Er lehnte an einem Gartenzaun, ein nicht sehr großer, flinker Junge mit stark gekrümmter Nase. Er trug das Haar sehr kurz, und seine Knie waren zerschunden, die kurze Hose ließ es erkennen. Er schaute über die Gärten hinweg, dorthin, wo die Stadt begann. Sie begann mit Reklameaufschriften von Persil und Rama-Margarine. Er sah dorthin, als warte er auf jemand, aber über die Wiese mit dem ausgedörrten Gras kam niemand. Auch auf dem Weg zwischen den Gärten war niemand zu sehen. Um diese Zeit machten die Frauen das Mittagessen fertig, und die Männer arbeiteten. Es war heiß. Werner Zadorowski überlegte angestrengt, ob es sich lohne, noch vor dem Mittagessen zum Bach hinab zu laufen. Er entschied sich dafür, es erst nach dem Mittagessen zu tun. Es gab Ärger zu Hause, wenn er zu spät kam.
»Komm«, sagte er zu einem der Jungen, die ihn umstanden, »wir machen es noch mal. Jeder drei Würfe.« Er griff in die Hosentasche und zog ein Fünfpfennigstück heraus. Er warf es in die Luft und fing es geschickt wieder auf.
»Ich setze fünf Pfennig. Was setzt ihr?«
Die Jungen setzten Veilchenpastillen und klebrige Drops in schmutzigem Papier. Das Mädchen blieb auf dem Gras hocken und blinzelte Werner an.
»Du nicht?« fragte er sie.
Es war ein kleines, dürres, rothaariges Mädchen. Sechste Klasse wie er. Sie saß in der Bank vor ihm. Manchmal blickte er eine ganze Stunde lang nur auf ihren Rücken und nicht auf den Lehrer an der Tafel. Sie hatte einen schmalen Rücken, und Ihr Haar hing weit herab wie eine entflammte Fackel. Das Mädchen hieß Franziska. Sie war sauber angezogen und gewaschen. Sie hatte die Augen einer Siebzehnjährigen.
»Ich gucke zu«, sagte Franziska.
Er verzog das Gesicht und nahm das Messer aus der Tasche. Einer der anderen befestigte das Bild an der Rückwand der Gartenlaube. Er tat es sehr gewissenhaft, mit Stecknadeln, die er einer flachen Blechschachtel entnahm. Es war ein Reklamebild aus einer Packung Francks Kaffee. Unter dem Kopf des ernst blickenden Mannes stand der Name Carl Peters. Auf der Rückseite war zu lesen, weshalb man ihn auf ein Reklamebild druckte, aber das hatten die Jungen nicht gelesen.
»Es hängt schief«, bemängelte Werner, »und etwas zu hoch.«
Nach ein paar Minuten hing das Bild richtig. Sie hatten alle ihre Messer herausgenommen. Ein halbes Dutzend Jungen mit einem halben Dutzend verschiedener Messer. Mit Sandpapier glänzend geriebene Taschenmesser, Küchenmesser.
Werner hatte das schönste Messer. Es hatte eine Mark gekostet. Die hatte er mit Botengängen verdient. Er nahm das Messer und ließ es in der Sonne blinken. Es war scharf geschliffen, und vom Griff hingen zwei lange rote Bänder herab. Er wog es in der Hand und sagte: »Werft ihr zuerst. Drei Würfe, jeder zählt. Die mit Treffern machen noch eine Runde.«
Er hockte sich neben Franziska, während die anderen sich ein paar Meter von dem Bild entfernt aufstellten und die Messer schleuderten. Er brauchte nicht um sein Fünfpfennigstück zu fürchten, die anderen konnten nicht mit ihren Messern umgehen. Ein Zufall konnte ihm Pech bringen, aber dieser Zufall war selten. Die anderen Jungen hofften darauf, aber ihre Hoffnungen blieben unerfüllt. Einer traf den Rand des Bildes. Es war das einzige Messer, das dem Mann auf dem Bild überhaupt hatte gefährlich werden können. »Ah…«, sagte Werner, sich erhebend, »legt mal die Drops schön zusammen !«
Das Mädchen sah ihm mit gesenktem Kopf zu. Sie war die einzige, die mit den Jungen spielte. Sie lief hinter Werner her, alle wußten es, aber keiner wagte etwas zu sagen. Werner verstand keinen Spaß, wenn es um das Mädchen ging. Er stellte sich vor der Bretterwand auf, dort, wo auch die anderen gestanden hatten. Das Mädchen ließ den Blick nicht von ihm. Sie hielt den Kopf tief gesenkt und beobachtete den Jungen mit ihren flinken, dunklen Augen.
»Aufgepaßt!« sagte Werner halblaut. Er holte aus. Das Messer schwang durch die Luft, mit einer kreisenden Bewegung. Er hielt es auf besondere Art, den Zeigefinger an der Klinge liegend. Als er es fliegen ließ, zuckte es wie ein Blitz auf die Bretterwand zu, die beiden roten Bänder flatterten an seinem Heft. Es blieb zitternd stecken. Der Kopf des Mannes auf dem Bild war heil, aber einen Fingerbreit vor den Augen des Mannes stak die Klinge. Werner holte es, ohne ein Wort zu sagen, wieder zurück. Der Junge, der als einziger das Bild getroffen hatte, sagte halb bewundernd, halb ärgerlich: »Wie du das bloß machst, daß es immer steckenbleibt…«
Werner erwiderte nichts. Das Messer zuckte zum zweitenmal in die Bretterwand. Hinter der Laube flog ein Vogel auf.
Das Mädchen hörte das Geräusch, aber es nahm den Bück nicht von dem Bild mit dem Messer.
»Schulter«, sagte Werner kurz, als er das Messer herauszog. Die anderen prüften das Ergebnis mißtrauisch. Das Messer saß dort, wo sich in den Schultern der Anzüge die Wattepolster befinden. »Die Drops hast du gewonnen…«, sagte einer kleinlaut. Werner beachtete ihn nicht. Er warf das Messer zum drittenmal, und bevor er es warf, wog er es liebevoll in der Hand. Es war ihm mehr wert als seine beiden Indianerbücher und das Fernglas, das der Vater ihm gegeben hatte, als er zehn Jahre alt geworden war. »Aufgepaßt«, rief er lachend, »jetzt stirbt er!«
Das Mädchen Franziska öffnete den Mund ein wenig. Sie hatte kleine spitze Zähne. Sie fuhr mit der Zunge über die Lippen und sah dabei das Messer fliegen.
»So!« sagte Werner und steckte die Hände tief in die Taschen. Er ließ zuerst die anderen das Bild betrachten, dann ging er selbst nahe genug heran. Der Junge, der das Bild auch getroffen hatte, sagte anerkennend: »Gewonnen. Zwei Treffer.« Er hielt ihm die Drops hin. Werner nahm sie und rümpfte die Nase dabei. Er hielt Franziska die Hand hin und sagte: »Da, nimm das Zeug. Ich esse das nicht.«
Das Mädchen nahm gehorsam die Süßigkeiten und erhob sich. Es ging zu der Bretterwand und blieb schweigend davor stehen, die Hand mit den Drops vom Körper abhaltend.
»Im Hals«, sagte einer der Jungen. »Ob der davon tot ist?«
Werner zog das Messer aus dem Holz und wischte es ab. Während er es in die Hosentasche steckte, sagte er nachlässig: »Und ob der tot ist. Da, wo das Messer traf, ist die Halsschlagader. Der stirbt ganz schnell. Ihr könnt ihn gleich noch begraben…«
Die Jungen lachten und redeten durcheinander. Einer nahm das Bild ab und wollte es wegwerfen. Aber Franziska nahm es ihm aus der Hand. Still und ohne eine Gebärde steckte sie es in die Tasche ihrer Spielschürze.
»Im Kopf wäre es besser gewesen«, sagte einer der Jungen, »so im Auge oder so…«
Werner blickte wieder dorthin, wo die Stadt begann. In dem Haus mit der Persil-Reklame wohnte er. Ein Stockwerk über Franziska. »Du Dummer…«, sagte er nachsichtig, »als ob ein Messer durch Knochen geht! Der Kopf ist aus Knochen, da kommst du mit dem Messer nicht durch. Halsschlagader ist das einzig richtige…« Er sah Franziska an und fragte sie: »Hast du schon Hunger?« Sie schüttelte den Kopf, aber es war nicht sehr überzeugend. »Gehen wir essen«, schlug Werner vor. Er überlegte einen Augenblick, dann fragte er die anderen: »Kommt ihr am Nachmittag mit zum Fluß?«
Sie hatten nichts Besseres vor. Es waren Ferien.
»Gut«, sagte Werner und lachte, »in einer Stunde. Holt noch die anderen zusammen. Mal sehen, wenn die von der Mauerstraße am Fluß sind, vermöbeln wir sie wieder anständig…«
Sie zerstreuten sich, als sie heimgingen. Werner streckte die Hand aus und sagte zu Franziska: »Komm, Rotschwänzchen…« Das Mädchen schlug ihm beleidigt auf die ausgestreckte Hand. Aber sie ging neben ihm her. Sie war kleiner als er, und ihr rotes Haar flammte in der Sonne.
Als er sechzehn Jahre alt war, schenkte sein Vater ihm ein Fahrrad. Er machte das sehr feierlich. Der alte Zadorowski war Steuerinspektor. Die Frau war ihm vor zwei Monaten gestorben, und nun war er mit dem Sohn allein. Es war zu weit vom Steueramt bis in die Wohnung am Stadtrand, und Zadorowski kam zum Mittagessen nicht nach Hause. Er gab dem Jungen Geld, damit er sich jeden Mittag etwas zu essen kaufen konnte. Werner kam um die Mittagszeit aus dem Gymnasium nach Hause. Dann schnitt er sich von dem Brot in der Büchse ein paar Scheiben ab, kratzte Margarine darüber und aß sie. Dazu trank er den kalten, schwarzen Kaffee vom Morgen. Das Geld behielt er. Ein halbes Jahr später hatte er genug beisammen, um ein Fahrrad zu kaufen. Er ging in das nächste Geschäft und kaufte das schönste Damenfahrrad. Er fuhr es ein paar Häuser weiter, dorthin, wo der Junge wohnte, der damals mit dem Messer auch das Bild getroffen hatte. Der Junge lernte Schlosser. Er verdiente schon Geld, und er ging ziemlich großzügig damit um.
»Paß auf, Max«, sagte Werner, »ich stelle dieses Fahrrad bei dir ein. Es gehört Franziska. Wenn dich jemand fragt, gehört es dir oder deiner Schwester, und ihr borgt es Franziska.«
»Ist es geklaut?« erkundigte sich der Junge.
»Nein«, sagte Werner, »gekauft.«
»In Ordnung«, erklärte Man, »hast du eine Zigarette?«
Werner hatte eine. Sie rauchten, und Max sagte anerkennend: »Die Franziska wird ein hübsches Mädchen. Eine Brust hat sie…«
Es wurde Mai. Sie lagen irgendwo unter rosa blühenden Bäumen in einem Wäldchen, weit von der Stadt entfernt. Die Berge erhoben sich über ihnen. Sie waren allein. Die Fahrräder lagen abseits. Es war Sonntag, sie waren hinausgefahren, um miteinander allein zu sein.
»Du wirst fortgehen, und ich werde mich einsam fühlen ohne dich…«, sagte Franziska. Sie sah aus wie eine Zwanzigjährige. Sie hatte noch immer das lange rote Haar. Es fiel über ihre Schultern. Er spielte mit diesem roten Haar, und seine Hand glitt unter ihre geöffnete Bluse. Die Haut ihrer Brüste war weiß wie frische Milch.
»Ich werde immer mal zu Hause sein«, sagte er. Es klang gepreßt. Er streichelte ihre Brüste.
»Dein Vater hat gesagt, er sähe es nicht gern. Er wolle versuchen, es dir noch auszureden. Er hat es zu meiner Mutter gesagt.«
Er öffnete ihre Bluse ganz und küßte ihre Haut.
»Ich werde dir schreiben«, sagte er leise, »und ich werde immer mal zu Hause sein. Ich werde aus Berlin schreiben und aus Amsterdam und Paris. Aus der ganzen Welt…«
Sie streichelte sein Gesicht. Ihre Finger spielten mit seinem Haar. Sie sah seine Augen über ihrem Gesicht. Ein paar halbgeöffnete, glänzende Augen.
»Du…«, sagte sie, »du darfst keine andere haben, wenn du fort bist, hörst du? Keine andere außer mir…«
Er antwortete nicht. Er umfing ihren Körper. Dieser Körper war biegsam und heiß. Die Haut war glatt und seidenweich.
»Warte nur…«, flüsterte er. »Einmal werde ich zurückkommen, und dann werde ich mein Auto vor dem Haus parken. Dann fahren wir zusammen aus. Wenn es soweit ist, werden wir heiraten, und du wirst mich immer begleiten…«
Ihr Körper strebte dem seinen entgegen. Sie biß ihn in die Lippen, aber er spürte es nicht. Er sah ihre Augen. Bräunlich mit einem roten Schimmer.
Sie hat die seltsamsten Augen der Welt, dachte er. Sie ist schön. Wenn sie noch einige Jahre älter ist, werden die Leute ihr nachsehen. Sie wird sich gut anziehen können. Elegant.
Eine Blüte taumelte durch die Luft und blieb in ihrem Haar hängen. Blütenprinzessin, dachte er. Blütenprinzessin mit dem Flammenhaar und den brennenden Augen. Blütenprinzessin, Flammenhaar, Franziska, die Blütenprinzessin…
»Du…«, hauchte sie, »das darf niemand wissen… niemand! Nur wir beide. Niemand außer uns. Es ist unser Geheimnis…« Ihre Körper lagen verschlungen auf dem Gras, und die Blüten segelten aus den Baumkronen.
»Du bist meine Blütenprinzessin…«, flüsterte er ermattet. Sie hatte feuchte Augen und sehr rote Lippen. Er küßte sie wieder. Abends, als sie heimfuhren, sagte er lachend zu ihr: »Warte nur, einmal wirst du keine Kleider mehr zu nähen brauchen und keine Mäntel. Du wirst mit mir im Auto reisen. Nach Paris, nach Rom, überallhin, wo ich bin…«
Als er das Abitur in der Tasche hatte, fuhr er nach Berlin. Er brauchte zwei Tage, bis er einen Impresario gefunden hatte, der begriff, was aus diesem jungen Mann zu machen war. Der Impresario schenkte ihm einen Kognak ein. Werner nippte daran und lachte. »Nicht soviel trinken, davon bekommt man unsichere Hände…«
Der Impresario blätterte in seinem Katalog. Diesen Mann konnte er überall unterbringen. Dieser Mann war ein guter Griff.
»Wo haben Sie das gelernt?« wollte der Impresario wissen.
»Ich habe es mir selbst beigebracht«, sagte Werner, »immer ein bißchen geübt. Schon als Kind. Ich hatte Spaß daran. Messer waren meine Leidenschaft. Und im Turnen war ich immer gut.«
»Ich habe eine Partnerin für Sie«, erklärte der Impresario, »bei der Karloff-Truppe. Auserlesenes Programm. Kommt für beste Häuser in Frage. Die Dame, die ich meine, tritt mit dem Jongleur auf. Sehr schwierige Nummer. Macht sich ausgezeichnet. Ich werde sie für morgen herbestellen. Wo übernachten Sie?«
Werner übernachtete in einer kleinen Pension. Er griff den Vorschuß des Impresarios nicht an. Er besuchte ein Kino und ging früh schlafen. Am Morgen erinnerte er sich, nichts gegessen zu haben. Er lächelte und dachte an Franziska. Blütenprinzessin mit dem Flammenhaar…
Die Partnerin kam pünktlich. Eine üppige Blonde mit tänzelndem Gang. Wie eine gezähmte Wildkatze.
»Madame Doris…«, stellte der Impresario sie vor. Dann wandte er sich an sie und erklärte: »Der Herr ist neu in der Branche. Eins von diesen Naturtalenten, die man alle hundert Jahre einmal findet. Gehen wir in den Saal…«
Werner warf das Messer nach der Wand. Der Impresario hatte eine Frauengestalt mit Kreide auf die Bretter gezeichnet. Die Zeichnung war plump, und Madame Doris lächelte nachsichtig. Sie war die Tochter eines Schusters aus Bochum.
»Gut«, sagte sie, als Werner die Messer geworfen hatte. »Was können Sie noch?«
Der Impresario griff nach einer Matte, aber Werner fiel ihm in den Arm.
»Ich mache es ohne Matte!«
Sein Körper war trainiert. Er hatte all das tausendmal geübt. »Bodenakrobatik ist immer gut«, meinte Madame Doris, »so als Zwischendarbietung. Uns fehlt so was. Es wird Ihre Gage erhöhen, Herr… Wie war doch gleich Ihr Name?«
Der Impresario bot wieder Kognak an, als sie im Büro saßen. Madame Doris verlangte einen neuen Vertrag.
Der Impresario nickte. Er schrieb ihn aus, während Madame Doris sich mit Werner unterhielt. Sie blickte ihn unverwandt dabei an. Ihre Augen waren etwas entzündet. Sie hatte sehr braune Fingerkuppen, obwohl sie die Zigaretten nur bis zur Hälfte rauchte. Fünf Stück in einer Stunde, Memphis, aus einer Blech Schachtel. Sie lachte. Sie schlug Werner gut gelaunt auf das Knie.
»Was wird, wenn Sie mir ein solches Messer durch die Kehle jagen, Monsieur Artist?«
Ich werde ihr keins durch die Kehle jagen, dachte Werner. Ich werde es so werfen, daß es genau einen halben Zentimeter neben der Haut im Holz steckt.
»Dann sind Sie tot«, sagte er trocken. Er griff nach dem Kognakglas und hob es ihr entgegen. Der Impresario tippte, mit dem Rücken zu ihnen, auf seiner Schreibmaschine.
Madame Doris blinzelte Werner zu. »Sie scheinen gar nicht so schüchtern zu sein, wie Sie aussehen!« rief sie lachend. Sie verschluckte sich an dem Kognak und mußte husten.
»Komme gleich!« ließ sich der Impresario hören.
»Vergessen Sie nicht die Versicherung!« krächzte Madame Doris. Der Mann gab keine Antwort. Er tippte unentwegt weiter. Als der Vertrag fertig war, einigten sie sich auf den Termin, zu dem Werner mit seiner Arbeit beginnen sollte. Die Truppe beendete in zwei Wochen ihr Programm. Dann machte sie einige Zeit Pause, um das neue Programm zusammenzustellen.
»In zwei Wochen müssen Sie hier sein«, sagte der Impresario. Werner nickte. Madame Doris reichte ihm lächelnd die Hand. Er verbeugte sich. Er war gut erzogen. Als er zu Hause ankam, holte er Franziska aus der Schneiderei ab und ging mit ihr in ein Kaufhaus. Er kaufte ihr von dem Vorschuß ein Kleid, einen Mantel und ein Paar Schuhe. Zwei Wochen später fuhr er ab. Sein Vater schüttelte den Kopf. Er war zu schwach, den Sohn von seinem Vorhaben zurückzuhalten. Außerdem war der Vertrag unterschrieben. Der alte Zadorowski hatte ihn mit unterschreiben müssen. Er hatte es ebenso kopfschüttelnd getan.
Madame Doris stand, von den Scheinwerfern grell angeleuchtet, an dem Brett in der Manege, und die Messer zuckten auf sie zu. Sie rührte sich nicht. Sie schloß auch nicht die Augen. Zadorowski warf sicher. Bei ihm gab es keine Verletzungen. Die gab es eher noch bei dem Jongleur, wenn ihm bei der Probe ein Stapel Teller vom Stab rutschte.
Werner warf die Messer sehr ruhig. Das Haus war bis auf den letzten Platz besetzt. Karloff im Wintergarten. Berlin gab etwas aus für ein gutes Variete.
Übermorgen geht es auf Tournee, dachte er. Zum erstenmal. Nach Paris. Ob Paris wirklich so schön ist wie in den Prospekten? Er warf das letzte Messer. Gute, auf ein Milligramm ausgewogene Messer. Es blieb zitternd in dem Brett stecken, ein paar Millimeter über dem blonden Scheitel von Madame Doris. Werner ließ die Arme sinken und verbeugte sich vor dem Publikum. Der Beifall rauschte auf. Madame Doris trat von dem Brett weg und verbeugte sich ebenfalls. Sie trug ein äußerst knapp sitzendes Trikot, mit Goldpailletten bestickt. Sie hat einen Körper wie ein Vamp, dachte Werner. Dora Budelmann aus Bochum. Er verbeugte sich nochmals und griff nach der Hand von Madame Doris. Die Hand drückte die seine sehr stark. Der Scheinwerfer schwenkte herum. Die Leute tobten. Während er die Messer geworfen hatte, war es still gewesen wie in einem Totenhaus. Nun lärmten die Leute. In der ersten Reihe saßen ein paar Offiziere. Sie klatschten, indem sie die zusammengerollten Programmhefte gegen die Handflächen schlugen. Aufgeblasenes Pack, dachte Werner. Er verbeugte sich noch einmal und verließ die Manege. Das Publikum beruhigte sich sehr langsam. Der Messerwerfer war Klasse.
Madame Doris erschien, mit einem lose übergeworfenen Bademantel, in seiner Garderobe. Sie schloß geräuschlos die Tür und hockte sich in einen Sessel. Sie roch nach Puder; sie war noch nicht abgeschminkt. Aus der Tasche des Bademantels nahm sie eine Kognakflasche. Auf dem Toilettentisch standen Gläser. Sie waren benutzt, aber Madame Doris goß den Kognak hinein, ohne sie auszuwaschen.
»Prost, Kleiner«, sagte sie gut gelaunt. »Morgen haben wir Ruhe. Und dann noch drei Tage Reise, und wir sind in Paris. Wollen wir heute abend einen trinken?«
Werner wischte sich die falschen Koteletten ab und sagte wenig interessiert: »Du trinkst doch schon! Willst du die ganze Nacht durchsaufen?«
»Nein«, sagte die Frau, »Murmeln spielen.«
Als sie Paris hinter sich hatten, reisten sie nach Kopenhagen, von da nach Budapest und von da nach Wien. Den Winter über gastierten sie in London und Dublin. Als es Frühling wurde, reisten sie nach Rom. Von da nach Amsterdam.
Werner logierte sich bei einer Tänzerin ein, die ein Halbblut war. Sie spielte ihm malaiische Schallplatten vor und traktierte ihn mit blauem Bols.
»Nicht so viel, Meisje«, sagte Werner, »dieser Schnaps ist nicht der beste…«
In Stockholm lud ihn der Besitzer eines Kinotheaters ein, in dem sie gastierten. Sein Sohn warf auch Messer. Der Sohn ging um acht Uhr zu Bett, und der Theaterbesitzer rüstete sich zu einer Reise. Er nahm seine Frau nicht mit, und sie lud Werner immer wieder ein.
Er lag neben ihr und sah zu, wie sie an einer Tonpfeife mit winzigem Kopf zog. Sie hatte einen schlaffen und trotzdem aufreizenden Körper. Sie roch nach einem Parfüm, das entfernt an den Duft von Zimtblüten erinnerte. Das ganze Bett roch danach, als Werner gegen Morgen einschlief. Er lag öfter in diesem Bett. Als der Hausherr von seiner Reise zurückkam, gastierte Werner in Brüssel. Die Tournee näherte sich Ihrem Ende. Karloff kehrte heim nach Berlin, um auszuruhen, ein neues Programm zusammenzustellen, erneut das Publikum zu begeistern. Madame Doris saß in dem gleichen Eisenbahnabteil wie Werner. Der Zug ratterte auf den Schienen zwischen Hannover und Berlin.
»Was für ein Auto wirst du kaufen?« erkundigte sich Madame Doris. Werner antwortete ihr nach einigem Überlegen: »Einen Hansa.«
»Schöner Wagen. Wirst du mich auch mal mitnehmen?« »Vielleicht.« Er steckte eine Zigarette an. Er verdiente gut. Er warf Messer und machte Bodenakrobatik. Im letzten halben Jahr hatte er eine Anzahl Salontricks einstudiert. Die Karloff-Truppe brauchte einen Illusionisten. Er beherrschte zwölf Tricks. Sie würden keinen Illusionisten anstellen. Sie würden Werner nehmen. Werner würde dreifache Gage beziehen. Er erinnerte sich, daß er aus Kopenhagen nicht an Franziska geschrieben hatte. Ich werde ihr nichts von Kopenhagen erzählen, dachte er. Ich werde ihr überhaupt nichts erzählen. Das Mädchen ist zu gut, als daß man ihr erzählt, wie die Welt aussieht.
Sie empfing ihn am Bahnhof, und sie küßten sich, bis der Bahnsteig menschenleer war. Dann sagte er belustigt: »Rotschwänzchen, wir müssen durch die Sperre!« Sie schlug ihm leicht auf die Lippen, so wie immer, wenn er Rotschwänzchen gesagt hatte. Er beschloß, es nicht mehr zu tun.
Der Vater lag im Hospital. Er lag schon ein Vierteljahr. In einem hellen, luftigen Einzelzimmer. Werner besuchte ihn noch am selben Tag.
»Ich muß mit Ihnen reden…«, begann der Arzt. Er machte ein ernstes Gesicht und nahm Werner beiseite. Er legte ihm seine Hand auf die Schulter. Er war ein alter Arzt, er hatte graues Haar und müde Augen.
»Krebs!« sagte er. »Es ist hoffnungslos, Herr Zadorowski. Ihr Herr Vater wird noch eine Zeit leben, aber er wird unser Haus nicht mehr verlassen. Er bewohnt unser schönstes Zimmer. Er fühlt sich wohl darin. Wir werden dafür sorgen, daß er ohne Schmerzen stirbt. Er hat auch jetzt keine Schmelzen. Wir geben ihm Morphium.«
Die Operation hatte nichts mehr genutzt. Sie hatten ihm den Leib geöffnet und sogleich wieder zugenäht. Sie hatten ihm am zweiten Tag nach der Operation ein Holsteiner Schnitzel gegeben, und der alte Zadorowski war in dem festen Glauben, über den Berg zu sein. Er machte Pläne, als Werner bei ihm saß. Werner ertrug es nicht länger als eine Stunde.
Er kaufte den Hansa, einen funkelnagelneuen, violett gespritzten Wagen. Die Leute in der Straße hielten ihn für einen Millionär. Er holte Franziska ab, am anderen Tag. Er parkte vor der Näherei, in der sie arbeitete, und vom Lehrmädchen bis zum Meister lag alles über die Fensterbretter gebeugt, als sie abfuhren. Er hatte zwei Wochen Ruhe. Franziska nahm Urlaub, und sie fuhren in den Schwarzwald. Fischbach und Kuckucksrufe, wenn die Sonne sank. Die Bäche mit Forellen und dunkle Tannen vor den Fenstern.
Zum erstenmal hatte er wieder diesen biegsamen Körper mit der milchweißen Haut. Er ließ das Haar durch seine Finger gleiten. Franziska hatte feuchte Augen. Es fiel ihm auf, daß sie nicht fragte, ob er eine andere Frau gehabt hatte. Sie war sehr still, und er dachte: Sie heißen Madame Doris oder Meisje oder Franziska.
»Was hast du die ganze Zeit getrieben?« fragte er.
»Pläne gemacht«, erwiderte sie, »Pläne für uns zwei. Und gespart. Ich habe achthundert Mark gespart.«
»Du bist eine gute Partie!« meinte er lachend. Und er fütterte sie mit Bananen und Orangen. Er kaufte ihr Kleider und Schuhe. Er stieg in den teuersten Hotels ab, und sie verbrauchten eine Menge von dem Geld, das er gespart hatte. Als er sie wieder verließ, sagte er ihr: »Ich werde dir eine Vollmacht schreiben. Wenn Vater stirbt, wirst du alles verkaufen, was uns gehört. Außer dem, was in meinem Zimmer ist Das nimmst du zu dir. Vater wird nicht mehr lange leben.«
Der alte Zadorowski starb, als Werner in Sofia gastierte. Sie waren auf Balkantournee. Die Nachricht kam an einem Abend, an dem Werner mit einer schwarzhaarigen Opernsängerin verabredet war. Sie hieß Melinda, und er sagte ihr nichts davon, daß sein Vater gestorben war. Er schickte Geld heim. Es waren ansehnliche Summen, denn Werner lebte sparsam, soweit er sich nicht mit Frauen abgab. Manchmal suchte er solche Frauen, die ihn freihielten. Er erinnerte sich ungern an Franziska. Seine Stimmung sank, wenn er einem Mädchen mit rotem Haar begegnete.
Als sie heimkehrten, kündigten die Blätter an, daß die Karloff-Truppe ein Sensationsprogramm zusammenstelle. Es war zwar kein Sensationsprogramm, aber es war sehr gut. Sie hatten einen Polen dabei, der auf einem Drahtseil, vier Meter über dem Boden, Rad schlug. Es war im Jahr neunzehnhundertneununddreißig. Sie pfiffen den Polen im Wintergarten aus. Die Pfiffe kamen aus einer Ecke des Saales, dort saßen mehr als hundert Leute, die einer dem anderen aufs Haar ähnlich sahen.
Der Pole hieß Edward. Er war jung, und er weinte, als er in seiner Garderobe saß. Werner tröstete ihn. Er holte eine Flasche Mampe und trank sie mit ihm zusammen aus. Sie verließen das Haus so, wie sie waren, in dunklen Anzügen, mit Puder und Schminke auf den Gesichtern, schwankenden Schrittes. Werner randalierte, und der Pole war still, mit traurigen, versonnenen Augen. Sie schliefen irgendwo am Kurfürstendamm in einem Zimmer, das zwei Huren bewohnten, die auf gute Kundschaft eingerichtet waren. Am Morgen verkündete der Manager ihnen, daß sie mit dem Programm nach Hamburg reisen würden.
Die Zeitungen erklärten, daß Deutschland den Osten brauche und Polen nicht in der Lage sei, sein Land ordentlich zu verwalten, Edward sagte nichts dazu. Er sagte nur einmal zu Werner: »Wenn mein Vertrag abläuft, mache ich nicht weiter. Ich reise zurück nach Warschau. Ich fühle mich wie ein Hase unter Hunden.«
Werner tröstete ihn mit Mampe, aber Edward blieb bei seiner Absicht.
Edward war nicht dabei, als Werner in Hamburg ausging. Er landete im »Zillertal«, und es waren noch mehr Artisten dort. Sie saßen alle zusammen in einer Nische an einem Tisch und lärmten.
Der Mann, mit dem Werner Streit bekam, trug kein Parteiabzeichen. Er setzte sich zu ihnen an den Tisch und bestellte Wein. Dann hielt er eine Rede, denn er war schon stark betrunken. Er sagte: »Was meint ihr, Jungens, wie wir diesen Polacken die Jacke vollhauen! Wenn sie nicht nachgeben, spielen wir in drei Wochen in Warschau das Deutschlandlied!«
Er hob sein Glas und verschüttete die Hälfte des Weines, bevor er es an die Lippen brachte. Er saß neben Werner. Er schüttete Werner den Wein auf die Hose.
»Hör auf!« sagte Werner ärgerlich. »Geh nach Hause, du bist voll!«
»Wir werden das Deutschlandlied in Warschau spielen!« grölte der Betrunkene.
»Ja«, sagte Werner, »ist ja gut. Hau ab!«
»Das Deutschlandlied…«, grölte der Mann.
Die anderen beachteten ihn nicht. Aber Werner sagte boshaft : »Ihr mit eurem Deutschlandlied! Ein einziger polnischer Seiltänzer ist mehr wert als euer beschissenes Deutschlandlied und der ganze Reichstag dazu…«
Der Mann schlug zuerst. Er traf zwar nicht, aber er stürzte sich auf Werner, und der drückte ihm sein Weinglas ins Gesicht. Er drückte es ihm auf den Mund, um seine Augen nicht zu verletzen. Der Mann torkelte zurück und stieß an den nächsten Tisch. Er nahm von dort eine halbvolle Sektflasche und warf sie nach Werner. Er brüllte dabei, man solle den Staatsverräter greifen. Werner ging auf ihn zu und schlug ihm die Faust in den Magen. Er tat es nicht des Deutschlandliedes wegen und nicht, weil er noch immer an Edward gedacht hätte. Er hatte das nur so hingesagt. Der Mann sackte zusammen, und Werner schleifte ihn aus dem Lokal. Er ließ ihn dort liegen und beging den Fehler, sich wieder an den Tisch zu setzen, an dem er gegessen hatte.
Sie vernahmen ihn, aber er hatte Glück. Die Reichskulturkammer verhängte ein befristetes Auftrittsverbot über ihn. Sein Rechtsanwalt wurde zur Gestapo bestellt. Als er zurückkam, riet er Werner: »Sie haben eine Chance. Melden Sie sich freiwillig zum Militär. Sie entgehen allen Weiterungen dadurch. Die Sache verläuft im Sande, und wenn der Krieg vorbei ist, wird alles vergessen sein.«
»Krieg?« fragte Werner.
»Ja. Krieg«, sagte der Rechtsanwalt, »es kann sich nur noch um Tage handeln.«
Er meldete sich zu den Fallschirmjägern. Die suchten Leute. Sie nahmen ihn sofort, und er bekam noch vierzehn Tage Frist, bis er einrücken mußte. Auf dem Einberufungsschreiben stand der Ort Stade. Werner nahm das alles so gleichgültig zur Kenntnis, als handle es sich um eine neue Tournee.
Er war lange nicht bei Franziska gewesen, und sein Gefühl sagte ihm, daß er die Treue dieses Madchens überschätzt habe. Als er das letztemal bei ihr gewesen war, war sie ein Mädchen gewesen, das ihn liebte. Nur ihn. Als er jetzt wieder zu ihr kam, fand er ein Weib. Sie erschien ihm fremd, aber er sagte nichts. Er nahm das Weib, und er fühlte, wie die letzte Saite in seinem Herzen, die er sich hatte erhalten wollen, zersprang. Es schmerzte ihn, und er dachte: So wie du jetzt bei ihr liegst, haben andere bei ihr gelegen. So wie du sie küßt, haben andere sie geküßt. Er meinte den Geruch der anderen zu spüren, ihre Pomade zu atmen. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, bei keiner anderen. Nur bei Franziska. Er begriff, daß er dieses Mädchen geliebt hatte.
»Was machst du mit dem Wagen?« fragte das Mädchen.
»Verkaufen«, sagte er einsilbig.
Sie glitten wieder zueinander. Es war eine schwüle Augustnacht.
»Du wirst gar nicht müde…«, sagte er.
Sie lachte leise. Dann flüsterte sie: »Du warst lange nicht bei mir.«
Er schluckte, aber er sagte nichts. Nach einer ganzen Weile sagte er: »Es ist ein Unsinn, wenn ein Mann von einer Frau verlangt, daß sie ihm treu bleibe. Es ist ein Unsinn…«
Sie lachte wieder. Sie hatte eine wohlklingende, tiefe Stimme. »Man soll das nicht verlangen«, sagte sie, »weder als Mann noch als Frau. Das Leben ist sehr kurz. Jeder Tag zählt. Man weiß nicht, was morgen ist. Man soll überhaupt nicht so viel nachdenken. Es nimmt einem die Lust an der Sache…«
Du hättest dich zu jeder beliebigen Hure legen können, dachte er, es wäre nicht anders gewesen. Du hättest in Hamburg bleiben können oder in Berlin. Du hättest dir das denken können. Ein Mädchen ist ein Mädchen. Sie sind alle gleich. Ob sie Madame Doris heißen oder Meisje oder Franziska. Man träumt, daß sie sich unterscheiden, aber sie unterscheiden sich nicht. Höchstens äußerlich. Sonst sind alle gleich. Und man ist selber so. Dieses Leben ist ein Misthaufen, und wir sind die Maden, die darauf herumkriechen. Es ekelt einen an. Aber man kann es nicht ändern. Die Träume der Jugend sind ausgeträumt. Das Mädchen mit dem Flammenhaar gibt es nicht mehr. Blütenprinzessin mit dem Flammenhaar. Hure mit den geschmeidigen Gliedern. Mit dem Parfüm unter den Achseln. Franziska stand aus dem Bett auf und öffnete das Fenster. Die Nachtluft wehte herein, und er sah die Silhouette ihres Körpers vor dem blassen Sternenhimmel. Sie neigte sich über ihn, nackt, wie sie war, und er erinnerte sich, wie sie früher die Decke über sich gezogen hatte, wenn sie sich nur aufrichtete.
»Morgen werde ich abfahren«, sagte er nachdenklich. Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand. Er sah ihre Nacktheit nicht. Sie berührte ihn nicht mehr.
»Ich werde dir schreiben«, versprach sie, »und ich werde auf dich warten. Wenn der Krieg vorbei ist, wirst du wieder arbeiten, und dann kaufen wir ein neues Auto. Wirst du mich dann heiraten?«
Blütenprinzessin, dachte er, Blütenprinzessin mit dem Flammenhaar. Hure mit roten Loden. Er fühlte, wie sein Körper schlaff und ohne Spannung war. Als habe man ihm sämtliche Sehnen durchschnitten.
»Leg dich zu mir…«, sagte er. »Wir wollen schlafen.«
»Wenn du wiederkommst, werden wir heiraten, ja?« drängte das Mädchen.
»Wiederkommen…« Er sah auf ihre spitzen Brüste und die feine Linie des Halses.
»Ich werde nicht wiederkommen«, sagte er, »ich weiß es, daß ich nicht wiederkommen werde. Ich gehe nicht auf Tournee, sondern in den Krieg. Komm, leg dich zu mir. Es ist das letztemal. Die letzte Stunde, die wir zusammen sind. Die letzte Liebe und das letzte Nachtgebet.« Er rückte beiseite, und sie legte sich neben ihn. Sie war still. Er roch den Duft ihres Haares und hörte ihren Atem. Ihre Glieder waren heiß. Er spürte das alles in einer tiefen Traurigkeit, die er bisher nicht gekannt hatte. Er fühlte keinen Zorn auf sie. Er war sich nicht einmal klar, ob es wirklich Enttäuschung war.
»Du wirst dir andere suchen müssen«, sagte er brutal. »Andere können auch zärtlich sein. Andere haben auch Autos und Geld. Ich werde nicht wiederkommen, ich weiß es. Ich werde nicht wiederkommen, mein kleines Nachtgebet, rothaariges…«
Er rieb sich mit dem halbwegs sauberen Handtuch den Körper trocken. Dann zog er die Uniform wieder an, die er zuvor gesäubert hatte. Er trug das Waschwasser hinaus und goß es im Bogen über den Hof. Die Stube war voller Soldaten. Ein paar von ihnen schliefen auf den Strohschütten am Boden. Andere hockten um die Lampe herum und spielten Karten.
»Zwanzig!« sagte einer. Er blinzelte Zado zu, als wolle er ihm versichern, daß er dieses Spiel auf jeden Fall gewinnen werde. Die Waffen hingen an Nägeln, die in die Wände geschlagen waren. Die Stube war verqualmt. Zado hockte sich an einen aus Birkenstämmen zusammengezimmerten Tisch und schrieb in einer Viertelstunde den Bericht über den Tod der beiden Feldgendarmen. Dann holte er aus seinem Gepäck noch eine Schachtel Schokolade und ein paar Zigaretten. Et fand ein Päckchen Kekse und nahm auch das mit. Als er auf die Uhr sah, zog er die Augenbrauen hoch; er mußte sich beeilen. Er sprang über die Straße und gab den Bericht ab, den er geschrieben hatte.
Alf nahm ihn entgegen, ohne etwas zu fragen. Er sagte nur: »In Ordnung, Zado. Schlafen Sie sich aus.«
Zado streifte die gescheckte Tarnjacke über. Er schnallte das Koppel mit der Pistole um und verließ seine Unterkunft.
Dann ging er die Dorfstraße entlang, an dem Schützenpanzerwagen vorbei, nach dem einsamen Gehöft. Die Front war still. Es wurde nur ganz selten mit kleinen Kalibern geschossen. Am Horizont flackerten weiße Lichter. Sie schießen Leuchtkugeln, dachte Zado, sie sind nervös. Sie belauern einer den anderen.