Flamme

Die Höhe war kahl. Es gab keinen Baum, nur ein paar kniehohe Büsche. Der Schnee war seit Tagen verharscht. Nun war er schmutzig. Die Granaten hatten ihn umgepflügt. Die Erde war hoch geflogen, und aus den kleinen braunen Flecken war schließlich das neue Muster des Bodens entstanden: Dreck mit weißen Tupfen.

Einmal, noch vor Stunden, war hier die Front der Roten Armee verlaufen. In den Löchern am westlichen Fuße des Hügels hatten die Rotarmisten gelegen, als das Feuer begann. Aber dann waren die Panzer gekommen, und man hatte die Männer aus den Löchern bis auf den Kamm des Hügels zurückgezogen. Dort oben lagen sie jetzt, an den östlichen Abhang geschmiegt, und warteten das Feuer ab. Hier konnte es ihnen nichts anhaben. Die Granaten mußten über den Hügel hinweg, wenn sie ihnen gefährlich werden sollten. Fauchten sie aber über die Kuppe, dann schlugen sie erst weit unten ein, weil der Boden steil abfiel, und die Splitter erreichten die Soldaten nicht mehr. Meist fuhren die Geschosse jedoch in die Vorderseite des Hügels, und auch dann blieben ihre Splitter unschädlich. Gegenüber dem Hügel, an einem unübersichtlichen Waldrand, standen die beiden Panzer und das Sturmgeschütz der Deutschen. Von dort schossen sie, aber sie waren schwer zu treffen, denn sie wechselten nach jedem Schuß die Stellung.

Die Soldaten hinter dem Hügel schossen selten zurück. Sie hatten ein paar Panzerbüchsen aufgestellt. Sie wußten, daß die Panzer ihnen nichts anhaben konnten. Kamen sie aus dem Wald heraus, dann würde man sie bis dicht an den Hügel herankommen lassen und abschießen. Blieben sie im Wald, dann blieb auch die Front so, wie sie war. Die Soldaten hatten sich an das Feuer gewöhnt. Sie duckten sich nicht mehr, denn sie wußten, daß sie sich in einer ausgezeichneten natürlichen Deckung befanden. Manche rauchten Zigaretten. Einer mit dem Sprechfunkgerät hockte bei ihnen. Er war von ein paar anderen umringt, aber er konnte ihnen nichts weiter sagen, als daß die Front so war wie vorher. Es war keine Gefahr mehr. Wenn von drüben aus dem Wald Infanterie kam, dann würden sie auf die Kuppe des Hügels ein paar Maschinengewehre stellen. Weiter als bis an den Fuß des Hügels würde die Infanterie nicht kommen. Außerdem hatten die Panzer nur eine gewisse Menge Munition bei sich, das wußten die Soldaten. Sie kauten Sonnenblumenkerne.

Dann schwiegen die Panzer plötzlich. Lange Zeit fiel kein Schuß am Waldrand. Die Soldaten warteten länger als eine Viertelstunde. Dann stiegen sie auf die Kuppe des Hügels und brachten ein Maschinengewehr in Stellung. Sie hoben sich dabei gegen den Nachthimmel ab, denn auf der Hügelkuppe gab es kein Gebüsch. Als sie die Trommel auf das Maschinengewehr setzten, blitzte es am Waldrand auf. Die Granate rauschte knapp über die Köpfe der Männer hinweg und schlug weit hinten ein. Sie zogen das Maschinengewehr wieder zurück. Nach einer weiteren Viertelstunde wiederholten sie es noch einmal. Es kam wieder ein einzelner Schuß, der über ihre Köpfe fegte, und sie versuchten es nun nicht zum drittenmal, auf der Kuppe in Stellung zu gehen.

Es würde Tag werden. Dann würde man die Panzer sehen. Dann würde man ein paar Granatwerfer holen und sie zusammenschießen. Das war vor einer Stunde gewesen. Und nun lagen unten, am westlichen Fuße des Hügels, Bindig und Zadorowski.

Sie hatten sich durch die Artilleriestellungen, vorbei an abgestellten Fahrzeugen und bereitgestellter Infanterie, bis hierher geschlichen. Es war nicht schwer gewesen, denn es waren viele Melder unterwegs. Verletzte humpelten zurück, und Fernsprechleute suchten die Leitungen nach Störquellen ab. Die beiden waren nicht von den Soldaten zu unterscheiden, denn sie trugen noch immer die braunen Uniformen. Irgendwo hatte Zado eine neue Pelzmütze aufgelesen, die einer der Rotarmisten verloren haben mußte. Er trug jetzt Timms Maschinenpistole. Sie waren bis hierher an den Fuß des Hügels gekommen. Nun hockten sie nebeneinander in einem alten Schützenloch, das eine Granate getroffen und aufgewühlt hatte. Als sie den Hügel umgingen, hatte das Feuer geschwiegen. Sie hatten nicht gewußt, daß drüben am Waldrand die Panzer standen. Aber als sie an dem Loch vorbei wollten, in dem sie jetzt hockten, hatten die Rotarmisten oben auf der Hügelkuppe zum zweiten Male versucht, das Maschinengewehr aufzustellen. In diesem Augenblick war vom Wald her der Schuß gekommen, und die beiden hatten in dem Loch Schutz gesucht.

Sie hatten keine Ruhe, sie wollten weiter. Zado drängte dazu. Als sie ein paar Minuten gewartet hatten, erhoben sie sich und arbeiteten sich langsam vorwärts. Sie waren ein paar Schritte von dem Loch entfernt, als es am Waldrand aufblitzte. Die Granate fauchte über ihre Köpfe und schlug wenig hinter ihnen am Abhang des Hügels ein. Der Druck der Explosion schleuderte sie ein paar Meter vorwärts. Im Jaulen der Splitter hörte Bindig, wie Zado einen Fluch ausstieß. Er packte ihn und zog ihn zurück. Als sie sich wieder in das Loch schwangen, blitzte es am Waldrand erneut auf. Die Granate galt ihnen, aber sie schlug diesmal weiter links ein, und die Splitter zischten über das Loch hinweg. Bindig spürte die warme Feuchtigkeit, als er Zados Mantel anfaßte. In dem Ungewissen Licht sah er, daß auf der Hand dunkle Flecke waren.

»Aus!« hörte er Zado leise sagen. »Auf dem Hügel die Russen und am Wald unsere. Einer von beiden wird uns den Rest geben.« Es klang heiser, gepreßt.

Bindig riß ihm den Mantel auf und suchte die Wunde. Sie lag dicht unter dem Brustkorb. Sie war nur klein, aber der Splitter steckte im Leib.

»Er hat mir die Därme zerrissen, glaube ich«, sagte Zado, »es wird eine Weile dauern, ich habe lange nichts gegessen.«

Bindig öffnete die Jacke und trennte mit dem Messer ein Stück von dem verschwitzten Unterhemd ab. Keiner von beiden besaß mehr ein Verbandpäckchen. Als er Zado den Fetzen auf die Wunde gedrückt hatte, griff er in dessen Uhrtasche und zog die Kapsel mit den Schmerztabletten heraus. Er ließ ihm den Inhalt einfach in den Mund fallen. Vom Rand des Loches nahm er eine Handvoll Schnee und gab sie Zado. Der Schnee war schmutzig, aber Zado schluckte ihn.

»Schmerzen?« fragte Bindig.

»Es geht«, antwortete Zado. Er war sehr ruhig. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand des Loches, die Beine weit ausgestreckt. »Es wird noch schlimmer werden«, sagte er. »Wenn du willst, kannst du abhauen. Du kommst vielleicht noch durch.«

Seitlich von ihnen nahm das Feuer wieder zu. Aber das waren nicht mehr die deutschen Geschütze. Aus den Artilleriestellungen, an denen sie vorbeigeschlichen waren, schoß es auf die Infanterie, die in der Nähe des Waldrandes steckengeblieben war. In den hellen, blubbernden Ton der Granatwerfer mischte sich das Jaulen der Raketengeschosse, die wie Kometen, sprühende Schweife hinter sich ziehend, herangerast kamen. Die Feuerschläge erhellten für Sekunden das umgepflügte Niemandsland zwischen dem Hügel und dem Waldrand. Drüben am Wald brachen die Granaten in die Bäume und schleuderten Äste und trockenes Gezweig hoch. Die Panzer schossen nicht. Erst als nach einiger Zeit auf dem Hügel plötzlich das Maschinengewehr zu schießen begann, krachte aus dem Dunkel der Bäume wieder der harte Schlag einer Panzerkanone, und auf der Kuppe des Hügels spritzte die Erde hoch.

Zado lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand des Loches. Er preßte eine Hand gegen den Leib und hielt sich mit der anderen am Wurzelwerk eines Strauches fest, den die Granate zerrissen hatte, von der das Loch getroffen worden war.

Bindig sah eine Weile zu, wie Zado in dieser Stellung an der Wand lehnte. Er beobachtete sein Gesicht, in dem sich der Schmerz abzeichnete, den ihm die Wunde verursachte. Dann sagte er plötzlich: »Wir müssen hier ’raus, du! Ich werde es versuchen. Wenn ich es bis zu den Panzern schaffe, können sie die auf dem Hügel eine Weile eindecken und inzwischen ein paar Träger herschicken. Es muß gehen…«

Zado bewegte kaum die Augenlider. Er sagte nur leise: »Geh! Sieh zu, daß du es schaffst. Ich bin sowieso fertig.«

Um Bindigs Kopf lag noch die Binde. Die Wunde heilte. Sie hatte überraschend schnell aufgehört zu schmerzen. Bindig zog die Pelzmütze tief in die Stirn, um das Weiß der Binde zu verdecken. Als das Feuer für Augenblicke nachließ, sprang er mit einem Satz aus dem Loch und begann zu laufen. Er kam ein paar Schritte weiter. Dann blitzte drüben am Wald das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs auf, und er warf sich hin, den bösartig surrenden Ton der Geschosse im Ohr, die über ihn hinwegflogen. Er wollte eben wieder aufspringen und weiterlaufen, so weit, bis er auf Rufweite an den Wald herangekommen war, aber da zuckte die Mündungsflamme aus dem Panzergeschütz, und die Granate fuhr über ihn hinweg. Eine Welle heißer Luft drückte ihn an die aufgewühlte Erde. Sekundenlang nach der Detonation hörte er die Splitter um sich herum in den Boden klatschen. Er versuchte zu winken. Aber es war zu dunkel. Am Wald begann ein Maschinengewehr zu hämmern. Er blickte sich ängstlich um und sah nach dem Hügel. Dort war alles ruhig. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief einmal, zweimal zum Wald hinüber, sie sollten ihn herankommen lassen. Doch seine Stimme war zu schwach. Sie drang nicht weit genug. Das Maschinengewehr sägte langsam weiter. Sie mußten ihn gesehen haben. Das Maschinengewehr tastete die Gegend ab, in der er lag. Er erinnerte sich daran, daß er die russische Uniform trug.

»Hallo!« rief er noch einmal. Der Ruf ging unter in einer Serie Granatwerfereinschläge, die hundert Meter vor dem Wald lagen. Mit einemmal hing eine Leuchtkugel über dem Hügel. Sie hing an einem kleinen, seidenen Schirm und trieb langsam auf den Wald zu. Ein weißer Ball, der den Schnee zwischen den Granatlöchern aufleuchten ließ und in deren Licht sich jede Einzelheit auf der Erde scharf abhob. Sie schwebte weiter und weiter. Bindig duckte den Kopf tief an die Erde. Er erstarrte gleichsam, und während er auf dem Boden lag, fuhr aus dem Rohr des einen Panzers am Waldrand der nächste Schuß. Er schlug zwischen Bindig und dem Loch ein, wo Zado lag. Bindig sprang auf und lief auf den Wald zu. Er schrie und winkte, schwenkte die Arme über dem Kopf. Die nächste Panzergranate schlug dort ein, wo er im Licht der Leuchtkugel gelegen hatte. Die Erdbatzen flogen bis zu Bindig. Er spürte, wie ihm der Luftdruck ins Genick fuhr. In diesem Augenblick ratterte wieder das Maschinengewehr am Wald los. Wenige Schritte vor Bindig spritzten die Geschosse in die Erde und warfen kleine Klümpchen von Dreck und Schnee hoch. Es war Leuchtspur, Bindig sah die schwachgrünen Fäden in der Luft hängen. Er ließ sich fallen und rollte ein Stück zur Seite. Über ihm zogen die Fäden der Leuchtspur.

»Kameraden…«, schrie er plötzlich. »He… Kameraden… Nicht schießen!« Seine Stimme brach heiser ab. Es hörte ihn niemand. Es kam auch keine Antwort. Nur ein paar Meter vor ihm, auf dem Kamm einer kleinen Welle im Boden, zerspritzten die Geschosse des Maschinengewehrs. Bindig rief noch einmal. Er rief immer wieder dasselbe. Er schrie sich die Kehle so heiser, daß er keinen Ton mehr herausbrachte. Es kam keine Antwort. Wenn er sich erhob, bellte am Wald das Maschinengewehr auf. Der Panzer schoß noch einmal in seine Nähe, dann schwieg er wieder. Das Feuer ließ nach. Einige Augenblicke lang war es völlig still. Erst dann jaulten wieder von weit hinter der sowjetischen Front ein paar Siebzehnzwo heran, die sich in den Wald bohrten. Bindig versuchte noch einmal, auf die Beine zu kommen und nach dem Wald zu laufen. Er sprang auf und lief, mit krächzender Stimme schreiend, daß sie nicht schießen sollten. Aber sie schossen. Der Schlag am linken Fußknöchel warf Bindig zu Boden. Er wälzte sich herum, und dabei spürte er den Schmerz. Der Fuß gehorchte nicht mehr. Der Knöchel war zerschmettert. Langsam ließ Bindig den Kopf sinken. Er preßte sich ganz dicht an die Erde und schloß die Augen. Er begriff, daß er den Wald nicht mehr erreichen konnte. Langsam begann er zurückzukriechen.

Er war noch nicht sehr weit gekommen, als von dem Hügel her das russische Maschinengewehr zu tacken begann. Es war ein langsames, bösartiges Geratter. Das Gewehr zielte auf Bindig. Er merkte es daran, daß die Geschosse ununterbrochen über ihn hinwegsurrten. Aber es konnte ihn nicht treffen, denn es stand zu hoch, und es konnte nicht weiter nach unten schwenken, weil es sonst in den Bereich des deutschen Maschinengewehrs am Waldrand gekommen wäre. Bindig hinterließ eine dünne rote Spur, wo er über Schnee kroch. Er arbeitete sich langsam auf den Unterarmen vorwärts und zog den Körper nach. Der Fuß schmerzte. Am Wald schoß wieder der Panzer, Die Granaten schlugen auf dem Hügel ein. Die Geschosse der Siebzehnzwo rauschten in regelmäßigen Abständen über den Hügel hinweg weit hinten in den Wald. Dazwischen schoß eine Batterie Werfer, deren Granaten gurgelnd zwischen die Bäume am Waldrand prasselten. Bindig erreichte das Loch, ohne noch einmal getroffen zu werden. Zado hatte sich aufgerichtet und blickte ihm entgegen. Er griff nach ihm, aber in seinem Griff war keine Kraft. Bindig schaffte es allein. Er wälzte sich über den Rand des Loches und ließ sich langsam hinabgleiten.

»Aus…«, sagte Zado müde. »Heb den Fuß hoch, vielleicht kann ich wenigstens einen Fetzen drumwickeln…«

Bindig legte sich mit dem Rücken an die Wand des Loches und hob das Bein, bis er es Zado auf das angezogene Knie des rechten Beines legen konnte. Zado hielt einen Fetzen in der Hand. Er konnte den Oberkörper nicht bewegen, er konnte sich auch nicht bücken, aber er schaffte es, Bindig den Knöchel zu verbinden. Eine Leuchtkugel flammte auf. Sie glitt wie vorhin, leicht vom Wind abgetrieben, auf den Wald zu und warf ihr Licht bis in das Loch, in dem die beiden hockten. Für ein paar Sekunden verzog Zado das Gesicht zu einem Grinsen.

»Schön, daß sie Licht machen…«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, »das hätten wir uns nicht träumen lassen!«

Er hatte viel Blut verloren. Sein Gesicht war gelblich geworden. Er wußte, daß in ein oder zwei Stunden die Schmerzen unerträglich sein würden, weil dann die Schmerztabletten nicht mehr wirkten. Er erinnerte sich sonderbar deutlich an den Tod des kleinen Oberkellners aus Stuttgart, wenn er die Maschinenpistole anblickte, die neben ihm lag.

Als die Leuchtkugel erloschen war, ließ Bindig den Fuß sinken und sagte leise: »Ich habe noch Zigaretten. Wir können uns welche anstecken. Es hat keinen Zweck mehr, sie aufzuheben.«

Sie brannten Zigaretten an und rauchten. Es waren Zigaretten von Warasin. Lange Pappmundstücke und wenig Tabak.

»Ob sie Timm gefunden haben?« fragte Zado.

Bindig antwortete nicht. Er zog an der Zigarette und blickte auf die Glut.

»Es tut mir leid, daß du nicht wenigstens Timm erschießen konntest«, sagte Zado langsam. »Es tut mir verdammt leid. Er hat Anna getötet, und du konntest ihn nicht dafür erschießen. Es hätte dir nicht so weh getan, wenn du es hättest tun können…«

Die Granatwerfer streuten den Waldtand ab. Die Geschosse prasselten in das Gezweig und zerplatzten mit puffenden, hohlen Detonationen. Dazwischen tackte wieder das Maschinengewehr auf dem Hügel.

»Er war schon tot«, sagte Bindig, »einen Toten kann man nicht noch einmal töten. Er hatte einen riesigen Glassplitter im Hals, die Hälfte davon hing heraus. Man kann selbst Timm nicht zweimal töten.«

»Er hätte es verdient. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß ich Timm so hasse. Ich hätte es ihm gegönnt, sechsmal zu sterben. Zwölfmal!«

»Wir wissen manches nicht. Und wir werden manches nicht mehr erfahren«, sagte Bindig.

Der Panzer schoß ein paar Granaten auf den Hügel. Das Maschinengewehr dort oben schwieg wieder.

»Und manches wissen wir«, sagte Zado, »aber das nutzt uns nichts mehr.« Er zog an seiner Zigarette, und sein Gesicht war sekundenlang von der Glut angeleuchtet. Es war ein blasses, sehr schmales Gesicht mit Falten um die Mundwinkel. Er sagte: »Es ist egal, wie lange wir hier noch liegen. Irgendjemand wird uns finden. Sind es die vom Wald drüben, unsere, dann werden sie mit Sicherheit annehmen, daß wir Russen sind. Sie werden sich freuen, daß sie uns erwischt haben. Sind es die Russen, die oben auf dem Hügel liegen, dann werden sie nachforschen, wer wir sind. Sie werden Timm finden und den Offizier. Für sie wird es die Gerechtigkeit sein, daß wir tot sind. Ich möchte wissen, ob es jemals Leute gegeben hat, die gestorben sind, wie wir sterben.«

Bindig ließ achtlos das Pappmundstück mit dem Rest Glut fallen. Es fiel in die zertrampelte Erde zu Zados Füßen, und die Glut erlosch in dem Gemengsel von Erde und Schnee.

»Noch sind wir nicht tot«, sagte Bindig. »Hör auf, davon zu reden.«

»Ja. Noch sind wir es nicht.« Zado warf seinen Zigarettenrest neben den Bindigs. »Ich wünschte, wir kämen durch. Wir würden Krüppel sein, aber sie würden keine Freude an uns haben…«

»Heutzutage gibt es schon vernünftige Prothesen«, sagte Bindig zögernd, »und ein geschickter Arzt kann deine Därme vielleicht wieder zusammenflicken.«

Zado lächelte, aber Bindig sah es nicht. Er fragte leise: »Was würdest du machen, wenn du hier noch einmal herauskämst?«

Dicht hinter dem Loch barst eine Siebzehnzwo-Granate. Sie sollte wohl dem Waldrand gelten, aber offenbar war das Geschütz zu kurz eingerichtet gewesen.

Während Zado sprach, tackte ununterbrochen das Maschinengewehr auf dem Hügel. Der Panzer schickte ein paar Granaten hinauf, aber sie hatten das Gewehr jetzt sicher eingegraben, und es schoß weiter.

»Wenn ich mir hier in diesem Loch überlege, was ich tun würde, dann sind das solche Sachen, die mir gut und gerne drei Hochverratsprozesse einbringen würden«, sagte Zado.

»Hier in diesem Loch merkt man, was man alles hätte tun können und was man nicht getan hat. Man stellt sich vor, was man würde tun können, wenn man es übersteht.«

Er atmete und preßte die Hand fest auf den Leib dabei. Dann sagte er: »Man müßte nach Hause kommen, und dann müßte man die Leute, die uns hierhergeschickt haben, an die Laternenpfahle hängen. Damit würde man anfangen. Dann die von den Zeitungen, die die Helden fabriziert haben, und die vom Radio. Man müßte die Garnisonen ausräumen und die Stäbe. Bis der Generalstab nur noch über seine Ordonnanzen befiehlt und über niemand sonst. Und dann müßte man ein paar gute Laternenpfähle für den Generalstab suchen und für alles andere, was sonst noch regiert und befehligt hat. Danach wäre der Dreck vorbei. Was dann kommt, weiß ich nicht. Ich habe keine Vorstellung davon.

Vielleicht sind wir überhaupt nur hier in diesem Loch gelandet, weil wir keine Vorstellung von dem haben, was danach kommt…«

Wieder schlug eine Granate in der Nähe des Loches ein und überschüttete die beiden mit einem Regen von Dreck und schmutzigem Schnee.

»Phantasie«, sagte Zado, »alles Phantasie. Wir werden hier nicht mehr davonkommen. Wir hätten uns das alles eher überlegen müssen. Jetzt ist es nur noch Phantasie.«

»Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich hier davonkäme«, sagte Bindig, »ich glaube, ich würde zurückgehen in meine Bibliothek, wenn es sie noch gibt. Ich würde wieder Bücher ausleihen. Bücher lesen. Musik hören. Vielleicht einmal wieder ins Kino gehen. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, das würde alles sein. Was es sonst noch gibt, würde ich denken, nicht tun.«

Er brannte eine neue Zigarette an und gab sie Zado. Dann nahm er selbst eine.

»So ist es«, sagte Zado, »genau so. Pläne haben wir. Aber am Ende würden wir die ganzen Pläne vergessen. Stell dir vor, es hätte uns nicht hier erwischt und wir wären drüben angekommen. Ohne daß es mir die Därme und dir den Knöchel zerrissen hätte. Denke nach und sei ehrlich dabei. Sie hätten uns nach hinten geschickt. Zurück zu unserem Haufen. Weit hinten. Dort, wo du keine Granate mehr hörst und kein Maschinengewehr. Und dann hätten wir uns ausgeschlafen und hätten unsere Verpflegung empfangen und Schnaps und Zigaretten. Es hätte Schokolade für uns gegeben, und wir hätten sie zu den Weibern mitgenommen. Und alles wäre so gewesen wie immer zuvor, nicht anders. Wenn du ehrlich bist, dann wirst du zugeben, daß es so gekommen wäre.«

Bindig nickte. »Ich glaube, ja. Ich hätte nicht gewußt, was sonst zu tun wäre. Ich wäre froh gewesen, noch zu leben, und ich hätte wieder Angst gehabt, das Leben zu verspielen.«

Er schwieg und lauschte dem Maschinengewehrfeuer, das wieder aufgeflackert war. Er hörte Zado sagen: »Das sind wir. Eine Generation, der sie das Rückgrat gebrochen haben. Wie haben es erst gemerkt, als wir uns aufrichten wollten. Wir können uns nicht allein aufrichten. Wir sind zerbrochen. Ich glaube, es ist nie zuvor eine Generation so zerbrochen gewesen wie wir.«

»Warasin hat mir gesagt, daß sie unsere Kriegsmaschine zerschlagen werden. Und danach müßte in Deutschland das Volk lernen, selbst zu regieren. Ich kann mir keine Vorstellung davon machen.«

»Es ist nicht nötig«, sagte Zado, »wir werden das nicht mehr erleben. Vielleicht hätte es sich gelohnt. Aber jetzt ist es egal.« Er sprach sehr langsam und sehr leise. Er holte mehrmals Atem zwischen den Worten.

»Hast du Schmerzen?« fragte Bindig.

»Vorhin, als du fort warst«, sagte Zado, »da habe ich überlegt, was sie aus uns gemacht haben. Sie haben uns genommen, wie wir von unseren Müttern kamen, und haben uns befohlen, was wir zu tun haben und was wir denken dürfen. Sie haben uns gesagt, wer zu töten ist und auf welche Weise. Sie haben uns Orden gegeben und Marketenderschnaps. Sie haben uns in ganz Europa herumgehetzt, so lange, bis uns ganz Europa verflucht hat. Sie haben uns getötet. Lange bevor wir hier in diesem Loch krepieren werden, haben sie uns getötet…«

»Sie?« sagte Bindig.

»Ja, sie.« Zado verzog das Gesicht. Er hustete ein paarmal und keuchte dabei, denn der Husten ließ das Blut aus der Wunde im Leib quellen. »Später wird einmal jeder wissen, wer sie gewesen sind. Wir haben nur eine ziemlich schwache Vorstellung davon. Aber später…«

Drüben am Waldrand war mit einem Male Motorengeräusch. Zuerst war es nur das hohle Blubbern leer laufender Panzermotoren. Aber dann brüllten die Motoren auf, und in das Aufbrüllen der Motoren mischte sich das Geratter von Maschinengewehren. Es war, als würde plötzlich das ganze Feuer noch einmal zusammengerafft. Die Schüsse hackten die Erde auf dem Hügel in Fetzen. Von der Kuppe kam die Antwort und fuhr zwischen die Bäume, die Dunkelheit mit den zerfließenden Fäden der Leuchtspur zerschneidend. Dann krachten dort die äußeren, dünnen Stämme, und die verborgen gewesenen Panzer krochen schaukelnd, sich wiegend, ins Freie. Es waren zwei »Tiger« und ein Sturmgeschütz. Das Sturmgeschütz feuerte aus seinem kurzen Rohr auf die Hügelkuppe. Aus den beiden anderen Panzern kamen die Fäden der Leuchtspur. Das Gebell der Maschinengewehre ging unter im Gerassel der Ketten.

In weitem Bogen fuhr das Sturmgeschütz um den Hügel herum. Die beiden Panzer kurvten im Zickzack heran. Aus den Kanonen in den Türmen schossen die Flammen der Abschüsse.

»Jesus, sie wollen den Hügel haben…«, murmelte Zado, »sie wollen den Hügel…«

Von der Kuppe kam der dumpfe Abschuß der Panzerbüchsen. Dann hingen mit einemmal ein paar Leuchtkugeln in der Luft, und alles war in ihr weißes, kaltes Licht getaucht.

Hinter den Panzern schoben sich ein paar Schützenpanzerwagen aus dem Wald. Es waren kleine, wendige Fahrzeuge, die mit großer Geschwindigkeit herankamen. Und dann sprangen die ersten Infanteristen heran, in den Granatlöchern Deckung suchend, sich immer wieder hinwerfend, und schossen aus ihren Gewehren auf den Hügel. Zwischen ihnen tauchten kleine rötliche Flämmchen aus dem Boden. Die Granatwerfer hinter dem Hügel schossen unablässig. Eine der Panzerbüchsen hatte das Sturmgeschütz getroffen. Es gab einen scharfen, metallischen Krach und eine grelle Stichflamme, von einer schmetternden Explosion gefolgt. Bindig richtete sich auf und hob die Schultern über die Kante des Loches. Mit der einen Hand winkte er dem Schützenpanzerwagen zu, der hin und her kurvte und im Zickzack herankam. »Ich will nicht hier krepieren!« schrie Bindig in das Gehämmer der Waffen. »Ich will nicht… ich…«

Kurz hintereinander gab es zwei schmetternde Detonationen. Die beiden Panzer waren in das Schußfeld der Pak gekommen, die seitwärts des Hügels stand. Qualm und Flammen hüllten sie ein. Sie blieben liegen. Die Panzerbüchsen auf dem Hügel schossen ohne Hast auf die herumkurvenden Schützenpanzerwagen. Immer wenn sie einen davon trafen, platzte er gleichsam auseinander, und die Leiber der Soldaten, die in ihm hockten, wurden im Schein der Explosion durcheinandergewirbelt.

Zado war zusammengesunken. Er hielt noch immer die Hand auf den Leib gepreßt, und seine Augen waren weit offen.

Bindig sah den Schützenpanzer auf das Loch zukommen. Er war weiß getarnt. Wenn er Zickzack fuhr, war das schwarze Balkenkreuz deutlich auf der weißen Farbe zu erkennen. Es waren wieder Leuchtkugeln in der Luft. Bindig sah, daß es ein Wagen mit einem Flammenwerfer war. Von der Seite konnte er den Stahlhelm des Soldaten sehen, der den Flammenwerfer bediente. Er hätte ihn aus dieser Entfernung mit einem einzigen Schuß aus der Maschinenpistole abschießen können. Das Fahrzeug kam näher und näher. Einmal platzte dicht vor seiner Schnauze ein Werfergeschoß, aber die Splitter taten der Panzerung nichts. Bindig hob sich aus dem Loch und winkte. Er war jetzt sehr gut zu sehen in dem Licht der Leuchtkugeln. Er lag halb außerhalb des Loches und schwenkte den Arm über den verbundenen Kopf. Hinter ihm fiel Zado seitlich um. Seine Hand gab den Verband auf dem Leib frei. Bindig sah, wie der Soldat den Flammenwerfer schwenkte. Aus dem Rohr sprühte das Flammöl, und dann leuchtete ein winziger Funke an der Mündung des Rohres auf. Die Hitze schlug Bindig entgegen, als das Öl aufflammte. Er sah die Flamme auf sich zukommen. Es war eine grellgelbe, an den Rändern bläuliche Flamme, die schwarzen, fettigen Qualm aufsteigen ließ. Der Wagen war der letzte. Die anderen brannten zwischen dem Wald und dem Hügel. Aber das konnte Bindig nicht mehr wahrnehmen, denn die Flamme, die auf ihn zusprang, nahm ihm die Sicht und den Atem.

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