Das Dorf

Das Dorf hieß Haselgarten. Es lag einige Kilometer hinter der Front und hatte knapp drei Dutzend Häuser. Sie standen dicht beieinander, um eine gewundene, zerlöcherte, morastige Straße gruppiert, deren Schlamm zu bizarren Formen gefroren war. Nur ein einziges Gehöft lag einige hundert Meter vom Dorf entfernt. Ein nicht sehr großer Hof mit einer an das Haus gebauten Scheune und einem hohen Holzzaun. Dazwischen, weit sich dehnend, war die Ebene. Sie umfing das Dorf.

Flach wie eine Schiefertafel lag die Ebene da, von winzigen Bächen durchschnitten. Der Wald hatte nicht die scharfen Grenzen wie in anderen Landstrichen. Er wuchs wild, scheinbar zügellos. Ließ da eine struppige, buschverfilzte Zunge ins Land laufen, dort eine Gruppe dürrer Lärchen sich Baum für Baum verlieren. Dazwischen gab es weite Äcker und schmale, zerfurchte Wege, ab und zu einen Grenzstein oder einen Brückensteg. Da und dort eine Erhebung, ein flacher Hügel. Sonst nichts. Nur die sanften Kurven des Waldes am Rande der frosterstarrten Ebene und die Krähen darüber mit ihrem heiseren Schrei. Es gab in diesem Dorf keine Bewohner mehr außer der Frau in dem Gehöft abseits des Ortes. Es gab sie und ihren Knecht, und es gab in den Häusern die Soldaten der Frontaufklärungskompanie, ihre Waffen und Geräte, ihre Bekleidung und Verpflegung. Zwischen den Häusern standen die Fahrzeuge. Die Fahrer hatten sie bis weit über die Achsen in die Erde eingegraben, hatten ihnen Zweige und Tarnnetze übergeworfen, sie auf hunderterlei verschiedene Art unsichtbar zu machen versucht. Es waren kleine, geländegängige Schützenpanzerwagen mit Gummipolstern über den Ketten und kantig abgeschrägten Aufbauten, Lastwagen und schnelle, wendige Personenwagen für den Kompaniechef. Ein paar hundert Meter vor dem Dorf lagen die rostigen Gerippe einer Batterie deutscher Flakgeschütze. Die T 34 hatten sie damals überrollt, als die Rote Armee überraschend versuchte, ihre Front über das Dorf hinaus vorzuschieben. Es war ein örtlicher Angriff gewesen, und einige Tage lang war es hin- und hergegangen, bis einige schnell zusammengezogene deutsche Regimenter den Vorstoß aufgefangen und zurückgeschlagen hatten. Seitdem war das Dorf wieder in deutscher Hand, und die Front befand sich einige Kilometer ostwärts. Aber hinter den Flakgeschützen lagen noch die geborstenen Kolosse der beiden T 34, die das deutsche Nachhutkommando aus den Fenstern der Dorfhäuser mit Panzerfäusten abgeschossen hatte.

Der Boden auf den Äckern vor dem Dorf war unter der gefrorenen Kruste zerwühlt und mit Granattrichtern bedeckt. In den Dreck eingefroren waren Ausrüstungsstücke von Soldaten, Patronenhülsen, kurze Rohre von abgeschossenen Panzerfäusten. Es war ein ödes, geschundenes Stück Land, das selbst die gelbliche Wintersonne nicht freundlicher erscheinen lassen konnte.

Bis auf die Soldaten war das Dorf tot. Es verkroch sich hinter seinen niedergebrochenen Zäunen und den zertrampelten Gärten. Die Fenster der verödeten Häuser waren dunkle Höhlen, in denen das Grauen hockte. Manchmal schlug der Wind einen Fensterflügel klirrend gegen die Mauer, oder ein Zauntor bewegte sich knarrend. Die Dunghaufen waren überfroren, weiß bereift. In den Scheunen hatten sich Ratten eingenistet, die wie graue Blitze über die Tennen huschten. Es gab ein paar Tauben, die verloren auf halb eingestürzten Dächern hockten, aber es gab ihrer nicht mehr viele, denn die Soldaten schossen nach ihnen, und sie hatten Übung im Töten. Sie hausten in den wenigen heil gebliebenen Häusern oder in den Kellern der Ruinen. Sie schliefen oder dösten über wochenalten Zeitungen. Sie spielten alle Spiele, die man mit Karten spielen kann, und waren nicht sehr laut, denn ihre Zoten waren verbraucht, riefen kein Gelächter mehr hervor. Gelächter gab es höchstens dann, wenn einer oder mehrere aus einem der Dörfer zurückkamen, die weiter hinten lagen, wo es noch Mädchen gab, von denen man den Kameraden erzählen konnte. An bestimmten Tagen zogen die Soldaten in kleineren Gruppen hinaus in das Gelände um das Dorf herum, übten sich im Schießen, in der geräuschlosen Fortbewegung auf der gefrorenen Erde, in vielem, was nicht in Vergessenheit geraten durfte während des stumpfen Einerleis der dörflichen Tage und Nächte. Zuweilen wurde dann eine Gruppe zusammengestellt und auf ein Fahrzeug verladen. Die Soldaten ließen alles zurück, was ihnen gehörte. Ihre Soldbücher und ihr Geld, die Briefe von den Frauen und den unbekannten Mädchen, die Bilder ihrer Kinder, ja selbst die pornografischen Fotos aus der Zeit in Holland und Frankreich. Sie zogen als Namenlose fort, weiter nach hinten, in die Nähe eines Flugplatzes, wo sie in einer Gegend trainiert wurden, die der Stelle aufs Haar angeglichen worden war, über der sie abgesetzt werden sollten. Sie übten hundertmal an einem Sandkasten ihren bevorstehenden Einsatz, sie krochen die Strecken, die sie nach dem Absprung zurückzulegen hatten, ebenso oft, sie übten sich darin, Puppen aus Stroh anzuspringen und mit dem Messer zu töten, sie exerzierten mit Sprengladungen und Brandflaschen, sie schliefen ein paar Tage im Freien, ohne Decken, so wie sie es später tun würden. Dann empfingen sie alles, was sie brauchten. Die Waffen und die konzentrierte Verpflegung, die Kekse und die Zitronenschnitten, die Schokolade und die Pervitintabletten. Wenn sie abflogen, hatten sie Angst und zitterten. Aber wenn die Maschine sich erhob, begann diese Angst langsam zu weichen. Sie verschwand bei den meisten der Männer, wenn sie den fremden Boden berührten. Ihre Nerven glichen angespannten Stahlsaiten, aber sie wurden zu quälenden, elektrisch geladenen Drähten, wenn die große Spannung nachließ, wenn sie auf dem Rückweg waren, wenn sie wieder landeten oder wenn sie durch die Frontlinien gekrochen waren und alles hinter sich hatten. Das alles lief unter dem nichtssagenden Namen »Spähtrupp« ab, und niemand anderes als die Ic-Offiziere der Heeresgruppen wußten genau, wie das Handwerk der Frontaufklärungsverbände aussah.

Über die Landstraße, die auf das Dorf Haselgarten zulief, knatterte ein Motorrad. Als es im Dorf hielt, stieg der Soldat, der zusammengekauert auf dem Sozius gehockt hatte, umständlich ab, reckte seine Glieder und tippte leicht an die Mütze. Er trug die gescheckte Jacke über dem Uniformrock, hatte die Mütze weit ins Genick geschoben und einen weißen Wollschal nachlässig um den Hals geschlungen. An der Hüfte baumelte ihm eine Pistole in einer abgewetzten Ledertasche. Er war glatt rasiert und hatte einigermaßen saubere Fingernägel unter den Lederhandschuhen. Er stieß ein paarmal mit den Füßen auf die gefrorene Erde und sagte dann mit einem Lächeln um die Mundwinkel: »Der Obergefreite Zadorowski dankt fürs Mitnehmen.«

Er zog eine gefüllte Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und hielt sie dem Fahrer hin. Der zog sich den Handschuh aus und griff zu. Er nahm mehrere Zigaretten und sagte: »Ihr Brüder habt wenigstens immer was zu rauchen.«

»Haben wir«, stellte Zado sachlich fest, »aber dafür habt ihr Stabsmelder immer die Weiber in der Nähe. Auch nicht zu verachten. Brauchst du Feuer?«

»Nein«, sagte der Fahrer, »ich muß weiter zu diesem beschissenen Gefechtsstand von der Infanterie. Die Telefonleitung ist hin, und die merken es nicht mal. Hast du schon die Blonde von unserem Zahlmops gesehen?«

»Habe ich.« Zado nickte. Er überlegte eine Sekunde lang und nahm dann eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. »Klasse!« sagte er, den Rauch durch die Nasenlöcher stoßend. »Hat einen Brustkorb wie die Königin von Saba auf den Zigaretten- schachteln.«

»Ja«, sagte der Fahrer, »aber sie läßt keinen ’ran. Nicht einmal unseren Furier, und der hat nicht bloß Verpflegung zu bieten. Der war mal dafür bekannt, daß er jede herumkriegte.«

Zado sah sich auf der Dorfstraße um. Sie war leer. Er stieß den Rauch aus und sagte: »Schläft wahrscheinlich mit dem Zahlmops. Das hat man öfter.«

Der Fahrer schüttelte den Kopf. Es war ein kleiner, gedrungener Soldat, der wie eine Baumwanze auf dem Sitz der Maschine hockte. »Eben nicht«, erklärte er Zado, »der Zahlmops schläft jede Nacht bei der Frauenschaftstante. Wir passen nämlich auf.«

»Gut«, sagte Zado grinsend. »Sonst habt ihr ja auch weiter nichts zu tun. Aber eine Frauenschaftstante so dicht an der Front? Hat die vielleicht den Treck verpaßt?«

»Ich weiß nicht. Sie hält den Dorfweibern immer Reden. Außerdem hat sie Krampfadern, ich habe es gesehen.«

»Sie sollte etwas dagegen tun. Ich habe Leute gekannt, die an Krampfadern gestorben sind. Und wer schläft nun wirklich bei der Blonden?«

»Niemand«, sagte der Fahrer. Es klang beinahe sehr traurig. »Sie läßt keinen ’ran.«

»Sie wartet auf den Kommandierenden General«, sagte Zado bissig, »sie will eine gute Partie machen. Das ist verständlich. Solche sind teuer, von denen soll man lieber die Finger lassen. Man soll sich nur mit Mädchen abgeben, die solide Preise machen. Laß dir sagen, Deutscher, an der Blonden ist auch nicht mehr dran als an den Schälweibern in der Küche. Wenn die Weiber erst im Bett liegen, haben alle dieselben dämlichen Gesichter.«

Der Fahrer verzog die Lippen. Dann lachte er leise und spuckte aus. Er dachte an die Blonde, und er haßte sie während dieses Lächelns wegen ihrer Starrköpfigkeit. Er sagte, ein Auge dabei leicht zukneifend: »Wenn du wüßtest, was ich ihr an den Hals wünsche…«

»Du bist ein schlechter Mensch«, sagte Zado. Er schüttelte den Kopf und lachte. »Gott straft die schlechten Menschen!«

»Gott ist bei Stalingrad gefallen…«, brummte der Fahrer.

»Ich weiß!« nickte Zado. »Er hat uns seinen Vertreter zurückgelassen. Und die Vorsehung. Damit wir den Krieg nicht verlieren.« Er sah nach der Uhr an seinem Handgelenk und sagte: »Ich will dich nicht fortjagen, Deutscher. Aber in einer halben Stunde kommt die Nähmaschine und besichtigt die Stellungen. Du wirst lachen, aber die schießt auf Meldefahrer. An deiner Stelle würde ich mich jetzt davonmachen…«

Der Fahrer nickte und hielt ihm die Hand hin. Er bedankte sich für die Zigaretten, und Zado wies den Dank mit der Geste eines Millionärs zurück. Während der Fahrer die Maschine antrat, fragte er ihn: »Fährst du morgen wieder diesen Weg?«

Der Fahrer bewegte unbestimmt die Schultern. »Wieso? Bist du morgen wieder bei uns hinten?«

»Leider«, sagte Zado höflich, »ich habe es der Dame aus dem kleinen Haus hinter der Schule versprechen müssen.«

»Ich kann dich schon mal schnell heimfahren«, sagte der Fahrer grinsend. »Die Dame aus dem kleinen Haus hinter der Schule hat einen Leberfleck über dem Nabel.«

»Sehr richtig«, bestätigte Zado ungerührt, »um diesen Leberfleck handelt es sich.« Der Fahrer drehte den Gasgriff und ließ den Motor ein paarmal aufheulen. Dann warf er den Gang ein, und wahrend er die Kupplung losließ, rief er zurück: »Sag mit Bescheid, dann fahre ich dich heim.«

»Gemacht!« brüllte Zado ihm nach. Dann ging er mit seinem tänzelnden Schritt hinter dem davonbrausenden Motorrad die Dorf- straße hinab.

Der Schützenpanzerwagen stand, halb in die Erde eingegraben, an der Rückseite des letzten Hauses von Haselgarten. Es war ein kleines, buntscheckiges Fahrzeug, mit Stahlplatten beplankt. Vorn zwei Räder, hinten den gummigepolsterten Kettenantrieb. Über dem Turm mit der Zweizentimeterkanone war die Funkantenne ausgefahren. Der Wagen hielt die Funkverbindung mit der Division aufrecht. Er war Tag und Nacht besetzt, aber die Funksprüche für die Kompanie waren spärlich. Wenn überhaupt gesendet wurde, dann waren es Einsatzaufträge, verschlüsselte Befehle, eine bestimmte Anzahl von Männern zum Divisionsstab in Marsch zu setzen. Das Fahrzeug hatte auch eine Funkverbindung zur Hauptkampflinie, aber sie wurde nicht benutzt. Die Welle, auf der sich der Verkehr zwischen der Hauptkampflinie und der Division abspielte, war für den Funkwagen unwichtig. So blieb lediglich die Aufgabe, Befehle der Division entgegenzunehmen und an den Kompaniechef weiterzuleiten. Der wohnte in einem der kleinen Bauernhäuser. Er war ein schmächtiger, bartloser junger Mann mit blonden Augenbrauen, der sich kaum um den Dienst kümmerte. Er überließ das lieber den Unteroffizieren. Nur wenn es Entscheidungen zu fällen gab, die er zu verantworten hatte, griff er in den Dienstbetrieb ein. Leutnant Alf war ein Mann mit wenig Fronterfahrung. Aber sein Onkel war der Ic der Division, und ihm verdankte er diese Stellung, in der er lediglich die Aufsichtsperson spielte. Er war noch nie hinter den russischen Linien gewesen, aber das störte die Männer nicht. Sie waren daran gewöhnt, daß nie ein Offizier mitflog.

Um den Wagen herum war die Erde zertrampelt und festgefroren. Es war schwere, tiefbraune Erde. Als sie noch weich gewesen war, hatten die Männer die Gruben für die Fahrzeuge ausgehoben. Es hieß, daß sie nötig wären, wenn Flieger den Ort angriffen. Aber es waren noch keine Flieger dagewesen, seit die Kompanie in diesem Dorf lag. Gelegentlich kurvte einer der langsamen Doppeldecker über dem Gelände, und dann erstarb alles Leben zwischen den Häusern. Doch es schien, als gäbe es hinter den russischen Linien zu dieser Zeit kein anderes Flugzeug als diese surrende, altmodisch anzusehende Maschine.

Ein paar hundert Meter seitwärts von dem an die Wand des letzten Gebäudes geschmiegten Funkwagen lag das einzelne Gehöft inmitten der Wiesen und Gebüsche. Es lag beinahe versteckt in einer kleinen Mulde, man konnte nur das obere Stockwerk und die Dächer sehen. Der Zaun darum war hoch, die Latten ohne Spalt. Stellenweise waren sie ausgebessert, man sah es von weitem an den hellen Flecken.

Das hat der Schwachsinnige gemacht, dachte Thomas Bindig, er hat den Zaun ausgebessert, man kann es sehen. Ob er Tischler ist? Oder Zimmermann? Oder ob er seit der Geburt nichts hört und nicht sprechen kann und seine Sinne nicht beieinander hat? Man kann das nicht wissen. Es gibt Leute, die sind die Hälfte ihres Lebens normal, und dann erleben sie irgend etwas, wovon sie den Verstand verlieren. Er hat dazu die Sprache und das Gehör verloren. Im Krieg? Kaum, denn für den letzten war er zu jung. Da war er überhaupt noch nicht geboren. Und in diesem wird es wohl nicht gewesen sein, denn dann hätten sie ihn in einem Heim behalten. Solche Leute lassen sie nicht aus den Lazaretten weg. Es ist nicht gut, wenn die Menschen sehen, wie einer aus dem Krieg zurückkommen kann. Die Frau scheint ihn gut zu behandeln. Sie scheint ein ruhiger Mensch zu sein, geduldig. Ob sie ein Verhältnis mit ihm hat? Ihr Mann ist gefallen, heißt es. Ob er ihn vertritt? Die Frau sieht gut aus. Gar nicht wie eine Bäuerin. Eher wie eine Lehrerin aus der Stadt. Nur daß sie gröbere Hände hat. Kein Wunder, daß die Soldaten ihr nachblicken, wenn sie sich im Dorf sehen läßt. Selten genug tut sie das. Sie hat ein kluges Gesicht. Und Augen von einer seltsam bräunlich-grünen Färbung.

Bindig hockte auf dem Ledersitz im Funkwagen und starrte durch die geöffnete Luke zu dem einsamen Gehöft hinüber. Er hielt eine Zigarette in der Hand, an der ein langer Aschestumpf hing. Er hatte die Kopfhörer angelegt, aber nicht das Funkgerät war eingeschaltet, sondern das Radio. Bindig hörte Musik. Es war ein Konzert vom Sender Breslau, die Musik klang blechern und verzerrt, aber Bindig lauschte ihr mit der Hingebung des Menschen, der die Musik liebt und sie entbehren muß. Die Bilder glitten vor seinen Augen vorbei, aber sie verwischten immer mehr, und dafür sah er immer deutlicher das Bild der Frau aus dem einsamen Gehöft. Ihre seltsam gefärbten Augen und ihren ruhigen Gang, ihr gerafftes Haar und immer von neuem ihre Augen. Er fuhr erst auf, als draußen an die Stahlplanken des Wagens geschlagen wurde. Verstört zog er die Kopfhörer ab, und im gleichen Augenblick erschien Zados Gesicht vor der Luke. Zado warf einen Blick in den Wagen, nickte dann und brummte: »Dachte ich es mir doch… in eine Ecke verkrochen und die Kopfhörer dran! Warst du den ganzen Tag hier?«

»Ja«, sagte Bindig, »bis vor einer Stunde habe ich geschlafen, und dann bin ich hier eingestiegen.«

»Geschlafen?« sagte Zado kopfschüttelnd. »Du wolltest doch nachkommen. Warum bist du nicht gekommen? Da war noch ein ganz annehmbares Mädchen…«

Bindig verzog das Gesicht, während er das Radiogerät abstellte. Er legte die Kopfhörer auf den Kasten und richtete sich auf. Während er durch die Luke kletterte, sagte er langsam; »Ich habe ein wunderbares Konzert gehört. Manchmal braucht man eben gar kein Mädchen.«

Zado grinste und schob sich die Mütze weit ins Genick. Dann sagte er augenzwinkernd: »Du und deine Konzerte. Laß das nicht den Chef hören oder Timm. Die erklären dich für einen gefährlichen Menschen, wenn du Konzerte hörst. Übrigens habe ich zwei Büchsen Rindsrouladen mitgebracht.«

»Von der Division?«

»Von einer Daniel« sagte Zado. »Von einer Dame, die mit dem Schreiber befreundet ist. Was hältst du davon?«

Zado war wieder der alte. Es schien, als habe ihm der letzte Einsatz nichts angehabt. Als wäre es nur ein Spazierflug gewesen. Bindig betrachtete ihn nachdenklich. Er wußte, daß Zado niemals oder nur selten spüren ließ, was er dachte. Er ließ sich nichts anmerken, und es mochte auch sein, daß er härter war als die anderen. Manchmal ist er undurchsichtig, dachte Bindig. Manchmal weiß man nicht, woran man bei ihm ist.

»Die Rouladen werden wir essen…«, sagte er nebenhin, »aber wir müßten ein paar Kartoffeln dazu haben. Hast du eine Ahnung, ob irgendwo Kartoffeln herumliegen?«

Zado winkte gelangweilt ab. »Die Kartoffeln sind Nebensache. Aber ich möchte diese Rouladen wenigstens von einem vernünftigen Teller essen, nicht aus dem stinkenden Blechgeschirr.«

Er wandte den Kopf und blickte zu dem einsamen Gehöft hinüber. Es lag still unter den aufgebauschten Wolken, die sich langsam zu einer grauen Decke zusammenschoben.

»Es sieht so aus, als ob die dort Feuer haben«, sagte er. »Was hältst du davon, wenn wir bei ihnen essen? Kartoffeln werden sie auch haben.«

»Es ist anzunehmen«, sagte Bindig nachdenklich. »Aber ob sie es machen? Wo hast du die Rouladen?«

»Im Quartier«, erklärte Zado. »Laß mich das nur machen.«

Er ließ Bindig stehen und ging mit schnellen Schritten in das Dorf, um die Büchsen mit dem Fleisch zu holen. Bindig lehnte sich an die Panzerplatten und brannte sich eine Zigarette an. Als Zado schon ein Stück von ihm entfernt war, rief er ihm nach: »Sag dem Funker, daß er wieder zu seinem Wagen kommen soll!«

Zado war bereits zwischen den Häusern verschwunden, als auf der Straße, die in einiger Entfernung an dem einsamen Gehöft vorbeiführte, ein Fahrzeug auftauchte. Es war ein Volkswagen, der mit hoher Geschwindigkeit auf das Dorf zufuhr. Er bremste unmittelbar vor Bindig, und eine Hand mit einem braunen Lederhandschuh winkte dem Gefreiten. Eine außergewöhnlich hohe Stimme rief aus dem Wagen: »Kommen Sie her!«

Als Bindig den Befehl hörte, wußte er sofort, daß diese Begegnung unangenehm ausgehen würde. Er hatte ein feines Gefühl für den Tonfall einer Stimme, und die Stimme aus diesem Auto gefiel ihm nicht. Sie reizte ihn zum Widerspruch.

»Ich habe dienstfrei!« rief er zurück. »Vielleicht bemühen Sie sich selbst her.« Es klang herausfordernd. Die Tür des Autos öffnete sich schwungvoll. Der Mann, der ausstieg, war von hünenhafter Gestalt. Er trug die Abzeichen eines Oberfeldwebels auf der fleckenlosen Uniform. Auf der Brust, an der silbernen Kette, hing das Amtsschild der Feldgendarmerie. Bindig sah es und richtete sich langsam auf, während der Oberfeldwebel auf ihn zukam. Er zog unwillkürlich die Tasche mit der Pistole griffbereit, aber da war der Oberfeldwebel schon bei ihm angelangt, und seine hohe, heisere Stimme bellte wütend: »Wie heißen Sie?«

»Bindig.«

»Herr Oberfeldwebel!« schrie der andere.

»Nein«, sagte Bindig seltsam ruhig, »ich heiße nur Bindig, nicht ,Herr Oberfeldwebel‘!«

Der andere sah ihn ein paar Sekunden lang entgeistert an. Dann kniff er die Augen in seinem runden, blaurasierten Gesicht zusammen und sagte bedrohlich leise: »Wenn Sie nicht gleich Ihre Knochen zusammennehmen und sich wie ein Soldat betragen, erleben Sie, daß ich unangenehm werde.«

Bindig ließ diese Warnung unbeachtet. Er lehnte sich wieder an die Panzerplatte des Funkwagens und sagte gelassen:

»Sie sollten sich daran gewöhnen, daß Sie hier nicht in der Etappe sind, sondern an der Front. Hier wird nicht vor jedem Fatzken strammgestanden.«

Der Oberfeldwebel riß die Augen weit auf und wiederholte mit gerunzelter Stirn: »Fatzke? Sagten Sie Fatzke?«

»Fatzke!«

»Fallschirmjäger?«

Bindig deutete mit dem Daumen auf das Kriegsverdienstkreuz an der Uniform des Oberfeldwebels und sagte: »Sie sollten Ihren Nichteinmischungsorden hier vorn lieber abnehmen. Man wird Sie auslachen.«

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie Fallschirmjäger sind.«

»Ja«, sagte Bindig lächelnd, »beunruhigt Sie das?«

Der andere sah ihn kalt an. »Wir kennen euch. Wie wissen, daß ihr der verkommenste Haufen in dieser Gegend seid. Aber wir kriegen euch! Wo liegt euer Kompaniechef?«

Bindig machte eine unbestimmte Handbewegung. Er wies mit dem Kopf nach dem Dorf und sagte: »Dahinten…«

»Los!« befahl der Oberfeldwebel. »Einsteigen! Zu eurem Kompaniechef I«

Bindig schüttelte den Kopf. Dann sagte er, sich aufrichtend: »Nein. Ich steige nicht gern zu fremden Leuten ins Auto. Ich gehe lieber zu Fuß.«

Er setzte sich nach dem Dorf zu in Bewegung, und dem Oberfeldwebel blieb nichts weiter übrig, als ihm zu folgen. Er winkte dem Fahrer, hinterherzufahren. Der Fahrer war ein Unteroffizier. Er sah Bindig böse an, als dieser an seinem Wagen vorbeiging.

Leutnant Alf hatte geschlafen. Er erschien, nur mit der Hose und der Uniformjacke bekleidet, mit bloßen Füßen in der Tür des Hauses, das ihm als Quartier diente. Als er Bindig neben dem Oberfeldwebel sah, zog er erstaunt die Augenbrauen hoch und fragte, bevor der Oberfeldwebel etwas sagen konnte: »Was ausgefressen, Bindig?«

Bindig nahm eine sehr stramme Haltung an und antwortete schnell: »Nein, Herr Leutnant. Aber der Herr wollte Sie sprechen.« Alf sah mißtrauisch von einem zum anderen. Er ahnte, was sich abgespielt hatte, und nahm die Meldung des Oberfeldwebels schweigend entgegen.

»Meine Leute sind den Umgang mit der Feldgendarmerie nicht gewohnt«, sagte er kurz. »Was wünschen Sie von mir, Oberfeldwebel?«

»Die Disziplinlosigkeit dieses Menschen grenzt an Meuterei!« erklärte dieser. »Ich bestehe auf einer Meldung des Vorfalls.«

Alf knöpfte sich die Jacke zu. »Das, ist Ihre Sache«, erklärte er gereizt. »Was wollen Sie hier?«

»Ich habe einen Vorführungsbefehl für den Obergefreiten Gerhard Bachmann bei mir. Der Genannte befindet sich bei der dritten Kompanie in der Schützen Stellung. Ich muß ihn abholen und erbitte dazu einen Mann von Ihnen, der mich in die Stellung führt.«

»Sie wissen nicht, wo die Kompanie liegt?« erkundigte sich Alf. Er sah über den Oberfeldwebel hinweg und erblickte auf der anderen Straßenseite Zado, der mit zwei Konservenbüchsen in der Hand unbeteiligt an einem halb niedergebrochenen Zaun lehnte.

»Nein«, sagte der Oberfeldwebel, »den Standort der Kompanie kenne ich nicht.«

Um diese Zeit war es an der Front still. Es konnte noch eine halbe Stunde dauern, bis die Granatwerfer der Russen mit ihrem Abendsegen begannen. Bis dahin gab es vorn nur vereinzeltes Gewehrfeuer, aber das war bis hierher nicht zu vernehmen.

»Zado!« rief Alf über die Straße.

Der Angerufene setzte behutsam die Konservendosen auf die Erde. Dann richtete er sich wieder auf und rief zurück: »Herr Leutnant?« Er hatte alles gehört, was zwischen Alf und dem Oberfeldwebel gesprochen worden war.

»Ich brauche den Melder!« rief Ali.

Zado kam mit ein paar schnellen Schritten über die Straße und baute sich so korrekt vor Alf auf, wie der es noch niemals erlebt hatte.

»Der Melder ist zur Division unterwegs, Herr Leutnant!« meldete Zado. »Wegen der Post…«

»In Ordnung.« Alf nickte. »Dann einen anderen Mann, der die Feldgendarmerie zum Gefechtsstand der dritten Kompanie führen kann.«

Zado reckte sich, und der Oberfeldwebel nahm das von der Seite her mit einem befriedigten Bück zur Kenntnis.

»Mache ich selbst, Herr Leutnant. Ich kenne die Stellung.«

»Steigen Sie ein. Fahren Sie mit«, sagte Alf. »Bindig sofort zu mir!«

Der Oberfeldwebel legte die Hand an die Mütze und bedankte sich. Alf winkte ab.

»Bitte Herrn Oberfeldwebel, meinen Stahlhelm holen zu dürfen!“ bat Zado mit ernstem Gesicht.

»Genehmigt!«

Zado streifte Bindig mit einem Blick, während er kehrtmachte und über die Straße lief. Er kniff ein Auge dabei zu.

Als der Wagen abgefahren war, sagte Alf zu Bindig: »Was ist los, Bindig? Die Nerven?«

»Nein. Nicht die Nerven«, sagte Bindig. »Ich bin Soldat, aber ich bin kein Dienstmädchen für diese Greifer.«

Alf wiegte den Kopf. Er hatte an diesem Abend noch die Briefe an die Frauen der vier Gefallenen vom letzten Einsatz zu schreiben. »Bindig«, sagte er leise, »Sie sind ein guter Soldat. Aber wenn Sie so weitermachen, werden Sie eines Tages an einer Buche am Straßenrand baumeln. Der Oberfeldwebel wird Meldung erstatten.« Er sah ihn mit einem Blick an, der beinahe ärgerlich war. »Bindig, es ist unrühmlich, solche Gefechte zu überstehen, wie Sie sie überstanden haben, und danach an einer Buche zu baumeln.« Bindig senkte den Kopf. Er sagte nichts. Er dachte: Es ist unrühmlich, aber es ist das, was uns bleibt. Es ist der Schlußpunkt hinter allem, was wir tun. Ein verdammt unrühmlicher Schlußpunkt.

»Legen Sie sich schlafen«, riet ihm Alf, sich abwendend, »rennen Sie nicht hier herum wie ein Amokläufer. Hauen Sie ab. Ich werde mit dem Oberfeldwebel sprechen, wenn er zurückkommt.«

Zado war erregt, aber er brachte es fertig, die beiden Feldgendarmen nichts davon merken zu lassen. Er täuschte sie so gut, daß die beiden ihn für das Muster eines Soldaten hielten.

Sie waren kaum zehn Minuten gefahren, als der Oberfeldwebel sich an ihn wandte und sich nach Bindig erkundigte. Zado sah angestrengt durch die Windschutzscheibe und antwortete nicht sofort auf die Frage. Die Dämmerung senkte sich über das Land, und der Wägen näherte sich den Artilleriestellungen. Ab und zu war ein Geschütz zu sehen, eine abgestellte Protze oder ein Stapel Granaten. Die Front war beängstigend ruhig an diesem Abend. Weiter links war ein dumpfes Murren zu hören, dort schoß die russische Artillerie bereits. Zado wußte, daß diese Ruhe nichts Gutes verhieß. Solange die Russen mit ihren Siebzehnzwo und den Granatwerfen Streufeuer schossen, war nichts zu befürchten. Immer aber, wenn es ein langes Schweigen gab, folgte ein Feuerüberfall, an dem sich außer den leichten Geschützen die Raketenwerfer beteiligten. Dann kochte die Erde, und es gab keine Hoffnung, lebend zu entrinnen, wenn man in den Feuerschlag hineingeriet. Zado drehte sich halb um und sprach den Oberfeldwebel an. Er sagte sachlich: »Ich empfehle, jetzt den Stahlhelm aufzusetzen, Herr Oberfeldwebel. Man fühlt sich viel sicherer damit, und es ist möglich, daß die Russen gegen Abend ein paar Koffer herüberschicken.«

Der Oberfeldwebel folgte der Aufforderung sofort. Er schnallte den Riemen unter dem Kinn sehr fest, und Zado dachte bei sich, der Helm wird ihn spätestens in zehn Minuten so drücken, daß er Kopfschmerzen bekommt.

»Sie fragten nach Bindig«, sagte er dann. Der Oberfeldwebel nickte eifrig. »Das ist ein schwieriger Fall, Herr Oberfeldwebel«, sagte Zado nachdenklich. »Er geht allein, mit einer Handgranate und dem Messer, ein MG-Nest an. Er hat Auszeichnungen. Ein Soldat, wie er im Buche steht. Aber unlängst schlug er sich mit einem Kameraden, der einen streunenden Hund erschoß. Er schlug ihn halbtot. Am Abend weinte er darüber. Das ist Bindig.« Der Oberfeldwebel bastelte am Riemen des Helmes. Ich werde dir noch mehr erzählen, dachte Zado, ich werde es zuerst so versuchen. Er war sich klar darüber, daß sein Versuch erfolglos bleiben konnte, aber er machte ihn.

»Sieht gar nicht so gewalttätig aus«, bemerkte der Oberfeldwebe! interessiert. »Sieht beinahe aus wie ein lang gewachsener Gymnasiast.«

»Ist er auch!« bestätigte Zado. »Aber er war der beste Schüler bei der Nahkampfschule. Er kennt sich aus. Wenig Muskeln, dafür Schnelligkeit und Härte. Und anatomische Kenntnisse. Das ist äußerst wichtig.«

»So…«, sagte der Oberfeldwebel, »ein Schläger. Ein aufrührerischer Schläger. Der Mann ist ein Meuterer, weiter nichts. Ein harmlos aussehender Meuterer!«

Zado tat bestürzt. Er tat so, als käme ihm die Bemerkung des Oberfeldwebels völlig überraschend. »Bindig ein Meuterer?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Da muß ein Irrtum vorliegen! Ich kenne Bindig sehr lange. Er ist ein Mensch, auf den man sich völlig verlassen kann. Er hat…«

»Ja, ja…« Der Oberfeldwebel winkte ab. »Wir haben da unsere Erfahrungen. Wir kennen unsere Leute. Hinter ihrer Abneigung gegen die Feldgendarmerie verbirgt sich in den meisten Fällen ihre negative Grundeinstellung. Wir werden diesen Bindig übermorgen ebenso vorführen, wie wir heute diesen Gerhard Bachmann vorführen. Wir kennen unsere Leute! Von hundert, die wir vorführen, kehren zwei zu ihrer Einheit zurück. Das ist der Beweis dafür, daß wir unsere Leute kennen.«

Zado schwieg eine Weile. Sie fuhren langsam einen Weg entlang, der sich durch buschbewachsenes Wiesengelände hinzog. Ein paar eingestürzte Unterstände lagen an der rechten Seite. Verrostete Blechkisten, zerquetschte Kartuschen, Fetzen von Zeltplanen.

»Wir nähern uns dem Gefechtsstand der vierten Kompanie«, sagte Zado. »Ich werde mich hier gleich erkundigen, wo die dritte jetzt ihren Gefechtsstand hat.«

Es war ein unerhörtes Wagnis, mit diesem klapprigen Volkswagen bis an den Gefechtsstand heranzufahren. Jeden Augenblick konnte die Artillerie mit der Beschießung einsetzen. Es war hoffnungslos, dann den Wagen wieder heil nach hinten zu bekommen.

Aber Zado hatte seinen Plan bei den letzten Worten des Oberfeldwebels bereits geändert. Er sah ein, daß er mit vernünftigen Worten nichts erreichen würde. Innerhalb weniger Minuten hatte er eine grausame Entscheidung getroffen. Sie fiel ihm leicht, weil es sich um Bindig handelte. Bei jedem anderen hätte er sich taub gestellt, aber bei Bindig war das etwas anderes. Er hing an Bindig. Und Bindig war verloren, wenn der Oberfeldwebel ihn vorführen ließ, das wußte Zado. Er war schon verloren, wenn dieser Oberfeldwebel und sein Fahrer überhaupt wieder zu ihrer Dienststelle zurückkehrten. Zado sagte sich, daß er in der nächsten halben Stunde handeln mußte, wenn er den Freund retten wollte. Er setzte alles auf eine Karte. Während der Wagen auf einen Waldrand zufuhr, der sich kilometerweit vor ihnen erstreckte, gleichsam das Hinterland von der Front trennend, sagte er zu dem Oberfeldwebel: »Ich empfehle, hier am Waldtand zu halten. Ich laufe dann die paar hundert Meter bis zur vierten Kompanie und lasse mich einweisen. Dort werden sie mir auch ungefähr sagen können, wo dieser Bachmann liegt. Da brauchen wir nicht lange herumzusuchen. Es wird ohnehin in der nächsten Viertelstunde finster sein, und dann dürfte der Abendsegen von den Russen kommen. Vielleicht schaffen wir es bis dahin.«

»Wäre vernünftig«, kam von hinten die Stimme des Oberfeldwebels. »Hoffentlich liegt der Kerl nicht gerade im ersten Loch…«

»Hoffentlich!« gab Zado zurück, während der Wagen hielt und er sich ans Aussteigen machte. »Ich werde mit der Dritten telefonieren und mich genau erkundigen.«

»Fixer Bursche«, stellte der Oberfeldwebel fest, nachdem Zado verschwunden war, »diese Fallschirmjäger sind ein gefährlicher Haufen. Man weiß nicht genau, was sie überhaupt treiben. Jedenfalls haben sie irgendein Kommando von großer Wichtigkeit. Und dann solche Subjekte wie dieser Bindig. Der kann einen ganzen Zug solcher Leute versauen wie diesen hier!«

»Eine ganze Kompanie«, bestätigte der Fahrer.

Zado hastete auf dem Waldweg vorwärts. Er kannte die Gegend genau. Er wußte, wo die dritte Kompanie lag, aber er hoffte nur, beim Gefechtsstand der vierten Kompanie noch den Meldefahrer von der Division zu treffen. Mit einem Male wurde der Wald lichter. Das Unterholz war dünn, und man konnte Hunderte von Metern weit sehen bis zum jenseitigen Rand des Waldes, wo sich wieder buschiges Wiesengelände anschloß, in dem die Stellungen lagen. Neben dem Weg hielten leichte Troßfahrzeuge einer Granatwerfereinheit. Die Mannschaften standen herum und rauchten. Zado eilte an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Als er bereits auf Sichtweite an den Unterstand herangekommen war, in dem sich der Gefechtsstand befand, hörte er das Motorrad des Melders. Er lief schneller. Vor dem Unterstand erkannte er den Fahrer, der soeben langsam wendete, um zurückzufahren.

Er erblickte Zado im ungewissen Dämmerlicht und stoppte die Maschine.

»Was willst du hier?« erkundigte er sich kopfschüttelnd. »Hier gibt’s keine Weiber…«

Zado winkte unmutig ab. Er mußte zuerst einige Male tief atmen, er war zu schnell gelaufen.

»Fährst du zurück?« fragte er.

»Ja. Wird Zeit Ich möchte hier nicht eins auf die Rübe kriegen.«

»Du kannst mir einen Gefallen tun«, sagte Zado erregt.

Der andere sah ihn verwundert an und stellte den Motor ab. »Was ist?« fragte er. »Willst du mit heimfahren? Setz dich drauf.«

»Das auch«, sagte Zado, »aber ich muß vorher noch zur dritten Kompanie.«

»Da läufst du erst hierher?« grinste der Melder. »Du weißt doch, daß die viel weiter links drüben liegen. Setz dich drauf, ich fahre dich bin. Aber ich mache das nicht umsonst. Was bietest du?«

»Du sollst dich nicht beklagen«, erklärte Zado. »Du kriegst von mir alle Zigaretten, die ich noch habe, und fünf Schachteln Schokolade.«

»Schön«, sagte der Melder, »aber wie viele Zigaretten sind das?«

»Zehn Schachteln«, antwortete Zado, »anständige. Korfu rot. Ein paar Zigarren sind auch noch da.«

»Die kannst du selbst rauchen«, sagte der Melder grinsend, »aber so viele Zigaretten will ich dir gar nicht abnehmen. Hast du nicht noch ein paar von euren Pervitintabletten?«

»Klar«, antwortete Zado sofort, »eine ganze Handvoll. Wenn du die willst, kannst du sie haben. Aber du brauchst mich gar nicht zur dritten Kompanie zu fahren. Ich brauche dein Krad, weiter nichts. Und das für zehn Minuten. Du kannst hier warten. Dann fahren wir zusammen heim. Einverstanden?« Der Melder schob den Helm ins Genick und kratzte sich über der Stirn in seinem Haar. Er verzog sein Gesicht und kniff ein Auge dabei zu. Dann sagte er: »Was steckt denn da wieder hinter?«

»Reg dich nicht auf!« sagte Zado. »Ich bin schon mehr auf dem Krad gefahren als du.«

»Und warum soll ich dich denn nicht fahren?«

»Weil ich keinen dabei brauchen kann.«

»Sag mir lieber, was los ist, dann kannst du gleich abfahren.«

Zado bedeutete ihm mit ein paar ungeduldigen Handbewegungen, abzusteigen, und der Melder bequemte sich kopfschüttelnd dazu. Er war ein schwerfälliger, gutmütiger Hannoveraner, und Zado war ihm nicht unsympathisch. Er sah erstaunt auf, als Zado sagte: »Es ist weiter nichts los, als daß ein paar Kumpels in Gefahr sind. Die will ich raushauen !«

»Mit meinem Krad?«

»Deinem Krad passiert nichts. Nun mach schon!«

Der Melder stieg ab und überließ Zado kopfschüttelnd das Rad. »Du bist ein verrückter Hund«, sagte er belustigt, »du bist der verrückteste Hund zwischen Ostpreußen und Moskau…«

»Geh einstweilen den Waldweg zurück!« rief ihm Zado noch zu, bevor er abfuhr. »Ich nehme dich dann schon auf!« Er lachte, und der Melder setzte sich, immer noch kopfschüttelnd, in Bewegung. Zado ließ die Maschine laufen. Er gab so viel Gas, daß er auf dem holprigen Waldweg mit einer geradezu verwegenen Geschwindigkeit dahinschoß. Er berauschte sich an dem Tempo. Er verdrängte die Gedanken damit. Zado konnte jetzt keine Gedanken brauchen. Er bereitete sich nüchtern und umsichtig darauf vor, die beiden Männer in dem Volkswagen zu töten.

Als er das Fahrzeug erreicht hatte, erklärte er dem verwunderten Oberfeldwebel: »Sie haben den Melder abgeschossen, und es ist keiner da, der die Maschine zurückbringt. Ich bin der einzige, der sie fahren kann…«

Er wendete und setzte einen Fuß auf den Boden.

»Hören Sie, Herr Oberfeldwebel«, begann er, »die Dritte liegt hier drüben, einen halben Kilometer weiter links. Ich habe telefoniert. Der Bachmann hält sich in der Nähe des Gefechts- standes auf, Sie brauchen ihn nicht zu suchen. Sie werden dort erwartet.«

Der Oberfeldwebel nickte befriedigt. Er stieg ein, und bevor er den Schlag zumachte, rief ihm Zado zu: »Halten Sie sich immer hinter mir!«

Er fuhr hundert Meter in den Wald hinein und bog dann in einen schmalen Seitenweg nach links ab. Als die beiden Fahrzeuge einige Minuten gefahren waren, lichtete sich der Wald vor ihnen. Es war dunkel geworden, und sie mußten langsam fahren. Hinter dem Waldrand war nichts zu erkennen. Das Land lag beängstigend still unter dem wolkenverhangenen Himmel. Hier an dieser Stelle hatte die Frontlinie eine sackartige Einbuchtung. Der Waldrand verlief in einem großen, offenen Bogen, und dazwischen lagen einige hundert Meter freies Feld. Zado wußte das. Er wußte noch mehr. Die freie Ebene, die zwischen den beiden Waldspitzen lag, war Niemandsland. Auf diesem kleinen Fleckchen Erde lagen mehr als hundert sowjetische Minen. Sie lagen schon monatelang in der Erde, aber man hatte sie nicht geräumt, weil die Erde gefroren war. Man nahm lieber die Front ein paar hundert Meter zurück. Zado kannte das Minenfeld. Jeder, der hier eingesetzt war, kannte es. Es waren Minen, von denen ein kleines Drähtchen bis einige Zentimeter über die Erde führte, das die Zündung auslöste, wenn es berührt wurde. Die Minen waren gefährlich. Sie detonierten selbst bei diesem hartgefrorenen Erdboden. Zado wußte, daß es starke Ladungen waren. Sie würden einen Lastwagen zerreißen. Er hielt an der Waldspitze an und rieb sich die Augen. Der Volkswagen fuhr neben ihn, und der Oberfeldwebel erkundigte sich: »Na, sind wir da?«

»Dort drüben…«, erklärte Zado, »da unmittelbar an dieser Waldspitze liegt die Dritte. Sie können ruhig über das Feld fahren, die Russen liegen tiefer und haben keine Einsicht in das Gelände.« Er atmete unhörbar auf, als der Oberfeldwebel befriedigt nickte. Hastig sagte er: »Machen Sie aber besser kein Licht an, man kann nie wissen… Ich muß jetzt umkehren. Der Melder hatte die Tasche voll Zeug, das zur Division muß. Sie haben mir eingeschärft, wie ein Wilder abzurauschen…«

»Brechen Sie sich nicht das Genick«, sagte der Oberfeldwebel gönnerhaft. Er reichte ihm eine Schachtel Zigaretten aus dem Wagenfenster und sagte: »Nehmen Sie zwei, und vielen Dank.«

»Bitte«, sagte Zado heiser, »bitte, Herr Oberfeldwebel. War eine Selbstverständlichkeit.«

Er fuhr ein Stück in den Wald hinein und hielt dort an. Er ließ den Motor laufen und sah zurück. Der Volkswagen fuhr mit surrendem Motor auf die freie Fläche hinaus. Dort gab der Fahrer Gas, und das Fahrzeug brauste mit hoher Geschwindigkeit davon. Aber es kam nicht weit. Das Gesurr des Motors ging plötzlich in einer schmetternden Detonation unter, deren Stichflamme für Bruchteile von Sekunden das Gelände beleuchtete.

Zado sah im Schein der Detonation, wie der Wagen auseinander gerissen wurde. Bevor es wieder still wurde, klatschten ein paar Blechteile irgendwo auf den Boden. Ein Stück Metall schlug gegen einen Baumstamm. Dann war es still. Kein Laut, kein Schmerzensschrei, nichts. Zado lauschte eine Minute und noch eine. Dann hörte er von der anderen Waldseite her Stimmen, aber das waren Soldaten von der dritten Kompanie, die durch die Explosion aufmerksam geworden waren. Sie würden nichts finden, das wußte Zado. Die russischen Minen ließen von einem so leichten Fahrzeug nichts weiter übrig als den Explosionskrater und ein paar geschwärzte Blechfetzen. Vielleicht eine abgerissene Hand oder einen Fuß. Das würde alles sein. Er ließ die Maschine anfahren und jagte sie in halsbrecherischem Tempo zurück. Auf dem Rücken spürte er den Schweiß, der im scharfen Fahrtwind langsam erkaltete. Er traf den Melder unweit der Stelle, an der der Volkswagen ihn erwartet hatte. Als er vom Fahrersitz stieg, sagte er mit trockener Kehle: »Zu spät. Ich habe sie nicht mehr erwischt. Sie sind in die Minen gefahren.«

»Ich habe es gehört«, sagte der Melder teilnahmslos, »welche von uns?«

»Ich weiß nicht«, gab Zado zurück, »ein Oberfeldwebel und ein Unteroffizier. Sie fragten mich nach dem Weg zur Dritten, und ich sagte ihnen, daß da vorn die Minen wären, aber sie fuhren dann doch drauflos, und ehe ich mit dem Rad hinterherkam, waren sie schon drin.«

»Pech«, sagte der Melder. Er stieg auf und bedeutete Zado mit einer Kopfbewegung, sich auf den Soziussitz zu hocken. »Laß uns hier verschwinden. Mir kommt diese Stille heute abend nicht geheuer vor…«

Sie waren hundert Meter gefahren, als Zado das Rollen hinter der Front der Russen hörte. Es war ein dumpfes, grollendes Geräusch, das dem Ton mehrerer großer Trommeln glich, die in einem monotonen Rhythmus geschlagen wurden. Zado beugte sich nach vorn und schrie dem Fahrer ins Ohr: »He, sieh zu, daß du aufdrehst, es geht los!«

Aber es war zu spät. Die erste Lage Granaten schlug in den Wald. Sie krepierte zwischen den Bäumen, mit einem hellen Geflacker der einzelnen Einschläge. In das Geprassel der niedergerissenen Äste mischte sich das bösartige Jaulen der Splitter, die von den Stämmen abprallten. Der Meldefahrer trieb die Maschine vorwärts, aber soviel er auch an Geschwindigkeit aus ihr herausholte, es war zu spät, dem Feuer zu entfliehen. Der Melder wußte das. Er suchte mit den Augen den Wegrand ab, und plötzlich bremste er so scharf, daß Zado beinahe von seinem Sitz fiel. Neben dem Weg lag einer der alten, verfallenen Unterstände des Granatwerferzuges. Die Stämme, die ihn gegen direkte Volltreffer schützen sollten, waren durcheinander geraten, wahrscheinlich hatte irgendeine andere Einheit, die vorbeigezogen war, Brennholz gebraucht. Aber es blieb der Einstieg in die mehr als zwei Meter tiefe, modrig stinkende Grube. Zado begriff sofort, was der andere wollte. Er sprang von seinem Sitz und trat ein paarmal mit großer Wucht gegen die Wand des Einstieges. Binnen einiger Sekunden hatte er das Loch so erweitert, daß der Melder die Maschine hin- durchschieben konnte. Als die nächste Lage Granaten in den Wald schlug, waren die beiden noch dabei, in den Unterstand zu verschwinden, die dritte Lage jedoch schlug ein, als sie bereits in dem Loch untergetaucht waren.

Die Russen schossen mit den üblichen Siebzehnzwo, aber bereits nach der ersten Lage gurgelten die Werfergranaten dazwischen. Die Siebzehnzwo kämmte das Waldstück ab; sie begann an der Vorderkante, die sich bei Tage von drüben aus gut anmessen lassen mußte. Sie schossen die erste Lage genau fünfhundert Meter hinter diese Vorderkante, dorthin, wo sie die Gefechtsstände vermuteten. Die zweite Lage schlug ein paar hundert Meter hinter dieser Stelle ein, genau dort, wo sich in diesem Augenblick die befinden mußten, die aus den gefährdeten Gefechtsständen und Munitionsbereit-stellungen zurückliefen, um das Feuer weiter hinten abzuwarten. Sie hatten ein klug ausgerechnetes System in ihrem Feuer. Man spürte sofort, daß sie keinen Angriff vorbereiteten, denn sie ließen die Kampflinie beinahe völlig in Ruhe. Sie wußten, daß um diese Zeit das Abendessen nach vorn kam. Es befand sich nach ihren Berechnungen jetzt gerade in der Nähe der Gefechtsstände. Dort zerschlugen sie es. Dann kamen die Munitionsbereitstellungen an die Reihe, dann die Werferstellungen und zuletzt die Artillerie. Dazwischen immer wieder das Waldstück, wo alle die Zuflucht suchten, die sich weder bei den Gefechtsständen noch bei den Werfern oder der Artillerie aufhalten wollten.

Während die Granaten mit dem ihnen eigenen, schmetternden Krach barsten und ihre kreischenden Splitter durch das Gewirr der Baumäste sandten, explodierten die Werfergeschosse, die die Soldaten am meisten fürchteten, mit dumpfem, trockenem Knall. Die Werfergeschosse waren nicht zu hören. Sie waren ganz plötzlich da, über ihnen in der Luft, fielen vom Gipfelpunkt ihrer Flugkurve fast senkrecht herab und verstreuten eine Unmenge winzigkleiner Splitter sehr flach über dem Erdboden. Dagegen gab es kaum eine Deckung, wenn man nicht gerade in einem Loch hockte. Die Werfergeschosse waren überall. Beim Aufschlag erzeugten sie kleine, grelle Flämmchen, die sofort erloschen. Sie erfüllten die Luft mit ihrem Gegurgel und dem Zirpen der winzigen Stahlsplitter. Die Granateinschläge nahmen sich gegen sie beinahe wie plumpe, ungefährliche Riesen aus.

Der Meldefahrer hatte die Maschine so in das Einstiegloch des Unterstandes geschoben, daß sie nahezu verdeckt wurde. Dahinter, im Dunkel, an die rissige, mit Wurzeln verstrüppte Wand gedrückt, hockte er selbst. Er hatte sich nicht hingelegt, sondern nur zusammengekauert, als hielte er es für besser, den Körper so klein wie möglich zu machen. Zado hockte neben ihm, die Beine angezogen, nach der Öffnung starrend. Dort zuckten unablässig die Lichter der Explosionen auf, grell, wenn sie in der Nähe lagen, oder schwach, wenn sie weiter entfernt waren. Manchmal verschmolzen die einzelnen Detonationen sekundenlang zu einem einzigen, unablässigen Dröhnen und Krachen. Dann zog Zado unwillkürlich den Kopf ein. Er war nicht an Artilleriefeuer gewöhnt. Es hatte ihn selten erwischt. Einesteils fühlte er sich in dem Unterstand sicher, aber andererseits befürchtete er, daß eine der Granaten plötzlich in die Decke schlagen konnte. Dann werden sie von uns ebenso wenig finden wie von den beiden mit ihrem Volkswagen, dachte er.

Der Melder bewegte sich. Er ruckte mit dem Oberkörper hin und her wie eine Maus, die vor ihrem Loch hockt. Dann kam er mit seinem Gesicht Zados Ohr nahe und sagte so laut, daß Zado es im Gepolter der Einschläge gerade noch verstehen konnte: »Jetzt hätten wir schon zu Hause sein können… wenn du nicht hinter diesen beiden Trotteln hergefahren wärst…«

Er ließ sieh wieder zusammensinken und hielt die Hände ängstlich vor das Gesicht. Vor dem Unterstand krepierte mit kreischendem Ton eine Granate. Für einen Augenblick war das Loch hell erleuchtet. Zado sah, daß vor ihm, auf der festgestampften Erde, ein abgebrochenes Seitengewehr lag. Es war ein deutsches. Es war verrostet, und der Griff war in den Boden getreten.

Noch ehe das Schlaglicht der Granate erlosch, klirrte ein Splitter ins Gestänge der Maschine. Der Melder seufzte auf; »Fehlt noch, daß sie mir die Mühle zerschießen… dann kann ich zur Infanterie marschieren…« Nach einer Weile fügte er vorwurfsvoll hinzu: »Und alles deinetwegen…«

Zado antwortete ihm nicht gleich. Er dachte an die beiden, die in das Minenfeld gefahren waren. Es ist eigentümlich, sagte er sich, man kann töten, ohne sein Gewissen zu belasten. Er wußte schon jetzt nicht mehr, wie die beiden ausgesehen hatten. Er hatte sie beinahe vergessen. Es würde ihn auch nichts weiter an sie erinnern. Er hatte sie getötet, darüber gab es keinen Zweifel. Ebensowenig darüber, daß es nötig gewesen war, sie zu töten, wenn Bindig, dieser Hitzkopf, nicht zu irgendeiner Strafeinheit kommen sollte. Aber was lag schon an ihrem Tod? Zado versuchte den Unterschied herauszufinden zwischen den drei Russen, die er beim letzten Einsatz getötet hatte, und diesen beiden Männern. Es gab diesen Unterschied. Allein die Qual der Erinnerung bewies es. Bei diesen beiden Männern würde es keine Qual geben. Sie waren tot. Gut. Sie waren so tot, als wären sie neben Zado an dem Geschoß irgendeines fremden Scharfschützen gestorben, nicht an der Mine, über die er selbst sie berechnend und kalt geschickt hatte.

Er duckte sich unter dem nächsten Einschlag und schüttelte unwillig die Erdklumpen aus dem Genick. Er hatte sich an das Feuer gewöhnt. Er hatte nicht geglaubt, daß es so schnell gehen würde, aber jetzt störte es ihn kaum noch. Es konnte einschlagen, dann war es aus. Oder durch das Gestänge der Maschine hindurch konnte ein Splitter ihm den Hals zerreißen, das Gesicht. Egal. Man konnte es nicht ändern.

Er griff nach einer Zigarette. Während er sie anrauchte, erinnerte er sich an den Melder. Er gab ihm ebenfalls eine Zigarette. Der Mann brannte sie mit zitternden Händen an. Sein Gesicht war schweißüberströmt, Zado konnte es im Schein des Feuerzeuges sehen.

»Rauch!« sagte er. »Wenn die mit ihrer beschissenen Schießerei aufhören, fahren wir gemütlich heim.«

»Sie zerschießen mir die Maschine…«, sagte der Melder. »Sie zerschießen mir die Maschine, und ich muß zur Infanterie…«

Sie werden nicht nach den beiden suchen, dachte Zado. Auf das Minenfeld können sie sowieso nicht, und übrigens ist die Sache auch sonnenklar: Die beiden wollten sich den Weg abkürzen und sind auf die Mine gefahren. Sie hatten vergessen, daß ich sie davor gewarnt hatte. Ich war ja schon auf dem Heimweg, denn sie entließen mich, als sie den Weg nicht mehr verfehlen konnten, und ich fuhr mit dem Melder weiter. Ich sah sie verkehrt fahren und wollte sie noch retten, aber es war zu spät, sie waren schon mittendrin. Unvorsichtige Burschen. Wer wird da schon etwas anderes vermuten. Schlimmer, wenn sie irgendwo hier im Wald lägen mit einer Pistolenkugel im Kopf.

Aber so – kein Mensch wird argwöhnisch werden. Es ist ein ganz natürlicher Vorfall. Das gibt es hundertmal und öfter. Ob es deshalb so leicht gewesen ist? Oder weil es um Bindig ging? Zado zog an der Zigarette und blickte versonnen auf das Einstiegsloch.

Die Einschläge lagen jetzt weiter entfernt. Das Feuer wanderte nach hinten. Die flackernden Lichter waren schwächer, sie erhellten die Gegend um den Unterstand nicht mehr.

»Wenn bloß die Maschine nicht kaputt ist…«, sagte der Melder. »Ich habe keine Lust zur Infanterie…«

Ob Bindig Angst hat? fragte sich Zado. Er wird keine Angst haben. Es wird ihm egal sein, was sie mit ihm machen. Bei Licht besehen, können sie uns gar nicht mehr erschrecken. Mit nichts. Wir sind an das Schlimmste gewöhnt. Vielleicht ist die Strafkompanie dagegen eine Erholung. Vielleicht. Es ist nicht gewiß, denn es ist von dort noch keiner zurückgekommen. Aber immerhin ist es möglich. Ich werde Bindig nichts davon sagen, daß ich die beiden in die Minen gelotst habe. Es ist gut, wenn es niemand außer mir weiß. Bindig würde nie ein Wort davon verlauten lassen, das ist sicher. Aber ich werde es ihm trotzdem nicht sagen. Sonst bildet er sich dauernd ein, daß er sich erkenntlich zeigen muß. Unsinn, erkenntlich zeigen! Er soll lieber lernen, die Schnauze zu halten und sich zu beherrschen. Ein Feldgendarm, mit dem man Streit bekommt, muß fünf Minuten später tot sein, oder man ist selber ein toter Mann. Das muß er endlich einsehen, der liebe Bindig. Es ist nicht der erste Feldgendarm, der an dieser Kante umgelegt wurde. Es gibt zu viele von ihnen hier herum.

Schörner hat hinter jeden Soldaten einen Feldgendarm gestellt. Bloß in der Luft hat er keine. Dafür aber auf den Flugplätzen. Hinten, in den Dörfern, surren sie mit Volkswagen herum wie die aufgescheuchten Hummeln. Hitler hat gesagt, das letzte Bataillon, das nach diesem Krieg marschiert, wird ein deutsches sein. Voraussichtlich wird es aus Feldgendarmen bestehen.

»Gib mir noch eine Zigarette…«, bat der Melder. Er rückte an Zado heran. »Wenn bloß an der Maschine nichts kaputt ist! Am schlimmsten ist es, wenn der Tank und die Leitungen was abgekriegt haben. Der Zylinder geht von Splittern kaum kaputt, aber das andere Zeug…«

Zado gab ihm eine Zigarette und lehnte sich zurück. Dabei sagte er: »Ich glaube, es nimmt ab. Die Spucker haben schon aufgehört.« Es stimmte. Die Granatwerfer schwiegen. Nur die Siebzehnzwo schossen noch. Aber auch ihr Feuer wurde schwächer. Zwischen den einzelnen Einschlägen, die weit entfernt lagen, hörte man Verwundete schreien. Zado dachte wieder an die beiden in dem Minenfeld. Sie sind unerhört schnell gestorben, dachte er. Sie wissen nichts mehr von diesem Feuer. Sie haben überhaupt nichts gewußt. Ihnen wäre es zu gönnen gewesen, ein paar Stunden mit aufgerissenem Leib im Wald zu liegen. Er schüttelte den Kopf. Wie leicht es einem fällt, solche wie diese zu töten, dachte er. An die beiden Russen, die in der Bahnwärterbude schliefen, werde ich noch monatelang denken müssen. Aber an die…

»Du…«, erinnerte ihn der Fahrer, »das mit den Zigaretten brauchst du nicht zu machen. Ein paar Schachteln genügen. Und eine Schachtel Schokolade. Ich will dich nicht ausnehmen. Schließlich kostete es mich ja nichts, als ich dir die Maschine gab. Aber ein paar von den Pervitintabletten… wenn ich manchmal in der Nacht fahre. Sie geben uns keine. Wenn es nach unserem Chef geht, kannst du auf dem Sattel einschlafen, Hauptsache, die Meldung kommt an…«

»Du bekommst welche«, versprach Zado, »ich werde dir eine ganze Handvoll geben, denn ich nehme die Dinger niemals, und wir bekommen bei jedem Einsatz frische.«

Als das Feuer verstummte, schoben sie die Maschine wieder auf den Weg. Sie hörten Fahrzeuge durch den Wald brummen. Hin und wieder rief irgendwo eine Stimme nach dem Sanitäter. Weiter rechts rumorten noch kleinere Kaliber. Von dort kam auch vereinzeltes Gewehrfeuer. Dazwischen stiegen Leuchtkugeln über den Wald und segelten langsam wieder abwärts. Der Meldefahrer trat die Maschine an. Er horchte ungläubig auf den Motor, der sofort störungsfrei lief. Er suchte mehrere Minuten nach der Stelle, an der der Splitter aufgeschlagen war, den sie gehört hatten, aber er fand nichts.

»Zu dunkel!« schrie er Zado ins Ohr. »Wird nicht viel gewesen sein. Jetzt aber nichts wie fort!«

Sie fuhren an einer Kette von Fahrzeugen vorbei, die langsam heranrollten. Es waren Mannschaftswagen. Über die Sitze waren Bahren gelegt.

»Muß ganz schön ’reingehauen haben…«, rief Zado, aber der Fahrtwind riß ihm die Worte vom Mund, und der Melder hörte sie nicht.

Er gab zuerst dem Melder die Zigaretten und die Pervitin-tabletten, als sie im Dorf angelangt waren. Erst danach meldete er sich bei dem Leutnant. Das Gesicht Alfs war im Grunde ein Kindergesicht. Nur fehlte ihm die Naivität eines Kindergesichts. Alf konnte nicht verbergen, daß er ein berechnender Mensch war, es stand auf seinem Gesicht geschrieben, in seinen Augen. Es war eine Art Berechnung, wie man sie öfter antrifft: ein Mensch, der sich selbst grenzenlos offen eingesteht, daß seine Anlagen und seine erworbenen Fähigkeiten nicht ausreichen, das zu erfüllen, wofür man ihn bestimmt hat. Ein Mensch, der aus diesem Grunde die Klaviatur der sanften Verbindlichkeit so lange geübt hat, bis er sie mit raffinierter Sicherheit beherrschte und mit ihrer Hilfe die Wechselfälle, die sich aus dem Mißverhältnis zwischen seinen Fähigkeiten und seinen Aufgaben ergaben, zu meistern verstand, je nach den Umständen ungestüm oder zögernd, manchmal scharf oder mit scheinbarer Nachsicht, die nichts weiter war als in Berechnung umgemünzte Unfähigkeit. Er verbreitete um sich eine Atmosphäre behaglicher Gutherzigkeit. Er verbreitete sie sehr bewußt, und gerade deshalb merkte selten jemand, daß es nur Berechnung war.

Alf war einer von den Offizieren, die auf diese Art mit ihren Soldaten umgingen. Sie genießen bei der ihnen unterstellten Truppe den Ruf eines gemütlichen, großherzigen Vorgesetzten, der klug genug ist, über kleine Widersetzlichkeiten und Abweichungen von der Dienstregel hinwegzusehen, und sich nicht in Dinge einmischt, die von den Soldaten gern unter sich ausgemacht werden. Er verstand es, seine Unteroffiziere und Feldwebel so einzusetzen, daß niemals jemand auf die Idee kam, er hätte nicht alle Fäden in der Hand.

Aber in Wirklichkeit hatte er nichts weiter in der Hand als ein paar gehorsame Unterführer, die sich von ihm abhängig fühlten und danach trachteten, ihm angenehm aufzufallen, weil sich daraus Vorteile für sie selbst ergaben. Dieses Verhältnis übertrug sich in gewisser Weise auf die einfachen Soldaten, die ebenfalls bestrebt waren, nicht den Unwillen ihrer Unteroffiziere zu erregen, weil daraus Unbequemlichkeiten erwuchsen.

Auf diese Weise regierte sich die Kompanie eigentlich von selbst und doch nicht von selbst, sondern das Verhältnis der einzelnen Dienstgrade zueinander war bestimmt durch die außergewöhnliche Art ihres Einsatzes und die betont lockere Auffassung vom Leben zwischen den dicht oder weniger dicht aufeinander folgenden Fronteinsätzen.

Es war eine eigenartige Einheit, diese Frontaufklärungs-kompanie. Beim Regimentsstab hatte man sie zwar nicht vergessen, aber man beachtete sie kaum. Sie hatte ihre Aufgaben, und damit war die Sache auf der richtigen Bahn. Die Division beurteilte den Wert und die Kampfmoral der Kompanie nach den Erfolgen, die bei den Einsätzen errungen wurden. Dort sah man sich die Leute an, die zum Einsatz kommandiert wurden. Man überprüfte sie auf ihre Gefechtstauglichkeit und auf ihre Zähigkeit und Ausdauer. Man stellte ihnen im Rahmen der Vorbereitung bestimmter Einsätze kleine Aufgaben und maß so ihren Wert. Das war genau besehen die einzige Verbindung, die die Einheit mit der übrigen Welt der Militärmaschine besaß. Es gab niemanden, der dieser Kompanie etwas zu befehlen hatte, außer dem Divisionsstab und dem Kompaniechef.

Es gab niemanden, der sie kontrollierte, außer dem Ic der Division, und der hielt nicht viel von Kontrollfahrten, die in den Frontbereich führten. Die Truppe aber hatte laut Armeebefehl im unmittelbaren Bereich der Front stationiert zu sein. Dieser Befehl galt weniger der Stärkung der Front an der betreffenden Stelle, denn es bestand die Anweisung, daß die Kompanie nur auf höheren Befehl in der Hauptkampflinie eingesetzt werden durfte.

Er galt vielmehr der Verbindung der Kompanie mit dem täglichen Kampfgeschehen an der Front. Die Männer sollten den Klang der Artillerieduelle, das Pfeifen der Geschosse und das Heulen der Tiefflieger nicht aus den Ohren verlieren. Ihre Nerven sollten die Hochspannung behalten, die nötig war, wenn sie eingesetzt wurden. Ihre Nerven, ihr ganzer Organismus durften nicht der absoluten Ruhe ausgesetzt werden, weil jene Ruhe nach Meinung der Armeeführung die Trägheit in ihnen wecken würde, die Angst vor dem nächsten Flug, mit einem Wort, die Unzuverlässigkeit.

Leutnant Alf saß an einem roh zusammengezimmerten Tisch in der Stube des Hauses, das dem Kompaniestab als Unterkunft diente. Er hatte den Federhalter in der Hand und schrieb an den Briefen, die den Frauen der vier Gefallenen den Tod ihrer Männer mitteilten. Als Zado eintrat, nickte er nur, und an einem Satz weiterschreibend, fragte er beiläufig: »Na, alles in Ordnung?«

Er schrieb den Satz zu Ende und hob den Kopf, denn ihm war aufgefallen, daß Zado allein zurückkam und der Oberfeldwebel, der über Bindig Meldung erstatten wollte, nicht dabei war. Er sah in ein verschmutztes, von Anstrengung gezeichnetes Gesicht, als er aufblickte. Er wollte verwundert fragen, was es gegeben habe, aber Zado hatte schon den Mund geöffnet und berichtete ihm, daß die beiden Gendarmen auf die Minen gefahren waren. Er berichtete von dem Feuerüberfall und seinem Versuch, die beiden Gendarmen zu warnen, als er merkte, daß sie den falschen Weg einschlugen. Er erzählte das alles so sachlich und ruhig, daß selbst Alf nicht ahnte, was wirklich vor sich gegangen war.

Er kannte Zado und wußte, was er von ihm zu halten hatte. Erst nachdem Zado geendet hatte, kam er auf den Gedanken, daß es zwischen dem Zusammenstoß Bindigs mit den Gendarmen und ihrem plötzlichen Tod eine Verbindung geben könnte. Alf überlegte. Er sagte sich, daß die beiden Gendarmen tot waren und nicht mehr sprechen konnten.

Er beschloß, diese Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Es war die bequemste Art, mit ihr fertig zu werden. Er stand auf und trat an Zado heran. Der nahm im gleichen Augenblick wieder diese außerordentlich korrekte Haltung an, die Alf sonst bei ihm nicht gewohnt war. Das bestärkte ihn in seiner Ansicht, daß Zado etwas zu verbergen hatte. Irgend etwas.

Er sagte sarkastisch: »Warum spielen Sie mit einemmal den Paradesoldaten, Zado? Hat der Tod der beiden Feldgendarmen Ihre Disziplin so plötzlich verändert, oder was sonst?«

Zado biß sich auf die Unterlippe. Er wußte, daß er einen Fehler begangen hatte. Er hätte sich ohrfeigen mögen. Du bist doch noch nicht borniert genug für solche Sachen, sagte er sich. Du hast dafür gesorgt, daß diese beiden Greifer nicht zurückkommen, aber du bist selbst noch nicht ganz damit fertig geworden. Alf ist klüger, als er aussieht. Und du hast es ihm leichtgemacht. Es wird sich zeigen, was Alf für ein Mensch ist. Er sah den Offizier an.

Alf griff in die Tasche und hielt Zado das geöffnete Zigarettenetui hin. Es waren gute Zigaretten. Er sagte leise: »Bitte.« Es war nichts aus seiner Stimme herauszuhören, kein Mißtrauen, keine Mißbilligung, aber Zado wußte trotzdem, daß er Alf unterschätzt hatte. Er nahm die Zigarette und beeilte sich, Alf ein brennendes Zündholz hinzuhalten. Eine Weile standen sie sich gegenüber und rauchten schweigend. Zado blinzelte in die trübe Petroleumlampe, die die Stube erhellte. Sie war im Vergleich zu der übrigen Einrichtung geradezu ein Luxusgegenstand. In der Stube standen nur noch ein paar Kisten, die Alfs Gepäck enthielten, ein Stuhl und eine ziemlich rostige Eisenbettstelle, die unter Verwendung einiger Matratzen und Decken in eine Schlafstatt verwandelt worden war.

Er hält nichts von Komfort, dachte Zado, ich habe Quartiere von Offizieren gesehen, die Salons glichen. Vielleicht ist er zu faul, sich Zeug zusammenzuholen. Oder er will seine Genügsamkeit demonstrieren. Wer weiß das?

Zado blickte angestrengt auf ein über der Bettstelle schief an der Wand hängendes Bild, das einen blühenden Kirschbaum vor einem idyllisch gelegenen Bauernhaus zeigte. Es war ein billiger, fliegenbeschmutzter Druck, verblichen und verfärbt.

Er ist unordentlich, dachte Zado. Er hat wahrscheinlich immer jemanden gehabt, der sein Zeug in Ordnung hielt. Wenn er es allein machen muß, läßt er alles liegen, wie es liegt. Ein Muttersohn, der Krieg führt. Ein Pennäler, der seit der Kriegsschule den Endsieg in der Tasche zu haben glaubt. Man weiß nicht, was man von ihm halten soll. Solche Menschen können einem das Genick brechen.

Alf streifte die Asche von seiner Zigarette. Er ließ sie achtlos auf den Fußboden fallen. Der Fußboden war unsauber. Abgebrannte Zündhölzer lagen herum und zertretene Zigarettenreste. Zado stellte plötzlich fest, daß er immer noch den Stahlhelm auf dem Kopf hatte. Er nahm ihn verwirrt ab und strich sich das Haar zurecht.

»Haben Sie sich davon überzeugt, daß die beiden tot sind?« erkundigte sich Alf. Er hatte sich auf die Kante des Tisches gehockt und sah Zado an.

Der sagte außerordentlich ruhig: »Jawohl, Herr Leutnant. Ich habe mich davon überzeugt, daß sie tot sind. Es wird aber leider nicht möglich sein, ihre Überreste zu bergen. Sie wissen, das Minenfeld…«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Alf, »dieses Minenfeld war ein sehr glücklicher Zufall, nicht wahr, Zado?«

»Ich verstehe nicht, Herr Leutnant«, sagte der vorsichtig.

»Nicht nötig«, sagte Alf, »ich meine, es ist nicht nötig, daß Sie meine Gedanken verstehen. Was halten Sie eigentlich von Feldgendarmen im allgemeinen?«

Zado spürte, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Er ärgerte sich, daß er den Stahlhelm abgenommen hatte. Alf würde den Schweiß sehen. Er beschloß, diesem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Es war ein Versuch, Alf zu täuschen, und er fing es einigermaßen geschickt an. Nicht geschickt genug, um Alf wirklich zu täuschen.

Er sagte freimütig; »Ich halte nichts von der Feldgendarmerie, Herr Leutnant. Ich halte sie für überflüssig.«

Alf lächelte. Er blickte Zado eine Weile wohlwollend an und sagte; »Diese Auffassung teilen Sie offensichtlich mit Bindig. Habe ich recht?«

»Ich weiß nicht genau, wie Bindig darüber denkt«, sagte Zado vorsichtig.

»Aber ich!« bestätigte ihm der Leutnant. »Und vor allem die beiden Feldgendarmen, die Sie geführt haben, die wissen das ganz genau. Sagen wir: Sie wußten es, denn ein Toter weiß nichts mehr. Er kann auch nichts mehr aussagen. Er kann niemand mehr etwas tun und nichts veranlassen. Der Tod hat seine guten Seiten, wenn man es so betrachtet.«

Zado atmete auf. Er fühlte sich in diesem Augenblick ein wenig sicherer, weil er nun wußte, woran er mit Alf war. Er sagte nachdenklich: »Das ist eine philosophische Frage, Herr Leutnant. Ich habe das bißchen Philosophie aus meiner Schulzeit beinahe vergessen…«

»Sagen Sie das nicht!« korrigierte ihn Alf. »Sie bilden sich nur ein, es vergessen zu haben. Philosophie ist nichts, was man vergißt. Es ist wie eine Substanz, die ins Blut geht. Man trägt sie in sich und kann sie nicht mehr verlieren. Alles, was man tut, ist auf dieser Philosophie gewachsen. Auch bei Ihnen. Und auch wenn Sie das nicht zu wissen vorgeben, Zado.«

»Es ist möglich, Herr Leutnant«, gab Zado zu, »ich bin in diesen Dingen nicht sehr bewandert.«

Alf lächelte breit. Er steckte eine Hand in seine Hosentasche und sagte freundlich; »Sie machen sich schlechter, als Sie sind, Zado! Sie sind doch ein Mensch mit guter Schulbildung. Sie sind doch ein intelligenter Mensch. Ein sehr intelligenter sogar. Dazu kommen Ihre militärischen Fähigkeiten. Und die Eigenschaft, blitzschnell richtige Entschlüsse zu fassen. Oder ist das nicht so?«

Zado blinzelte in das Licht der Petroleumlampe. Er sagte bescheiden: »Ich weiß nicht, ob meine Entschlüsse immer richtig sind, Herr Leutnant. Ich kann das nicht so recht beurteilen.«

»Aber ich!« sagte Alf. Er richtete sieh auf und sprach weiter. »Manchmal muß man sich sehr schnell für irgend etwas entscheiden. Sie haben sich beispielsweise heute sehr schnell dafür entschieden, die beiden Feldgendarmen zu führen. Glauben Sie nicht, daß dieser Entschluß richtig gewesen ist?«

»Ich glaube, er war richtig«, sagte Zado, »der Melder war unterwegs, und ich hatte Zeit, den Oberfeldwebel und den Unteroffizier zu führen.«

Alf griff sich an die Stirn, als habe er Kopfschmerzen. Er lächelte wieder.

»Ach ja, der Melder«, sagte er, »das war auch ein solcher Zufall. Dieser Zufall und der, daß es vorn noch das Minenfeld gibt, diese beiden Dinge haben vermutlich Bindig davor bewahrt, zu einer Strafkompanie versetzt zu werden.«

»Ich verstehe nicht, Herr Leutnant«, sagte Zado ruhig.

Alf nickte. Er lächelte nicht mehr, aber sein Gesicht war nicht erregt. Es war gleichgültig.

»Sprechen Sie mit Bindig darüber«, sagte er kurz. Dann ließ er ein paar Minuten verstreichen, bevor er das nächste Wort sprach. »Zado«, sagte er, während er dem Obergefreiten ins Gesicht sah, »Sie sind länger bei dieser Kompanie als ich. Sie sind Obergefreiter, ich Leutnant. Achten Sie darauf, daß Sie diesen Krieg nicht als Leiche, an einem Baum hängend, beenden. Sie sind auf dem besten Wege dazu.« Er machte eine kleine Pause. Dann sagte er: »Fertigen Sie einen Bericht an, auf welche Weise die beiden Feldgendarmen ums Leben gekommen sind. Geben Sie den Ort und die Zeit an. Weshalb sind Sie so schmutzig?«

»Der Abendsegen«, erwiderte Zado. »Es erwischte mich auf halbem Wege. Ich fuhr mit dem Melder vom Divisionsstab.«

»Geben Sie mir diesen Bericht noch heute. Er braucht nicht lang zu sein.«

»Jawohl, Herr Leutnant!« sagte Zado. »Ich verstehe Ihre Andeutungen nicht, Herr Leutnant. Es muß ein Mißverständnis…«

»Kann man an die Stelle herankommen, wo das Fahrzeug hochging?«

»Nein, Herr Leutnant.« Zado wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. »Ich bin mir nicht bewußt, weshalb ich an einem Baum…«

»Gehen Sie jetzt«, sagte Alf, »merken Sie sich: Ich lege keinen Wert darauf, daß meine Kompanie den nächsten Mann stellt, der vom Standgericht verurteilt wird. Haben Sie mich verstanden?«

Zado bestätigte das nicht, und Alf entließ ihn trotzdem. Zado verließ das Haus und dachte: Der will Oberleutnant werden. Noch bevor der Krieg aus ist. Die Pension erhöht sich dadurch. Er steckt in der Klemme. Es ist gut, das zu wissen. Es beruhigt. Er stolperte in die Dunkelheit hinaus und suchte das Haus, in dem sein Quartier war. Er fand Bindig nicht. Da beschloß er, sich zu waschen und dann nach dem einsamen Gehöft zu gehen. Er pumpte auf dem Hof Wasser in einen Eimer und trug ihn in das Haus. Bindig hat die Fleischbüchsen mitgenommen, dachte er. Ich muß mich beeilen, er wird auf mich warten.

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