Er trug den schwarzen Konfirmandenanzug zum zweitenmal. Zum erstenmal hatte er ihn bei der Konfirmation angehabt, und nun wurde der Vater begraben.
Er stand neben der Mutter und hörte ihr Schluchzen, Er sah auch die verweinten Gesichter der drei anderen Geschwister. Es waren alles Mädchen. Kleine, rotznäsige Mädchen mit Zöpfen. Es wollte ihm nicht so recht gelingen zu weinen. Er erinnerte sich, daß er in der Volksschule, wenn er Prügel bekam, niemals vor den anderen geweint hatte. Immer erst später, wenn ihn keiner sah.
Der Anzug war ihm zu eng, aber er würde ihn noch lange tragen müssen.
Der Vater war Werkmeister in der Gummifabrik gewesen, aber jetzt gab es keinen Vater mehr, und er war der Älteste in der Familie. Während der Pfarrer die Trauerrede murmelte, überlegte Thomas Bindig, woher er jetzt das Schulgeld für das Gymnasium nehmen sollte. Und dann zu Hause, als er allein war, weinte er.
Es war Sommer, die Klasse traf sich jeden Nachmittag im Freibad. Die Ferien waren eben erst angebrochen. Auch für das Lyzeum. Da gab es Sabine. Sie holte ihn fast jeden Tag ab, aber er sagte ihr eine Woche lang jedesmal: »Heute nicht, Sabine. Vielleicht nächste Woche wieder.« Das war seine Trauer. Den schwarzen Anzug legte er bald ab. Er war zu warm, und die Nähte krachten.
Das Mädchen Sabine trug ein hellblaues Fähnchen und Schuhe mit Korkabsätzen. Manchmal, wenn sie sich trafen, brachte sie ihm eine Büchse Ölsardinen mit oder einen Karton Gebäck. Der Vater handelte damit. Sie lagen nebeneinander auf dem Gras des Rasens im Schwimmbad und versuchten sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie Mann und Frau wären. Sie Kinderärztin und er Jurist. Das lag noch weit in der Ferne. Der eine dachte über den anderen nach, unter der heißen Glocke des Himmels, während des Lärms der Kinder, die das Planschbecken bevölkerten, und während die Musik aus dem Lautsprecher ertönte. Sie hatten beide sehr braune Haut und sahen gesund aus, und die anderen wußten längst, daß sie unzertrennlich waren.
Aber das Leben hat seine Gesetze. Eines Tages sagte er zu Sabine: »Ich werde doch anfangen müssen zu arbeiten. Wir schaffen es nicht, wir sind fünf, und Mutter verdient nicht viel. Wenn ich mir was suche, wird es gerade ausreichen.«
Das Mädchen war hellblond. Es hatte sehr dunkle, große Augen. Es fiel ein wenig auf in diesem Schwimmbad. Es hatte einen zierlichen Gang und die Angewohnheit, im Gehen das Haar zurückzuwerfen.
Sie stellten Bindig in der Stadtbibliothek ein. Er verdiente nicht viel, aber Bücher waren ihm nicht fremd. Nach ein paar Wochen schon beriet er die Leute, und es gab welche, die sich nur von ihm bedienen ließen und die gingen, um ein andermal wiederzukommen, wenn er einmal zufällig nicht anwesend war.
Als Sabines Vater das Auto kaufte, sah Bindig sie seltener. Sie vertröstete ihn auf später. Manchmal ging er nach der Arbeit an ihrer Wohnung vorbei in der Hoffnung, sie anzutreffen. Aber er traf sie nicht. Er begann, seine Zeit über Rilke zu verbringen. Manchmal auch über Hölderlin.
Dann war er siebzehn. Er hatte Geld gespart und leistete sich mit Sabine einen Ausflug ins Bergland an der Weser. Sie trug ein buntes Kleid, das ihr der Schwager aus Paris geschickt hatte, und er hatte es fertigbekommen, einen neuen Anzug zusammenzusparen. Aber sie hatten Pech, denn die Gegend, die sie sich ausgesucht hatten, wimmelte von Fahrtengruppen der Hitlerjugend, und sie konnten keine hundert Schritt gehen, ohne daß ein paar von den Uniformierten ihnen entgegenkamen oder sie überholten und sich über die »Sonntagsknülche« lustig machten.
Sie hatten beide ihre Mitgliedsbücher zu Hause, und bevor sie sich angefreundet hatten, waren sie beide ebenso wie diese Uniformierten sonntags in den Wäldern umhergelaufen, hatten Lagerfeuer abgebrannt und in Zelten übernachtet, und sie kannten beide noch die Strophe auswendig, die erklärte, daß jeder durch ihre Fäuste fallen würde, der sich ihnen entgegenstellte. Aber das lag weit zurück.
Schließlich fanden sie weitab von der Weser einen einsamen Weg, an dessen Rand sie sich für eine Weile ausruhten.
»Nächste Woche muß ich zur Musterung«, sagte er.
Sie machte: »Oh…« Das klang erschrocken. Dann griff sie nach einem Grashalm und zerknickte ihn nervös. »Wirst du mir bald ein Bild schicken, wenn du eingezogen bist?« fragte sie.
Er schickte ihr das erste Bild aus dem Arbeitsdienstlager. Er war dort drei Monate, und sie schrieb ihm zwei Briefe. Er schrieb jede Woche. Dann kam die Kommission, und der Führer erklärte ihnen: »Meldet euch freiwillig zu einem Truppenteil. Euer Vorteil ist, daß ihr auch zu diesem Truppenteil kommt. Wartet ihr, bis man euch holt, müßt ihr dort hingehen, wohin man euch steckt.«
Und dann bot der von der Luftwaffe ihnen seelenruhig die besten Verpflegungssätze, den interessantesten Dienst und die besten Aufstiegsmöglichkeiten an. Er sagte, daß es eine einzige Truppe in der ganzen Wehrmacht gäbe, in der ein Mann beweisen könne, daß er wirklich ein Mann sei, das wären die Fallschirmjäger. Er sprach noch eine Weile darüber. Bindig hatte sich bereits entschieden, ehe noch die Offiziere von den anderen Truppengattungen erklärten, welche Vorteile sie zu bieten hatten.
Er bekam Urlaub, aber nur vierzehn Tage, denn sie drückten ihm gleich im Lager den Einberufungsbefehl in die Hand. Dann lag er noch einmal neben Sabine im Gras, so wie sie oft nebeneinander gelegen hatten.
»Es ist schade, daß ich gerade jetzt fort muß«, sagte er, »es wäre sehr schön geworden. Ich verdiene ein bißchen mehr, und ich habe schon sehr viel Sehnsucht nach dir gehabt.«
»Es ist schade«, sagte sie, »ja, schade.«
»Aber ich komme zurück«, sagte er schnell, »ich komme sicher zurück. Wir schaffen das schon. Schließlich kann man sich nicht drücken, wenn ganz Deutschland kämpfen muß. Wenn ich zurückkomme, heiraten wir.«
Er sagte das so, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres zu sagen. Es war sein Ernst und sein fester Entschluß. Er hatte das Mädchen gern, und er wußte mit Sicherheit, daß sie die Geduld aufbringen würde, auf ihn zu warten.
Er sah, wie sie nickte, und dann saßen sie noch lange irgendwo in einem Cafe und hörten die Schlager aus dem Schallplattenkasten. Es war Sonnabend, aber es tanzte niemand. Es war verboten zu tanzen.
Sie bildeten ihn gründlich aus. Sie zermürbten seine Muskeln in den ersten Wochen so, daß er sich ebenso wie die anderen Rekruten am Treppengeländer anklammern mußte, wenn er abends in der Kaserne zu seiner Stube hinaufstieg. Sie lehrten ihn das Schießen und das Autofahren, das Töten mit allen Waffen und mit jedem beliebigen Gegenstand. Sie brachten ihm bei, wie man einen Schirm zusammenlegt und wie man eine Wunde verbindet, wie man sich abzustoßen hat, wenn man aus der Kabinentür springt, und wie man ein Feuer so anlegt, daß ein Dutzend Männer es nur in stundenlanger, mühsamer Arbeit löschen können. Bald war er völlig überzeugt davon, daß kein Soldat in der ganzen Welt so sorgfältig ausgebildet wurde wie sie und daß die Waffen, die sie führten, jeder anderen Waffe überlegen waren. Er hörte die politischen Vorträge über die Kriegsziele der Alliierten und über die geniale Strategie Adolf Hitlers. Bald begriff er, warum Rückzüge sein mußten, und er fühlte sich stark im Bewußtsein, daß es irgendwo in der Heimat, sicher verborgen, Waffen gab, die jetzt schon imstande waren, den Krieg binnen weniger Tage zu entscheiden. Er ging mit diesem Gefühl an manchem Sonntag aus der Kaserne, und er schrieb sehr zärtliche Briefe an Sabine. Sie schrieb ihm zurück, und sie schrieb jetzt ebenfalls jede Woche.
Am Tag der Besichtigung, als die Rekrutenzeit zu Ende war, fühlte sich Bindig sehr wohl, denn sie hatten gut abgeschnitten, und nun war der strenge Dienstbetrieb zu Ende. Die Front winkte für sie wie eine Erlösung, denn die Alten erzählten, daß an der Front die Hauptbeschäftigung das Schlafen sei.
Er wurde gegen Abend, als er sich zum Ausgehen fertigmachte, zu seinem Unteroffizier befohlen. Der fragte ihn nach seinem Heimatort, und als Bindig ihn nannte, nickte er und fragte weiter: »Haben Sie dort noch jemand?«
»Jawohl«, sagte Bindig.
Der Unteroffizier erklärte ihm langsam: »Herr Major Brandt muß dringend in diese Stadt fahren. Er ist ebenfalls dort zu Hause. Wir haben keinen Fahrer zur Hand. Deshalb werden Sie den Herrn Major fahren. Melden Sie sich sofort bei ihm.«
Der Major wies ihn nur kurz an, er solle sich mit dem Auto vertraut machen und sich auf Abruf bereithalten. Bindig fuhr den Wagen ein paarmal im Kreis um den Kasernenhof. Er machte ihm keine Schwierigkeiten. Der Major fragte ihn, als sie die Kaserne verließen: »Wissen Sie, wohin wir fahren?«
»Jawohl«, antwortete Bindig.
»Wissen Sie auch, warum wir dahin fahren?«
»Nein, Herr Major.«
»Sie haben nicht Radio gehört. Gestern nacht hat die Stadt einen schweren Fliegerangriff erlitten. Ich hoffe, meine Familie lebt noch…«
»Oh…«, entfuhr es Bindig. Sekundenlang fuhr er unsicher, denn er dachte an Sabine und ein klein wenig auch an die Mutter und die Geschwister.
Der Major war Studienrat gewesen. Bindig hatte ihn nicht mehr als Lehrer kennengelernt, denn jetzt war er schon viele Jahre Soldat. Aber Bindig kannte die Gegend am Stadtrand, in der die Villa des Majors stand. Er erinnerte sich sogar an das Haus, und er fand es, ohne zu fragen. Es stand so, als habe sich in der Stadt nichts ereignet, und die Frau des Majors lud ihn ein, in das Haus zu kommen. Er bat sich die Erlaubnis aus, nach seinen Leuten sehen zu dürfen, und der Major überließ ihm den Wagen.
An manchen Stellen der Stadt schwelten noch Brände. Die Menschen liefen verstört durch die Straßen. Es war am frühen Morgen, er mußte viele Umwege machen, denn ein Teil der Straßen war nicht befahrbar. Aber er kam doch ans Ziel. Er fuhr zuerst an der Wohnung der Eltern vorbei, weil die am nächsten lag. Als er in die Straße einbog, nahm er unwillkürlich den Fuß vom Gashebel und begann zu überlegen, wo das Haus gestanden hatte.
Die Leute gaben ihm nur unwillig Auskunft. Aber dann erfuhr er, daß der Keller bereits freigelegt wäre und sie die Leichen noch in der Nacht beerdigt hätten. Der Zigarettenhändler an der Ecke, dessen Laden noch unzerstört war, nahm ihn bei der Schulter und zog ihn in seinen Laden. Dort goß er ihm ein Glas Kognak ein und sagte väterlich: »Laß sein, Junge, du mußt nicht so oft daran denken.«
Bindig ließ den Kognak stehen und raste mit dem Wagen weiter, an den schwelenden Trümmern und an den Gruppen der verwirrten Menschen vorbei, zu Sabine.
Das Haus mit der Feinkosthandlung, das Sabines Eltern gehört hatte, war ausgebrannt. Seine Mauern standen noch, und an der rückwärtigen Seite stand eine Kette von Pionieren. Einer von ihnen oder auch mehrere mußten im Keller des Hauses sein, denn der Pionier, der dem größten Kellerfenster am nächsten stand, nahm durch die Lücke in der Mauer die Eimer entgegen, die man ihm von unten heraufreichte. Er gab sie weiter, und sie wanderten durch die Kette, bis sie der letzte Mann mit einem Schwung in einen Lastwagen entleerte.
Bindig hastete um das Haus herum und versuchte irgendetwas zu entdecken, was darauf hinwies, daß Sabine noch lebte. Er sah, daß eine Sprengbombe das Haus vom Boden bis zum Keller durchschlagen hatte, ohne zu krepieren. Ihre Hülle lag in dem dunklen Kellerraum. Es war ein Ausbläser gewesen. Sie war unten aufgeschlagen, und anstatt zu explodieren, war die Ladung schnell und mit großer Hitze verbrannt. »Das gibt’s auch«, sagte einer der Pioniere gleichmütig, als er Bindig herumlaufen sah, »spar dir die Mühe, Kamerad, die Leute sind verbrannt. Und Knochen sehen alle egal aus.«
Von unten, aus dem verkohlten Loch, rief eine Stimme: »Gebt mal ’ne Schaufel ’runter. Ich kriege das nicht in den Eimer!«
Es gab nichts mehr in der Stadt, was Bindig hätte suchen können. Es gab niemand, mit dem er hätte sprechen wollen. Er steuerte den Wagen durch die mit Trümmern übersäten Straßen und legte sich irgendwo hinter den Villen am Stadtrand so lange ins Gras, bis es Zeit war, den Major zu holen.
Der Major war aufgeräumt und zuversichtlich. Es wiederholte sich selten ein Angriff wie dieser. Seine Familie hatte den Krieg, soweit er aus der Luft kam, überstanden.
Er sagte mit einem zugekniffenen Auge zu Bindig: »Diese Schlumpschützen! Unsere Fabriken wollten sie treffen!
Das Gummiwerk und die Autofabrik, und was haben sie getroffen? Ein paar lumpige Wohnhäuser! Es hat nicht gelohnt, daß sie die vielen Kilometer geflogen sind.«
»Sollten sie so weit danebengezielt haben, Herr Major?« fragte Bindig. »Die Werke liegen ziemlich weit außerhalb. Nichts ist aus der Luft besser zu erkennen als diese Werke.«
»Banditen!« brummte der Major. »Die Banditen hatten zuviel Angst, um richtig zu zielen! Ist in Ihrer Familie alles in Ordnung?«
»Tot«, sagte Bindig.
»Oh«, machte der Major. Dann sagte er: »Ich werde dafür sorgen, daß Sie Urlaub bekommen. Sofort, wenn wir zurück sind, werde ich veranlassen, daß Sie Urlaub bekommen. Mein Beileid, Junge, das ist sehr hart für Sie…«
»Danke«, antwortete Bindig.
Er nahm keinen Urlaub, denn er wußte nicht wozu. Es würde keine Begräbnisse in der Stadt geben, denn es wußte niemand mehr, wer sich da gerade in dem Häufchen von Überresten befand, die verscharrt wurden.
Dann kam der erste Einsatz. Bindig dachte nun nicht mehr daran, daß der Krieg ja eines Tages vorbei sein würde und er wieder heimgehen konnte. Für ihn war jeder, gegen den er kämpfte, einer, der Sabine getötet hatte, und das war so lange der Fall, bis er Zado näher kennengelernt hatte und bis er so viele Tote gesehen hatte, daß er sich zu fragen begann, ob das jemals ein Ende nehmen würde. Irgendwo, in dem Hinterzimmer einer Spelunke, nahm er zum erstenmal ein Mädchen. Es hatte schlaffe, spitze Brüste und einen spinnigen, dürren Körper, aber es war ihm gleich. Er nahm sie, und er nahm später die Witwe, die ihn zum Kaffeetrinken einlud, und die andere, deren Mann vermißt war, und eine mit blondem Haar, ohne daß er dabei an Sabine erinnert wurde.
Ihr Bild verblaßte schnell, wie oft die erste Jugendliebe sehr schnell vorbeigeht. Die Erinnerung versank, und er tötete längst nicht mehr, weil er sich einbildete, Sabine zu rächen, sondern weil er es gelernt hatte wie ein Handwerk, Manchmal sehnte er sich nach seinen Büchern zurück und nach seiner Bibliothek. Aber diese Gedanken zwischen der Todesangst der Einsätze und dem erschöpften, bleiernen Schlaf nach der Rückkehr waren blaß und kraftlos. Sie verflogen wie die Erinnerung an Sabine. Und da war Timm. »Macht es euren Weibern noch mal richtig«, sagte Timm, »morgen nacht hüpfen wir.«
Sie lagen in einem Ort, in dem es noch Frauen gab. Manchmal hatten sie in einem Quartier, in dem sie zu fünft lagen, alle zusammen eine Frau oder zwei. Einmal war es eine Mutter mit ihrer Tochter, und sie drehten das Licht nicht ab dabei. Die Frauen hatten in diesen Dörfern gewohnt, und sie kamen zu den Soldaten, weil sie wußten, daß in ihrem Gepäck noch holländischer Eierlikör war und amerikanische Beutezigaretten. Sie wußten, daß die Soldaten Schokolade bekamen und Bananenschnitten und Zucker. Und mancher von denen, die im Westen gewesen waren, hatte in seinem Gepäck noch ein seidenes Halstuch.
»Das ist es, wofür wie kämpfen!« sagte Zado. »Das und der Schnaps sind unsere Kriegsziele, Kleiner. Wir krepieren für eine gute Sache.«
Einmal antwortete ihm Bindig: »Es geht nicht darum, wofür wir kämpfen, sondern darum, was aus Deutschland wird.«
Zado grinste, und dann hieb er Bindig die Hand auf die Schulter. »Genau das, Kleiner!« sagte er. »Das haben sie mir auch erzählt. Bloß, ich habe es nicht geglaubt, und seit ich Timm kenne, weiß ich ganz genau, daß es nicht stimmt«
»Du weißt nicht, was sie mit dir machen, wenn sie es hören.«
Zado nickte traurig: »Das ist es. Sei vorsichtig, du weißt nicht, was sie mit dir anstellen, wenn sie merken, daß du einen Kopf statt einer Kohlrübe hast. Das wird aus Deutschland. Und langsam wünsche ich mir, daß wir den Krieg verlieren, nur damit das nicht aus Deutschland wird. Damit das aufhört.«
Sie stiegen in die Maschinen, und sie verließen sie in der dunklen Nacht und sprangen ins Ungewisse. Dann lagen sie wie damals hinter den Sträuchern, die das Mondlicht siebten, und Zado sagte, als er langsam die Pistole am Handgelenk festband: »Wir wissen nur die Hälfte von der Welt. Wir liegen hier, und in einer halben Stunde wird dieser Posten, der da vorn unter der Kastanie steht, uns vielleicht erschossen haben. Dann werden wir hier verfaulen mit all unseren Hoffnungen und Träumen, und zu Hause werden zur gleichen Zeit die Bonzen ihren Weibern helfen, die Perlenketten am Hals festzumachen, und die Herren Direktoren werden im Maybach zum Wintersport nach Garmisch-Partenkirchen fahren und sich einen Dreck darum scheren, was hier vorgeht. Sie werden höchstens in ihren Klitschen Gasmaskenbüchsen statt Suppentöpfe herstellen lassen. Und die Gasmaskenbüchsen werden besser bezahlt, garantiere ich dir, denn sonst wäre der Krieg längst aus.«
Timm und die anderen waren weit hinten. Sie warteten darauf, daß Zado und Bindig den Posten beseitigten, damit der Weg frei würde.
»Vielleicht hätte das alles nicht zu sein brauchen…«, sagte Bindig.
Zado nahm das Kappmesser in die Hand und sagte: »Er hat bloß das Käppi auf, keinen Helm. Da hören sie verdammt gut. Gib acht. Wenn ich die Hand über den Kopf hebe, kommst du. Dann schaffen wir ihn drüben zwischen die Büsche…«
Einmal hockten sie im Funkwagen, als sie schon in Haselgarten lagen, und da gab es einen Sender, der Nachrichten brachte und Kommentare. Sie hockten beide nebeneinander. Zado lüftete seinen Kopfhörer und grinste: »Das ist die andere Feldpostnummer. Paß auf, daß nicht einer dazukommt!«
Später schüttelte Bindig den Kopf und sagte; »Man kann kaum für möglich halten, was sie sagen. Ob es wahr ist?«
»Mir scheint, es ist wahr«, antwortete Zado. »Und wenn es wahr ist, warum ist dann niemals ein einziger Mensch gekommen und hat mit mir darüber gesprochen. Warum nicht?«
»Du fragst, als ob zu mir einer gekommen wäre«, sagte Zado, »aber zu mir ist auch keiner gekommen. Das ist nicht meine Schuld und nicht deine. Leute, die wirklich gesagt haben, was los ist, haben sie nach Auschwitz gebracht. In Auschwitz gibt es keinen Rundfunksender, den wir hören könnten. Wer frei ist, schweigt. Es gibt eine ganze Menge, die sich so ihr Leben erschweigen. Willst du ihnen das verübeln?« »Nein. Aber dieser Mann im Radio tat so, als ob er es mir verübelte, daß ich Soldat bin.«
»Nicht ganz. Er hat dich aufgefordert überzulaufen.« »Das ist beinahe das gleiche.« »Wenn du meinst«, sagte Zado leise.
Bindig brannte sich eine Zigarette an. Er hatte ebenso wie Zado die eine Kopfhörermuschel beiseite geschoben. Aus der anderen klang Musik in sein Ohr. Es waren deutsche Lieder. »Aber ich höre nicht gern auf den Rat solcher Leute, die ich nicht kenne und nicht einmal sehe. Weiß ich, ob es nicht bloß Leute sind, die reden, um Geld zu verdienen? Deshalb höre ich nicht gerne auf sie«, sagte Bindig.
Zado nickte. Er stützte den Kopf in die Hände und sagte, ohne Bindig anzusehen: »Das ist es. Wir hören nicht auf die, die wir nicht kennengelernt haben. Aber wir hören auf die, die wir kennen. Auf Timm. Keiner von uns weiß, ob es richtig ist oder falsch. Wir tun, was uns befohlen wird. Wenn wie das überleben sollten, dann wird es vielleicht welche geben, die uns fragen werden, warum das so war, aber wir werden ihnen kaum eine Antwort geben können.«
»Doch, eine!« sagte Bindig.
»Daß jeder Mensch das tut, was er gelernt hat und für richtig hält.«
»Eben«, sagte Zado. »Wir haben verdammt unangenehme Dinge gelernt. Sie werden uns einmal danach fragen, ob wir keine Augen hatten und keine Ohren und kein Herz. Ob wir das vielleicht bei der Einkleidung auf der Kammer mit abgegeben hätten.«
»Wenn wir es überleben. Wenn wir ’rauskommen…«
»Ja, dann. Und wenn wir diesem Mann im Radio glauben und beim nächsten Einsatz verschwinden und überlaufen, dann werden sie uns ebenso danach fragen, nur ein wenig früher als sonst. Was würdest du ihnen antworten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Bindig langsam, »ich habe mir mein ganzes Leben anders vorgestellt. Es fing damit an, daß sie mein Mädchen…«
»Nein«, sagte Zado schnell, »es fing damit an, daß Hitler den Krieg erklärte, ich erinnere mich genau an den Tag. Ich hatte Halsschmerzen, und alle anderen, die mit mir in einer Bude lagen, waren sternhagelvoll besoffen. Aber nicht einmal da fing es, genau besehen, an, sondern schon viel früher. Und nicht erst damit, daß die Flieger kamen.«
»Ich habe mir alles anders vorgestellt. Auch den Krieg. Aber jetzt bin ich nicht mehr mit dem Herzen dabei. Nur noch mit den Händen. Und mit dem Kopf.«
Die Musik in den Kopfhörern lief unentwegt weiter. Es war ein Konzert ohne Unterbrechung. Es war deutsche Musik. Einmal sagte eine Stimme dazwischen: »Macht Schluß, Kameraden! Zu Hause warten eure Frauen auf euch. Macht Schluß mit dem Krieg, dann könnt ihr heimgehen zu euren Frauen…«
Zado sagte abwesend: »Unsere Frauen… Da fallen mir die beiden ein, die wir gestern in unserem Quartier hatten. Die eine hat gesagt, seit wir hier liegen, tut sie es nur noch für Schokolade. Sie hat drei Kinder. Hättest du ihr das angesehen?«
»Es ist alles ganz anders gekommen«, sagte Bindig langsam, »was man sich so vorgestellt hat, wovon man geträumt hat.«
»Unsere Träume?« Zado zog müde die Kopfhörer ab und hängte sie an den Einstellknopf des Gerätes. »Wir haben alle einmal geträumt. Und jetzt hocken wir hier und sind feige.
Wir sind so feige, daß wir nicht einmal uns selbst eingestehen, wie feige wir sind. Was haben wir nicht einmal alles geträumt. Aber die Träume sind gestorben, Kleiner. Wir werden auch sterben. Dann wird Timm nach Hause schreiben, daß wir Helden gewesen sind. Oder Alf wird es tun.«
Die Zeit verging. Sie stiegen in die Maschinen und glitten an den Schirmen zur Erde. Sie kehrten zurück und tranken und schliefen, und da waren die Frauen und Timm, der manchmal durch die Unterkünfte ging.
»Ihr habt Langeweile, was? Euch juckt es in den Fingern, Bindig, he! Einen umlegen? Leichen machen? Abwarten, bald geht’s wieder los!«
Und die Gespräche im Dunkel. Über die letzte Frau des einen und über die erste des anderen. Ob die Bordelle Hollands besser waren als die in Frankreich, und was man mit der Frau zu Hause tun wird, wenn man merkt, daß sie einen anderen gehabt hat. Und die Methoden, aus Genever ein trinkbares Gesöff zu brauen. Mit Honig und Zimt. Und wer wird wohl bei den Mädchen von der Theatergruppe Glück haben, die morgen kommt?
»Es sind Puppen dabei…«, sagte einer schlaftrunken.
Die unruhigen Nächte, wenn der Schlaf federleicht ist und wie ein Spiegel, aus dem einen die Augen der Toten anblicken. Wenn die Träume kommen und die Schreie, von denen man erwacht, schweißgebadet, verwirrt. Und dann die Stunden, in denen man wach liegt und die Augen der Toten sieht, ob man sie sehen will oder nicht. Am Morgen beim Antreten das Schafsgesicht Alfs und der Geruch nach Leder und Schweiß, und ostwärts in der Ferne das Gemurmel der Geschütze.
In der nächsten Nacht sind sie wieder östlich dieses Gemurmels. Sie sind zahlreich diesmal. Sie greifen ein Munitionslager an, eins von den kleinen, die weitab von den Hauptstraßen liegen und deren Wachpersonal nicht sehr zahlreich ist. Da ist ein Graben und ein bißchen Stacheldraht.
Sie lauern am Saum der Büsche, und da steht der Außenposten, von dem sie wissen, daß er in einer Viertelstunde abgelöst wird. Dann geht er heim, und der nächste beginnt seine Wache. Sie dauert zwei Stunden. Diese zwei Stunden sind sicher; in diesen zwei Stunden wird niemand danach fragen, ob der Posten noch lebt. In diesen zwei Stunden werden sie ihn töten, und sie werden sich über das Lager ergießen wie eine Legion, die aus der Hölle kommt. Es wird keinen Überlebenden geben. Nur Tote. Das Lager wird nicht mehr sein, wenn sie es überfallen haben.
Aber der Krieg wird weitergehen, denkt Bindig. Es wird sich nichts ändern, denn dieses lumpige Lager ist so lächerlich unbedeutend für die Armee in den Pelzmützen, daß sie es kaum spüren wird, wenn es ausfällt.
Timm ist dabei. Timm ist immer dabei. Er sieht auf die Uhr, und dann hebt er den Arm. Es geht schnell, denn es darf nicht sehr lange dauern, wenn sie davonkommen wollen. Bindig läuft neben Zado, als sie im Wald verschwinden, keuchend, mit geschwärzten Gesichtern, die Maschinenpistolen mit den halbleergeschossenen Magazinen in der Hand. Sie laufen nebeneinander, als hinter ihnen die Ladungen explodieren und die Stapel der Munition zerreißen. Es ist ein höllisches Konzert. Der Himmel ist für lange Sekunden taghell erleuchtet, bis diese Helle dem rötlichen Widerschein des Brandes weicht, der das letzte zerstört, was einmal ein Munitionslager war.
Sie laufen an Timm vorbei, der zurückbleibt, um die letzten anzuspornen.
Es gibt ein Lied, das sie zuweilen singen. Über die, die in Spanien waren als Legionäre. Timm, der sie an sich vorbeilaufen läßt, steht mit geschwärztem Gesicht, die Maschinenpistole in den schwarzen Händen, am Rande des Waldweges. Er steht halb gebückt, gleichsam sprungbereit, noch erhitzt von dem Überfall. »Vorwärts, Legionäre!« ruft er ihnen grinsend zu. Mit jenem Grinsen, das zugleich Anerkennung und eigene Befriedigung ist. Er ruft ihnen den Kehrreim des Liedes zu. Das tut er manchmal.
»Wir sind schon eine Legion…«, sagt Bindig schwer atmend, als sie im Schritt weitergehen.
Es ist alles genau auf die Minute ausgerechnet wie immer. Ihre Chance liegt darin, genau auf die Minute am Startplatz zu sein. Sind sie das nicht, fliegt die Maschine heim. Dann haben sie die Verfolger auf der Fährte, die jetzt gerade erst aufbrechen.
»Eine Legion…«, sagt Zado. Er wirft die Maschinenpistole über die Schulter. »Das sind wir. Wir sind eine verflucht höllische Legion. Eine, die aus der Nacht kommt und die Hölle zurückläßt, wo sie gewesen ist.«
Sie fliegen nach Haselgarten zurück. Tage später sagt Bindig zum erstenmal zu Zado: »Da ist diese Frau in dem einsamen Gehöft hinter dem Dorf… eine eigenartige Frau…«
Sie sind leer. Sie sind ausgepumpt wie immer, wenn sie zurückkommen. Sie sind müde und trotzdem schlaflos. Wenn sie schlafen, finden sie keine Ruhe im Schlaf.
Sie spielen Karten und trinken. Schreiben Briefe nach Hause oder an die Bräute. Gehen zu den Weibern, die in der Gegend herumlungern, oder holen sie in die Quartiere.
»Eine eigenartige Frau?« wiederholt Zado schläfrig. »Sie kommt dir eigenartig vor, weil sie nicht für Schokolade mit uns schläft, nicht einmal mit Alf. Sie ist wirklich eine eigenartige Frau, aber eigentlich ist sie gar nicht so eigenartig, es kommt dir nur so vor…«
Er ist jetzt zwei Tage in dem Zimmer. Die Kopfwunde schmerzt noch, aber der Schmerz ist nicht mehr unerträglich. Die Wunde heilt. Er hat viel geschlafen. Es ist dunkel im Zimmer, aber es ist so, wie es sonst war. Nur Warasin ist dabei. Er sieht gut aus in der Uniform. Und er hat ein anderes Gesicht. Das ist nicht mehr der grinsende Schwachsinnige, der Taubstumme. Das ist auch nicht mehr der Mann, den Bindig zusammenschlug.
»Ich mache jetzt etwas zu essen«, sagt Anna. Sie hat ein Tuch um die Schultern gelegt, als fröre sie. Sie zieht es über der Brust zusammen, als sie die Stube verläßt. Sie läßt die Männer allein. Sie weiß, daß sie Warasin und Bindig allein lassen kann.
Bindig hat einen klaren Kopf. Ein wenig benommen ist er noch immer, aber er kann denken. Er macht keine Fehler dabei. Er weiß, daß er in einiger Zeit wieder völlig gesund sein wird. Das gibt ihm einerseits Zuversicht, aber es gibt ihm auch eine Menge Rätsel auf. Er liegt auf dem Bett und raucht – Zigaretten von Warasin. Welche mit langen Pappmundstücken. Man darf sie nicht ganz aufrauchen, sonst verbrennt man sich die Zunge. Und man muß die Pappmundstücke zusammendrücken.
Er sieht das Gesicht Warasins, dann sagt er langsam: »Ich bin in einer Situation, die aufs Haar der gleicht, in der Sie sich vor ganz kurzer Zeit befanden. Und Sie sind in der gleichen Situation, in der ich mich damals befand. Keine einfache Sache…«
Es dauert eine Weile, bis Warasin etwas antwortet. Er zieht an seiner Zigarette und blickt dem Rauch nach, der für ein paar Sekunden im Halbdämmer zu sehen ist, das durch das Fenster hereinkommt.
»Es ist eine einfache Sache«, sagt Warasin dann. »Sie ist sehr unkompliziert. Und ganz anders als die, von der Sie sprechen. Für Sie ist der Krieg zu Ende, bevor Ihre Armee endgültig besiegt ist. Sie haben Ihr Leben gerettet. Sie werden in der Gefangenschaft Gelegenheit haben, zu überlegen, wie Sie Ihr Leben in Zukunft besser nutzen können. Wenn der Krieg aus ist und Sie zurückkommen, werden Sie manches wissen, was Ihnen vorher unbekannt war. Sie werden neu anfangen. Eine sehr einfache Sache für Sie. Sie haben Glück gehabt.«
Bindig lächelt. Er kennt das. Warasin spricht es zum erstenmal aus, aber es hat in der Luft gelegen, seit sie einander vor zwei Tagen wieder gesehen haben.
»Eine einfache Sache?« fragt er lächelnd. »Sie vergessen, daß Sie Offizier sind. Was geschieht in Ihrer Armee mit Leuten, die einen Deutschen, der sich in ihrem Gebiet versteckt hält, nicht ausliefern? Was geschieht mit einem Offizier, der ihn sozusagen in Sicherheit bringt, anstatt seinem Kommandeur Meldung zu erstatten?«
»Tue ich das?« fragt Warasin zurück.
Bindig stützt sich auf die Ellbogen. Er sieht nur die Umrisse des Russen. Ab und zu, wenn Warasin an der Zigarette zieht, ist sein Gesicht für eine Sekunde lang rötlich erleuchtet. »Hören Sie«, sagt er, »machen wir uns nichts vor. Sie hätten einen Orden bekommen, wenn Sie mich erschossen hätten, als ich hier ankam. Aber das konnten Sie nicht, denn da war Anna, und Sie sind ihr verpflichtet. Und nun überlegen Sie, was zu tun ist, denn Sie wissen natürlich, was für Sie auf dem Spiel steht, wenn ich hier entdeckt werde, denn es wird bekannt sein, daß Sie gelegentlich Anna besuchen. Aber Sie können jetzt nicht mehr so einfach zu Ihrem Kommandeur gehen und mich ausliefern, denn man wird Sie fragen, weshalb Sie das nicht schon längst getan haben. Was mit Anna geschieht, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Sie würden den Rest Ihres Lebens nicht mehr den Gedanken loswerden, daß Sie einen Menschen ausgeliefert haben, der Ihnen einmal das Leben rettete. So ist die Sache. Nicht so einfach, wie Sie sie sehen.«
Sie hörten Anna über den Hausflur gehen und mit Geschirr klappern. Sie ging in den Stall, um das Vieh zu versorgen. Warasin drückte seine Zigarette aus. Dann sagte er nachdenklich: »Ich glaube, Sie machen einen Fehler. Sie machen ihn, weil Sie nicht wissen, daß unsere Armee anders ist als die, in der Sie gekämpft haben. Deshalb ist es beispielsweise für Sie unverständlich, daß ich keine Angst zu haben brauche, das zu verantworten, was ich getan habe, Es wird weder mir etwas geschehen noch Anna. Es wird auch Ihnen nichts geschehen, wenn Sie in Gefangenschaft kommen. Sie werden dort bis zum Ende des Krieges arbeiten und dabei das lernen, was man Ihnen bisher zu lernen verwehrt hat. Ich muß Ihnen das sagen, denn sonst machen Sie sich von der Lage, in der Sie sich befinden, falsche Vorstellungen.«
Eine Weile war es still. Bindig ließ sich zurücksinken und schwieg. Er hatte geahnt, daß Warasin etwas Ähnliches sagen würde. Er hatte es gefürchtet, aber es war ihm nicht so recht möglich erschienen. Nun war es klar gesagt. Es gab nichts zurückzunehmen.
»Sie sind sehr zuversichtlich, was Ihre Kommissare betrifft…«, sagte er leise. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht irren?«
Warasin mußte daran denken, was Balaschow sagen würde, wenn er vor ihm stand und das alles hier zu erklären begann. Der untersetzte, ächzende Balaschow würde ganz still sitzen und zuhören, wenn Warasin das bekannte, was er verschwiegen hatte. Er würde ihn ansehen und den Blick aus seinen kleinen, beweglichen Augen über Warasins Gesicht wandern lassen. Er würde sich kräftig am Kopf kratzen und in den Taschen nach Streichhölzern für seine Zigarette suchen. Er würde den Kopf schütteln wie jemand, der nicht genau versteht, was man ihm sagt.
»Ich bin sicher, nicht zu irren«, sagte Warasin. »Ich kann Ihre Lage sehr gut verstehen. Ein wenig kenne ich den Geist, in dem Sie erzogen wurden. Ich glaube wenigstens, ihn jetzt besser zu kennen als früher. Ich möchte Ihnen helfen, diese Erziehung zu überwinden. Aber ich muß Ihnen die Illusionen nehmen, die Sie haben. Bauen Sie nicht darauf, in mir einen Mann vor sich zu sehen, der in einer Zwangslage steckt. Was ich in den letzten beiden Tagen getan oder nicht getan habe, geschah weniger in meinem Interesse. Es geschah in Ihrem Interesse. Aber das ändert nichts an Ihrer Zukunft. Die Rote Armee wird Sie wie jeden anderen Gefangenen behandeln und Ihnen die Möglichkeit geben, das Leben von vorn anzufangen. Das brauche ich Ihnen nicht besonders zu versichern. Das ist unser Prinzip gegenüber den Soldaten Ihrer Armee, die gekämpft und nicht gemordet haben.«
»Gekämpft?« fragte Bindig. »Wenn Ihre Kommissare mich verhören, werden sie erfahren, wie wir gekämpft haben. Sie werden auch erfahren, in welcher Uniform ich hier ankam.«
»Sie haben keine Angst gehabt, alles das zu tun, was man Ihnen befohlen hat«, sagte Warasin, »aber Sie haben Angst, es zu verantworten.«
Ein Streichholz flammte auf. Dann sagte Bindig, den Rauch der Zigarette zur Decke blasend: »Was täten Sie, wenn Sie morgen oder übermorgen hierherkämen und mich nicht mehr vorfänden? Was würden Sie dann tun?«
Warasin antwortete, ohne zu zögern. »Es würde eine Gruppe ausrücken, um Sie zu suchen. Ich würde diese Gruppe anführen.«
»Und Sie würden auf mich schießen, wenn Sie mich zu Gesicht bekämen?«
»Ich würde Sie töten, wenn Sie Widerstand leisteten.«
»Ich habe es erwartet«, sagte Bindig, »aber warum geben Sie sich dann eigentlich soviel Mühe, mich in die Gefangenschaft zu locken?«
»Weil ich glaube, Sie zu kennen«, sagte Warasin langsam, jedes Wort betonend, »und weil ich glaube, daß man nicht nur Ihnen, sondern einer großen Anzahl deutscher Soldaten in Ihrem Alter wird helfen müssen, damit sie begreifen, wofür sie ihren Mut und ihre Gesundheit eingesetzt haben und was daraus entstanden ist. Man wird vielen helfen müssen, die Wahrheit zu begreifen und im Besitze dieser Wahrheit neu anzufangen. Auch Ihnen. Es lohnt sich, und es ist notwendig. Wir glauben daran. Denn nicht Sie haben den Faschismus in Deutschland herbeigeführt. Sie sind nur von ihm erzogen worden und haben für ihn gekämpft. Er hat Ihr Leben zerstört, indem er Sie ausschickte, unser Leben zu zerstören. Es wird sich erweisen, ob Sie imstande sind, die Wahrheit zu begreifen. Sind Sie ein Faschist, wird man Sie als solchen behandeln. Sind Sie ein Mensch, der den Willen hat, es in Zukunft besser zu machen, dann wird man Ihnen dazu alle Möglichkeiten geben.«
Die Zigarette glimmte auf und beleuchtete Bindigs Gesicht. Er sprach leise, während draußen auf dem Flur wieder Anna vorbeiging, die aus dem Stall zurückkam.
»Das sagen Sie, ohne zu wissen, ob der Krieg damit endet, daß Sie in Berlin einmarschieren oder wir in Moskau?«
Warasin war aufgestanden und ans Fenster getreten. Er drückte eine neue Zigarette zurecht und steckte sie zwischen die Lippen. Nachdem er sie angezündet hatte, blieb er eine Weile am Fenster stehen und blickte nach draußen. Der Schnee überzog die Erde wie ein Teppich. Auf den Ästen der Obstbäume in Annas Garten lagen schwere Batzen der weißen Kristalle. Es war kalt geworden, und die Nacht war sternenklar.
Warasin dachte an Balaschow. Er hörte, wie Anna die Küchentür öffnete.
»Sie haben noch Zeit, nachzudenken«, sagte er zu Bindig, »denken Sie gut nach. Der Weg, den ich Ihnen beschrieb, dient dazu, Ihr Leben zu erhalten und Ihnen eine Zukunft zu sichern. Vielleicht auch Anna, denke ich. Denn wir werden nach Berlin marschieren und den Faschismus ausrotten. Wenn Sie Gelegenheit hätten, unsere Armee zu sehen, würden Sie keinen Augenblick daran zweifeln. Ich werde morgen abend kommen. Bis dahin werden Sie sich entschließen.«
In der Tür stand Anna. Sie trug Geschirr in beiden Händen und sagte: »Georgi, auf dem Fensterbrett steht die Kerze. Zünden Sie sie an, und ziehen Sie die Decke vor die letzten beiden heilen Scheiben…«