«
Sie überquerten einen der Seen und hinterließen keine Spur auf dem vom Wind blankgefegten Eis. Am anderen Ufer ging Timm voraus und gab Bindig die Schnur mit den Ästen.
»Zieh sie hinter dir her. Von jetzt ab braucht kein Mensch mehr zu sehen, daß hier jemand gegangen ist.«
Eine Stunde stapften sie durch den Schnee, und es gab keinen Laut außer dem leisen Schleifen der Äste hinter Bindigs Rücken. Es war flaches, nur sanft gewelltes Land, durch das sie zogen. Die Wälder standen in der Ferne wie schneebedeckte Mauern, und das schräge Sonnenlicht ließ die Eisflächen der Seen rötlich aufleuchten.
Als es dämmerte, kamen sie bei dem Versteck an, in dem die Minen lagen. Es waren fünf kastenförmige Sprengkörper, die zusammengenommen etwa die Wirkung von zwei Tellerminen hatten. Timm gab Bindig zwei der Kästen und lud sich selbst die übrigen drei auf. Die Minen waren nicht schwer, und sie waren wie alles, was die Männer mitführten, weißgespritzt. Timm hielt sich nicht lange auf. Er drängte: »Los, wir wollen zusehen, daß wir an die Landstraße herankommen…«
Der See, auf dem nachts die Maschine landen sollte, war mit einer dicken Eisschicht bedeckt, Sie war stark genug, das Flugzeug zu tragen, und der Wind hatte in der letzten Nacht den frisch gefallenen Schnee von der blanken Eisfläche geweht.
»Gut…«, sagte Timm, als sie ein Stück am Ufer entlanggingen. »Sie machen schon immer die richtigen Landeplätze ausfindig.«
»Wenn das Tauwetter kommt, ist es damit vorbei«, meinte Bindig. »Dann kann hier keine Maschine mehr landen.«
»Dann machen wir es wie früher«, erklärte Timm, »wir gehen zu Fuß und machen uns eine Schleuse.«
Eine Schleuse machen hieß durch die Schützenlinien der Roten Armee die Front überqueren. Sie hatten das in der Vergangenheit einige Male gemacht. Die Schützenlinien der Roten Armee waren oft ziemlich locker angelegt. Meist gab es kein Stellungssystem, das aus Gräben bestand. Die Soldaten lagen in kleinen, tiefen Erdlöchern, die in weiten Abständen voneinander angelegt waren.
Bindig entsann sich an das letztemal, als sie auf diese Weise die Front überquert hatten. Zwei von ihnen waren, nachdem sich die Gruppe ungesehen durch die Etappe mit ihren Ansammlungen von Fahrzeugen und Trossen und durch die Artilleriestellungen hatte durchschleichen können, vorausgekrochen. Sie hatten die Soldaten in zwei benachbarten Schützenlöchern überfallen und geräuschlos umgebracht. So entstand eine Gasse, durch die sich die Gruppe ungesehen über die Frontlinie hinwegstehlen konnte. Noch während Bindig darüber nachdachte, hörte er Timm sagen; »Freu dich doch auf das Tauwetter! Da kannst du in den Löchern ab und zu wenigstens wieder einen umlegen und kommst auf deine Kosten!«
Sie hatten sich bis an die Straße herangearbeitet. Aber diese Straße wurde so stark befahren, daß es unmöglich war, mit den Minen an sie heranzukommen. Timm führte deshalb Bindig wieder ein Stück zurück, bis sie eine schmale, stark verschneite und wenig befahrene Waldstraße fanden, die von der Hauptstraße weg irgendwohin ins Hinterland führte.
»Das ist richtig«, sagte Timm zufrieden, »hier werden wir in aller Seelenruhe ein Ding drehen, und sie werden es noch nicht einmal bis an die Hauptstraße hören!«
Rechts und links war dichter, an den Straßenrändern mit Büschen verfilzter Fichtenwald. Sie gingen, bis einige Kilometer zwischen der Hauptstraße und ihnen lagen, dann durchsuchten sie die Gegend nach verschiedenen Richtungen. Es hielt sich niemand hier auf. Doch in einiger Entfernung war plötzlich Motorengeräusch, und bald darauf tasteten sich die geschlitzten Scheinwerfer eines Fahrzeugs heran. Es war ein Lastwagen, der sich langsam in einer tief ausgefahrenen Spur auf dem verschneiten Fahrdamm vorwärts bewegte. Er keuchte an dem Versteck der beiden so nahe vorbei, daß sie den Fahrer in der Kabine sehen konnten.
»Schade«, brummte Timm, als das Fahrzeug verschwunden war, »der wäre richtig für uns gewesen. Das war ein Brocken…« Er hatte einen kurzen, geraden Ast aufgelesen, an dem er die Minen befestigte. Et band eine neben der anderen fest und knüpfte um das Ende des Astes ein Stück jener dünnen, festen Schnur, mit der er am Nachmittag das Fichtenreisig zusammengebunden hatte. Dann trat er mit der Ladung auf den Fahrdamm hinaus und verbarg sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite im lockeren Schnee. Als er zu Bindig zurückkam, hatte er die Schnur in der Hand. Sie zogen sich so weit in den Wald zurück, wie die Schnur reichte. Dann zog Timm die Schnur straff, machte sich ein Zeichen am Boden und sagte zu Bindig: »Sie liegt genau zwei Handbreit neben der Fahrtrinne. Wenn das nächste Fahrzeug kommt, ziehen wir die Schnur zwei Handbreit heran, und der Fall ist erledigt.«
»Wenn die Ladung zündet«, gab Bindig zu bedenken.
Aber Timm lachte leise: »Sie wird zünden. Ich habe in allen fünf Minen den Druckzünder scharf gemacht. Die Ladung reicht für einen Eisenbahnzug.«
Es war inzwischen sehr dunkel geworden, aber der Himmel war unbewölkt, und das Sternenlicht verlieh dem Schnee einen matten Glanz. Wie immer, wenn es Nacht wurde, hörte man die fernen Geräusche deutlicher. Die Landstraße mit dem leisen Gedröhn der Automotoren schien näher gerückt zu sein. Das Gewummer einer Batterie, die ihr abendliches Störungsfeuer begann, ließ die Luft leise erzittern.
Die beiden Männer lagen still in ihrem Versteck und lauschten. Nur einmal sagte Timm: »Hoffentlich kommt wenigstens etwas, wofür es sich lohnt, fünf Minen auszugeben…« Aber dann blieb es wieder still, und die Zeit verstrich. Bis plötzlich Motorengeräusch näher kam. Zuerst war es nur leise, und es hätte ebensogut weit drüben auf der Landstraße sein können. Aber dann wurde es lauter, und Timm richtete sich auf.
Er zischte Bindig zu: »Aufgepaßt! Es geht los I« Dann nahm er die Schnur, und Bindig streifte den Riemen, an dem die Pistole hing, über das Handgelenk. Es war ein einzelner Lastwagen, der sich durch den Schnee heran wühlte. Ein gedeckter Dreiachser, dessen schmaler Scheinwerferstrahl über den Boden tanzte. Bindig lauschte angestrengt. Es schien ihm, als käme von irgendwoher die Musik einer Ziehharmonika. Er flüsterte es Timm zu, und der nickte grinsend. Er hielt die Schnur straff in der Hand und beobachtete durch die Lücken im Geäst der Bäume, wie sich der Wagen langsam auf die Stelle zu bewegte, wo die Ladung unter der dünnen Schicht pulverigen Schnees lag, die Timm darübergestreut hatte.
Die jäh aufzuckende Stichflamme der Explosion erhellte für Sekundenbruchteile das Dunkel, und der Luftdruck fegte den Schnee von den Ästen. Eine Welle heißer, nach Pulver stinkender Luft fauchte über die geduckten Körper der beiden Männer. Ein paar dumpfe, klatschende Geräusche noch, dann war es still. Sie lauerten ein paar Sekunden auf einen Laut, der noch Leben verriet, aber es war nichts zu hören. Da erhoben sie sich und schlichen zur Straße.
»Lage peilen und ab!« flüsterte Timm heiser. Er hatte die Hände nachlässig in die Taschen vergraben, als wollte er seine Sicherheit demonstrieren, daß es bei einer Sprengung, die er anlegte, keine Überlebenden gab. Er verzog spöttisch den Mund, als er sah, daß Bindig die Pistole entsicherte und schußbereit vor den Körper nahm. Aufgepaßt, dachte er, der Gefreite Bindig macht Ernst! Das überlebt niemand. Der Krach der Explosion hatte die unangenehme Spannung der letzten Stunden von ihm genommen. Es war, als sei er aus einer Erstarrung aufgewacht, er fühlte sich sicher und unbesiegbar.
Er war Timm, der Mann, der diesen Lastwagen in die Luft gejagt hatte! Und es gab keinen ausdrücklichen Befehl dazu. Wohl hatte man ihnen die Minen mitgegeben, aber kein Mensch würde etwas sagen, wenn sie zurückkämen und erklärten, daß sie so lange nach dem Lager hätten suchen müssen und keine Zeit mehr für eine andere Aktion übrigbehalten hätten.
Timm sah befriedigt auf Bindig, der vor ihm herschlich, gewandt wie eine Katze, mit unhörbaren, geschmeidigen Bewegungen, die Waffe in der Hand. Timm war stolz auf ihn. Diesen Jungen habe ich erzogen, dachte er. An keinem anderen ist so deutlich zu sehen, was man aus einem Menschen machen kann, wenn man es versteht, wie an ihm. Er kam zur Kompanie und war so schüchtern, daß er kaum ein Wort herausbrachte. Heute aber ist er ein Mann. Das Blut hat es ihm angetan. Er gibt keine Ruhe, bis er töten kann. Diese Jungen, dachte Timm, die sind unser Material. Sie sind das, was wir aus ihnen gemacht haben, und es ist wahrlich nichts Schlechtes aus ihnen geworden.
Der Lastwagen war nicht ganz so groß wie der, den sie zuerst hatten vorbeifahren lassen. Es war ein geschlossener Studebaker, und die Explosion hatte ihn so demoliert, daß er nicht mehr zu gebrauchen war. Bis kurz vor dem Führerhaus waren die Motorhaube und der Motor weggerissen. Das Fahrzeug war hochgeschleudert worden und dann mit den Hinterrädern wieder aufgekommen. Dabei war die Ladefläche mit der darübergespannten Plane zusammengequetscht worden, und die Räder hatten sich an den gebrochenen Achsen waagerecht gedreht. Um den Wagen herum lagen Fetzen von Blech und Holz im Schnee.
Bindig blickte sich auf der Straße um. Es war ruhig. Er ging geduckt auf den Wagen zu und kletterte über das geborstene Metall, bis er in das zusammengequetschte Führerhaus blicken konnte. Die Scheiben waren gesplittert, und an den scharfen Zacken klebten dunkle Flecke. Es war das Blut des Fahrers und des Begleiters. Bindig warf einen Blick durch die zerbrochenen Scheiben und ließ sich herunter. »Aus«, sagte er zu Timm. »Hier gibt es nichts mehr zu tun.«
»Schlecht für dich«, antwortete Timm. Bindig drehte sich um und ging auf die andere Seite des Wagens. Er zog sich an der Kippwand der Ladefläche hoch und warf durch die zerfetzte Plane einen Blick in das Innere. Der Wagen war leer bis auf ein paar kleine Gegenstände, die verstreut umherlagen. Es mußte alles nach hinten herausgerutscht sein, denn die hintere Klappe war abgerissen, und die Ladefläche lag schräg nach hinten geneigt.
Als Bindig den leisen, stöhnenden Laut hörte, der mit einemmal hinter dem zerstörten Fahrzeug war, hatte Timm, der unten stand, schon einen Satz gemacht und stand vor dem Bündel, das einige Meter hinter dem Wagen im tiefen Schnee seitwärts der Fahrbahn lag. Er warf einen schnellen Blick darauf und dann steckte er gemächlich die Pistole wieder ein, die er gezogen hatte.
»Bindig!«
Der Angerufene war mit einem Sprung neben ihm, die Mündung seiner Waffe zeigte zur Erde, wo sich im lockeren Schnee etwas bewegte.
»Der ist fertig«, sagte Timm, »der wartet bloß noch auf dich. Das ist der Idiot, der Ziehharmonika gespielt hat…«
Das Bündel am Boden war ein Mensch. Ein Soldat, den die Explosion der Mine aus dem Wagen geschleudert hatte. Er trug die Pelzmütze noch auf dem Kopf, und einen Augenblick lang fragte Bindig sich verwundert, weshalb sie beim Sturz nicht fortgeflogen war. Aber da sah er, daß die verkrümmt im Schnee liegende Gestalt ein Akkordeon vor der Brust trug. Es schien noch ganz zu sein, nur an der einen Seite war die Schlaufe gerissen, die über den Arm des Spielers gestreift war. Der Soldat am Boden bewegte sich stöhnend. Er versuchte, den Kopf zu drehen, damit er die beiden Männer sehen konnte, die vor ihm standen, und es gelang ihm nach vieler Mühe. Bindig ließ die Pistole sinken. Er wollte sich bücken und den Verletzten bequemer betten, er wußte in diesem Augenblick nicht, was sonst zu tun war. Aber da blickte der Soldat ihn aus zwei großen, dunklen Augen an, stieß einen gequälten Schrei aus und bewegte sich stärker.
Es schien, als wolle er das Akkordeon abstreifen, aber es gelang ihm nicht, denn offenbar hatte er einige Brüche erlitten, als er von dem Wagen stürzte.
Timm trat nahe an ihn heran und stieß ihn mit dem Schuh in die Seite. »He, Iwan, Ruhe!«
Der Soldat bewegte mit einer unerhörten Anstrengung den Arm und tastete an die Hüfte. Er schob das Akkordeon ein wenig beiseite, aber es rutschte ihm wieder in den Weg.
»Der geht doch an die Pistole!« zischte Timm. Es klang höhnisch, erstaunt und gereizt. Bindig sah, daß der Soldat die Pistolentasche erreicht hatte, die an seiner Hüfte hing. Er konnte den Arm nur sehr langsam bewegen. Offenbar war an der Schulter etwas gebrochen. Er schrie nicht mehr, aber er murmelte leise Worte vor sich hin, heiser und fast flüsternd.
»Mach Schluß mit ihm«, forderte Timm Bindig auf, »der kriegt es sonst fertig und ballert in die Gegend.«
Der Soldat versuchte verbissen, die Tasche zu öffnen. Es gelang ihm auch nach vieler Mühe. Er hatte sich ein wenig aufgerichtet und mußte dabei starke Schmerzen verspüren, denn sein Gesicht war verzerrt. Es war ein sehr junges, bleiches Gesicht. Man hätte es schön nennen können. Bindig stand unbewegt und sah ihm zu. »Na los!« hörte er Timm drängen. »Gib ihm eine und laß uns abhauen. Setz ihm die Pistole an den Kopf, das ist nicht so laut.«
Der Soldat riß die Ledertasche auf und zog eine flache, langläufige Pistole hervor. Er konnte sie kaum in der Hand halten, sie fiel ihm in den Schnee, aber er hob sie wieder auf.
»Was der sich abmüht, bevor er stirbt!« sagte Timm. »Nun gib ihm eine, es wird Zeit…«
Bindig starrte den Verletzten an, der unter Aufbietung aller Kraft versuchte, die Pistole zu heben. Sie glitt ihm immer wieder aus der Hand und fiel in den Schnee. Timm stand ruhig daneben. Er hätte mit einem Fußtritt die Waffe des Soldaten fortschleudern können, aber er tat es nicht. Er beobachtete grinsend die Anstrengungen des Mannes und behielt dabei beide Hände in den Hosentaschen, ohne eine Anstrengung zu machen, die den Schuß des Soldaten hätte ver-
hindern können. Er wartete auf Bindig, und er wollte Bindig machen lassen, was hier zu tun war. Es bereitete ihm Spaß, dabei zuzusehen, und er wußte, daß Bindig schießen würde. Aber es dauerte ihm zu lange, und plötzlich sagte er rauh:
»Ich bin gespannt, ob du ihm bald eine gibst oder ob du wartest, bis er deinen Unteroffizier angeschossen hat!« Da sah Bindig, wie der Soldat den Finger krümmte. Er hatte die Pistole neben die Harmonika an die Brust gedrückt. Es mußte ihm so leichter fallen, den Schuß auszulösen. Er hatte sich ein wenig aufgerichtet, keuchend und stöhnend. Aus seinem Mund lief Blut in einem dünnen, dunklen Faden. Der Finger, der sich um das Metall krümmte, war mit einemmal die ganze Welt für Bindig. Er sah nichts anderes mehr, nur die mühsame Bewegung, die seinen Tod verursachen sollte, vielleicht auch den Timms. Da krümmte er den eigenen Finger mit einer schnellen Bewegung durch.
»Nerven hast du schon«, stellte Timm sachlich fest, »jetzt glaube ich dir, daß du keinen Zucker brauchst.« Er beugte sich über den Toten und nahm ihm die schmale Pistole aus der schlaff gewordenen Hand. Bindig stand hinter ihm. Er sah auf die Mündung seiner Waffe, aus der ein leichter Rauchfaden entwich.
Über die Mündung hinweg sah er den Rücken Timms, der sich über den Toten beugte. Er fühlte sich verraten, vergewaltigt, es ekelte ihn vor sich selber und vor Timm und vor der unbekannten Leiche im Schnee zu seinen Füßen. Es war, als hocke vor ihm ein Peiniger im Schnee, der wie ein giftiges Insekt fortwährend auf ihn einstach. Auf einen Wehrlosen. Er hörte Timm durch die Zähne pfeifen. Leise und zischend. Er hätte später nicht sagen können, ob er die Pistole in dem Augenblick auf den Boden oder auf Timms Rücken gerichtet hielt, als er den Unteroffizier plötzlich sagen hörte: »Mensch, das ist ein Weib.«
Es traf ihn wie ein Schlag, und er ließ die Hand mit der Pistole sinken. Es war, als habe man ihm alle Knochen zerschlagen. Er machte einen schwankenden Schritt vorwärts.
Und dann sah er das lange Haar.
Timm hatte die Pelzmütze mit einer Handbewegung weggefegt. Er nestelte an den Knöpfen der Steppjacke herum. Bindig wartete nicht, bis Timm der Frau die Uniform geöffnet hatte. Er wandte sich ab, aber er behielt dieses unglaubliche Bild trotzdem vor seinen Augen, wie der Unteroffizier über der erschossenen Frau hockte und ihr die Knöpfe über der Brust öffnete, mit harten, flinken Fingern. Er hörte Stoff zerreißen, während er dem Rand der Straße zustolperte, und dann hörte er, wie Timm anerkennend mit der Zunge schnalzte. Er steckte die Pistole ein. Er war kraftlos, zerschlagen. Es war, als läge mit einemmal die Müdigkeit aller Nächte seines Lebens in seinen Adern. Als gäbe es kein Leben und keine Energie mehr in ihm. Die Augen, in die er geblickt hatte, bevor er schoß, schienen nicht der Frau zu gehören, die hinter ihm im Schnee lag, sondern Anna. Er lehnte sich an einen Baum am Straßenrand und atmete schwer. Jeden Augenblick konnte ein anderes Fahrzeug die Straße entlangkommen. Dann war es zu spät, und man kam nicht mehr von hier fort.
»Los, komm schon!« rief er leise.
Ein Grunzen antwortete ihm. Dann waren Timms Schritte da und seine heisere Stimme, die anerkennend sagte: »Mein lieber Mann, die wäre mir lebendig lieber gewesen. Gut gewachsen…«
Sie tauchten zwischen den Bäumen unter. Als sie den ersten Schritt von der Straße weg machten, fiel hinter ihnen der Körper der getöteten Frau vornüber. Die Harmonika gab einen leisen, klagenden Ton von sich. Es war Bindig, als habe die Frau ihnen einen Fluch nachgeschrien.
Er sprach nichts. Er zog wortlos das Bündel mit den Ästen hinter sich her, bis sie an der Einflugstelle am See waren. Sie trafen die übrigen Soldaten ihrer Gruppe. Von den anderen beiden Gruppen war nichts zu sehen. Sie hockten sich unter die verschneiten Büsche und warteten. Timm setzte die Magnesiumlichter. Nach Mitternacht kamen noch zwei Mann von der Gruppe, die das Stellwerk überfallen hatte. Sie hatten Posten gestanden und waren unverletzt.
»Es war eine unheimliche Schießerei…«, berichtete einer von ihnen. »Aber es wäre glatter Selbstmord gewesen, wenn wir auch noch hingelaufen wären. Zurückgekommen ist keiner mehr…« Sie warteten, und von Minute zu Minute wurde das Gefühl der Unsicherheit stärker.
Es war wie immer. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Timm hockte schweigend unter seinem Busch und rauchte eine Zigarette aus der hohlen Hand. Von der Gruppe, die den Gefangenen hatte einbringen sollen, kam niemand zurück, bis das Motorengeräusch in der Luft war. Timm ließ die Landelichter anzünden. Er sagte kein Wort, als sie in die Maschine stiegen. Es war eine geräumige, einmotorige alte Junkers, mit der sie schon oft geflogen waren. Der Pilot gab Gas, noch bevor sie das Schott richtig verschlossen hatten.
»Du gefällst mir nicht«, flüsterte Zado Bindig zu, »was ist los? Krach mit Timm gehabt?«
»Nein.«
»Was habt ihr mit den Minen angestellt?«
»Ein Lastwagen!« sagte Bindig müde.
»Tote?«
»Eine Harmonika«, sagte Bindig leise. Er starrte auf den Boden der Kabine.
»Harmonika?« Zado rückte ganz dicht an ihn heran und boxte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Was ist los, Mann! Was ist mit dieser Harmonika? Bist du besoffen?«
»Eine Harmonika…«, sagte Bindig langsam und sehr leise, »wir haben eine Harmonika getötet. Es war dunkel, aber ich glaube, sie hatte schwarze Augen…«
»Du bist verrückt!« sagte Zado kopfschüttelnd. Er nahm den Helm ab und wischte den Schweiß aus dem Genick. »Du bist mit dem Kopf an einen Baum gerannt. Es scheint eine Eiche gewesen zu sein… eine großdeutsche Eiche…«
»Gib mir einen Schnaps«, bat Bindig.
Sie kamen nach Sonnenaufgang in Haselgarten an. Ein Lastwagen mit einer Handvoll müder Männer, deren Hände zitterten und deren Gesichter bleich und übernächtig waren.
Paniczek stolperte und fiel lang in den Schnee, als er vom Wagen sprang. Er blieb ein paar Sekunden liegen und erhob sich dann mühsam. Der Schnee schmolz auf seiner Stirn und an seinem Hals, und das Wasser lief ihm in den Kragen. Er torkelte wie ein Betrunkener auf die Unterkunft zu, ohne sich noch einmal umzublicken.
»Der ist auch fertig«, sagte Zado zu Timm.
Aber Timm ließ sich nicht auf ein Gespräch ein. Er sagte nur: »Haut euch hin und schlaft euch aus.« Dann ging er Alf entgegen, der die Dorfstraße herabkam.
Bindig warf die Maschinenpistole auf den Strohsack. Er schnallte den Helm ab, ließ ihn ebenfalls fallen und zog die steife Kombination aus. Er ließ alles liegen und steckte nur die Pistole ein. Dann wollte er das Quartier verlassen.
»Gehst du weg?« erkundigte sich Zado, der mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Strohsack lag.
»Ja.«
»Nimm das für sie mit«, sagte Zado, während er aus den Brusttaschen der Kombination ein paar Riegel Schokolade nahm und sie Bindig hinhielt.
»Danke, ich habe selbst noch welche.«
Zado richtete sich ein wenig auf und knurrte gereizt: »Nimm ihr das mit, verflucht! Ich weiß, daß Frauen gern Schokolade essen I«
Bindig steckte die Schokolade widerstrebend ein. Er wollte nur fort von hier. Es gab keinen anderen Gedanken in ihm. Er hörte Zado sagen: »Ich gebe dir Bescheid, wenn du hier gebraucht wirst…« Dann schlug er die Tür hinter sich zu und ging die Straße hinab.
Er wollte durch das Tor in Annas Gehöft eintreten, aber das Tor war verschlossen. Er entsann sich, daß es hinter dem Hause, dort, wo sich der Gemüsegarten befand, einen Drahtzaun gab, der leicht zu überklettern war.
Ich werde sie überraschen, dachte er. Sie wird nicht glauben, daß ich schon zurück bin. Ich werde sie nicht erschrecken, ich will ganz einfach ihr Gesicht sehen, wenn ich so unerwartet vor ihr stehe.
Es war ein kalter, sonniger Tag. Der Schnee war noch frisch und leuchtete stark, und die Augen schmerzten, wenn man lange auf die glitzernde, weiße Fläche blickte. An der Front führte sich nichts. Die Artillerie schwieg, und die Gewehrschüsse, die gewechselt wurden, waren hier nicht mehr zu hören. Es war die erwartungsvolle Stille des Morgens, in der sich noch nichts regt, obgleich die Sonne schon hoch steht.
Da hörte Bindig das Geräusch der Haustür. Sein Gesicht überzog sich mit einem Lächeln, als er sich an die Hauswand duckte und zum Hof hinübersah. Es waren Schritte dort. Er sah, wie Anna über den Hof ging. Sie trug Stiefel und hatte einen Mantel übergeworfen. Sie ging bis ans Tor, und dort drehte sie sich um. Sie trug einen Kartoffelsack in der Hand. Im selben Augenblick, als er begriff, daß sie dabei war, den Hof zu verlassen, hörte er ihre Stimme. Sie rief nicht laut, aber so, daß Bindig es ohne Mühe verstehen konnte: »Wenn du Lust hast, könntest du den Schnee ein wenig vom Haus wegscharren! Aber laß darüber nicht das Feuer in der Küche ausgehen!«
Bindig lächelte über ihre Art, mit dem Taubstummen, der sie doch nicht verstehen konnte, zu sprechen. Er wollte sich erheben und quer durch den verschneiten Gemüsegarten über den Hof auf sie zulaufen, aber eine Stimme, die plötzlich auf Annas Worte Antwort gab, ließ ihn stehenbleiben, wo er war. Es war eine angenehme, tiefe Stimme, die einem Mann gehörte, den er nicht sehen konnte, und die Stimme antwortete: »Geh nur, ich werde alles machen! Und komm bald zurück!«
Er hatte diese Stimme nie gehört. Sie war fremd, und die Worte klangen eigenartig hart. Er sah, wie Anna am Hoftor hantierte. Der Riegel mußte sich verklemme haben, denn mit einem Male kam vom Haus her Jakob, der taubstumme Schwachsinnige, über den Hof. Er ging aufrecht, nicht in jener schlaffen, schleppenden Haltung, die Bindig an ihm gewohnt war. Er zog mit einem energischen Griff den Riegel zurück und öffnete das Tor. Während Anna an ihm vorbeiging, sagte er laut und freundlich: »Auf Wiedersehen.« Dann schlug er das Tor zu und ging mit knirschendem Schritt wieder zurück über den Hof, bis er aus Bindigs Blickfeld verschwunden war.
Es wurde wieder still. Bindig senkte langsam den Kopf. Er fühlte sich nicht in der Lage, in das Haus zu gehen und aufzuklären, was dieses Geheimnis zwischen Anna und dem Knecht zu bedeuten hatte. In ihm war nur der hämmernde Gedanke, daß Anna etwas vor ihm verborgen gehalten hatte. Dieser Mann, der Jakob hieß, war nicht taubstumm und nicht schwachsinnig. Er war wie andere Männer. Wie er selbst.
Es verging eine Minute und noch eine. Bindig zögerte. Er fühlte, daß die Erregung der vergangenen Nacht noch nicht abgeklungen war, und dazu kam seine Verwirrung über das eben Erlebte. Er lag an der Hauswand, bis er plötzlich die Kälte durch die Uniform spürte. Es war, als verlieh ihm diese Kälte mit einemmal wieder das alte Maß an Kraft und Konzentration. Er erhob sich und ging auf den Hof. Er hatte jetzt den gleichen federnden Schritt wie nachts, als Timm ihn beobachtet hatte, während er zur Straße schlich. An der Hausecke blieb er noch einmal stehen. Mit einer gewandten Bewegung zog er die Pistole aus der Tasche, lud sie durch und ließ sie ungesichert in die Hosentasche gleiten. Bindig bog in den Hof. Er war leer. Mit ein paar schnellen Schritten überquerte ihn Bindig und betrat das Haus.
Er hörte vom Obergeschoß ein Geräusch und tief hinauf: »Hallo! Jakob!«
Es kam keine Antwort. Bindig wartete nicht länger. Er stieg die Treppe hinauf. Die Tür zu der Kammer des Knechtes war offen. Bindig konnte den Mann in der Kammer herumhantieren hören. Er stieß die Tür, ohne zu zögern, auf und blieb in der Öffnung stehen. »Hallo, mein Lieber…«, sagte er nicht besonders laut.
Der Mann sah ihm ins Gesicht. Es war derselbe, den Bindig kannte, ein schlaffer Mensch mit leicht herabhängendem Unterkiefer und einem gutmütigen Grinsen in den hellen Augen.
Aber in diesen Augen war trotzdem etwas, von dem Bindig gewarnt wurde. Er ließ die Hand nachlässig in die Hosentasche fahren und sagte dann: »Hast du aufgepaßt, daß das Feuer nicht ausgeht, Jakob?«
Der Mann bewegte grinsend den Kopf. In der Kammer stand ein Bett. Man sah, daß es benutzt wurde. Dann waren da noch ein Schrank, ein altmodisches, ein wenig schiefes Möbelstück, ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein Nachtschränkchen.
»Den Schnee sollst du auch ein bißchen wegschaufeln«, sagte Bindig. Er sah den Mann wieder nur hilflos grinsen, und da stieg plötzlich die Wut in ihm auf. Er schrie ihn heiser an: »Spiel mir nicht den Idioten vor! Ich weiß, daß du reden kannst und daß du nicht blöd bist!«
Er sah, wie der Knecht langsam seine Hände sinken ließ und wie in sein Gesicht ein ernster, verschlossener Ausdruck trat. Das war nicht mehr der schwachsinnige Jakob. Das war nicht mehr der grinsende Taubstumme. Das war ein Mann, den man ernst zu nehmen hatte.
»Was ist los mit dir?« fragte Bindig. »Warum spielst du den Blöden? Was bist du? Ihr Mann? Ihr Bruder? Deserteur? Oder was sonst?«
Er wartete, aber der Mann antwortete nicht. Er ließ ihn nicht aus den Augen, aber er öffnete nicht den Mund.
»Sag, was los ist!« drängte Bindig ungeduldig. »Sag, was das hier zu bedeuten hat. Mehr will ich nicht wissen. Eher gehe ich nicht von hier weg, bis ich es weiß…«
Er merkte um den Bruchteil einer Sekunde zu spät, daß der Knecht die Hand unter das Kopfkissen steckte. Er hatte nicht erwartet, daß dort eine Waffe versteckt lag. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, daß der taubstumme Jakob ihn mit irgendeiner Waffe bedrohen könnte. Aber er war angesichts dieser Gefahr plötzlich wieder der Thomas Bindig, den Timm erzogen hatte. Der Knecht war die Strohpuppe für ihn, die er anzuspringen hatte, die er hundertmal bereits angesprungen hatte, aus allen Lagen und von jeder Seite. Er hatte die Pistole nicht aus der Tasche gezogen, als er sprang. Er prallte dem Knecht gegen die Brust und bohrte ihm das angezogene Knie in den Unterleib. Es war ihm, als höre er die Stimme Timms dabei, der ihn beobachtete. Timm rief: »Höher das Knie! Den Fuß weit nach hinten, das kostet die halbe Kraft! Waagerecht die linke Hand!«
Er hielt die linke Hand nicht waagerecht, denn er wollte den Knecht mit dem Schlag auf den Hals nicht töten. Er hielt sie senkrecht, so daß der Handteller flach auf seinen Hals schlug. Es war ein leichter, federnder Schlag, den er tausendmal hatte üben müssen, bis ihm der Schweiß aus allen Poren des Körpers gebrochen war, bis er beim Sprung schwarze Ringe vor den Augen gesehen hatte und sich die Handkante an dem hölzernen Hals der Puppe blutig geschlagen hatte. Sie hatten sich Mühe gegeben, ihn zu erziehen, und es war Timm gewesen, der ihn erzogen hatte. Ein kritisch auf jede Bewegung achtender Klaus Timm, der am Rand der Matte gesessen hatte, ohne sich anmerken zu lassen, ob er mit den Leistungen des Soldaten Bindig zufrieden war oder nicht.
Die Hand, die den Knecht flach auf den Hals traf, war von Timm geführt. Es war ein Schlag, der selbst dem Unteroffizier ein beifälliges Zungenschnalzen entlockt hätte. Der Knecht stieß einen gurgelnden Laut aus. Sein Kopf prallte zurück und schlug gegen das Fensterkreuz. Eine Scheibe ging in Trümmer. Er hatte die Pistole, die unter dem Kissen lag, schon in der Hand gehabt, aber der Griff war nicht sicher genug gewesen, und Bindig schlug ihm mit solcher Gewalt auf das Ellbogengelenk, daß seine Finger kraftlos wurden und die Waffe ihm entglitt. Er krümmte sich unter dem Schmerz, den Bindigs Knie ihm verursacht hatte, und rang nach Luft. Bindig erwischte die Pistole. Er behielt sie in der linken Hand, zog mit der rechten die eigene Waffe und trat dann in die Tür zurück. Dabei sagte er: »Das konntest du dir ersparen. Was ist los? Was machst du hier?«
In diesem Augenblick warf er den ersten Blick auf die Pistole, die er in der linken Hand hielt, und sah die russischen Schriftzeichen auf dem Lauf und den eingestanzten Sowjetstern mit Hammer und Sichel. Wenn der Knecht in diesem Augenblick die Kraft gehabt hätte, sich auf ihn zu werfen, er hätte ihn mühelos überrumpeln können. Er hätte einen verwirrten, unvorbereiteten Gegner vor sich gehabt, denn Bindig starrte völlig verblüfft auf die Zeichen auf dem flachen Lauf der Pistole, und es dauerte lange, bis er sie sinken ließ und seine Reaktionsfähigkeit wiedergewonnen hatte. Doch der Knecht war nicht in der Lage, diese Sekunden auszunutzen. Er lehnte gekrümmt am Fenster und hatte die Augen geschlossen.
»Was ist das?« fragte Bindig heiser. »Russe? Wie kommst du hierher?«
Er bekam keine Antwort, und das stachelte seine Wut an. Er schrie so laut, daß er vor seiner eigenen Stimme erschrak: »Mach dein Maul auf, oder ich schieße dich so zusammen, daß dich nicht einmal deine Anna mehr erkennt!«
Da sprach der Mann das erste Wort. Er öffnete die Augen. Sie waren vom Schmerz gezeichnet, aber sie blickten Bindig kalt und ohne Furcht an, Es waren die gleichen Augen wie die der Frau an dem zerstörten Lastwagen in der Nacht. Sie waren nur hell. Aber es war ebensoviel Haß in ihnen.
»Es ist nicht meine Anna«, sagte der Mann, »sie hat nichts mit mir zu tun.«
»Nichts weiter, als daß du bei ihr untergekrochen bist«, sagte Bindig. Es fiel ihm schwer, das auszusprechen, und er hob deshalb seine Stimme und schrie: »Was bist du? Ein getürmter Ostarbeiter? Ein Russe? Was?«
Der Mann richtete sich ein wenig auf. Bindig bewegte leicht die Pistole.
»Na los«, drängte er, »ich warte nicht mehr lange. Du brauchst nicht zu überlegen, wie du mich überraschen kannst. Wer bei Klaus Timm Nahkampfschule mitgemacht hat, der weiß, wie man sich wehrt. Was ist mit dir? Du hast eine verflucht harte Aussprache. Du bist Russe, ja?« Nach einer Weile sagte der Mann am Fenster: »Ich bin stolz darauf.«
»Meinetwegen!« fiel Bindig rasch ein. »Und was machst du hier? Bist du getürmt? Von wo?«
Der Mann bewegte leicht den Kopf. Dabei sägte er:»Nichts von alledem trifft zu. Ich habe Ihnen nicht Rede und Antwort zu stehen, aber ich werde Sie aufklären, weil es um Anna geht. Oder weil es um sie gehen wird.
Ich habe dieses Dorf mit erobert und wurde hier in diesem Gehöft verwundet. Anna verband mich und schleppte mich ins Haus. Als ich wieder zu mir kam, waren unsere Truppen zurückgegangen, und Ihre Kompanie zog in das Dorf ein. Das ist alles.«
Er sprach es in einem einwandfreien, ein wenig harten Deutsch. Sie blickten sich ein paar Sekunden lang schweigend an. Dann sagte der Russe: »Sie lieben Anna?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Es geht mich nichts an«, erwiderte der Russe, »aber ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu erklären, daß mich mit Anna nichts weiter verbindet als der Umstand, daß sie mich bei sich aufnahm und pflegte und daß sie es später für richtig hielt, mich zu verbergen.«
»Sie sind Offizier?« fragte Bindig schnell. Er mußte irgendetwas fragen, der Russe verwirrte ihn.
»Das geht Sie nichts an«, war die Antwort.
»Es geht mich nichts an«, sagte Bindig, »aber es gibt Leute, denen werden Sie sagen müssen, wer Sie sind.«
Der Russe versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm nicht, denn er hielt sich mühevoll aufrecht. Der Schmerz quälte ihn. »Ich verstehe Sie vollkommen«, sagte er ruhig. »Ich habe das geahnt, als Sie zum erstenmmal dieses Haus betraten. Schießen Sie mich nieder, oder bringen Sie mich zu Ihrem Kommandeur. Es kommt auf das gleiche heraus. Tun Sie, was Ihre Vorschriften von Ihnen verlangen.«
Eine Weile blieb es still. Bindig spürte, daß dieser Mann keine Gefahr mehr war. Aber da war ein anderer Gedanke, der aus seinen Worten entsprang und der Bindig unversehens vor eine Entscheidung stellte, der er nicht gewachsen war. Er lehnte sich an die Türfüllung und bemühte sich ängstlich, seine Unsicherheit zu verbergen. Er wußte mit einemmal, daß er an einem Kreuzweg stand, unfähig, sich zu entscheiden. Er blickte den Russen an, und es war ein haßerfüllter Blick. Seine Stimme klang brüchig, als er nach langer Zeit leise sagte: »Setzen Sie sich auf das Bett. Ich werde Ihnen nichts tun.«
Der Russe lächelte, als er sagte: »Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen, wenn Sie mich zu Ihrem Kommandeur bringen.«
Da ließ Bindig die Pistole sinken und sagte in einem Ton, der das geringschätzige Lächeln vom Gesicht des Russen fortwischte: »Sie sind klug genug, um zu wissen, daß ich das nicht tun werde.«
»Ich verstehe nicht…«, sagte der Russe.
»Doch, doch. Sie verstehen das sehr gut«, beharrte Bindig. »Sie sind ein Mensch mit Verstand. Und Sie wissen, daß ich Sie nicht zu meinem Kommandeur bringen kann, weil dieser Kommandeur Sie als den taubstummen Idioten Jakob kennt, der bei Anna lebt. Was geschähe mit einer Russin, die hinter der Front der Roten Armee einen deutschen Offizier verbirgt?«
»Ich kenne keinen solchen Fall«, sagte der Russe leise, »aber ich verstehe. Ihr Kommandeur wird uns beide an die Wand stellen, Anna und mich, wenn Sie ihm Ihre Entdeckung melden. Ich verstehe vollkommen.«
Bindig spürte den Hohn in den Worten. Aber er war ohne Energie. Er wartete darauf, daß irgendetwas geschah. Aber es geschah nichts. Der Russe sah ihn ruhig an und machte keine Bewegung dabei.
In Bindigs Kopf begann es zu dröhnen. Es war kein Schmerz. Es war eine summende Leere, die ihn aushöhlte. Er mußte sich anstrengen, die Pistole nicht fallen zu lassen. Der Russe verschwamm vor seinen Augen, das ganze Zimmer begann sich im Kreis zu drehen. Bindig hielt sich am Türpfosten fest und atmete kurz und schnell. Er wollte irgendetwas sagen, aber er brachte nichts Zusammenhängendes heraus. Nur ein paar Worte. »Wenn Sie… ein Soldat… und Anna… es ist… so…«
Da war unten im Haus das Schlagen der Tür und die Stimme, die ihn zwang, sich noch einmal zusammenzuraffen. Die Stimme gehörte Anna. Sie rief: »Du, ich habe ein paar Kartoffeln gefunden! Komm, hilf mir, sie zu tragen!«
Bindig torkelte aus dem Zimmer.
Als er au£ der Treppe stand, stieß die Frau einen leisen Schrei aus. Sie begriff erst, was geschehen war, als er ihr die beiden Pistolen hinhielt. Aber er war nicht mehr imstande, etwas zu sagen. Sie fing ihn auf, während der Russe sich langsam die Treppe hinabtastete, eine Hand gegen den Unterleib gepreßt. Die Frau sah ihm mit weit geöffneten Augen entgegen und fragte zitternd: »Er… was ist… hast du… Mein Gott!«
Der Russe half ihr, Bindig auf das Bett zu legen. Er half ihr, ihn auszukleiden und ihm den kalten Schweiß von der Haut zu reiben. Die Bewegungen fielen ihm schwer, aber er half so lange, bis Bindig unter dem Deckbett lag und Anna von irgendwoher ein feuchtes Handtuch geholt hatte, das sie ihm auf die Stirn legte.
»Mein Gott«, murmelte sie dabei, »Jesus, mein Gott…«
Aber der Russe sagte nur leise: »Es wird vorbeigehen. Es ist ein Fieber… er wird es überstehen…«