Die beiden Straßen, die sich wenige hundert Meter von dem Seenkomplex entfernt kreuzten, kamen von Berziniki und Zegary. Es waren zwei gewöhnliche Landstraßen, eingebettet in das verschneite Grün der Wälder, die hier dunkel und undurchdringlich waren. Die ganze Gegend hatte etwas Urwüchsiges, von Menschen scheinbar Unberührtes. Die Schneewehen lagen weiß und rein. Das Eis der Seen war von einer dichten Schneedecke überzogen, und über den unberührten Schnee zog ab und zu eine Wildfährte.
Nur die beiden Straßen verrieten, daß es Menschen gab. Sie waren befahren. Der Schnee war beiseite geschoben, und stellenweise war unter den Rädern und Ketten der Fahrzeuge die Erde aufgewühlt worden, wodurch der Schnee eine schmutzige Färbung erhielt. Es mochte am starken Verkehr auf den beiden Straßen liegen, daß die Gegend um die Kreuzung unberührt erschien. Die Soldaten hatten keine Zeit, aus den Fahrzeugen auszusteigen. Sie mußten ihre Aufmerksamkeit darauf verwenden, die verschneite Straße so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und ihre Fahrzeuge in die Nachschuborte in der Gegend um Sudauen zu bringen. Hier war der gelegentliche Donner der Geschütze als sehr schwaches Murmeln zu hören, und auch das nur, wenn größere Kaliber schossen. Es war so still, daß man hätte glauben können, der Krieg sei längst vergessen. Aber wenn dann wieder eine Kolonne die Straße entlangpreschte oder wenn sich ein paar schwere Fahrzeuge mühsam durch frische Schneewehen mahlten, wußte man, daß der Friede in den verschneiten Wäldern nur scheinbar war.
Klaus Timm hatte sich nicht lange an der Kreuzung aufgehalten. Dort war alles so, wie er es aus der Übung vor dem Einsatz kannte. Er zog sich deshalb bald wieder zurück in den Wald, der westlich der Kreuzung lag. Er ging nahe am Versteck seiner Soldaten vorbei und winkte dem Posten ab, als dieser auf ihn zugehen wollte. Im Weitergehen schlug er den Mantelkragen hoch. Ihn fror. Er wußte selbst nicht, weshalb ihm mit einem Male so unbehaglich zumute war. Er hatte nie eine Malaria gehabt, aber er spürte, daß er fieberte, seit er in die Maschine gestiegen war.
Während er zwischen den schneebeladenen Ästen der Tannen vorwärts schlich, versuchte er sich jede Einzelheit der Gegend genau einzuprägen, damit er sie in ein paar Stunden, wenn es dunkel war, gut genug kannte, um sich zurechtzufinden. Er sah seinen Schatten vor sich herlaufen, als er eine Lichtung überquerte. Die schrägstehende Sonne zeichnete seinen Oberkörper und den Kopf mit der plumpen Pelzmütze deutlich in den Schnee. Mach einen Sprung, dachte er einen Augenblick lang, spring über den Schatten hinweg! Er lächelte dabei, und sein Lächeln galt der Redewendung von dem eigenen Schatten, über den zu springen niemand in der Lage ist.
Dann hatte er den Seitenweg gefunden.
Es war ein verhältnismäßig breitet Weg. Timm hatte keinen Zweifel, daß die Fahrzeuge ihn, ohne zu zögern, einschlagen würden. Er zweigte in sanftem Übergang von der Straße ab und schlängelte sich durch den Wald. Timm folgte ihm, bis er an dem Holzplatz angelangt war, von dem sie bei der Division gesprochen hatten. Er besichtigte den Platz eingehend und fand, daß es keinen besseren geben konnte für das, was sie in dieser Nacht vorhatten.
Der Wald war menschenleer und still. Es war kalt und sonnig. An den Ästen der Bäume waren vor Tagen kleine, blitzende Eiszapfen entstanden. Timm griff sich im Vorbeigehen einen und steckte ihn zwischen die Zähne. Die Kälte des Eises tat wohl. Aber sie löschte den Durst nicht, und Klaus Timm harte Durst. Am jenseitigen Rand des Holzplatzes hockte er sich auf einen Baumstumpf, der ein paar Zentimeter aus dem Schnee ragte, und brannte sich eine Zigarette an. Blinzelnd schaute er dem Rauch nach, der in sanften Spiralen emporstieg und sich langsam in der klaren Luft verlor. Das Licht des Tages wurde rötlich. Die Schatten nahmen an Tiefe und Schwärze zu.
In Ordnung, dachte Timm. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als habe er soeben einer Frau eine Zote erzählt. Dann spuckte er kräftig aus und sagte zu sich selbst: »Auf, der Friedhof will hergerichtet sein!« Er stapfte ohne sonderliche Eile den Weg zurück. Die Soldaten hockten unter den herabhängenden Zweigen und rauchten. Sie rückten erwartungsvoll zusammen, als er zu ihnen trat. Bis auf die beiden Posten waren alle beieinander. Timm schob die Pelzmütze ins Genick und sagte: »Raucht weiter. Ich sage euch jetzt, was jeder einzelne zu tun hat.«
Er sah ein wenig plump aus in dem dicken Mantel mit dem großen Kragen, aber wenn er das Koppel mit dem Sowjetstern darüber schloß, dann wurde dieser Eindruck etwas gemildert. Timm hatte einen trockenen Hals. Er griff sich die Flasche, die er in der Hosentasche stecken hatte, und nahm einen Schluck Schnaps. Während er die Flasche wieder in der Tasche unterbrachte, sagte er: »So, jetzt geht’s los. Wir gehen alle, mit Ausnahme der beiden Posten, zu dem Holzplatz. Wenn wir dort fertig sind, beziehen wir unsere Posten.«
Er erklärte ihnen noch einmal den Ablauf des Unternehmens in allen Einzelheiten, und als keiner mehr Fragen stellte, zog er mit ihnen zum Holzplatz. Sie hatten nicht viel zu tun. Sie untersuchten die Umgebung genau, und dann bestimmte Timm die Plätze, an denen jeder einzelne zu stehen hatte. Er bereitete alles so umsichtig vor, als arrangiere er ein großes Fest und habe dafür zu sorgen, daß seine Gaste den besten Eindruck bekämen.
Als die Dämmerung kam, war auf dem Holzplatz alles getan. Die Posten standen an ihren Plätzen. Timm brach mit den übrigen Männern auf. Die Hälfte davon ließ er auf halbem Wege zwischen der Straße und dem Holzplatz zurück. Es waren zwei Russen dabei. Mit den anderen ging er bis zur Straße. Er stellte zwei von den Russen an der Kreuzung auf. Der eine davon entrollte sofort zwei kleine Fähnchen, ein rotes und ein gelbes.
Im Gebüsch gegenüber der Kreuzung postierte Timm den Obergefreiten, dem die Kiste mit dem Bols gehörte. Er sagte leise zu ihm, so daß es die anderen nicht hören konnten: »Die beiden sind die zuverlässigsten Leute von den fünf. Aber du behältst sie im Auge. Wenn ihnen Gefahr droht, schießt du auf die Führerkabine des Wagens, den sie anhalten. Wenn sie andersherum abschieben wollen, schießt du auf sie. Verstehst du?«
»Ich verstehe«, antwortete der Obergefreite. Sein Gesicht sah verschwitzt aus unter der dicken Pelzmütze. »Hör mal«, sagte er, »ich werde schon mit ihnen fertig. Aber dieses ulkige Schall- platten-MG gefällt mir nicht. Wir hätten wenigstens eins von unseren mitnehmen sollen…«
Timm wandte sich zum Gehen. Er sagte zu dem Obergefreiten: »Du kannst nicht als Russe mit einer deutschen Flinte herum springen. Das MG ist gut. Ich habe selbst damit geschossen. Laß die Magazine nicht im Schnee liegen.«
»Schon gut«, brummte der Obergefreite, ich sehe schon zu…« An der Abzweigung des Weges von der Straße in den Wald ließ Timm den letzten der fünf Russen zurück. Er postierte sich zur Probe mitten auf der Straße und winkte mit zwei Fähnchen von der gleichen Art wie der an der Kreuzung. Timm nickte befriedigt und hieß ihn, sich seitwärts der Straße im Wald zu verstecken. In einiger Entfernung, auf einer Böschung am jenseitigen Waldrand, postierte er Bindig und Paniczek. Er suchte selbst den Platz aus, an dem sie liegen sollten. Sie überblickten die Straße und die Einfahrt des Waldweges. Es war eine günstige Stellung.
Timm sagte: »Paßt auf den kleinen Iwan auf. Man kann diesen Stinkern nicht über den Weg trauen.«
Paniczek brummte etwas vor sich hin und legte seine Maschinenpistole vor sich in den Schnee. Es war eine russische Waffe, wie sie sie alle bei diesem Einsatz trugen. Paniczek schaufelte mißmutig eine kleine Grube für die runde Munitionstrommel. Dann zeigte er auf zwei Kästen, die er bisher getragen hatte, und erkundigte sich: »Soll ich die Strippe jetzt legen?«
»Leg sie«, befahl Timm kurz, »aber nicht zu nahe an der Straße. Und sag denen an der Kreuzung noch einmal, daß sich vor elf Uhr keiner auf der Straße blicken lassen darf.«
Paniczek nickte schläfrig und zog mit einem der Kästen und einer Rolle dünnem Telefondraht los. Timm wollte gerade wieder hinunter zur Straße steigen, als er die Motoren hörte. Er zog beunruhigt die Stirn in Falten, aber seine Besorgnis war unnötig. Ein Dutzend Fahrzeuge kam langsam durch den Schnee herangekrochen. Es waren Lastwagen mit angehängten Granatwerfern. Die Wagen waren mit Munition vollgestopft, man sah die Kisten unter den nachlässig festgeknüpften Planen.
Als die Fahrzeuge verschwunden waren, sagte Timm zu Bindig: »Das wäre schon was für uns gewesen. Bloß ein bißchen viel auf einmal. Wir müssen sie einzeln haben. Wenn so ein Haufen auf einmal kommt, verliert man die Übersicht.«
»Wo ist Zado?« erkundigte sich Bindig. Timm wies nach dem Waldweg. »Hinten am Holzplatz.« Er warf noch einen Blick auf die Stellung und stieg dann zur Straße hinab. Er schärfte dem Russen ein, sich nicht eher als um elf Uhr blicken zu lassen, und der Mann nickte eifrig.
»Und die Nerven behalten«, sagte Timm, »wenn von der anderen Seite was gefahren kommt. Nicht nervös werden. Den einen in den Waldweg winken und dem andern seelenruhig winken, daß er auf der Straße in Richtung auf die Kreuzung weiterfahren kann.«
Der Russe nickte wieder und sagte ein paarmal hintereinander hastig: »Jawohl, jawohl.«
»Nicht die Nerven verlieren«, sagte Timm wieder, »das muß alles verdammt amtlich aussehen, denn davon hängt es ab, ob einer was riecht oder nicht. Du mußt so amtlich winken, als hätte dich Stalin persönlich hierhergestellt. Und wenn einer was fragt, brüllst du ihn an, er soll den Verkehr nicht behindern. Du weißt doch, wie ihr das macht. Du weißt es besser als wir.«
»Jawohl«, sagte der Russe. Timm verschwand in dem Waldweg, und der Russe verkroch sich unter die Zweige am Straßenrand. Es wurde wieder so still wie zuvor.
Die Nacht kam, und sie war klar und sternenhell. Eine schwache Mondsichel segelte über den Wäldern. Auf der Straße schnauften ab und zu Fahrzeuge. Einzelne Lastwagen, Motorräder, Kolonnen, die mit abgeblendeten Lichtern aus dem Hinterland zur Front fuhren. Starke, vollbeladene Fahrzeuge mit dröhnenden Motoren. Sie schleppten Munition und Verpflegung. Zuweilen waren sie mit Infanteristen besetzt. Aber die meisten beförderten Lasten und hatten kleine Geschütze angehängt, Feldküchen oder Granatwerfer, die auf ihren Gummirädern hinter den schweren Wagen hertanzten.
Auf dem Holzplatz verminten die Soldaten eine Fläche von annähernd fünfzig Quadratmetern. Sie taten es nach einem bestimmten System, und die Minen waren nicht auf Druckzündung eingestellt, sondern an eine Leitung angeschlossen, die in einem Schaltkästchen endete, das ein paar hundert Meter entfernt im Walde stand.
Zado lehnte an einer Fichte, als Timm an ihm vorüberging. Er hatte die Pelzmütze in der Hand, und sein Haar hing ihm verschwitzt ins Gesicht. Timm stieß ihn vor die Brust und fragte: »Müde?«
»Nicht die Spur«, antwortete Zado grinsend, »ich könnte Bäume ausreißen. Alles, was an Bäumen hierherum steht. Wann geht denn unser Bus?«
»Um vier Uhr.«
»Bißchen spät«, meinte Zado, »schaffen wir es in zwei Stunden bis zu diesem See oder nicht?«
»Wir schaffen es«, sagte Timm. »Wir brauchen keine zwei Stunden dafür, aber wir sehen zwei Stunden vor. Das heißt, daß wir für unseren Friedhof hier drei Stunden haben. Nach meiner Rechnung können wir in der Zeit gut und gerne fünfzehn Fahrzeuge kapern. Vielleicht sogar mehr.«
»Vielleicht«, sagte Zado. »Aber vielleicht reißen sie uns auch den Arsch auf.«
»Eben«, nickte Timm ungerührt, »deswegen haben wir dich ja mitgenommen. Damit du endlich wieder mal zu einem Vergnügen kommst.«
Als es elf Uhr war, stellten die beiden Russen an der Kreuzung sich mitten auf die Straße. Der Obergefreite nahm den Telefonhörer und sagte gedämpft: »Achtung, Motorgeräusch.«
Es war ein einzelner Tankwagen. Ein schweres, dreiachsiges Fahrzeug. Der Russe mit dem roten Fähnchen hielt es an und brüllte dem Fahrer heiser zu: »Umleitung, zweihundert Meter rechts. Entgegenkommende Panzer. Der nächste Posten weist dich in den Umgehungsweg ein. Beeil dich, damit du von der Straße kommst…«
Der Fahrer entgegnete etwas Unfreundliches, und der Beifahrer neben ihm hob schläfrig den Kopf. Sie hatten erst vor einer halben Stunde die Sitze gewechselt.
Dann fuhr der Tankwagen an, und der Obergefreite sagte in die Telefonmuschel: »Geht in Ordnung. Achtung, er kommt zu euch…«
Der kleine Russe an der Abzweigung des Waldweges winkte mit seiner roten Fahne seitwärts, und der Tankwagen drehte nach rechts ab. Als er an dem Russen mit der Fahne vorbeifuhr, fragte der Fahrer unmutig: »Wie weit geht das auf diesem komischen Weg?«
»Hundert Meter entfernt steht ein Posten, der weist dich weiter«, erwiderte der Soldat mit dem Fähnchen.
Der Wagen fuhr an, und der Fahrer knurrte mißmutig: »… deine Mutter!«
»Jawohl!« rief der Posten ihm nach. »Aber schieb endlich deine Kiste von der Straße. Die Panzer kommen gleich!«
Hundert Meter weiter winkte einer der Russen dem Wagen, langsamer zu fahren, während der andere, die Füße aneinander schlagend, daneben stand. Am Rand des Weges standen die Gestalten zweier anderer Soldaten, die der Fahrer jedoch nicht sehen konnte. Er steckte den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster, und der Beifahrer wachte von der hereinströmenden Kälte auf und erhob sich. Der fünfte Russe erklärte dem Fahrer, wie er zu fahren hatte. Dabei kletterte er auf das Trittbrett des Führerhäuschens, und dann schob er seine Maschinenpistole etwas höher. Er betätigte den Abzugshahn, der das Dauerfeuer auslöste, etwa eine Sekunde lang, und danach betätigte er noch zweimal kurz hintereinander den Hahn, der Einzelfeuer auslöste.
Klaus Timm sprang aus dem Schatten der Bäume auf den Weg und riß die jenseitige Tür des Führerhäuschens auf. Der Beifahrer fiel ihm entgegen.
»Meine Herren«, sagte Timm, »ein Tankwagen. Und das gleich zu Anfang. Gibt das ein Feuerwerk!« Während einer der Soldaten sich auf den Führersitz schwang und den schweren Wagen auf dem Waldweg weiter zum Holzplatz fuhr, sagte er rauh zu den beiden Russen: »Los, schafft sie weg! Und laßt sie nicht so dicht beim Weg liegen!«
Der Urlaub für Leutnant Alf war sehr plötzlich gekommen. Zuerst hatte Barden angerufen und ihm mitgeteilt, daß er noch am selben Tag ein Urlaubsgesuch einreichen solle. Das hatte er sofort getan. Und bereits am Tag darauf war er zur Division beordert worden. Er übergab die Kompanie einem noch jüngeren Offizier aus dem Stab, nahm seine Urlaubspapiere in Empfang und wartete auf Barden. Der brachte es fertig, zwei Plätze in einem Flugzeug zu beschaffen, und so flogen sie noch am Abend desselben Tages mit einer Transportmaschine nach Berlin. Auf Alfs Frage, wieso er so schnell Urlaub bekommen habe, zumal er bereits im Sommer zu Hause gewesen war, antwortete der Onkel nur mit einem gemütlichen Lächeln.
Sie stiegen in Berlin zwischen zwei Luftangriffen in einen der wenigen fahrplanmäßigen Züge, und am nächsten Tage waren sie im Schwarzwald. Es war ein Idyll von Tannen, Schnee und gleißendem Sonnenlicht.
Sie brachten die Hochzeit schnell hinter sich.
Bardens Tochter war froh, als ihr Vater sich am anderen Tag verabschiedete. »Dienstreise, Ernestine. Auf dem Rückweg kommen wir noch mal vorbei. Laß es dir gut gehen inzwischen!«
Sie wußte natürlich, daß das nicht stimmte, denn sie hatte eine Schulfreundin in dem Ort, in dem sich Barden aufhielt, wenn er eine dieser Dienstreisen machte. Barden ließ zwei große Koffer, die er mitgebracht hatte, in das Auto laden, das ihn und Alf nach St. Georgen brachte. Er hatte zuvor telegrafiert, und die Zimmer waren reserviert. Als sie noch ein paar Kilometer von dem kleinen Kurort entfernt waren, wandte sich Barden leise, damit der Fahrer es nicht verstehen konnte, an Alf.
»Ich nehme an, du hast nichts gegen ein paar vergnügte Tage. Oder…«
»Nichts«, sagte Alf gelassen, »nicht das geringste. Ich kann sie brauchen. Die Front kostet Nerven.«
»Eben«, nickte Barden, »außerdem sind da in St. Georgen zwei sehr interessante Damen. Das wird dir auch nicht unangenehm sein.«
»Damen?« erkundigte sich Alf.
»Ja, Damen. Ab und zu muß der Mensch ausspannen. Ein bißchen Wald, ein bißchen Skilaufen und ein warmer Grog am Abend, das sind Dinge, die wir brauchen. Keine langweiligen Familienfeste. Diese Hochzeit hat lange genug gedauert.« Er beugte sich noch näher zu Alf und raunte ihm lächelnd zu: »Außerdem war sie eine Formalität. Man soll um solche Dinge nicht so viel Geschrei machen.«
»Bist du öfter in St. Georgen?« erkundigte sich Alf.
Barden nickte. »Es ist ein schönes Städtchen. Auf irgendeine Weise zieht mich diese Gegend an. Die Ruhe und die Einsamkeit, und dabei ein gewisser Komfort, den ich schätze. Und außerdem ist es angebracht, ein bißchen weiter zu blicken. St. Georgen ist ein Nest, in dem es sich leben läßt. Du verstehst?«
»Ich verstehe«, bestätigte Alf. »Was ist das für ein Hotel, in dem wir wohnen?«
»Ein gutes«, antwortete Barden. »Ich kenne den Besitzer sehr lange.«
»Und die Damen?«
»Alice hat ein eigenes Haus«, erklärte Barden, »aber es ist besser, in einem Hotel zu wohnen.«
»Ich verstehe.« Alf nickte.
Barden lächelte väterlich. »Ich wußte doch, daß du ein gescheiter Junge bist. Übrigens vergaß ich ganz, dir zu sagen, daß Alice Witwe ist. Eine hochgebildete Frau. Gisela ist eine ihrer Bekannten. Sie verbringt ihre Ferien in St. Georgen. Ich glaube, sie hat ziemlich oft Ferien.«
»Gisela…«, sagte Alf vor sich hin. Er versuchte, sich das Mädchen vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Er hatte überhaupt keine Vorstellung davon, wie ein Mädchen aussehen konnte, das auf ihn wartete.
Draußen tauchten die ersten Häuser von St. Georgen auf. Es waren kleine, an die Abhänge gekuschelte bunte Häuschen im Gebirgsstil, mit schrägen Dächern und weißgestrichenen Fenster- kreuzen. Der Schnee säumte in hohen Wällen die Ränder der Straße. Die Bäume waren bis an die Kronen in diesen Schneewällen verborgen.
Barden sagte; »Wir bekommen im Hotel ein paar Zivilanzüge. Solche Skianzüge, wie sie hier jetzt jeder trägt. Es gibt da einen Ausleih… Läufst du eigentlich Ski?«
»Leidenschaftlich«, sagte Alf.
Dann fragte der Fahrer: »Kennen Herr Oberst die Straße, in der das Hotel ist?« Barden kannte sie.
»Hallo, Leutnant!« rief das Mädchen. »Haben Sie Angst?«
Sie stand unten, zwischen den ersten, kleinen Tannenbäumchen am Waldrand, und Alf bastelte ein Stück weiter aufwärts an seinem Ski. Sie war noch nicht alt, aber sie hatte die schlanke, ausgereifte Figur einer Frau. Ihr Haar war ein wenig zu blond, doch das störte Alf nicht.
»Gisela«, rief er zurück, »ich bitte Sie: Sagen Sie nicht immer Leutnant zu mir! Außerdem ist meine Bindung nicht in Ordnung,«
»Darf ich Bubi sagen?« neckte ihn das Mädchen, den Kopf auf die Hände legend, die die Skistöcke hielten.
»Ich warne Siel« rief Alf. »Gleich ist meine Bindung in Ordnung, dann lernen Sie Bubi kennen!«
»Ich kenne ihn aber schon!«
»Hat Ihnen das der Oberst verraten?«
»Er hat mir sogar ein Bild von Ihnen gezeigt. Es ist schon einige Zeit her. Damals war er ein paar Wochen hier. Kommen Sie jetzt?«
»Ich komme!« kündigte Alf an, und dann stieß er sich ab.
Er schoß hinter dem Mädchen her in den Waldweg hinein, und sie ließen die Skier auslaufen. Alf versuchte das Mädchen einzuholen, aber sie lief ihm davon. Sie war eine gute Skiläuferin. Während Alf überlegte, wer es ihr beigebracht haben mochte, liefen sie ein Stück durch einen dichten Waldbestand, und dann waren sie wieder an einem Abhang, der zum Ort hinabführte.
Unten brannten schon die ersten Lichter. Sie verbreiteten die anheimelnde Atmosphäre des nahenden Abends. Der Abend war das schönste an diesen Gebirgsorten. Dann blitzte der Schnee unter den Laternen, und der Holzrauch aus den Schornsteinen würzte die Luft. Man traf sich in der Hotelhalle, die nach Tannennadeln und Bohnerwachs, nach Rotweinpunsch und Zigarren roch. Oder in der Bar, wo die Hocker mit bunten Figuren bemalt waren und die Gläser mit Edelweißblüten. Es war ein Frieden von eigener Art. Alles drückte die Gewißheit aus: Bis hierher wird der Krieg nie kommen. Dieses Nest in den Bergen ist eine Insel der Geborgenheit. Und dann gab es die anderen Gäste.
Alf hatte sich mit Gisela in der Bar verabredet. Er überprüfte im Spiegel seines Zimmers noch einmal den Sitz der dunklen Skihose, bevor er hinabstieg. An der Tür erinnerte er sich daran, daß er sich nach seiner Heimkehr von der Skitour für eine Weile auf dem Bett ausgestreckt hatte. Er ging noch einmal zurück und zog sorgfältig die Steppdecke glatt. Er tat es mit einem verstohlenen Lächeln und kam sich dabei sehr verwegen vor. Das Mädchen Gisela hatte alle Unsicherheit in ihm mit ein paar geschickten Wendungen im Gespräch beseitigt. Alf fühlte sich mit einemmal wie ein Draufgänger. Er hatte dieses Gefühl bisher nie gehabt, ja, er hatte nie geglaubt, daß er auf diese leichte, spielhafte Weise mit einer Frau umgehen könnte. Es war eine verhältnismäßig kurze Zeit vergangen, seit er Gisela kennengelernt hatte. Aber er hatte die Zeit genutzt.
Unten in der Halle setzte er sich in einen der breiten Plüschsessel und zündete sich eine von den englischen Zigaretten aus Bardens Koffer an. Er legte die Packung mit dem Feuerzeug vor sich auf den niedrigen Rauchtisch, während er zur Tür schaute, wo in einer Nische, halb hinter einem schweren Vorhang versteckt, der Portier vor sich hin döste.
Dieser Portier kennt seine Kundschaft, dachte Alf. Er hat einzig und allein die Aufgabe, im richtigen Augenblick schläfrig zu sein und die Augen zu schließen. Er tut das für zwei Zigarren am Tag, ich glaube kaum, daß Barden ihm mehr gibt.
»Donnerwetter, Beuteware?« sagte in diesem Augenblick eine ziemlich helle, wenig sympathische Stimme hinter ihm. Alf blickte sich um und erkannte den Leutnant, der ein Zimmer auf dem gleichen Flur wie er bewohnte. Der Leutnant war in Uniform. Seine kleine, ein wenig untersetzte Gestalt steckte in gut nach Maß geschneidertem graugrünem Tuch, von dem sich die ockerfarbenen Kragenspiegel leuchtendhell abhoben. Diese Nachrichtenleute, dachte Alf, wie die nur zu den Auszeichnungen kommen! Der Leutnant trug das Deutsche Kreuz an der Brust. Er roch nach einem bitteren, französischen Parfüm, das an den Weihrauchduft in Kirchen erinnerte. Alf erhob sich, um den anderen zu begrüßen, und dann bot er ihm aus der Zigarettenschachtel an. Aber der Nachrichtenoffizier lehnte ab.
»Ich bevorzuge Zigarren. Früher rauchte ich meine dreißig Zigaretten am Tag. Von der Zeit habe ich noch das Aroma dieser Players in Erinnerung. Wir erbeuteten sie zum erstenmal bei Dünkirchen. Sind Sie an der Westfront?«
»Nein. Im Osten«, gab Alf Auskunft. Barden hatte ihm den Nachrichtenmann vorgestellt. Er schien ihn zu kennen. Der Leutnant war Alf nicht besonders sympathisch, aber es schien, als sei mit ihm auszukommen. Er war außer ihnen der einzige Offizier, der gegenwärtig in diesem Hotel wohnte.
»Im Osten…«, sagte der Nachrichtenmann, »das ist eine harte Sache. Sie sind nicht zu beneiden. Ich hörte, Sie sind bei der Luftwaffe?«
»Luftlandetruppen«, sagte Alf, »eine Fallschirmjägereinheit.«
»Die zu Fuß geht…«, lächelte der andere nachsichtig.
»Nicht gerade«, sagte Alf verbindlich. »Wir sind eine der wenigen Einheiten, die noch am Schirm hängen.«
»Ah…«, machte der Nachrichtenoffizier, »interessant! Davon müssen Sie mir erzählen, Kamerad! Darf ich Sie einladen? An der Bar gibt es vorzüglichen…«
»Ich…«, unterbrach Alf ihn. Gisela kam durch die Tür auf sie zu. Alf blickte ihr entgegen und von ihr auf den Nachrichtenmann.
»Oh, Pardon!« sagte der, sich vor Gisela verbeugend. »Ihr Fräulein Braut! Ich dehne meine Einladung auf Sie beide aus, wenn Sie gestatten…«
Als sie auf den Hockern saßen, sagte er leutselig: »Ich vergaß völlig, mich vorzustellen, meine Dame. Riebeck, Leutnant Riebeck. Zuletzt in Italien. Warte jetzt auf neuen Einsatz. Bevorzugen Sie einen Likör, oder halten Sie bei einem männlichen Kognak mit Dreistern, garantiert…«
»Kognak«, sagte Gisela, »diese Liköre sind fade.«
»Ausgezeichnet!« Riebeck freute sich. »Eine Frau, wie sie ein Offizier braucht. Von männlicher Festigkeit, selbst in den Getränken, haha…« Er hielt sein Glas mit gekrümmtem Arm steif vor die Brust und schob den Kopf ruckartig nach vorn. »Auf ihr Wohl! Auf Ihre glückliche Ehe nach dem Sieg!«
Der Barmixer stellte gleichmütig Gläser zu recht. Er war ein kleiner, spinniger Kerl mit einem Spitzmausgesicht. Während er eine Flasche Martini öffnete, nickte er Gisela zu.
»Wieder mal bei uns?«
»Es ist Winter«, sagte Gisela. Sie warf ihr blondes Haar zurück, daß es lang und in sanften Wellen über das dunkle Seidenkleid fiel. Dann lächelte sie: »Im Winter braucht man St. Georgen… und eure Bar hier und das, was es zu trinken gibt!“
Der Mixer wischte grinsend Gläser aus. Er sah Alf, der sich mit Riebeck unterhielt, von der Seite an, aber er sagte nichts. Ihn interessierte nur Alf, der sein Glas ausgetrunken hatte und hinstellte.
»Das gleiche?« erkundigte er sich. Alf nickte.
Gisela hielt die Hand über ihr Glas. »Nicht so schnell, Fips. Die Nacht ist lang.«
Die beiden Offiziere unterhielten sich wieder. Fips beugte sich ein wenig über den Tisch und flüsterte: »Davon bin ich überzeugt. Sie sehen bezaubernd aus, Gisela!«
Er hatte ein Holzbein. Bei einem Fliegerangriff in Frankreich hatte er sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen können. Er ging schlecht, aber man sah es nicht, wenn er hinter der Bar stand. Er kannte seine Leute. Im späten Frühjahr bediente er Giselas Vater. Dann machte er der Dame, die mit ihm war, Komplimente. Im Hochsommer kam Giselas Mutter, und der Mann, der mit ihr war, bestellte meist gequirlten Sekt. Gelegentlich erkundigte sich dann Fips nach den Geschäften. Im Herbst kam Gisela. Manchmal kam sie im Winter noch einmal. Fips kannte sich aus. Leute, die eine Bank besitzen, müssen gelegentlich ausspannen. Und diese Leute besaßen nicht gerade eine der unbedeutendsten Banken in Köln.
Riebeck hob wieder sein Glas. Sie tranken, und Alf überlegte, daß es noch sehr früh war und daß er nicht im gleichen Tempo weitertrinken durfte.
»…und dann gingen wir aus unserer Stellung ein paar hundert Meter den Berg hinab und tauschten Zigaretten mit den Amerikanern…«, erzählte Riebeck. »Damals rauchte ich auch noch Zigaretten und war ganz wild auf diese amerikanischen Stäbchen. Sie gaben sie stangenweise ab. Gegen Sachen, auf denen ein Hakenkreuz drauf war. Und gegen Schallplatten mit ,Lilli Marlen‘. Dafür gaben sie das meiste. Sie waren rein närrisch darauf. Wir konnten gar nicht so viel heranschaffen. Und was sie an Winterhilfeabzeichen sammelten!« Er lachte und schüttelte den Kopf. Er sah gut aus, so auf dem Barhocker, die Knie leicht angezogen, den einen Arm nachlässig auf die Nickelstange der Bar gestützt, in der anderen Hand das Glas. Ein lachendes Gesicht mit einem guten Gebiß und sehr hellen Augenbrauen. Auf seiner Uniform fand sich kein Stäubchen. Es war, als habe er sie eben erst vom Schneider geholt.
»Haben Sie alten Bestand in Ihrer Kompanie, oder sind es neue Leute?« erkundigte er sich bei Alf. Der nippte an seinem Glas, dann antwortete er: »Relativ viel langgediente Soldaten. Ausgesuchte. Aber auch Ersatz.«
»Der Ersatz taugt nichts mehr«, stellte Riebeck trübsinnig fest, »die jungen Kerle sind verweichlicht. Unzuverlässig. Viel zu kurz ausgebildet.«
»Mag sein«, sagte Alf, »aber ich habe gute Leute bekommen. Jung, aber in Ordnung. Ich kann mich auf sie verlassen. Man muß sie allerdings anders anfassen…«
»Am Ehrgeiz packen«, nickte Riebeck. »Ja, das hilft manchmal noch. Aber insgesamt gesehen… Kamerad, ich sage Ihnen nichts Neues: Das Menschenmaterial taugt nichts mehr.«
»Die Damen wünschen?« fragte Fips, der Mixer. Es waren zwei nicht mehr junge Frauen mit schlaffen Gesichtern. Sie benutzten die Hocker nicht, auch nicht, als Fips sie dazu aufforderte. Sie blieben vor der Bar stehen und wählten einen Zitronenflip. Der Mixer musterte sie, während er in jedes Glas eine halbe Zitrone ausquetschte. Er machte es auf einer verchromten Presse und achtete sorgfältig darauf, daß nicht eine Faser von dem Fruchtfleisch mit ins Glas geriet. Während er in den Eiswürfeln wühlte, um zwei kleine Stückchen herauszusuchen, hörte er eine der beiden Frauen sagen: »Unerhört, uns das zuzumuten! Als ob wir nur hergekommen wären, um uns über die Schulter behandeln zu lassen…«
Pech, dachte Fips. Er kannte seine Leute. Er war lange genug in diesem Hotel, und als er noch sein Bein hatte, war er in Baden-Baden an einer Bar gewesen. Er stellte die Flips zurecht und verbeugte sich. Es ist unnütz, dachte er, diese Sorte läßt sich auf den Pfennig herausgeben. Aber da sind ja noch die beiden Leutnants und die blonde Tochter des Bankdirektors. Und die wirklichen Gäste kommen erst später.
»Eigentlich dreht sich alles nur noch um das Aushalten!« erklärte Riebeck mit großem Ernst. Er hatte so viel getrunken, daß er imstande war, ohne Unterlaß zu reden. Er lächelte Gisela zu und entschuldigte sich: »Sie dürfen nicht böse sein, aber der Gedanke an den Sieg läßt selbst im Urlaub unsere Phantasie nicht los. Sehen Sie«, wandte er sich dann wieder an Alf, »ich zweifle beispielsweise nicht daran, daß man über kurz oder lang mit den Westmächten zu einer Art Übereinkommen gelangen kann. Man wird sie dazu zwingen können, denn sie merken längst selbst, wie weit sich der Kommunismus in ihr Einflußgebiet vortastet. Darüber gibt es kaum Sorgen, das werden unsere Diplomaten schaffen, obwohl man darüber heute besser noch nicht redet, weil es zu viele Leute gibt, die ein zu eng begrenztes Denkvermögen haben. Und die Russen muß man mit andern Mitteln ausschalten. Man hört da so einiges, ich rechne damit, daß wir auf dem Gebiet der Kriegstechnik eine umwälzende Änderung erleben werden. Unsere Chance ist die Massentötung. Was aus dem Osten anmarschiert kommt, kann man nicht mit den herkömmlichen Waffen bekämpfen. Der Führer weiß das, und er wird seine Maßnahmen längst getroffen haben. Eines Tages wird man uns damit überraschen, daß man vermittels einer neuen Waffe, über deren Beschaffenheit man sich heute noch gar keine Vorstellungen machen kann, ganze Frontabschnitte der Russen im Zeitraum von Sekunden ausradiert. Das ist unsere Chance. Wenn der Westen dann nicht klein beigeben will, wird er damit rechnen müssen, daß man ihm gegenüber die gleichen Waffen anwendet wie gegenüber den Horden aus Asien. Das wird den Westen gefügig machen, darüber gibt es keinen Zweifel. Trinken wir doch, Kamerad! Gnädiges Fräulein!«
Er hob sein Glas, aber es war nicht mehr viel darin. Es sah kurios aus, wie er den Tropfen mit einer feierlichen Handbewegung zum Mund führte.
Als er das Glas absetzte, erkundigte sich der Mixer höflich: »Bleiben die Herren bei derselben Sorte?«
»Bei derselben…«, sagte Alf über die Schulter und stellte ihm das Glas hin. Er hatte Lust zum Trinken bekommen. Er beobachtete mit einer gewissen Freude, daß Gisela ihm immer näher gerückt war. Sie lehnte leicht an seiner Schulter, und er roch ihr Parfüm. Eigentlich wollte er diesen Leutnant von den Nachrichten los sein, aber es war schließlich gleich, mit wem man an der Bar trank. Als der Mixer begann, ihre Getränke unauffällig aufzuschreiben, weil er die Zahlen nicht mehr im Kopf behalten konnte, erklärte Alf dem Nachrichtenmann mit gehobener Stimme: »Eines Tages werde ich mit meinen Leuten heimkehren! Wir werden am Sieg keinen geringen Anteil haben! Meine Leute sind tapfer, ich habe sie dazu erzogen. Mit Härte. Und mit dieser Härte werden wir auch siegen…« Er schwieg und nahm feierlich sein Glas. Er war betrunken, und mit einem mal erinnerte er sich an das, was ihm in der Nähe der Front klargeworden war. Er wollte nicht mehr daran denken. Er hob verwirrt sein Glas. Dabei verschüttete er ein wenig von dem Inhalt. Der Mixer beobachtete es mit unbewegtem Gesicht.
»Trinken wir auf den Sieg. Er bedeutet unser Leben!« sagte er einigermaßen fest. Riebeck hob sein Glas. Er saß kerzengerade. Gisela tat ein wenig gelangweilt mit.
Der Mixer füllte die Gläser unaufgefordert wieder. Jetzt kommt der Verdienst, dachte er. Jetzt muß man an die Rechnung denken. Er schrieb bei jedem Glas, das er von nun an ausschenkte, zweimal den Preis auf das Papier unter dem Schanktisch. Auf den Sieg, dachte er. Immer drauf auf den Sieg. Das gibt einen Anzug für mich. Die Stoffe sind verflucht teuer geworden, und mit diesem Holzbein macht man sich alle paar Monate eine Hose zuschanden. Dann beugte er sich zu Gisela und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich empfehle Ihnen, einen Kaffee zu bestellen. Es ist welcher da. Ich gebe Salz daran, das bringt ihn wieder auf die Beine. Sie müssen ihm einreden, daß er ihn trinken muß!«
Aber Alf wurde nicht mehr nüchtern. Auch nicht, als der Mixer von irgendwoher eine Flasche Schaumwein herbeizauberte und Alf ein Getränk zusammenbraute, das aus Sekt, aus Bier und Fruchtsaft gemischt war.
»Schade«, sagte er bedauernd, als die beiden Offiziere immer lauter worden, anstatt zu ernüchtern, »diese Mixtur hat schon Leuten geholfen, die das Delirium hatten, Er muß an gar nichts gewöhnt sein.«
Aber Gisela konnte selbst nicht mehr genau begreifen, was der Mixer sagte. Sie tranken weiter. Abwechselnd auf Gisela, auf die Nachrichtentruppe, auf Alfs Kompanie, auf die Methode, Massentötungen vorzunehmen, und auf den Sieg.
»Das ist…«, brabbelte Alf unsicher, »… unser Leben, oder auch nicht! Die einzige Chance ist, zu siegen… ganz überraschend zu siegen… noch dieses Jahr…« Er fühlte nicht, daß er so viel von dem Alkohol auf die Hose geschüttet hatte, daß sie durchnäßt war. Er legte den Arm um Gisela und führ mit der Hand unter ihre Achsel. Der Nachrichtenrnann beobachtete es mit schläfrigen Augen.
»Gisela«, lallte Alf, »noch eine… Woche! Dann bin ich… nicht mehr bei dir…«
Der Mixer brannte sich eine Zigarette an. Es war ein flauer Betrieb heute. Eine Bar, an der sich nichts weiter abspielte, als daß sich zwei Männer und eine Frau systematisch betranken, war langweilig.
»Sehen Sie diesen Mann an…«, begann Riebeck feierlich, »sehen Sie ihn an, wie er hier sitzt und Sie im Arm hält! Er kommt aus der Hölle! Und er wird wieder dort hingehen. Für Sie! Das dürfen Sie ihm nie vergessen! Mit seinem Leib schützt er Sie. Für Sie wird er den Sieg erringen! Das ist die heilige Lebensauffassung eines deutschen Soldaten…« Er rülpste und entschuldigte sich ungeniert.
Das mit dem Sieg wird schwerhalten, dachte der Mixer. Sie sollen Osnabrück bombardiert haben. Und Schweinfurt und Darmstadt. Wird wohl nicht mehr viel davon stehen. Verdammt Zeit, daß es aufhört, sonst kommen sie womöglich auch noch hierher. »Noch einmal dasselbe?« erkundigte ersieh.
»Haben wir jemals etwas anderes getrunken als immer dasselbe?« lallte Alf ziemlich laut.
»Nein, zu Befehl!« grinste der Mixer.
»Ha…« Alf zog die Augenbrauen hoch. »Soldat gewesen?«
»Jede Menge!« grinste der Mixer.
Alf schüttelte den Kopf. »Jede Menge“, antwortet der Mensch! Und so was war Soldat! Seien Sie froh, daß wir es bald geschafft haben! Aus Ihnen hätten wir einen… einen Soldaten gemacht, einen richtigen! Nicht so was mit ,jede Menge‘! Österreicher, was? Ostmärker? Klare ostmärkische Schlamperei! Hätten wir schon hingekriegt…«
»Davon bin ich überzeugt, Herr Leutnant!« grinste der Mixer. Er stellte ihnen die Gläser hin und schrieb zwei Runden an. Heute komme ich dem Anzug ein Stück näher, dachte er. Dann sagte er höflich: »jawohl, Herr Leutnant. Bin überzeugt davon, Herr Leutnant.«
»Alles keine Soldaten mehr…«, stellte der Nachrichtenmann traurig fest, »alles keine Soldaten. Schäbige Zivilisten… keine Ahnung…«
»Bubi…«, flüsterte Gisela Alf ins Ohr, »es ist so… das ist langsam zuviel…«
Alf rief mit erhobenem Glas: »Meine Jungens solltet ihr sehen! Kerle! Meine Jungens, wenn sie hier wären…«
Jawohl, dachte der Mixer, wenn sie alle so viel saufen würden, dann bekäme ich den Anzug an einem Tag zusammen.
Plötzlich schüttelte Alf den Kopf. »Wo ist… der Oberst? Wo ist er, wenn hier exerziert wird? Immer die Frauen… Gisela, ich glaube…«
»Ja«, sagte das Mädchen schnell, es klang einigermaßen nüchtern, »wir wollen uns lieber noch ein bißchen ausruhen. Morgen wollen wir hinauf in die Berge.« Sie schob das Glas zurück und winkte ab, als der Mixer es erneut füllen wollte.
Das ist unfair von ihr, dachte er, während er schnell noch eine Runde auf den Zettel schrieb. Es ist unfair, denn heute bekommt er sowieso nichts mehr fertig, und wenn sie ihn hiergelassen hätte, wären noch ein paar Runden herausgekommen. Sie hat das letzten Winter nicht gemacht, als sie mit dem von der Waffen-SS hier war. Aber der vertrug auch mehr als dieser komische Fallschirmonkel. Dabei sollen die ganz schön saufen, habe ich gehört…
« Er nahm ihnen eine Menge Geld ab, aber sie merkten nicht, daß er sie betrog. Er war äußerst zufrieden, als er die beiden Offiziere davonwanken sah. Es hatte sich gelohnt. Er genehmigte sich schnell einen Kognak.
Er war ein schlechter Soldat gewesen, und in seiner Rekrutenzeit hatten sie ihn geschunden, daß er manchmal nahe daran gewesen war, sich auf der Latrine zu erhängen. Fips bleibt euch nichts schuldig, dachte er, Fips läßt euch dafür zahlen 1 In solchen Augenblicken waren der ganze Jammer seines Soldatenlebens und das Holzbein vergessen. In solchen Augenblicken war Fips, der Mixer, stolz darauf, wie furchtlos et Rache nahm, und in solchen Augenblicken hatte er das erhabene Gefühl, mit seinem zerstörten Körper Herr über alle Offiziere der Armee, der Luftwaffe und der Marine zu sein.
Alf fand sich auf seinem Zimmer wieder, wo er in einer höchst unbequemen Stellung neben Gisela auf dem Bett lag. Er fühlte mit einem Male, wie sein Magen sich zusammenkrampfte, und das machte ihn einigermaßen nüchtern. Er stolperte nach der Toilette, und als er nach längerer Zeit ein wenig erleichtert wieder ins Zimmer trat, hatte er plötzlich Augen für Gisela. Sie lag quer über dem Bett, so wie er sie verlassen hatte. Das Kleid hatte sich verschoben, und es gab eine Schulter frei. Alf ließ sich neben ihr nieder und fuhr unsicher mit der Hand in den Ausschnitt. Das Mädchen stieß einen unwilligen Laut aus. Sie hatte unter dem Kleid nicht viel an, aber Alf hatte unsichere Finger. Sie wälzte sich ärgerlich auf die Seite.
»Was ist, Liebling?« fragte er einfältig.
»Schade um mein Kleid…«, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen.
Er näherte sich ihr wieder, aber sie stieß ihn lustlos beiseite. »Das wird nichts, Bubi. Du bist betrunken. Du ruinierst nur mein Kleid. Das ist die Geschichte nicht wert…«
»Liebling…«, bettelte Alf.
Sie erhob sich schwankend und streifte mit verwunderlicher Geschicklichkeit das Kleid über den Kopf. Er hob es auf und legte es auf einen Stuhl. Als er sich umdrehte und wieder zu ihr wollte, lag sie bereits in seinem Bett und hatte sich die Steppdecke übergezogen. »Leg dich hin…«, sagte sie sanft, »schlaf dich aus. Du hast viel zuviel getrunken…«
»Aber… es ist doch…«
Sie rückte beiseite und machte ihm Platz. Schließlich ließ er sich unbeholfen neben ihr nieder und streckte sich aus. Er vergaß, sich auszuziehen, und erst als er die Steppdecke ein wenig anhob, merkte er, daß das Mädchen tatsächlich am Einschlafen war. Er berührte sie ein paarmal, aber sie bewegte unwillig die Schultern und sagte abweisend: »Sei kein Kind! Es muß nicht heute sein. Wir haben noch ein paar Tage.«
Es kränkte ihn, denn er fühlte sich stark und nüchtern. Er hatte von der Toilette her noch den bitteren Geschmack im Mund und wagte nicht, sie zu küssen. Er streckte sich neben ihr aus und fühlte ihren Körper, und das einzige, was sie ihm erlaubte, war, seine Hand auf ihre Brust zu legen. Nach einer Weile zog er sie fort und verschränkte beide Arme unter dem Kopf.
»Du kennst unser Leben nicht«, sagte er, »du weißt nicht, was wir durchmachen müssen…«
»Nein«, sagte sie schläfrig, »und wenn ich es wüßte, würde sich heute nacht auch weiter nichts mehr abspielen, mein Lieber. Aber erzähl noch ein bißchen von dem, was ihr durchmachen müßt. Dabei schläft es sich schön ein…«
Er war beleidigt und überlegte, ob er sie vor die Tür setzen sollte. Aber er besaß keine Kraft, so etwas zu tun. Er zog nur die Stirn in Falten und sagte: »Keiner weiß, was wir leisten. Keiner wird es je erfahren. Auch du nicht. Tag für Tag und Nacht für Nacht sein Leben einsetzen…«
Sie rekelte sich behaglich. Ihr blondes Haar lag gelöst über dem Kissen. Er sah sie nicht an. Er starrte an die Decke. Er fühlte sich beleidigt und verletzt, abgewiesen. Er hatte sich diese Nacht anders vorgestellt.
»Erzähl ein bißchen, wie ihr euer Leben einsetzt…«, brabbelte sie, »das ist ganz schön, so vor dem Einschlafen…« Er reagierte nicht darauf, aber er sprach trotzdem weiter. Er sah die Kompanie so deutlich vor sich, als stünde er mitten unter den Soldaten, jetzt, in diesem Augenblick, während er neben dem blonden Mädchen im Bett lag.
Er sah das Raubvogelgesicht Zados, die fragenden Augen Bindigs und den verkniffenen Blick Timms. Er erinnerte sich, daß sie unterwegs waren, eingesetzt am selben Tag, an dem er seinen Urlaub begonnen hatte. Und er begann von ihnen zu erzählen. Er erzählte der betrunkenen Frau alles, was er selbst nicht gesehen, nur gemeldet bekommen hatte. Die Nächte, bewegungslos in irgendeinem Gehölz verbracht, der blitzschnelle, lautlose Mord an einem Posten und das trockene Bellen der Pistolenschüsse. Die Angst, entdeckt zu werden, und die Verzweiflung, wenn man entdeckt war. Er schilderte die Detonation einer Sprengladung und den Todesschrei eines Russen, das Blut, das an den Uniformen der Männer klebte, und ihre bleichen, eingefallenen Gesichter, wenn sie zurückkamen. Er schilderte es so brutal und grausam, daß er selbst daran zu glauben begann, es erlebt zu haben. Er wollte die Frau treffen mit all dieser Grausamkeit, er wollte ihr Achtung vor sich einflößen, und es war ihm ein beinahe sadistisches Vergnügen, ihr zu beschreiben, auf welche Weise man Menschen töten kann. Er hatte nie einen toten Russen gesehen, aber er beschrieb ihn sehr genau.
Einmal hatte Zado ihm geschildert, wie sie einen Posten erledigt hatten. Er beschrieb auch das alles und spürte, wie ihm das Blut dabei zu Kopfe stieg, wie er immer nüchterner wurde, immer wütender in seiner Hilflosigkeit. Er wollte sie treffen und ihr Angst einflößen und Achtung. Hier lag nicht ein Leutnant wie dieser andere von den Nachrichten. Hier lag Alf, der eine Truppe führte, die zu töten gewohnt war, kalt und brutal, der ein Mensch nicht viel mehr wert war als eine verlorene Patrone, eine Frau soviel wie die wertlose Abzugsschnur einer Handgranate.
»Gnade Gott, wer uns in die Finger gerät…«, sagte er. Seine Stimme begann vor Erregung zu beben. »Manchmal möchte ich das allen Leuten sagen. Es wird eine Zeit kommen, da werden wir von jedem Rechenschaft fordern über das, was er selbst getan hat, während wir unser Leben einsetzten… Dann wird mancher, der es heute noch nicht weiß, merken, wer wir sind… und…«
Es war warm im Zimmer. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er bewegte sich impulsiv. Er wollte ihr irgendeine Kränkung zufügen. Er wollte ihr eine Verletzung beibringen, die sie an ihn erinnerte und an diese vertane Nacht, und er suchte nach Worten, während sie neben ihm ruhig atmete, mit geöffnetem Mund, die Lippen noch rot vom Lippenstift, und mit dem vollen, gebleichten Haar, das sie älter machte, als sie in Wirklichkeit war. Er reckte sich und setzte von neuem an, bemüht, alle Sinne auf das zu konzentrieren, was er sagte. Und während er sich reckte, noch bevor er wußte, was er weiter sagen wollte, hörte er sie leise und unwillig murmeln:
»Mein Gott, du hättest wenigstens die Schuhe ausziehen können. Ich habe meine besten Strümpfe an, und du kannst mir aus diesem lausigen Osten nicht einmal ein paar neue schicken, wenn du sie zerreißt…«
Als sie das sechste Fahrzeug angehalten und von der Straße nach dem Holzplatz gefahren hatten, war Bindig auf seinem Posten so durchgefroren, daß seine Zähne aufeinanderzuschlagen begannen. Es war schon ziemlich viel Zeit vergangen, und bis jetzt hatte es keinen Zwischenfall gegeben. Es schien, als träte für einige Zeit Ruhe ein. Bindig erhob sich langsam. Er stand unsicher auf den Beinen und machte eine Weile Bewegungen, um das Blut schneller durch die Adern zu treiben.
Paniczek lag mißmutig in den Schnee gepreßt und hauchte in die Hände.
Bindig ging ein wenig abseits, um sich die Füße zu vertreten. Er wäre gern zur Straße hinab und über den Waldweg bis zum Holzplatz gegangen, aber er wagte es nicht, seinen wichtigen Posten zu verlassen. Denn Timm hatte ihm eingeschärft, die Abzweigung des Weges von der Straße keinen Augenblick unbeobachtet zu lassen. So bewegte er sich nur ein paar Schritte rückwärts in den Wald hinein und schlug die Füße in den kalten Stiefeln aneinander. Er trug zum erstenmal Stiefel; sonst, wenn sie in der deutschen Uniform gesprungen waren, hatten sie stets die elastischen Schnürschuhe angehabt. Er hatte, wie die anderen auch, die Knöchel besonders gut bandagiert, aber die Bandagen saßen ein wenig zu fest, und er hätte sie gern gelockert. Er überlegte, ob er es wagen konnte, die Stiefel auszuziehen und die Bandagen neu zu wickeln, aber er unterließ es dann doch, denn es würde zu lange dauern, und jeden Augenblick konnte es an der Straße Alarm geben.
Durch die verschneiten Bäume fiel ein fahles, kraftloses Mondlicht. Die Nacht hatte nichts von dem fließenden Silber anderer Nächte. Sie hatte keinen Zauber. Vor dem Mond schwamm eine dünne Wolkenwand. Bindig überlegte, daß es in den nächsten Nächten viel Schnee geben würde. Es ging auf Weihnachten zu.
Er wußte selbst nicht, weshalb er mit einem mal den weißen Tarnumhang, der zusammengerollt an seinem Koppel hing, aufknüpfte und überwarf. Er zog ihn über die Schultern und klappte die Kapuze über den Kopf.
Paniczek schnaufte und spuckte in weitem Bogen in den Schnee, als er wieder zu ihm trat. »Du hast dich zurechtgemacht wie ein Nachtgespenst«, sagte er halblaut. Dann holte er eine Zigarette aus der Manteltasche und brannte sie an. »Wenn ich das heute hinter mir habe, wird mir wohler sein«, sagte er dabei.
Er meinte es ehrlich. Er hatte zum erstenmal Angst. Ihm war nicht wohl in der Nachbarschaft der Toten, die drüben, jenseits des Weges, im Wald lagen. Hoffentlich haben sie wenigstens ein bißchen Schnee drübergeworfen, dachte er; wenn irgendwas schief geht, und sie finden die Toten, dann ist der Teufel los. Aber der Teufel ist überhaupt los, wenn etwas schief geht. Wir sitzen hier wie die Maus in der Falle. Nicht sie haben die Falle gebaut, sondern wir. Sie bekommen uns auf jeden Fall. Sie brauchen sich nicht sehr anzustrengen. Er sah schnell auf die Uhr, aber die Zeit, die die Zeiger ihm wiesen, befriedigte ihn nicht. Es war noch zu lange hin bis zu der Stunde, da die Maschine sie abholen sollte. Es war, als habe jede Minute in sich den Tod eingeschlossen und als habe nichts mehr einen Sinn, weder das stille Verharren in der Dunkelheit unter den Bäumen noch das Warmhalten der Finger oder das aufmerksame Lauschen auf jedes Geräusch. Er zog hastig an der Zigarette, nicht darauf achtend, daß er sie dabei hell aufglühen ließ. Er drückte sie halb aufgeraucht aus und tastete nach der Schokolade, die er in der Tasche hatte. Er aß davon ein Stück, und als er die Schokolade weggesteckt hatte, griff er nach dem Keks, der lose im Mantel steckte. Der bärenstarke Paniczek war so unruhig, daß Bindig schließlich sagte: »Was ist bloß mit dir los? Geh mal nach hinten und mach dir ein bißchen Bewegung, ich glaube, du frierst!«
Paniczek fühlte sich erleichtert, als er aufgestanden war und ein paar Schritte machte. Er ging an der dünnen Kabelleitung entlang, denn Timm hatte ihm aufgetragen, von Zeit zu Zeit die Verbindung zu kontrollieren. Es war unnütz, denn auf dem Weg zwischen Paniczeks Posten und der Kreuzung, wo der Obergefreite neben dem Telefon lag, geschah nichts.
Bindig griff mechanisch nach dem Telefon und zog es zu sich heran. Er sah zur Straße hinab, aber er konnte den kleinen Russen nicht entdecken. Der hielt sich am anderen Rand versteckt, bis von der Kreuzung die Anweisung kam, die Paniczek aufnahm und ihm zurief.
Neben dem Telefon hockend, in den weißen Umhang gehüllt, horchte Bindig in die Nacht. Vom Holzplatz waren bis vor einiger Zeit noch ab und zu Motorengeräusche gekommen, aber jetzt war es auch dort still. Sie stellten auf dem Platz, den sie vorher vermint hatten, die Fahrzeuge zusammen und verminten auch über der Erde die Fahrzeuge noch einmal. Unternehmen Friedhof, dachte Bindig, das gilt für die Fahrzeuge, die sie zusammenstellten. Aber es gilt auch für die Fahrer, die irgendwo abseits im Walde liegen.
Paniczek lag neben dem Obergefreiten an der Kreuzung und brannte sich eine Zigarette an, als das Autogeräusch aus der Ferne hörbar wurde. Er überlegte, ob er jetzt zurücklaufen sollte, aber es schien dafür zu spät zu sein, und so drehte er nur schnell an der Kurbel, bis sich am anderen Ende Bindig meldete. Er sagte ihm, daß ein Fahrzeug heranrolle, und Bindig antwortete: »In Ordnung, das mache ich schon. Bleib so lange da, bis es vorbei ist.«
Dann war der Wagen auch schon zu sehen. Er fuhr ziemlich schnell auf die Kreuzung zu, wo die beiden Posten standen. Es war ein Jeep, trotz der kalten Nacht ohne Verdeck fahrend und mit vier in Mäntel gehüllten Personen besetzt. Der Russe an der Kreuzung hob die Signalflagge, und der Jeep rollte langsamer. Er hielt genau zwischen dem Posten mit der Flagge und dem anderen, der mit hochgeschlagenem Mantelkragen, die Maschinenpistole über der Brust, am Straßenrand stand. Im gleichen Augenblick, als der Russe mit der Signalflagge an den Wagen herantrat, erkannte er die Abzeichen des Generals auf der Uniform eines der Männer. Er stand automatisch stramm und hob die Hand an die Pelzmütze.
Es war der Mann, mit dem Zado zuletzt über das Messer gesprochen hatte, und er hätte jetzt das sagen müssen, was Timm ihm für solche Falle eingeschärft hatte, nämlich daß einige Schleppfahrzeuge mit defekten Panzern auf der Straße unterwegs waren und der Jeep vorsichtig fahren solle, weil die Schlepper ohne Licht fuhren. Dann hätte der General genickt, der Fahrer hätte gleichmütig Gas gegeben, und dann wäre der Jeep weitergefahren, ohne sich weiter um die beiden Posten zu kümmern.
Er tat das nicht, sondern er sagte, immer noch die Hand an der Pelzmütze, das gleiche, was er den Fahrern der sechs Fahrzeuge gesagt hatte, die jetzt bereits auf dem Holzplatz standen. Er blickte den General dabei an, und seine Augen zogen sich sehr schmal zusammen. Diesen General zu töten, das war etwas Einmaliges. Es war der Versuch, Rache zu üben. Der Fahrer fuhr langsam wieder an, und während der Jeep davonrollte, gab der Posten dem Obergefreiten das vereinbarte Zeichen. Bindig hob den Hörer ab, und zwei Sekunden später gab er dem Russen an der Abzweigung des Waldweges das Zeichen. Der trat auf die Straße und hob die Signalflagge.
Der Fahrer lenkte den Wagen an die rechte Straßenseite, und während der Posten mit der Flagge herantrat, fragte der General unwillig: »Wer hat denn diese Umleitung verfügt?«
»Verfügung vom Armeestab, Genosse General!« antwortete der kleine Russe.
Der General schüttelte den Kopf und sagte: »Eigenartig.« Dann wandte er sich an den Offizier, der neben ihm saß, und sagte ärgerlich: »Hier ordnet irgendeiner Unsinn an. Die Straße ist breit genug für zwei T34.«
»Ich denke auch«, antwortete der Angeredete mit einem Blick auf die Straße. »Übrigens sind diese Waldwege hier oft sumpfig. Es ist nicht sicher, ob wir…«
»Haben Sie den Weg kontrolliert?« fragte der General den Posten mit der Signalflagge.
Der ahnte, daß hier etwas begann, was nicht glatt ablaufen würde. Er erklärte, daß der Weg in Ordnung sei, aber der General klopfte ungeduldig mit den Fingern, die in dicken Wollhandschuhen steckten, auf die eiserne Lehne des Vordersitzes. Er dachte an die Panzerkolonne, die ein paar Minuten hinter ihm heranfuhr, und erinnerte sich daran, daß die Fahrt der Kolonne mit dem Armeestab vereinbart war. Niemand hatte von einer Umleitung gesprochen.
Ganz plötzlich befahl der General dem Fahrer ärgerlich: »Zurück. Zum Funkwagen zurück. Wir werden sehen, wer hier auszuweichen hat.« Der Fahrer wendete den Jeep mit einer eleganten Kurve. Der Schnee wirbelte unter den Rädern hervor, und dann rollte das Fahrzeug seinen Weg zurück, auf die Kreuzung zu. Es fuhr schnell, und die beiden Russen an der Kreuzung hielten diese Schnelligkeit für das Zeichen der Entdeckung des ganzen Unternehmens. Paniczek konnte aus seinem Versteck neben dem Obergefreiten nicht erkennen, wer von den beiden zuerst auf den Jeep schoß. Aber er hörte die Salve aus der einen MP und kurz darauf die der zweiten. Er sah, wie der Jeep auf der Straße im Zickzack zu fahren begann, wie aus ihm Mündungsfeuer kam und er schließlich stehenblieb. Im gleichen Augenblick fiel einer der beiden Russen an der Kreuzung langsam zu Boden. Da griff Paniczek schnell nach dem Telefonhörer und rief Bindig durch den Draht ein paar Worte zu. Er ließ den Hörer achtlos fallen, denn der Obergefreite neben ihm hatte das Maschinengewehr hochgerissen und sprang auf die Straße. Paniczek griff sich die beiden Munitionstrommeln, die neben dem Telefon lagen, und sprang ihm nach. Aus dem Jeep, der schräg auf der Straße stand, schössen vier Maschinenpistolen mit geradezu unglaublicher Präzision. Noch bevor Paniczek den Ober- gefreiten erreichte, der hinter dem Maschinengewehr lag, spürte er den Schlag auf der Brust. Er machte einen unbeholfenen Satz nach vorn und schaffte es bis zu dem Obergefreiten, aber als er neben dem Maschinengewehr hinfiel, hatte er die Munitionstrommeln aus den Händen verloren, und hinten, wo die Straße sich in der Dunkelheit verlor, tauchte der erste Panzer auf.
Bindig lauschte auf die Schüsse. Es war nicht zu unterscheiden, wer schoß, denn sie hatten dort vorn an der Kreuzung alle russische Waffen. Der Posten mit der Flagge war von der Straße verschwunden. Bindig rief ein paarmal nach ihm, aber es meldete sich niemand. Dann hörte er die Panzer. Zuerst war nur das dumpfe, hohle Gedröhn der Rohölmotoren zu hören, aber dann klirrten Ketten, und gleich darauf krachte der erste Abschuß aus einer Panzerkanone. Der Schuß war kurz gezielt, denn der Einschlag verschmolz mit dem Abschuß. Es folgte ein zweiter, ein dritter.
Plötzlich huschte eine Gestalt aus dem Waldweg. Sie verhielt ein paar Sekunden lang an der Straße und huschte dann zu Bindig hinüber. Es war Timm. Er warf sich, ohne zu zögern, neben Bindig und drehte wild an der Telefonkurbel. Er schüttelte den Hörer und blies in die Muschel, aber es meldete sich niemand am anderen Ende. Da fluchte er leise und spähte auf die Straße.
»Wo ist der Iwan, der hier unten stand?« fuhr er Bindig an.
»Weg«, sagte Bindig, »ist er nicht zu euch gelaufen?«
»Das Schwein!« schimpfte Timm. »Er ist weg. Und einer von den beiden anderen auch. Hättest ihn umlegen sollen…«
Er horchte auf den Feuerwechsel an der Straße, aber das war schon kein Feuerwechsel mehr, denn das Maschinengewehr, mit dem der Obergefreite geschossen hatte, schwieg. Es gab nur noch einzelne Abschüsse von Panzerkanonen und dazwischen das bösartige Bellen der Maschinenpistolen. Die Motoren schienen gedrosselt zu sein. Die Panzer wußten nicht, was sie noch erwartete, sie hielten an.
»Wir müssen fort!« sagte Timm. Es klang eigenartig gepreßt, Bindig hörte ihn zum erstenmal so sprechen, aber er war sich nicht darüber klar, ob es vielleicht daran lag, daß er flüstern mußte.
»Wohin?« fragte er. Vor ihm lag die Maschinenpistole. Daneben ein paar bereitgelegte Magazine. Timm merkte den Blick.
»Damit hältst du sie nicht auf. Das sind mindestens ein halbes Dutzend Panzer.«
»Es sind mehr«, sagte Bindig, »jetzt hört man sie nicht, aber vorhin, bevor die Schießerei anfing, hat man es merken können. Es sind mehr als ein halbes Dutzend.«
»Los!« forderte Timm ihn auf. »Wir hauen ab, ehe sie heran sind. Jeder einzeln versuchen, den See zu erreichen, wo die Maschine landet.« Er erhob sich und beobachtete die Straße. Er hatte die Pelzmütze tief in die Stirn gezogen. Mit dem Lauf der Maschinenpistole schob er die Zweige beiseite. Dann drehte er sich noch einmal um und befahl Bindig: »Wir lassen jetzt die paar Kähne hochgehen und hauen ab. Du wartest, ob von denen da vorn noch einer zurückkommt. Dem sagst du Bescheid. Wenn du den ersten Panzer siehst, haust du ab. Dann kommt keiner mehr.«
Bindig wollte etwas antworten. Er öffnete den Mund. Aber Timm hatte sich schon durch die Zweige geschoben und sprang auf die Straße. Bindig sah, wie er nach der Kreuzung lauschte, wo der Lärm für Sekunden verstummte. Dann machte Timm einen Satz über die Straße und huschte lautlos, wie er gekommen war, in den Waldweg.
»Es kommt niemand mehr«, sagte Bindig zu sich selbst, »es kommen nur noch die Panzer.«
Er duckte sich wieder und hockte sich neben die Maschinenpistole. An der Kreuzung fiel ein vereinzelter Schuß. Bindig konnte sehen, wie hinter dem Wald der Himmel für den Bruchteil einer Sekunde seine Färbung veränderte. Es war, als zuckte ein heller Schein unter den Spitzen der Bäume entlang. Dann war wieder das Geräusch von Ketten und Motorengedröhn. Mit einemmal überlief Bindig ein Schauet. Er spähte durch die Zweige dorthin, wo sich die Straße aus dem verschneiten Geäste der Fichten herauswand. Mechanisch nahm er die Maschinenpistole auf und machte sie schußbereit. Die Panzer rollten wieder, es war zu hören. Bindig vermeinte, sie vor sich zu sehen, wippend und mit auf und nieder tastenden Kanonen, die Luken geschlossen, eine Fahne von hochgewirbeltem Schnee hinter den Ketten. Er sah gleichsam durch die Panzerplatten hindurch in die Gesichter der Soldaten an den Lenkhebeln. Er sah den Richtkanonier durch die Optik spähen, die schwarze Kappe mit den Polsterwülsten auf dem Kopf. Er sah unter diesen Kappen alle die vielen Gesichter, die er wachsbleich und totenstarr gesehen hatte. Sie schienen zu leben. Und er sah auch das Gesicht der Frau aus dem Lastwagen, die helle Haut mit dem dünnen Blutfaden, und hörte den knirschenden Laut, als Timm ihr die Bluse über der Brust aufriß. Er blickte sich um, als stünden sie jetzt schon alle um ihn herum und hielten die Maschinenpistolen auf ihn gerichtet. Da schlug die Glocke des Telefons an. Einmal, leise. Er wandte sich hastig um, griff nach dem Hörer und rief leise: »Hallo, Paniczek… Was…«
Es kam eine tiefe, gutturale Stimme durch den Draht. Sie war sehr heiser und aufgeregt, und sie rief etwas. Immer wieder dasselbe. Einmal und noch einmal, dreimal, viermal. Es war nicht Paniczeks Stimme, auch nicht die des Obergefreiten. Bindig ließ den Hörer fallen. Er verschwand in dem lockeren Schnee, und die Klingel schlug erneut an. Die paar Schritte am Draht entlang… dachte Bindig gehetzt. Da schoß drüben über dem Holzplatz eine steile gelbrote Flammengarbe hoch, und die krachende Explosionswelle fuhr wie ein Windstoß in die Zweige, den Schnee herabfegend. Der Flammenschein blieb, und in den Flammenschein mischten sich die unregelmäßigen Detonationen der Munition, die in den Fahrzeugen gewesen war. Eine Kiste Leuchtspurgeschosse zerplatzte und zauberte sekundenlang ein Feuerwerk aus wirren grünen Linien über die Baumwipfel. Ein Hauch von brennendem Treibstoff, von angekohltem Gummi und Lack wehte herüber.
Es war, als habe die Explosion Bindig geweckt. Er mußte fort von hier. Hinüber und hinter den anderen her. Er packte die Maschinenpistole und raffte den weißen Umhang hoch. Er sprang auf die Straße und rutschte aus, aber er fing sich und begann zu laufen. Doch im gleichen Augenblick schob sich der erste Panzer zögernd aus dem Wald. Es war ein weißgestrichener T34.
Bindig spürte den Schlag am Kopf, dicht über der Stirn, wo das Haar ansetzte, und dann hörte er das Geprassel der Maschinen- gewehrgarbe. Während er torkelnd über die Straße glitt, sah er wie durch einen milchigen Schleier den Panzer anhalten und die Kanone herunterkurbeln. Er war benommen von dem Schlag, und das Blut lief ihm in die Augen. Er hatte die Pelzmütze verloren, vielleicht hatte der Schuß sie fortgerissen. Es waren nur winzige Bruchteile von Sekunden, in denen er dachte: Ist das der Tod? Kommt er jetzt und so? Aus dieser Kanone? Oder ist es schon vorbei, seit dem Schlag gegen die Stirn?
Das Maschinengewehr spie eine neue Salve. Er sah das Mündungsfeuer aufzucken, aber die Geschosse fegten über ihn hinweg in den Schnee. Jetzt kommt die Kanone, dachte er, jetzt wird dort in der Mündung die gelbe Flamme aufleuchten, und dann ist es vorbei. Er bewegte die Augenlider. Das Blut tropfte in den Schnee. Da merkte er, daß er sich bewegen konnte. Er raffte sich mit einer unerhörten Anstrengung auf und sprang auf die Füße. Der Boden schwankte, aber Bindig stand, und dann machte er einen Satz vorwärts und floh in den Waldweg hinein. Er war ein paar Schritte weit gekommen, als aus der Mündung der Kanone die Flamme zuckte und die Granate über die Stelle, an der er gelegen hatte, hinwegfuhr, weiter hinten in den Schnee schlug und explodierte. Der Luftdruck schleuderte ihn gegen einen Stamm, aber er fing sich, verwundert darüber, daß er noch immer lebte, daß er gehen konnte, denken. Er lief ein Stück den Weg entlang. Hier konnte der Panzer ihn nicht mehr sehen. Jeder Schritt verursachte ihm einen bohrenden Schmerz am Kopf. Er brachte die Kraft auf, sich mit dem weißen Stoff des Tarnumhanges das Blut aus den Augen zu wischen, während er weiterlief. Und dann hörte er, wie der Motor des Panzers aufheulte und die Ketten wieder zu klirren begannen.
Es waren viele Ketten, Bindig hörte sie Er wußte, daß sie jetzt alle, einer nach dem anderen, dort zwischen den Bäumen hervorkriechen würden. In fünf Sekunden oder etwas mehr konnten sie an der Abzweigung des Waldweges sein.
Bindig sah an der linken Seite des Weges plötzlich eine lichte Stelle zwischen den Fichten. Weiter vorn prasselte das Feuer, dort, wo die brennenden Fahrzeuge standen. Bindig nahm Anlauf und sprang mit einem Satz zwischen die Fichten links des Weges. Er taumelte weiter, in das Gewirr der verfilzten Äste hinein. Nach ein paar Dutzend Schritten fiel er auf das Gesicht und blieb liegen. Er atmete keuchend, und zu dem bohrenden Schmerz im Kopf kam das Blut, das in den Augen brannte. Er wischte es wieder ab, aber es half nichts. Da erinnerte er sich des Verbandpäckchens. Er tastete sich mit der Hand dorthin, wo es verstaut war, und riß es mit klammen Fingern auf. Er konnte die Wunde nicht genau fühlen, aber er fühlte das klebrige Blut und einen zentimeterlangen Riß in der Haut. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, den Mull in die richtige Lage zu bringen und die Enden der Binde am Hinterkopf zusammenzuknoten. Der Schmerz, das dumpfe Bohren, ließ nicht nach. Bindig zog das Blechröhrchen mit den Schmerztabletten aus der Hose. Er ließ, ohne zu zählen, ein paar von den kleinen weißen Pillen in die blutige Handfläche fallen und führte sie zum Mund. Als er die schwache Bitterkeit der Tabletten empfand, stopfte er schnell eine Handvoll Schnee hinterher.
Da bremste der erste Panzer vor der Mündung des Waldweges und schwenkte auf einer Kette herum. Aus seiner Kanone fuhr ein langer Blitz, und das Geschoß schlug irgendwo, weit hinten, in der Nähe der Flammen auf dem Holzplatz ein. Dann fuhr er an und mahlte sich durch den tiefen Schnee am Rande des Weges, dort, wo die Spuren der Kraftfahrzeuge liefen. Er preschte an Bindigs Versteck vorbei, und die anderen folgten ihm, einer nach dem anderen, mit donnernden Motoren, Schnee und aufgewühlte Erde hinter den Ketten in die Luft wirbelnd. Bindig kroch weiter. Zuerst fiel es ihm schwer. Aber dann nahm er alle Kräfte zusammen und schob sich zwischen den Bäumen vorwärts.
Der Verband über der Stirn sog das Blut auf. Bindig konnte jetzt besser sehen, aber um so stärker quälte ihn der Schmerz im Kopf. Es war, als habe ihn jemand mit einem schweren Gegenstand die Schädeldecke eingeschlagen. Er tastete immer wieder in der Nähe des Verbandes, ob da nicht noch eine Wunde war, aber er fand keine. Hinter ihm rasselten die Panzer. Noch waren sie nicht auf seiner Spur, aber sie hetzten ihn trotzdem. Ihr Gerassel spornte ihn an, die letzten Kräfte zusammenzunehmen und vorwärts zu stolpern. Er rannte, nicht darauf achtend, daß die Zweige sein Gesicht peitschten und er mit dem Tarnumhang an den Ästen hängenblieb. Dann fiel hinten am Holzplatz der erste Schuß. Es gab einen kurzen, schmetternden Krach, und Bindig lauschte im Weiterlaufen auf die nächsten Schüsse. Doch die Kanonen der Panzer schwiegen. Aber dafür kamen hastige, rauhe Kommandos herüber, Rufe, die Bindig Angst einflößten. Er spürte nicht, wie die Äste ihm das Gesicht aufrissen, wie der Schnee ihm von oben her in die Stiefel drang, immer wenn er hinfiel und sich kriechend wieder aufraffte. Er hörte die Stimmen und den Pfiff einer Trillerpfeife, und er wußte, was das bedeutete. Er wußte, jetzt würden die Soldaten von den Panzern abspringen, wo sie zusammengekauert, die Waffen zwischen den Knien, gehockt hatten. Jetzt würden sie sich zu einer Kette formieren und in den Wald eindringen. Einer in Rufweite des anderen, die Maschinenpistole vorgestreckt. Ihm war, als kämen sie auf ihn zu, aber in Wirklichkeit gingen sie nicht in seiner Richtung. Sie folgten dem Fluchtweg der anderen, ausgeschwärmt und mit wachen Augen, sicher, daß sie die Flüchtigen einholen würden. Sie kannten nicht genau die Zusammenhänge, aber sie hatten begriffen, was geschehen war.
Bindig stolperte über einen Weg, und dann kämpfte er sich wieder durch verfilztes Fichtendickicht. Es fiel ihm schwer, aber er wußte, daß er hier am sichersten war. In diesem Dickicht konnte man ihn schwer ausfindig machen.
Die Geräusche hinter ihm waren leiser geworden. Die Panzermotoren liefen noch. Aber sie liefen im Stand, und die Kanonen schwiegen. Nur die Maschinenpistolen bellten. Bindig fuhr mit dem Ärmel über die Stirn. Der Verband war durchgeblutet, und das Blut lief ihm wieder in die Augen.
Er holte im Laufen das zweite Verbandpäckchen hervor, und dann hockte er sich in den Schnee und wickelte es über das erste. Er hatte keine Schmerzen, wenn er den Mull über der Wunde berührte, und die Benommenheit hatte ein wenig nachgelassen. Die Tabletten wirkten schnell. Er knotete die Binde fest und erhob sich. In diesem Augenblick hörte er weit hinten ein Maschinengewehr tacken. Es waren schnelle Serien von Schüssen. Sie klackerten bösartig durch die Nacht, und Bindig wußte, daß die ausgeschwärmten Rotarmisten die anderen eingeholt hatten. Das war das Ende. Er spuckte den bitteren Nachgeschmack der Pillen aus und lief weiter. Er hatte kein Ziel, es war auch keine Zeit, sich zu orientieren. Er lief nur immer weiter in den Wald, weg von dem Lärm der Schüsse und dem dumpfen Gemurmel der gedrosselten Panzermotoren. Er preßte eine Hand auf den Verband, und mit der anderen holte er die Pistole aus der Tasche. Er hatte die Maschinenpistole auf der Straße verloren, ohne es zu merken. Er besaß nur noch die Pistole und zwei Handgranaten.
Etwa um die Zeit, in der sie sich für den Rückflug bereithalten sollten, sah Bindig auf die Uhr. Er erinnerte sich sofort an die Maschine und sah ein, daß es aussichtslos war, auf sie zu hoffen. Sie würde den See überqueren, und wenn die Landelichter nicht gesetzt waren, würde sie eine oder zwei Schleifen ziehen und zurückfliegen. Sie würde nicht wiederkommen, auch keine andere Maschine. Die Verbindung war zerrissen. Bindig überlegte, daß es kaum einem der Gruppe gelungen sein konnte, zum Landeplatz durchzukommen. Die Gruppe war verloren, das Unternehmen Friedhof war gescheitert. Und die paar Fahrzeuge, die sie gesprengt hatten, würden keine wesentliche Lücke in die Bereitstellungen der Roten Armee reißen.
Er war weit gelaufen. Von der Schießerei war nichts mehr zu hören, der Ort lag mehrere Kilometer weit hinter ihm. Bindig wußte nicht einmal, ob es dort noch Widerstand gab oder ob bereits alles vorbei war. Er war gelaufen, so schnell ihn seine Füße trugen, mit dem bohrenden Schmerz im Schädel und mit der Binde um die Stirn, auf der das Blut inzwischen gefroren war. Seine Nerven hämmerten. Er hatte die Pistole längst wieder gesichert aus Angst, sie durch irgendeine unbeabsichtigte Bewegung abzufeuern. Er fühlte sich schwach und zerschlagen. Ihm war, als müsse er jeden Augenblick zu Boden fallen und liegenbleiben. Aber er wußte, daß es sein Ende bedeutete, wenn er jetzt hinfiele und liegenbliebe. Vielleicht würde er so, wie er war, ein paar Stunden schlafen können. Aber wenn er erwachte, würde er nicht mehr die Kraft aufbringen, sich zu erheben und weiterzumarschieren. Davor hatte er Angst.
Schließlich fragte er sich, wohin er überhaupt marschiere. Er wußte es nicht. Er war geflohen, aber ohne Ziel. An einen Baum gelehnt, rauchte er eine Zigarette. Sie machte ihn hungrig, und er aß ein paar Kekse. Er wurde nicht satt von dem, was er in den Taschen hatte. Die Schokolade war das letzte. Er sparte sie auf, aber er wußte nicht genau wofür. Dann ging er weiter, eine Hand an den Verband am Kopf gepreßt, in der anderen die Pistole. Als es im Osten zu dämmern begann, öffnete sich der Wald, und vor ihm lag eine Straßengabelung. Er hockte sich an den Rand des Waldes und beobachtete die Straße lange. Sie zeigte Spuren von Fahrzeugen, aber gegenwärtig war sie still. An der Gabelung stand ein Wegweiser. In halber Höhe war unter ihn ein blauweißes Schild mit einer russischen Aufschrift genagelt. Vorsichtig näherte sich Bindig der Tafel und entzifferte die Namen. Er prägte sie sich ein und schlich zurück in den Wald. Auf dem Schnee breitete er die Landkarte aus, die er in der Tasche trug. Es dauerte eine Weile, bis er die Stelle gefunden hatte, an der er sich befand. In der beginnenden Morgendämmerung beugte er sich über das auf dem Schnee ausgebreitete Papier und entzifferte die Namen von Ortschaften, Flüssen, Vorwerken.
Er war nach Westen gelaufen. Auf die Front zu. Aber er war der Front noch nicht nahe gekommen, denn er hatte, ohne es zu merken, viele Bogen geschlagen. Undeutlich formte sich in seinem schmerzenden Kopf die Absicht, weiter auf die Front zuzulaufen und sie zu überqueren. Er wußte, daß es vielleicht möglich sein würde, aber er sah, daß der Weg noch sehr weit war. Und er kannte die Wälder nicht, die sich bis dahin erstreckten. Es war Leben in diesen Wäldern dicht an der Front. Sie waren vollgestopft mit Bereitstellungen, mit Infanterie, Artillerie. Sie waren gefährlich und hatten tausend Augen. Tausende von Gewehrläufe lauerten in ihnen. Leute, die ihn fragen würden, wie er zu der Kopfverletzung kam, die ihn überhaupt ansprechen würden und denen er nicht antworten konnte. Er sah an sich herab.
Unter dem zerfetzten, blutbespritzten Schneehemd trug er die Uniform der Rotarmisten. Er biß sich auf die Lippe und sah auf die Wälder, die in die Karte eingezeichnet waren. Diese Wälder waren nicht für einen Mann wie ihn gemacht. Für einen, der die falsche Uniform trug und der nicht wußte, ob die Wunde am Kopf es ihm in ein paar Stunden noch erlauben würde, aufrecht zu gehen.
Dann entdeckte er, daß er sich in der Nähe von Haselgarten befand. Er legte den Finger auf die Karte und fuhr von der Stelle, an der er jetzt stand, über das Papier bis nach dem Dorf und von da bis an die Linie, auf der die Front verlief. Es war eine gerade Linie, die er mit dem Finger zog. Er tat es einmal und dann, nach einer Weile, noch einmal. Dabei sah er, daß sein Finger und überhaupt die ganze Hand blutig war, und er betastete instinktiv wieder die Binde am Kopf. Sie fühlte sich steifgefroren an, aber an den Rändern war. sie feucht. Dort quoll langsam das Blut nach, und es lief Bindig auch jetzt noch die Stirn herunter und in die Augen. Aber es lief langsamer, und er brauchte es nicht mehr so oft abzuwischen.
Haselgarten, dachte er, vielleicht ist es da einfacher, weil man die Gegend kennt. Aber wie werde ich über die Front kommen? Bis ich dort bin, werde ich nur noch schwach auf den Beinen stehen. Und sie werden ein System von Schützenlöchern eingerichtet haben. Aber ich bin nicht mehr der Bindig, der sich lautlos und schnell mit dem Kappmesser eine Gasse macht. Bis ich dort bin, werde ich ein schlappes Gespenst in sowjetischer Uniform sein. Oder ich werde es vorher schon aufgeben. Er ließ den Kopf sinken und schloß die Augen. Sie sind alle tot, dachte er. Timm ist tot, und Zado ist tot. Paniczek auch, und der Obergefreite mit dem Bols. Und die fünf Russen und die anderen ebenso. Ich bin der letzte. Und zur Front führt diese gerade Linie, zwischen den beiden kleinen Seen hindurch, über das Grasland, bis zu dem Gelände, in dem einmal früher die Front verlief, bevor wir Haselgarten verloren. Dann kommt Haselgarten, und weit dahinter verläuft jetzt die Front. Westlich davon. Es ist nicht sicher, ob sie das in die Karte richtig eingezeichnet haben. Als wir abflogen, war ein ziemliches Durcheinander da vorn.
Der Himmel im Osten wurde hell, Bindig konnte sich nun genau orientieren, als er weiterging. Er schlich über die Straße und schlug den Weg nach Haselgarten ein.
An der nächsten Straße, die er zu überqueren hatte, mußte er eine Stunde lang seitlich im Wald kauern, bis er es wagen konnte, die Fahrbahn zu überschreiten. Es war heller Tag, und Fahrzeuge flitzten über den glattgefahrenen Schnee. Sie nahmen keine Rücksicht auf deutsche Flieger, denn es gab keine, die sie hätten beschießen können. Zuerst hatte Bindig geglaubt, das ganze Hinterland würde in Aufregung versetzt sein durch den Überfall in der Nähe des Holzplatzes. Er hatte angenommen, daß alle Straßen abgesperrt seien und Infanterie systematisch das Land abkämmen würde. Er spürte nichts davon. Es war, als habe sich weiter nichts ereignet. Die Jeeps flitzten geschäftig hin und her, Lastwagen dröhnten in unablässigen Kolonnen. Dazwischen Panzer und Artillerie, immer wieder Artillerie, Pferdefahrzeuge mit vermummten Gestalten auf den Kutschböcken, oft in langen Kolonnen. An manche der Pferdewagen waren Schlitten gebunden. Kleine, einem flachen Boot ähnelnde vollbepackte Transportmittel. Bindig lag im verschneiten Gehölz, und es bereitete ihm Mühe, alles in sich aufzunehmen, was auf der Straße vor sich ging. Der Schmerz bohrte in seinem Kopf; manchmal mußte er minutenlang die Augen schließen. Als er eine Stunde an der Fahrbahn gelegen hatte, begriff er, wie wenig das Unternehmen Friedhof einen Aufmarschplan dieser Armee erschüttern konnte. Er hatte noch nie so direkt und so nahe an einer Nachschubstraße gelegen. Es war das erstemal, daß er die fremden Soldaten aus so geringer Entfernung betrachtete, ohne einen Auftrag zu haben, der ihm einen bestimmten Weg wies. Endlich, als der Strom der Fahrzeuge für kurze Zeit abriß, raffte er sich auf und wagte den Sprung über die Straße. Der Schweiß brach ihm aus den Poren, als er auf der anderen Seite im Geäst der Bäume verschwand. Er glaubte noch lange, entdeckt zu sein, und manchmal blieb er stehen, die Pistole in der Hand, um seine vermeintlichen Verfolger zu erwarten. Sie kamen nicht.
Er bekam überhaupt den ganzen Tag keinen Soldaten mehr zu Gesicht, denn jedesmal, wenn er Anzeichen für die Ansammlung von Truppen entdeckte, schlug er einen großen Bogen. Am Nachmittag war sein Hunger so stark, daß er die letzte Schokolade aß. Nun hatte er nichts mehr in den Taschen als das Pervitin und ein paar Zigaretten. Haselgarten war nur eine Kleinigkeit näher gekommen. Er hatte zu viele Bogen gemacht, und er hatte zu oft, erschöpft vom Blutverlust, ausruhen müssen. Aber er schleppte sich weiter, bis die Dämmerung kam. Das war um die Zeit, als er eins der Dörfer umgehen mußte, die auf seinem Weg lagen. Er schlich sich in weitem Bogen seitwärts daran vorbei, aber das Dorf dehnte sich weit aus, und es lag voller Truppen. Aus den Kaminen stieg Rauch in den Himmel. Bindig beobachtete das Treiben zwischen den Häusern eine Weile vom Rande einer Sandgrube aus. Die rauchenden Kamine und die Lichter in den Fenstern riefen in ihm die Erinnerung an Wärme und Geborgenheit wach. Er starrte auf das Dorf, und zum erstenmal überlegte er, was wohl geschehen würde, wenn er jetzt einfach dorthin ginge und sich gefangengäbe. Er dachte den Gedanken nicht zu Ende, er sah nur auf seine Stiefel und auf die braungelbe Uniform, die er trug. Er sagte sich, daß es nicht möglich war, einfach dort hinzugehen, ohne sich damit abzufinden, daß man getötet wurde. Und er wollte leben, er hatte noch nie zuvor sich so mit aller Kraft an das Leben geklammert. Er wollte es retten.
Sie töten dich, dachte er. Du hast ihre Uniform an, das ist verboten. Sie haben das Recht, dich einfach an die Wand zu stellen, und niemand wird dich bedauern, wenn sie es tun. Du hast den Einsatz gekannt, und du bist mitgegangen. So sieht das Ende aus. Du mußt weitermarschieren.
Später machte er im Wald einen Weg ausfindig, der schnurgerade nach Westen führte. Der Weg war verschneit, und Bindig ging ihn, bis er kurz nach Mitternacht wieder aus dem Wald herauskam.
Da lag vor ihm eine ziemlich weite, freie Fläche, ein See, an dessen rechtem Ufer eine Straße entlanglief, auf der die Scheinwerfer von Fahrzeugen herumtasteten. Links schloß sich ein Dorf an das Seeufer an. Eins von den kleinen, geduckten Dörfern mit ihren verschneiten Häusern. Bindig sah, daß in einigen der Fenster Licht brannte, und er wußte, daß er zwischen der Straße und dem Dorf den See überqueren mußte. Es war dunkel. Man würde ihn auf diese Entfernung weder von der Straße her noch vom Dorf aus sehen können. Er trat noch einmal in den Schatten der Bäume und brannte den Stummel einer Zigarette an, die er mittags zur Hälfte geraucht hatte. Dabei betrachtete er den See und schätzte die Entfernung ab. Er würde einen Kilometer oder mehr zu laufen haben, bis er am anderen Ufer war. Und dort begann Buschwerk, das zuletzt in einen nur undeutlich erkennbaren Wald überging. Es war eine weite Strecke.
Das Eis war nur mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Der Wind hatte den Schnee fortgetrieben. Nur zuweilen türmte sich eine einzelne Wehe höher auf. Bindigs Stiefel waren mit Leder beschlagen. Das verlieh ihm einen sicheren Halt auf der glatten Eisfläche. Aber sein Gang war schwankend. Er war müde und hungrig. Der Schmerz im Kopf war noch immer da. Er hatte zwar nachgelassen, aber die Tabletten, die Bindig von Zeit zu Zeit nahm, konnten ihn nicht ganz beseitigen.
So kam es, daß er mehr glitt als ging und die Stelle im Eis nicht bemerkte, die unsicher war. Vor Tagen hatte hier jemand gefischt. Er hatte das Eis aufgehackt oder auch aufgesprengt, hatte ein paar Handgranaten ins Wasser fallen lassen und die nach der Explosion mit zerrissener Schwimmblase oben treibenden Fische aufgelesen. Einige von ihnen, die ihm zu klein gewesen waren, hatte er liegenlassen. Sie waren nach Stunden, als sich die geöffnete Stelle wieder mit einer neuen Eisschicht überzog, in diese Schicht eingefroren.
Das alles sah und begriff Bindig erst viel später.
Er trat auf die neue Eisschicht, und sie gab unter seinen Füßen nach. Er warf sich zurück, aber die Bewegung fiel zu schwach aus. Er brach ein in das klare, eiskalte Wasser, und während er versank, schlug er mit der verletzten Stelle am Kopf hart an die Kante des Eises. Er schrie auf, aber er war bereits mit dem Kopf im Wasser, und es war weiter nichts zu hören als ein undeutliches Gurgeln. Bindig hatte noch Kraft genug, um ein paar Schwimmbewegungen auszuführen, die ihn an die Oberfläche brachten. Er konnte sich über Wasser halten, aber wohin er griff, um sich auf das Eis zu ziehen, bröckelte es ab, und er tauchte bei seinen Versuchen immer wieder mit dem Kopf unter.
Er schluckte das eiskalte Wasser und spürte, wie es langsam seine Kräfte lähmte. Seine Finger erstarrten. Er konnte die Beine in den schweren Stiefeln kaum noch bewegen. Der Entschluß zu schreien kam ganz plötzlich. Bindig rief um Hilfe, ohne zu überlegen, was geschehen würde, wenn jemand ihn hörte. Doch es hörte ihn niemand, denn aus seiner Kehle kam nichts als ein Krächzen, das schon wenige Meter neben der Einbruchstelle nicht mehr vernehmbar war.
Er spürte, daß ihm dadurch keine Hilfe gebracht wurde, und er packte mit verzweifelten Anstrengungen nach den dünnen Eisrändern, die abbrachen und neben seinem Kopf im Wasser trieben. Er merkte nicht, daß er die Binde verloren hatte und daß die Wunde wieder blutete; denn es war dunkel, und er konnte das blutig gefärbte Wasser nicht sehen. Meterweise brach das Eis ab wie sprödes Glas.
Aber dann war Bindig am Rand der alten, dicken Eisfläche angelangt. Er spürte es, denn sie gab unter seinem Griff nicht nach. Sie war fest und hielt sein Gewicht aus, als er sich anklammerte, erschöpft von den Bewegungen, mit denen er sich über Wasser halten mußte.
Es gelang ihm, sich so weit aus dem Wasser herauszuarbeiten, daß er die Ellbogen auf das Eis stützen und sich ausruhen konnte. Dabei spürte er, wie sein Unterkörper langsam erstarrte und wie es immer schwerer wurde, die Glieder zu bewegen. Aber in dem erschöpften Körper lebte noch ein Teil der früheren Zähigkeit, und Bindig, der den Schreck überwunden hatte, begann zu rechnen. Er schob die Ellbogen zentimeterweise so weit auf das Eis, daß er mit dem Kopf weit über dem Rand der Scholle lag. Alles hing davon ab, ob das Eis dieses Gewicht trug. Aber das Eis war dick. Es war das alte Eis aus den Tagen des strengen Frostes.
Bindig merkte, daß ihm aus dem Haar Wasser über das Gesicht lief. Aber dieses Wasser erschien ihm seltsam warm, und als er mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte er, daß es Blut war. Fast im gleichen Augenblick nahm er den Schmerz wahr, der erneut in der Wunde bohrte und der ihm erst jetzt wieder bewußt wurde. Das trieb ihn zu einer letzten, verzweifelten Anstrengung. Er hob erst eine Schulter an und dann die andere. Er spürte, wie er dabei Zentimeter vorwärts rutschte. Er wiederholte es einmal und noch einmal. Die Kante des Eises preßte sich gegen seine Brust, dann war es, als ob diese Kante immer tiefer rutschte, die Brust hinab bis in die Magengegend, tiefer und weiter, bis das Übergewicht des Körpers über der Kante lag, bis Bindig, sich auf den Unterarmen langsam vorwärts bewegend, die Füße aus dem Wasser ziehen konnte.
Er blieb bewegungslos liegen und ließ den Kopf auf die Hände fallen. Nach einer Viertelstunde klebten die eisigen Kleidungsstücke an seiner Haut, und nach einer weiteren Viertelstunde waren sie steif gefroren. Das Blut, das auf seine Handflächen rann, war warm. Er hob müde den Kopf und sah sich um. Weit und breit war kein Mensch. Niemand hatte ihn gehört oder gesehen. Da vorn ging der See zu Ende, das waren noch ein paar hundert Meter.
Er arbeitete sich hoch, bis er auf den Knien lag. Er fühlte sich schwindlig und kraftlos. Jede Bewegung verstärkte den bohrenden Schmerz am Kopf. Wenn er sich bewegte, raschelten die gefrorenen Kleidungsstücke. Auf den Knien liegend, riß Bindig von dem einstmals weißen Schneehemd, das zerfetzt und schmutzig geworden war, einen Fetzen ab. Er mußte ihn in der Hand auftauen, denn er war gefroren. Er band den Fetzen, so gut es ihm gelang, um den Kopf, und dann bekam er es fertig, sich mit großer Kraftanstrengung auf die Füße zu stellen. Die Knie knickten ihm ein, als er sich weiterschleppte, aber er schleppte sich bis an den Rand des Sees und von dort weiter, durch das halbhohe Buschwerk, durch knöcheltiefen, leicht verharschten Schnee, bis zum Wald.
Im schwachen Mondlicht zog er aus der Tasche die Karte, aber er konnte kaum etwas darauf erkennen. Er nahm die Richtung nach Westen auf und schleppte sich weiter. Manchmal drohte er umzufallen, und dann lehnte er sich minutenlang an einen Stamm. Die Kälte stach in seinem Körper, und dort, wo die gefrorene Kleidung an der Wärme des Körpers auftaute, verursachte sie ihm Frostschauer.
Am Morgen sah er wieder auf die Karte. Er befand sich in der Gegend um Haselgarten. Er stand an einen Baum gelehnt und beobachtete das Land.
Weit im Westen lag das Dorf. Er konnte es sehen. Es lag im Morgendunst, und Bindig zweifelte daran, daß er noch die Kraft aufbringen würde, sich bis dahin zu schleppen. Von Haselgarten aus konnte es nicht mehr weit bis zur Front sein, und Bindig rechnete damit, daß später, wenn die Artillerie zu schießen begann, er auf diese Weise die Richtung gewiesen bekommen würde. Aber was nutzte die Richtung, wenn es ihm nicht mehr möglich war, die Entfernung zurückzulegen? Er mußte jetzt sehr vorsichtig sein. Öfter als sonst bewegten sich Kolonnen auf Straßen und Nebenwegen. Hier und da waren Geschütze abgestellt. Es war alles in Bewegung.
Es war ein emsiges Hin und Her, und Bindig zweifelte langsam daran, daß er es überhaupt bis zur Front schaffen würde.
Das, womit er hier zu rechnen hatte, war nicht mehr ein einzelner Posten, den er bei Nacht überfiel. Das war eine ganze Armee mit allem, was sie für die nächste Offensive aufbot. Es war ein Heerlager von riesigen Ausmaßen, dessen Dichte Bindig unglaublich erschien.
Der weiße Umhang war so zerrissen, daß er hinter Bindig auf dem Schnee schleifte. Er zog ihn ab und ließ ihn einfach liegen. Während er sich weiterschleppte, merkte er, daß seine Kräfte zu Ende waren. Seine Schritte wurden immer unsicherer, und die Schmerzen zermürbten ihn, seit er keine Tabletten mehr dagegen nehmen konnte. Er besaß noch zwei Zigaretten, aber sie waren ebenso wie die letzten Schmerztabletten im Eiswasser des Sees aufgeweicht und unbrauchbar geworden. Das Feuerzeug hatte er irgendwo verloren. Er bedauerte es nicht. Er hatte überhaupt nicht mehr die Kraft, etwas zu bedauern. Er schleppte sich vorwärts. Das einzige, wozu er sich aufraffte, war die Aufmerksamkeit, mit der er die Gegend beobachtete. Es war die Angst, die ihn dazu trieb, aber das merkte er nicht.
Gegen Mittag brach er das erstemal zusammen und blieb zwischen den dürren Büschen des Graslandes, das er überquerte, eine Stunde liegen. Er fühlte sich nicht gestärkt, als er aufwachte, aber es gelang ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Als der Tag zu Ende ging, lag er auf einer Böschung am Rande des Hohlweges, der einmal von Haselgarten zur Front geführt hatte, und sah hinüber nach dem Gehöft, in dem Anna gewohnt hatte.
Es bereitete ihm ein wenig Schmerz, diese Gegend noch einmal zu sehen, aber seine Fähigkeit, etwas zu empfinden, war in den letzten beiden Nächten abgestumpft, und er bestand nur noch aus einem Bündel Knochen und Muskeln, das schlaff und kraftlos dem Lebensinstinkt folgte. Er konnte das Gehöft deutlich sehen. Es schien nichts verändert zu sein. Offenbar hatte das Haus bei den Kämpfen keinen Treffer abbekommen. Auch der Zaun stand noch, aber das Hoftor war offen. In den Fenstern saßen noch die alten, zusammengestückelten Scherben. Nach einer Weile schien es Bindig, als steige aus dem Schornstein eine feine Rauchfahne empor. Aber er konnte es nicht genau erkennen, denn hinter dem Haus stand eine dunkelgraue Wolke, von der sich der Rauch, der aus dem Kamin stieg, nicht abhob.
Die Frau erschien ganz plötzlich auf dem Hof. Sie trat aus der Haustür und stellte einen Eimer mit Futter ins Freie, so wie sie es oft getan hatte, wenn Bindig bei ihr gewesen war. Sie trug ein rotes Kopftuch und hielt sich nicht lange im Hof auf. Sie stellte nur den Eimer ab und ging ins Haus zurück. Hinter der grauen Wolke lag Westen. Aus der gleichen Richtung kam gedämpftes Gewummer von Geschützen. Ein paar einzelne Schüsse, die wenig Bedeutung hatten. Die Schneefläche um das Dorf war zerwühlt und schmutzig. Sie war mit Granatlöchern übersät. Da und dort lag zerschossenes Gerät. Es hatte die letzten Tage nicht mehr geschneit.
Bindig sah ungläubig, fast erschrocken auf das Gehöft. Es war ihm, als täuschten ihn seine Sinne. Er blickte nach der anderen Seite, zum Dorf. Die Soldaten mußten wohl in den Kellern hausen, denn über der Erde gab es nach den letzten Kämpfen kaum noch ein heil gebliebenes Gebäude. Zwischen den Ruinen standen Fahrzeuge. Bindig sah von dort wieder auf das Gehöft, und dann begriff er, daß er keiner Täuschung zum Opfer gefallen war. Dort stand der Eimer vor der Tür. Es gab keinen Zweifel: Hinter der Tür, in derselben Küche, in der Bindig zum erstenmal zusammen mit ihr an einem Tisch gesessen hatte, war Anna. Er versuchte aufzustehen. Es gelang, aber er brauchte fast alle seine Kräfte dazu. Er rutschte aus und fiel die Böschung hinunter. Als er sich am Boden des Hohlweges wieder aufgerafft hatte, torkelte er schrittweise vorwärts. Er wußte plötzlich, daß dies die letzte Anstrengung war, zu der er sich zwingen konnte.
Es war stockdunkel, als er das Gehöft erreicht hatte. Das Hoftor war noch immer offen. Als Bindig es passiert hatte, begann das Haus vor seinen Augen zu schaukeln und zu kreisen. Mit Mühe gelang es ihm, die Haustür zu öffnen. Er tastete sich mit halbgeschlossenen Augen durch die Dunkelheit des Flurs. An der Küchentür nahm er einen Lichtschein wahr. Er wußte nicht, daß sein Gesicht und seine Kleider blutverschmiert waren, daß seine Hände voller verkrustetem Blut und Schmutz waren, daß sein Gesicht bleich und hohlwangig aussah und der Fetzen, den er um den Kopf gewickelt hatte, einem roten Fahnentuch ähnlicher sah als einem Stück weißer Leinwand.
Er tastete nach der Türklinke und drückte sie herunter, und als die Tür nachgab, stürzte er der Länge nach in die Küche.
Er hatte den Offizier, der am Tisch saß, noch wahrgenommen, aber weder ahnte er, daß es Warasin war, noch, daß er gekommen war, um Anna eins von den großen, in Formen gebackenen Kommißbroten und ein paar kleine Säckchen mit Hirse und Bohnen zu geben. Er hörte die Frau nicht mehr aufschreien und sah nicht mehr, wie Warasin aufsprang und zu ihm eilte.
Die Frau schlug die Hände vor das Gesicht. Warasin rüttelte Bindig. Dabei fragte er aufgeregt: »He… hören Sie! Wie kommen Sie… in diese Uniform…«
Dann sah er unter dem verrutschten Fetzen Stoff die Wunde am Kopf. »Mein Gott!« schrie Anna. »Mein Gott, was ist… was ist nur…«
»Eine Kopfverletzung«, sagte Warasin leise, »geben Sie mir ein paar saubere Tücher und warmes Wasser. Schnell… geben Sie…«