Die Stunde der toten Augen

Thomas Bindig lag zusammengekrümmt zwischen zwei dichten Akaziensträuchern. Sie standen an einer Böschung, und die Böschung lag einen Steinwurf von den Bahnschienen entfernt, dort, wo die Schienen auf die Brücke liefen. Er atmete leise, mit geöffnetem Mund, und seine Zahnreihen hoben sich schimmernd weiß von dem rußdunklen Gesicht ab. Er lag still und wartete. Die Erde war gefroren. Über den abgefallenen Blättern der Sträucher lag eine hauchdünne Schicht Reif. Es war windstill, und die Sterne waren sehr hell. Bindig schnallte mit langsamen, behutsamen Bewegungen die Riemen des Stahlhelmes auf. Er hob den Helm vom Kopf, legte ihn vorsichtig neben sich auf die Erde und rückte ein paarmal daran herum, bis der Helm so lag, daß er nicht durch eine unvorsichtige Bewegung ein Geräusch verursachen konnte.

Dann schob er ebenso langsam den Ärmel der Tarnjacke zurück und sah auf die Uhr. Das Zifferblatt leuchtete mattgrün. Der Sekundenzeiger glitt von Zahl zu Zahl. Er muß noch zehnmal den Weg am das Zifferblatt machen, dachte Bindig, dann ist es soweit. Dann muß ich vorn an der Brücke sein, dort, wo der letzte Busch steht. Und nachdem der Zeiger zehnmal seinen Weg genommen hat, werde ich dort sein, und dann wird der eine Posten von der Mitte der Brücke bis zu dem Strauch gehen. Er wird nur zwei oder drei Meter von mit entfernt umkehren, um zur Mitte der Brücke zurückzulaufen, wo er sich mit dem zweiten Posten trifft, der den gleichen Weg nach der anderen Seite geht. Und dort, an einem ebensolchen Busch, hockt Zado und wartet auf ihn. Es ist nicht schlimm heute nacht. Es ist beinahe leichter, als es in anderen Nächten war. Er hob das Messer auf, das er auf den Boden vor sich hingelegt hatte. Es war das übliche Kappmesser der Fallschirmjäger, mit dem breiten Holzgriff und der dünnen, leicht eingefetteten Klinge. Bindig hatte sie an beiden Seiten angeschliffen, haarscharf und ohne die winzigste Scharte. Es war die Waffe für diese Nacht. Die Pistole steckte in der Innentasche der Tarnjacke.

Noch zehnmal über das Zifferblatt, dachte er. Und an der anderen Seite der Brücke liegt Zado. Der Artist. Der Mann mit der Raubvogelnase und der Narbe über der Stirn, von einer Schlägerei in Hamburg. Er stellte sich vor, wie der andere dort drüben lag und ebenso lauerte wie er. Zado, dachte er, der Artist, der gewesene. Er hieß Zadorowski, aber keiner nannte ihn so. Sie nannten ihn Zado, und er war von Anfang an bei der Kompanie. Vier Jahre länger als Bindig. Er war in Kreta dabeigewesen und in Sizilien. Er war ein alter Fuchs, und er hatte im Variete als Messerwerfer gearbeitet und als Bodenakrobat Bindig dachte an ihn, während er sich langsam darauf vorbereitete, die letzten Meter bis zu dem äußersten Busch zu kriechen. Er dachte an den Artisten Zado, der sein Abitur in der Schublade hatte liegenlassen wegen der Liebhaberei mit den Messern und dem unwiderstehlichen Reiz, den die Bühnenbretter auf ihn ausgeübt hatten. Er stellte sich vor, wie Zado jetzt ebenso wie er, das Messer in der Hand, in die Nähe des Postens kroch, und er wußte, daß Zado den Russen geschickt und umsichtig töten würde, lautlos und sicher.

Die Brücke spannte sich über einen Flußlauf, der in einer tiefen Bodensenke lag. Es war nur ein schmaler Fluß, aber der Einschnitt in das Gelände war sehr tief, und dadurch ähnelte die Brücke beinahe einem Viadukt. Die Schienenstränge glänzten matt im Sternenlicht. Bindig sah zu, wie die Posten von den Enden der Brücke zur Mitte gingen, wo sie sich trafen, ein paar Worte wechselten und dann umkehrten, um wieder bis zum Ende der Brücke zu patrouillieren. Sie gingen, in Mäntel gehüllt, mit dem Gewehr auf dem Rücken. Es waren kleine, schwarze Gestalten mit Pelzmützen. Von weitem sah es aus, als wandelten sie auf einem unsichtbaren Pfad, der quer über den Himmel an den Sternen vorbeilief.

Der Soldat auf der anderen Seite der Brücke kroch bereits auf den Posten zu. Er bewegte sich mit der Routine seiner jahrelangen Soldatenzeit auf einen Fleck unter einem Baum zu, der am Kopf der Brücke stand. Er ließ den Posten zur Mitte der Brücke gehen und wieder zurückkehren. Immer, wenn der Posten ihm den Rücken drehte, kroch er weiter vorwärts. Bis er den Baum erreicht hatte, hinter dessen Stamm er sich hinhockte. Er hatte beobachtet, daß der Posten jedesmal um den Baum herumging, wenn er seine Runde von neuem aufnahm. Beim nächsten Mal, dachte Zado. Wieviel Menschen werde ich eigentlich noch töten müssen, bevor ich wieder meine Messer werfen kann? Er hörte den Posten mit dem anderen sprechen. Er ist noch ein junger Bursche, dachte er. Er wird wieder dieses verfluchte, erschrockene Kindergesicht haben, wenn er stirbt. Ich kann bald keine Toten mehr sehen und keine Sterbenden. Ich sehe sie in jeder Nacht. Wenn ich bei einer von diesen dickbeinigen Dorfhuren liege, sehe ich die Leichen, und dann kichert das Mädchen und knabbert von meiner Schokolade, weil sie weiß, daß ich eine Stunde nichts sagen und nichts tun werde. Es ist der Ekel. Aber es ist nicht der Ekel allein. Es ist viel schlimmer. Man darf nicht so oft daran denken. Man hat keine Wahl mehr. Aus einem fahrenden Zug kann man nicht springen. Man bricht sich das Genick dabei. Man muß bis zur Endstation mitfahren. Es ist ein verdammt abschüssiger Weg bis zu dieser Endstation. Da kommt der Posten. So sieht ein Mensch aus, der in der nächsten Minute sterben wird. Und ich muß ihn schon allein deshalb töten, weil an der anderen Seite der Brücke Bindig hockt, denn wenn ich ihn nicht töte, dann wird er Bindig töten, und Bindig werde ich nicht im Stich lassen, weil er der einzige ist, der weiß, daß mich die Gesichter der Leichen quälen, und weil er schweigt und ich weiß, daß es ihm nicht anders geht. Er verglich noch einmal die Zeigerstellung der Uhr mit der Zeit, die er Bindig eingeprägt hatte. Es ist richtig, dachte er. Er faßte das Messer und brachte den Körper in eine Stellung, die einer gespannten Sprungfeder glich. Er war ganz ruhig dabei und bewegte die Augenlider nicht mehr, bis er den Schritt des Postens vernahm. Dann hörte er ihn leise vor sich hin summend auf den Baum zukommen.

Bindig hockte hinter dem Busch und betrachtete den Boden vor seinem Versteck. Er war gefroren, aber es war grasbewachsener Boden, auf dem keine dürren Zweige lagen, kein Laub, nichts. Als die Posten sich in der Mitte der Brücke getroffen hatten, sah Bindig auf die Uhr. An den zehn Umdrehungen des Sekundenzeigers fehlte noch eine. Die Uhr war zuverlässig. Es war eine große Spezialuhr mit Stoppeinrichtung. Bindig verdeckte die blanke Schneide des Messers mit der flachen Hand. Der Posten kam langsam näher. Es war ein untersetzter Mann, der seine Pelzmütze keck auf die linke Seite gezogen hatte. Er trug weiter nichts als das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett. Daß sie ihre Posten immer mit dem Gewehr stehen lassen, dachte Bindig. Immer haben sie dieses lange Gewehr mit dem Vierkantbajonett. Die Maschinenpistole ist besser. Eine kurze Waffe ist überhaupt besser. Was will er schon mit dem Gewehr? Damit ist er viel zu langsam.

Er sah ihm direkt ins Gesicht, in ein breites, grobknochiges Gesicht mit einer lustigen Stupsnase. Zado und ich, dachte Bindig, während der Posten sich ihm näherte, sie haben uns darauf spezialisiert. Wie den Oberkellner auf das Sprengen. Wir sind eine Truppe von Spezialisten. Im Töten und im Zerstören. Ob wir uns einmal wieder daran gewöhnen werden, daß es das nicht mehr gibt? Einmal, wenn alles vorbei ist?

Der Posten hustete leise. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. Bindig sah, daß er das Koppel über dem Mantel trug. Das ist gut, dachte er. Wenn sie es unter dem Mantel tragen, ist man unsicher mit dem Messer. Sie haben dicke Lederkoppel. Der Posten blieb ein paar Schritte vor dem Busch stehen und drehte sich um. Er schlug die Stiefel aneinander und ging seinen Weg zurück. Bindig erhob sich, ohne ein Geräusch zu verursachen. Er machte schnell einen Schritt an dem Busch vorbei und dann einen nächsten und noch einen. Er lief nicht; er ging schnell, mit großen Schritten, lautlos auf den dicken Gummisohlen, bis er im Rücken des Postens war. Er sprang ihn nicht an. Er legte ihm den linken Arm um den Hals und stieß mit dem rechten zu. Es war die schnellste, sicherste und leiseste Art zu töten, die er erlernt hatte. Das Messer zerriß dem Posten die Niere, und der Mann sank mit einem erstickten Schnaufer zu Boden. Bindig fing ihn geschickt auf, und dann nahm er ihm ebenso geschickt das Gewehr von der Schulter. Er zog dem Toten den dicken, braungrauen Mantel aus und warf ihn sich über. Er war ihm ein wenig zu groß, aber darauf kam es jetzt nicht an. Mit ein paar schnellen, federnden Schritten lief er an den Platz zurück, wo sein Stahlhelm lag. Er holte ihn und hängte ihn an das fremde Koppel über den Mantel. Dann setzte er die Pelzmütze des Toten auf und warf sich dessen Gewehr über die Schulter.

Auf der Brücke hatte man eine gute Aussicht ins Land. Aber es war nirgendwo ein Lichtschein zu entdecken, außer dem schmalen Streifen, der aus dem Fenster des Bahnwärterhäuschens fiel, das ein paar hundert Meter hinter der Brücke am Bahndamm lag. Dort schliefen die übrigen Soldaten des Postenkommandos. Bindig ging nicht schneller und nicht langsamer auf die Mitte der Brücke zu, als der Posten gegangen war. Als er die ersten Schritte gemacht hatte, sah er Zado von der anderen Seite herankommen. Er erkannte ihn sofort am Gang. Zado hatte den Gang eines Eintänzers. Er war nicht zu verwechseln. Ihm paßte der Mantel des anderen Postens. Nur die Pelzmütze schien ihm zu groß zu sein. Sie erkannten sich beide, denn sie trugen die Gewehre jetzt beide mit dem Lauf nach unten; als sie sich vergewissert hatten, daß die Läufe der Gewehre nach unten zeigten, gingen sie einander schnell entgegen. Sie trafen sich in der Mitte der Brücke, wo sich die beiden Posten immer getroffen hatten.

»Junge«, sagte Zado langsam, »mit vierzig Jahren werden sie uns in ein Irrenhaus stecken, wenn das noch eine Weile so weitergeht. Das kann kein Mensch aushalten.«

Bindig antwortete nichts. Er blickte dorthin, wo der Unteroffizier mit den anderen liegen mußte, und dabei hob er eine Hand. Unten in den Büschen, jenseits der Bahnlinie, blinkte für den Bruchteil einer Sekunde der Lichtpunkt einer Taschenlampe auf. »In Ordnung«, sagte Zado, »komm…«

Sie verließen, auf den Sehwellen der Bahngleise gehend, die Brücke und bewegten sich auf das Versteck der anderen zu.

»Manchmal«, sagte Zado leise, »manchmal habe ich Angst, daß ich in einem solchen Augenblick einfach aufstehe und zu so einem Posten sage: ,Hier bin ich!‘« Er hielt den Kopf gesenkt, und die Pelzmütze rutschte ihm in die Stirn. Er schob sie ärgerlich nach hinten. Bindig antwortete nichts. »Aber es hat eben keinen Zweck«, sagte Zado, »ich weiß es. Es hat keinen Zweck, man bringt es nicht fertig.« Er ging mit gesenktem Kopf weiter neben Bindig her. Der biß sich auf die Lippen und sagte nichts. Es hatte keinen Sinn, etwas zu sagen. Das alles war nicht zu ändern. Es war so, wie Zado es sagte. Man durfte nicht daran denken und mußte auf das Ende warten. Man war Soldat, und man hatte zu tun, was einem befohlen wurde. Diese Einsätze hinter der Front waren nicht angenehm. Aber es gab nicht viel Auswahl, und die Leute, die in den Schützenlöchern hockten und auf die T 34 warteten, waren nicht besser dran. In dem einen Jahr, das Bindig bei der Kompanie verbrachte, hatte er gelernt, was es hieß, Soldat des Führers zu sein. Es hieß, daß man innerhalb der Gattung Mensch einen besonderen, untergeordneten Platz einnahm. Daß man über seine Handlungen nicht nachzudenken hatte und auch nicht über die Zukunft und die Vergangenheit. Wenn man das fertigbrachte, fehlte einem nichts. Aber es war schwer, das fertigzubringen. Es gab Augenblicke, in denen man bereit war, das zu tun, von dem Zado eben gesprochen hatte. Doch da stieg dann die Angst auf. Die Ungewißheit. Und wenn man Ruhe hatte und sich einem die Gedanken aufdrängten, dann war man mit einemmal ein jämmerliches Häufchen, ein Gemisch von Mut und Angst, von Zuversicht und Mißtrauen, von verlorenen Illusionen und jämmerlicher Ratlosigkeit. Man war ein haltloses Bündel Knochen, Muskeln und Sehnen vor dem kalten Kaleidoskop toter Augen, die den getöteten fremden Soldaten gehörten.

Sie gingen an dem Posten vorbei, den Bindig getötet hatte. Zado legte den Kopf eigentümlich schief, um ihn anzusehen. Bindig ging plötzlich schneller. Es drängte ihn, an dem Toten vorbeizukommen. Er brachte es nicht fertig, ihn anzublicken. Die Kehle war auf einmal zu eng. Sie ließ den Atem nicht mehr passieren, es war, als schlösse sie sich, als lege sich ein Druck auf die zuckenden Muskeln des Herzens.

Die Leere, in die er tauchte, war ganz plötzlich da. Im Kopf erhob sich ein feines Singen. Der schwarzseidene Vorhang fiel vor den Augen, und der Sternenhimmel begann langsam zu kreisen. Die Knie knickten ihm ein, und er stolperte. Aber Zado fing ihn auf, bevor der Lauf des Gewehres die Erde berührte. Er packte ihn und hielt ihn aufrecht; er wußte, daß er ihn jetzt hier nicht zusammenbrechen lassen durfte. Es war zu früh, zusammenzubrechen. Er nahm ihn und schüttelte ihn. Er riß ihn am Ohr und schlug ihm ins Gesicht, bis der Körper sich wieder straffte. Während er ihn losließ, griff er unter den Mantel und holte aus der linken Wadentasche eine kleine Metallflasche mit Kognak. Er schraubte sie auf und hielt sie Bindig vor die Nase.

»Da… sauf!« sagte er. »Wir haben noch viel vor heute nacht!« Bindig trank das scharfe Getränk, und er spürte, wie es ihm brennend durch die verschlossene, zusammengepreßte Kehle rann. Die Tränen traten ihm in die Augen, und er begann durch den trüben Schleier der Tränen wieder den Nachthimmel zu sehen, die kahlen Bäume und die Sträucher und den mattsilbernen Schienenstrang. Er wischte sich mit dem Ärmel des Mantels über das Gesicht. Der Mantel roch nach Holzrauch und Schmieröl, und die Nachtluft, die Bindig tief einatmete, war plötzlich wieder klar und kalt. Er gab Zado die Flasche zurück und sagte leise: »Danke.«

»Geht’s wieder?« erkundigte sich der andere.

Bindig nickte. Er faßte den Riemen des Gewehres fester und merkte, daß der Boden unter den Füßen wieder fest war. »Es geht«, sagte er heiser. Er stieß den Atem aus in einer grauen, zerflatternden Wolke, die sich in der Kälte der Luft auflöste. »Es war der Tote«, sagte er. »Als ich es tat, war ich ganz ruhig. Aber jetzt… es ist immer so. Du weißt, daß ich keine Memme bin. Aber nachher packt es mich immer so…« Zado ging mit seinen tänzelnden Schritten neben ihm her. Er nahm auch einen Schluck aus der Flasche, bevor er sie einsteckte. Er dachte: Der Schnaps ist das einzige, was hilft. Der ganze Krieg ist ein Gemisch von Todesangst und Ekel und Schnaps. »Reiß dich zusammen«, sagte er. »Es sind nur die Nerven. Es sind diese verfluchten Nerven. Aber es gibt keinen Menschen ohne Nerven. Ohne Beine kannst du leben. Ohne Nerven nicht. Und nicht ohne Schnaps.«

Sie kletterten den Bahndamm hinab. Vorsichtig wichen sie einem Haufen leerer Konservenbüchsen aus, der zwischen dem Gebüsch und dem Bahndamm lag. Alte, verrostete Büchsen.

»Meinst du, daß du es machen kannst?« fragte Zado. Er sah Bindig von der Seite an und dachte: Dieser verdammte Ruß! Man kann nicht einmal sehen, ob sein Gesicht bleich ist. Man weiß nicht, ob er nicht vielleicht umfällt, wenn wir die Tür von diesem Bahnwärterhäuschen aufstoßen. Es ist eine unsichere Sache. Man muß genau wissen, ob man sich auf ihn verlassen kann. Es war, als hätte Bindig seine Gedanken erraten. Er schüttelte leicht den Kopf, und er wirkte wieder sehr sicher, als er sagte; »Hab keine Angst. Es ist vorbei. Es geht immer schnell vorbei. Richtig schlimm wird es erst, wenn wir zu Hause sind.«

»Zu Hause?« sagte Zado mürrisch, aber zufrieden, weil der Tonfall in Bindigs Stimme seine Zweifel beseitigte. »Zu Hause schlafen die jungen Mädchen mit den alten Möpsen, weil wir so lange wegbleiben…«

»Im Dorf, meine ich. In Haselgarten.«

»Im Dorf…«, brummte Zado angeekelt, »das ganze Dorf kotzt mich an.«

Die Taschenlampe des Unteroffiziers blinkte noch einmal auf und wies ihnen den Weg. Die anderen lagen dicht beisammen in einer Mulde, zwischen kniehohem Gebüsch. Der Unteroffizier erhob sich, als die beiden heran waren. Er sah ihnen in die Gesichter und fragte kurz: »Alles klar?«

»Alles klar«, sagte Zado. »Wie viele stecken in dem Häuschen?«

»Vier Mann«, sagte der Unteroffizier.

Er führte die Gruppe länger als vier Jahre. Sie kannten ihn. Die ganze Kompanie wußte, daß in Wirklichkeit er das Kommando über die Kompanie hatte, nicht der Leutnant mit dem Kindergesicht und der Kriegsschulweisheit. Er hatte seine eigene Art, mit den Männern umzugehen, und diese Art war in der Heeresdienstvorschrift nicht vorgesehen. Unteroffizier Timm übersah Disziplinlosigkeiten, wenn die Männer im Dorf lagen. Er schützte sie und verschaffte ihnen Ruhe. Er hatte auf alles, was der Leutnant oder die Leute vom Stab an den Männern auszusetzen hatten, nur immer eine Antwort: »Fliegen Sie das nächste Mal mit. Danach sprechen wir weiter über meine Leute.« Damit brachte er jeden zum Verstummen, ganz gleich, welchen Dienstgrad er hatte. Er tat das nicht um der Gerechtigkeit willen. Er tat es, weil er vielleicht wenige Tage später wieder auf die Männer angewiesen sein würde. Und weil er sie zu dem gemacht hatte, was sie waren, und weil er auf das Ergebnis seiner Erziehung stolz war.

Zado öffnete den Mantel und gab einem der anderen das Gewehr. Dann schlug er die Ärmel des Mantels um, damit er seine Hände besser bewegen konnte. Während er die Pistole aus der Tasche zog und sie mit dem dünnen, geschmeidigen Riemen um das Handgelenk festband, sagte er zu dem Unteroffizier: »Vier Mann? Dann schlafen sie immer nur vier Stunden zwischen den Wachen. Ein verflucht strammer Dienst!«

»Sei froh, daß es nicht mehr sind«, sagte der Unteroffizier. »Sie haben eine Karbidlampe brennen, aber sie schlafen.« Er blickte Bindig an, der, dem Beispiel Zados folgend, seine Pistole am Handgelenk befestigte.

»Was war da vorn los?« fragte er. »Es sah so aus, als ob du hinfallen wolltest. Dabei kann das Gewehr losgehen…«

»Er ist gestolpert«, antwortete Zado, »diese Schwellen sind bei der Dunkelheit kaum zu sehen. Aber ich habe ihn aufgefangen.«

Timm nahm ihnen die Gewehre ab und ihre Stahlhelme. Er musterte sie kritisch, und dann sagte er: »Los, gehen wir. Wir müssen das schnell erledigen. Wenn ein Zug kommt, müssen Posten auf der Brücke sein.«

Während sie sich gebückt durch das Buschwerk auf das Bahnwärterhäuschen zu bewegten, merkte Bindig, daß sie nur sechs waren, und er erinnerte sich daran, daß die anderen zwei inzwischen an dem Häuschen standen. Es kann nichts passieren, dachte er. Es ist alles genau ausgeklügelt. Wenn das in dem Häuschen vorbei ist, haben Zado und ich Ruhe bis morgen nacht. Alles Weitere machen die anderen.

Timm ging zwischen ihnen. Er zog sie dicht zu sich heran und erklärte ihnen im Gehen: »Das Häuschen hat an jeder Seite ein Fenster. Man könnte es einfach von draußen machen, durch die Fenster. Aber das ist zu laut. Zwei werden an den Fenstern stehen bleiben. Wenn ihr Pech habt, werden sie schießen. Aber ihr dürft kein Pech haben. Man weiß nicht, ob nicht doch irgendwo einer was hört. Übereilt euch nicht. Macht erst die Tür zu, wenn ihr drin seid. Sie sind verschlafen. Sie werden euch in den Mänteln und in den Mützen nicht gleich erkennen. Das sind die entscheidenden Sekunden für euch.«

Die anderen umstanden das Häuschen, als Zado und Bindig die Tür aufstießen und eintraten. Sie lauschten, die Pistolen in den erhobenen Händen. Timm hatte den einen Soldaten vom Fenster weg geschoben und sich selbst dort aufgestellt. Er sah die beiden eintreten in ihren braunen Mänteln, mit den Pelzmützen über den geschwärzten Gesichtern. Er beobachtete ihre Bewegungen und die Bewegungen der Schläfer. Er hatte die Pistole in der Hand, aber er brauchte sie nicht. Die Schüsse in dem Häuschen knallten kurz und trocken. Sie waren ein paar Meter weiter nicht mehr zu hören. Als Timm sich von dem Fenster abwandte, dachte er: Sie sind die besten Pistolenschützen aus dem ganzen Haufen. Tadellose Soldaten hat Deutschland hervorgebracht. Sie beißen sich nicht einmal auf die Lippen, wenn sie töten. Jung und kalt. Sie töten wie die Schlächter.

Der Oberkellner aus Stuttgart stieg zunächst in das Flußbett hinab. Er untersuchte die Brückenpfeiler, beklopfte sie prüfend und stieg dann wieselflink wieder die Böschung hinauf. Oben lagen die anderen. Zado und Bindig patrouillierten so, wie es die beiden Posten zuvor getan hatten, über die Brücke. Sie hatten die Kragen der Mäntel hochgeschlagen, und über ihren Pelzmützen schimmerten die dünnen, scharfkantigen Bajonette. An der Brücke lagen alle anderen außer einem, den sie bei dem Bahnwärterhäuschen zurückgelassen hatten.

Der Oberkellner ging auf Timm zu und sagte: »Ziemlich massiv. Wir müssen zwei Pfeiler absprengen.«

»Reicht das?« fragte Timm.

Der kleine Soldat zog die Schultern hoch. Er hatte den Stahlhelm abgelegt, und auch die anderen umstanden ihn mit bloßen Köpfen.

»Wenn wir sie möglichst hoch absprengen und dabei noch was unter die Schienen packen, gibt es ein ziemlich großes Loch«, sagte der Oberkellner, »aber lange wird es nicht vorhalten. Sie werden es in einer Woche repariert haben.«

»Eine Woche ist sehr viel Zeit.«

»Ja«, sagte der Soldat, »wenn wir mehr Sprengstoff hätten, würden wir ihnen das Ding so zusammensprengen, daß sie das Kreuz darüber schlagen könnten.«

Er wickelte das Seil auf und schnallte sich den breiten ledernen Gurt um den Leib. Dann befestigte er den flachen Karabinerhaken des Seils an dem Ledergurt und stieg auf die Brücke hinaus. An dem Gurt hingen ein paar Werkzeuge, die er brauchte. Zu dritt gingen sie mit dem Seil in den Fäusten hinter ihm her und ließen ihn über den Rand der Brücke hinab, das Seil festhaltend und sein Ende an einer der Stahlschwellen des Bahngleises befestigend. Der kleine Oberkellner war geschickt wie eine Katze. Man hörte ihn kaum. Nur ab und zu gab es ein leises, schnarrendes Geräusch, ein Klirren von Metall auf Stein. Er verständigte sich mit den drei anderen durch kurze Zurufe, und sie gaben so viel von dem Seil frei, daß er um den Pfeiler herumklettern konnte. Timm ging mit dem letzten Soldaten zu dem Bahnwärterhäuschen. Als sie nach einer Weile zurückkamen, schleppten sie eine Zeltplane voll Handgranaten und Munition heran, die sie in dem Häuschen zusammengelesen hatten. Sie hatten die Zeltplane gerade im Schatten der Büsche niedergelegt, als in der Ferne das rollende Geräusch eines Zuges hörbar wurde.

Die drei auf der Brücke knüpften das Seil fest um die Schwelle und verschwanden hinter den Büschen. Der Oberkellner blieb an seinem Seil hängen. Er war wütend, weil seine Arbeit unterbrochen wurde. Er hämmerte weiter an dem Gestein herum, und es war gar nicht gefährlich, daß er es tat, denn von der Brücke aus konnte ihn niemand sehen, und der Zug würde so viel Geräusch machen, daß die Schläge seines Hammers darin untergingen. Zado und Bindig blieben an den Enden der Brücke stehen, die Gesichter abgewandt, die Mantelkragen hochgeschlagen. Sie standen so, daß sie vom Zug aus jeder sehen, aber niemand ihre Gesichter erkennen konnte. Es war ein Transport Fahrzeuge. Die endlose Schlange der Wagen glitt hinter der ohne Licht fahrenden Lokomotive heran, klirrend und klappernd. Auf den Plateauwagen standen festgezurrt die Autos. Schwere, dick bereifte Fahrzeuge, solche mit Planendach und andere, von deren Rücken sich die Laufe der Salvengeschütze drohend unter den Planen abzeichneten. Ein paar Spähwagen und Bulldogs.

Bindig stand an der Stelle, wo zuvor der tote Posten gelegen hatte. Er behielt die Hände in den Manteltaschen und fühlte zwischen den Fingern den zerkrümelten Machorka und das zusammengefaltete Zeitungspapier. Sie rauchen dieses schreckliche Zeug, dachte er, sie wickeln es in Zeitung und ziehen den Qualm in die Lunge. Sie müssen Lungen wie die Adler haben. Er zog den Kopf tief in den hochgestellten Kragen und wandte das Gesicht ein wenig zur Seite, als die Lokomotive heran war. Der Heizer hing mit dem Oberkörper zum Fenster heraus und winkte im Vorbeifahren. Er hatte nur ein Hemd ohne Ärmel an, und man sah seine weiße Haut. Bindig machte eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, und dann schlug er die Schuhe zusammen wie einer, dem es auf Posten kalt geworden ist. Er war jetzt ganz ruhig. Er sah dem Zug nach, wie er über die Brücke rollte. Eine Weile noch stand die weiße Qualmwolke über dem Wald, in dem der Zug hinter der Brücke untertauchte, dann zerflatterte sie, und das Rollen der Räder verlor sich in der Nacht. Timm trat aus den Büschen. Die drei anderen eilten wieder auf die Brücke. Timm blieb neben Bindig stehen und sagte: »Das war der letzte. Bis zum nächsten müssen wir es schaffen.

»Und dann?«

»Weg«, sagte Timm. Er verzog das Gesicht, als störe ihn der Ruß. Timm war ein Mensch, der selten lachte. Lustig hatte ihn von den Männern noch keiner gesehen.

»Da drüben in den Wald«, sagte er. »Es sind zwölf Kilometer. Dazwischen liegen ein paar von diesen Seen. Ein bißchen Sumpf. Da ist weiter nichts los. Es ist eine ganz verlassene Gegend. Kein Haus. Nichts. Die Wiese liegt zwischen zwei Seen mit einem bißchen Wald an den Ufern. Wir werden gegen Morgen dort sein und den Tag über schlafen.«

Er blieb neben Bindig stehen, ohne ein Wort mehr zu sagen. So, als habe er zuviel gesprochen. Er sah den drei Männern auf der Brücke zu, und die Muskeln in seinem geschwärzten Gesicht bewegten sich leicht dabei.

»Gibt es Karten?« erkundigte sich Bindig. Er hatte von der Übung in Erinnerung, daß Karten ausgegeben werden sollten, damit zur Not jeder für sich allein den Weg zu dem Platz finden konnte, an dem die Maschine sie abholte.

Timm zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: »Ja. Es gibt Karten. Den anderen habe ich sie schon gegeben. Für dich und Zado habe ich sie noch.«

Er griff in die Tasche und brachte zwei Ausschnitte von einer Generalstabskarte zum Vorschein. Sie waren nicht größer als ein Blatt der Frontzeitung, und sie waren zusammengefaltet. Er drückte sie Bindig in die Hand und sagte: »Gib die eine Zado, wenn du deine Runde wieder aufnimmst.« Während er noch einmal in die Tasche griff und sich eine Zigarette anbrannte, sagte er: »Bei Feindberührung sofort zu vernichten. Vergiß das nicht.«

Bindig nickte. Timm hatte die Angewohnheit, sie immer wieder an die selbstverständlichsten Dinge zu erinnern. Selbstverständlich mußten die Karten vernichtet werden. Et sah Timm zu, wie der an der Zigarette sog.

»Ob ich mir auch eine anbrenne?« fragte er unschlüssig. Timm machte mit der freien Hand eine zustimmende Bewegung.

»Rauch doch!« forderte er Bindig auf. »Wenn den Kleinen an der Brücke niemand sieht, dann sieht die Zigaretten auch niemand. Hast du welche mit?« Er machte eine Bewegung nach seiner Tasche. Aber Bindig sagte schnell: »Laß nur, ich habe welche.«

Die ersten Züge an der Zigarette versetzten ihn in eine seltsam gehobene, zuversichtliche Stimmung. Immer wieder war das so: Eine Zigarette, zu einer bestimmten Zeit geraucht, konnte aus einem schlappen Mann einen gespannten, sprungbereiten machen.

Timm trat nahe an ihn heran und sagte gedämpft: »Es ist interessant, diese Stelle liegt so weit hinter der Front, daß sich niemand mehr hier herumtreibt. Sie haben alles kurz hinter der Front liegen. Weiter zurück ist nichts. Wer weiß, wie weit nichts ist. Nichts, mit Bahnlinien dazwischen, auf denen ihre Züge fahren, und Straßen mit Autos. Als wir angriffen, machten wir es genauso. Sie wissen schon, was sie wollen: Alles nach vorn, die Panzer und die Geschütze und die Autos und die Orgeln. Und dann rollen sie los und kümmern sich nicht um das, was hinter ihnen ist. Sie preschen nur vorwärts. Was sie hinter sich lassen, fällt sowieso zusammen.“

Von der Brücke kam ein klirrendes Geräusch. Dann zogen die drei Soldaten den kleinen Oberkellner auf den Damm. Er hielt sich nicht eine Sekunde auf. Er ging sofort weiter, bis er am zweiten Pfeiler angelangt war, und die drei Soldaten ließen ihn wieder hinab.

»Eigentlich sind sie gar nicht so dumm…«, sagte Bindig. Timm sah ihm ins Gesicht.

»Wer?«

»Die Russen.«

Der Unteroffizier zog bedächtig an der Zigarette, bevor er sagte: »Das kannst du mir sagen. Aber sonst niemandem. Grundsätzlich !«

»Jawohl«, sagte Bindig. Er lachte leise, aber Timm beachtete es nicht. Er tippte ihm auf die Schulter und sagte: »Geh zu der Zeltbahn. Zwischen den Handgranaten liegen drei Flaschen Wodka. Von denen in der Bude dahinten. Eine davon nimmst du für dich und Zado. Sauft sie gegen Morgen, wenn euch kalt wird – und erst wenn ihr am Ziel seid. Und eßt ein paar Kekse dazu.«

Als Bindig mitten auf der Brücke wieder mit Zado zusammentraf, merkte er, daß dieser leicht zitterte. Er stand zusammengekrümmt zwischen den Schienen, den Kopf ein-gezogen.

»Was ist?« fragte er ihn.

»Kalt«, sagte Zado, »verflucht kalt.«

Er gab ihm die Flasche. Zado steckte sie wortlos ein. Er nahm auch die Karte unbesehen und hörte dabei nicht auf, mit den Zähnen zu klappern. Plötzlich schüttelte er sich und stampfte ein paarmal mit den Füßen auf den Steinschotter zwischen den Schienen. Er schüttelte sich wie ein naß gewordener Hund, und nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er einigermaßen verständlich und ohne mit den Zähnen zu klappern: »Ich habe ein verdammt unsicheres Gefühl. Ich werde froh sein, wenn wir diese gottverfluchte Brücke hinter uns haben.«

Er blickte nachdenklich auf die Zigarette, die Bindig in der hohlen Hand hielt.

»Gib mir eine«, bat er dann, »vielleicht werde ich nach der Zigarette wieder ein richtiger, mutiger Germane.«

Es gelang ihm kein Scherz, und er wußte selbst nicht weshalb. Er hatte nur einen Gedanken: Weg von dieser Brücke und von den sechs Leichen! Es war nicht das erstemal, daß er solche Gedanken hatte. Er war daran gewöhnt, daß sie immer wieder auftauchten, und immer, wenn sie kamen, zermürbten sie ihn.

Die drei Soldaten zogen den Oberkellner wieder auf den Damm. Er reckte sich ein paarmal, dann hakte er das Seil vom Gurt ab und öffnete die Schnalle. Sie sahen, daß er die Drähte von den Sprengladungen mit auf den Damm hinaufgezogen hatte. Es dauerte einige Minuten, dann hatte er zusammen mit den anderen ein Stück des Untergrundes der Schienen tief ausgehöhlt. Einer schleppte die Handgranaten heran. Sie packten sie unter die Schienen und verdämmten sie. Der Oberkellner lauschte mit schief gelegtem Kopf. Der Schweiß stand ihm auf der rußigen Stirn, und seine Hände waren von der Arbeit an den Pfeilern zerschunden. Als Bindig zu ihm trat, sagte er heiser: »Wir lassen es den nächsten Zug selbst machen…« Er raffte schnell die Drähte zusammen und machte sich daran, die Zündung vorzubereiten. Er hatte sein eigenes System, das in keiner Sprengvorschrift zu, finden war. Er arbeitete mit einer winzigen Batterie. Aber die Batterie war nur ein Zubehör. Entscheidend war die Art, in der er seine Sprengung anlegte. Er nannte es »einen Haufen machen«. Es war sein absolutes Geheimnis, weshalb er die Ladung manchmal unter der Lokomotive und manchmal erst mitten unter dem Zug detonieren ließ. Es richtete sich danach, ob der Zug auf einem erhöhten Bahndamm fuhr oder auf ebenem Land. Er kannte sich in den Wirkungen aus und berechnete die Ladung geradezu aufs Gramm genau. Er hatte einen Sprenglehrgang bei den Pionieren mitgemacht, und als er danach wieder zur Kompanie zurückkam, brachte er in einem verschlossenen Briefumschlag seine Beurteilung mit, in der Timm las, daß er für Sprengaufgaben völlig ungeeignet sei. Timm setzte ihn trotzdem ein, und nach dem ersten Einsatz wußte er, daß der Oberkellner besser sprengen konnte als der Leiter des Lehrgangs bei den Pionieren.

Er lag auf dem Bauch und befestigte die Zündleitungen. Es dauerte lange, ehe er sich endlich erhob und noch einmal alles mit einem Blick überflog. Er maß noch einmal die Entfernung von den beiden Pfeilern zu der Stelle, wo die Handgranaten lagen, und das Ergebnis schien ihn zu befriedigen. Dann drehte er sich kurz entschlossen zu den anderen um und rief: »Los! Fertig! Fort jetzt!«

Timm führte sie bis an den Waldrand im Norden der Brücke. Es war ein verfilzter Mischwald. Wenn man ein paar Schritte gemacht hatte, war man nicht mehr zu sehen. Es gab neben der Bahnlinie einen Weg, der frontwärts führte. Aber sie nahmen diesen Weg nicht. Sie suchten sich, immer zu zweit aufbrechend, kleine, versteckte Pfade, die zu den Seen führten, zwischen denen die Maschine sie abholen würde. Nach einigen Minuten war es am Waldrand still geworden. Die Männer waren verschwunden. Nur Bindig und Zado hockten, den Rücken an eine mächtige Buche gelehnt, vor dem Wald. »Die letzten«, sagte Zado mißmutig, »wie immer!« Er langte in die Tasche und zerbrach einen Schokoladenriegel in zwei Teile. Bindig nahm die Hälfte, und Zado sagte: »Wenn wir sie wieder mit nach Hause nehmen, fressen sie sowieso bloß die Weiber.« Er redete oft von Frauen, aber es gab in dem Dorf, in dem sie lagen, nur eine einzige. Eine dunkelhaarige Frau, die nicht sehr groß war, aber eine kräftige, wohlgebaute Figur hatte. Sie lebte auf ihrem Hof, und es hieß, daß sie Witwe sei. Bei ihr war nur ein junger, taubstummer, schwachsinniger Knecht. Als sie in das Dorf eingezogen waren, hatten sie die Frau vorgefunden. Irgend jemand hatte sie einmal gefragt, ob sie im Dorfe gewesen wäre, als die Russen es besetzt hatten. Sie hatte geantwortet, das sei ihr erspart geblieben, aber sie hatte es in einer solchen Art gesagt, daß sich die Männer zuflüsterten, sie wäre nicht zu haben, sie triebe es wohl mit dem schwachsinnigen Knecht. Manchmal fuhren die Männer mit irgendeinem Lastwagen ein paar Kilometer weiter westlich in eins der Dörfer, die noch bewohnt waren. Dort gab es Mädchen. Verdorbene, durch das Hin und Her der Front aus der Bahn geworfene junge Dinger, habgierig und geschäftstüchtig. Es gab dort Frauen, die ihre Töchter für einen Sack Zucker dem Furier des Regiments anboten, und solche, die es für ein paar Büchsen Fisch taten.

Zado kaute die Schokolade wie Brot. Als er sie aufgegessen hatte, nahm er die Zigarette, die Bindig ihm zusteckte. Sie rauchten, die Lichtpünktchen der Glut in der hohlen Hand verbergend. Aus dem Wald kam ein feines Singen. Ein leichter Wind hatte sich erhoben und ließ die kahlen Zweige hin und her schwanken. Die Sterne flackerten unruhig, und die Luft roch nach Frost.

»Wenn dieser verfluchte Zug bloß bald käme, damit wir abhauen können…«, brummte Zado. Er zitterte nicht mehr. Er trug jetzt wieder den Stahlhelm und die Maschinenpistole, ebenso wie Bindig. Aber sie hatten die Mäntel der Posten anbehalten und die Pelzmützen auf die Stahlhelme gesetzt. Die Mäntel konnte man in dieser Nacht noch brauchen.

»Ich habe schon Angst vor zu Hause…«, sagte Bindig leise. »Dann kommen sie alle wieder, und man sieht ihre Augen. Es ist immer das gleiche. Man wird sie nicht los. Ich glaube, wir werden sie das ganze Leben nicht mehr loswerden…«

»Das ganze Leben…«, sagte Zado müde; »wer weiß, wie lange das noch dauert. Wir haben kein Leben mehr. Wir sind nur noch Leichen auf Urlaub. Fang bloß nicht jetzt an, über das Leben nachzudenken, ich habe nicht mehr viel Schnaps.«

Bindig hob ruckartig den Kopf und lauschte. Zado beobachtete ihn mit einem kleinen Lächeln.

»Der Zug…«, sagte Bindig.

Zado nickte. »Ich weiß. Ich habe ihn schon längst gehört. Laß ihn kommen.«

Sie konnten die Brücke deutlich sehen. Es war eine schöne Brücke. Das Sternenlicht hauchte einen matten Schimmer über die Steinquadern. Sie erhob sich inmitten des buschbewachsenen Landes wie ein Zierat, den ein Riese verloren hatte und der einfach liegengeblieben war, hier zwischen den Akazien und Buchen. Der Zug schob sich wie eine gefährliche, schwarze Schlange heran. Er kam aus dem Hinterland. Plateauwagen mit Panzern. Ein Panzer hinter dem anderen. Immer das gleiche Modell. Klobige T 34 mit waagerecht gekurbelten Geschützen. Sie lagen wie unbeholfene Kolosse auf den Waggons, scheinbar unfähig, sich zu bewegen. Wie tote Urzeittiere mit traurig gesenkten Rüsseln, die mitten in der Bewegung erstarrt waren, erfroren.

»Mein lieber Mann«, flüsterte Zado, »das hat sich gelohnt heute. Dieser Zug, und dann die Brücke…«

Sie drückten ihre Zigaretten aus. Die Lokomotive fuhr auf die Brücke. Sie erhoben sich automatisch und traten zwischen die Bäume, verloren aber die Brücke nicht aus dem Blick, sie sahen sie ebensogut wie zuvor.

Der Oberkellner aus Stuttgart hatte eine winzige Verzögerung in die Sprengladungen eingebaut. Die Lokomotive fuhr über die Stelle, an die er den Kontakt gelegt hatte. Aber sie fuhr unbeschadet weiter und zog noch den zweiten, dritten, den vierten Wagen über den Kontakt. Dann schlugen aus den beiden mittleren Pfeilern die Flammen, und Bruchteile von Sekunden später rollte der Luftdruck der Explosion heran, das krachende Gepolter vor sich hertreibend. Die Rechnung des Oberkellners ging genau auf. Der Zug rollte weiter, während der Sprengstoff die Pfeiler zerriß. Dann entstand plötzlich mitten auf der Brücke ein riesiges Loch, und die hinteren Wagen neigten sich in dieses Loch. Die anderen, die bereits über die Stelle hinweg waren, wurden zurückgezerrt. Die Handgranaten rissen die Schienen unter den Rädern der Waggons weg, und die schweren Kolosse hatten mit einemmal keinen festen Grund mehr. Sie schoben sich taumelnd, knirschend und kreischend zusammen, legten sich auf die Seite, kippten unendlich langsam, einer nach dem anderen, einer den anderen ins Verderben ziehend, einer den anderen mit sich reißend. Das Poltern der aufeinanderprallenden Panzer erschütterte die Luft. Klatschend und mit donnerndem Getöse, sich überschlagend, rutschten sie die Böschung hinab und schlugen auf dem Grund des Flusses auf. Die Lokomotive bäumte sich auf. Ihr Kessel explodierte mit einem Schrei, der an einen menschlichen Laut erinnerte. Qualm, Wasserdampf und Feuerschein vereinigten sich über dem gewaltigen Trümmerhaufen; das klare, kalte Gesicht der Nacht beschmutzend, Funken stoben auf und verglommen rasch auf ihrem Flug gegen die unbeteiligten Sterne.

Es wurde nicht still. Das Zischen des Dampfes hielt an. Ein feines Zischen, das sich mit dem Singen des Windes vermischte, kraftlos wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Bindig fühlte sich am Ärmel nach hinten gezogen. Zado hatte die Maschinenpistole in der Hand. Er war bereit zum Aufbruch. »Jesus Maria«, sagte er flüsternd, »Jesus, Maria und Josef, was dieser Knirps mit einem Koffer Sprengstoff anrichtet! Sie werden Wochen brauchen, bis sie das alles aufgeräumt haben…«

Sie tasteten sich an den Bäumen vorbei, die Augen langsam an die Dunkelheit des Waldes gewöhnend.

»Er weiß genau, was er macht«, flüsterte Zado. »Er hat es so angelegt, daß der Zug nicht ganz hinunterstürzen konnte, denn sonst hätten sie den Haufen In ein paar Stunden weggeräumt und… Los, nimm du die Karte. Irgendwo kommt da noch eine Landstraße, die wir überqueren müssen…«

Klaus Timm hatte kein gutes Gefühl in dieser Nacht. Er hatte manche Nacht hinter der Front verbracht und sich zuweilen tagelang im Rücken der kämpfenden Truppen herumgetrieben. Er hatte Kreta erlebt und Sizilien. Und er hatte viele solcher Aufträge ausgeführt wie diesen heute nacht. Aber er hatte kein gutes Gefühl, als er mit den fünf Soldaten nach dem Waldrand ging, der die letzte Stelle war, von der aus man die Brücke sehen konnte. Es war alles zu glatt gegangen heute nacht. Es war jede Einzelheit so abgelaufen, wie sie im voraus berechnet war. Das war nie ein gutes Zeichen. Es gab keinen Einsatz dieser Art, bei dem nicht irgend etwas anders lief, als es vorausgesehen war. Möglich, daß die Sprengladung, die der Oberkellner noch unter die Reste des auf der Brücke hängenden Zuges gelegt hatte, nicht zündete. Timm rief die Männer zusammen, bevor sie sich quer durch den Wald auf den Weg machten. Er hockte sich zwischen sie, und er war wieder der alte Timm, der Mann, der genau weiß, was er macht, und der keine Vorschrift achtet, wenn es darauf ankommt, den eigenen, besseren Kopf und den besseren Instinkt gegen den der anderen auszuspielen. Er reichte eine Schachtel Zigaretten herum, und die Männer zündeten sich die Zigaretten an der winzig kleinen Flamme seines Feuerzeuges an.

»Nachher raucht ihr nicht mehr«, sagte er beiläufig. »Ihr wißt nicht, was rechts und links von euch liegt.«

Er war sich gewiß, daß die Männer dieses Gebot einhalten würden; denn er sorgte dafür, daß seine Anordnungen niemals so unbequem waren, daß sie Unwillen hervorriefen.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte er dann, die Asche von der Zigarette mit dem kleinen Finger abstreifend, »wir werden alle unsere Karten vernichten. Bis auf eine. Die nehme ich.« Er wartete die Reaktion ab, aber sie war nicht anders, als er es erwartet hatte. Wieder begann er darüber nachzudenken, daß heute alles viel zu glatt ging. Die Soldaten zogen die Kartenblätter hervor, aber bevor sie sie ihm gaben, prägten sie sich genau den Weg ein, den sie zu nehmen hatten. Es war einfach, den Weg zu finden. Alle Pfade in diesem Wald führten zu seinem nördlichen Rand. Dorthin mußten die Männer gehen. Und von da ab begann ein unübersichtliches, mit Gehölz und Buschwerk bewachsenes Gelände, in dem die beiden Seen lagen, zwischen denen sie hindurch mußten. Das Gelände änderte sich auch später nicht.

Lediglich eine Straße gab es hier. Die mußten sie überqueren. Danach ging es zwischen Gehölzen und Buschwerk weiter, Kilometer um Kilometer, immer nordwärts, bis der nächste See vor ihnen lag. Hinter diesem See war eine weite, ebene Fläche. Da würde das Flugzeug landen. Es war einfach, dorthin zu finden. Man brauchte sich nur die Richtung einzuprägen. Der kleine Oberkellner gab Timm zuerst seine Karte. Er legte sie ihm auf das Knie und brummte: »Jetzt sind Sterne da, und morgens sieht man, wo Norden ist.«

Timm nickte. Er sammelte die Blätter ein und begann sie in kleine Schnitzel au zerreißen. Er scharrte mit dem Messer eine Grube in die Erde und verbarg die Papierschnitzel darin. Die Männer rauchten gelassen ihre Zigaretten weiter. Die Spannung der letzten Stunden war noch nicht von ihnen gewichen. In diesem Zustand waren sie einsilbig und gereizt.

»Paßt auf«, sagte Timm, sich erhebend, »wir müssen los. Bald kann der nächste Zug kommen. Wenn es irgendwo etwas gibt, müßt ihr auf mich achten. Wenn es ganz überraschend kommt, müßt ihr ihnen meine Leiche abnehmen. Die Karte habe ich zusammengefaltet in der linken Hand. Streichholzschachtelgröße. Dauert es länger als eine halbe Minute, dann habe ich sie inzwischen unten.« Die Soldaten nickten. Einer sagte halblaut: »Guten Appetit!« Timm drückte den Stummel aus und tippte nachlässig an den Helmrand.

Der Oberkellner sagte: »Wir werden um deine Leiche nicht bloß wegen der Karte kämpfen. Aus der Karte können sie noch lange nicht sehen, wo die Maschine landen wird. Aber du hast die Signallichter in der Tasche,«

»Die habe ich«, erwiderte Timm, während er die Maschinenpistole vor die Brust zog und mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den Abzug fuhr; »und sauft nicht den ganzen Wodka!«

Er ging allein. In solchen Fällen ging er immer allein und kümmerte sich nicht darum, ob die anderen Schwierigkeiten hatten. Jeder mußte selbst fertig werden. Das war Timms Erziehung, und die stand nicht in der Dienstvorschrift. In der Dienstvorschrift stand, daß sich der Trupp nach beendeter Aktion geschlossen und unter Timms Führung zurückzuziehen hatte auf Position X. Aber die Männer wußten, daß es richtig war, einzeln zu gehen. Einer konnte Pech haben. Gingen sie zusammen, hatten alle anderen mit ihm Pech. Und warum soll gerade ich der eine sein, der Pech hat? dachte jeder der Soldaten.

Timm hörte die Explosion, als er schon ein weites Stück Weg zurückgelegt hatte. Er bewegte sich auf einem schmalen Pfad, der beinahe schnurgerade nach Norden lief. Es war ein bemooster Waldpfad, auf dem die Füße kaum ein Geräusch verursachten. Timm verstand es, auf solchen Pfaden zu gehen. Er setzte die Füße vorsichtig auf, niemals sofort mit der ganzen Sohle und auch nicht in der üblichen Art, mit dem Absatz zuerst. Er trat mit der Außenkante der Sohle auf, und auf diese Art ging er zwar wie ein betrunkener, krummbeiniger Reiter, der stundenlang auf seinem Gaul gesessen hat, aber er spürte jedes kleine Ästchen sofort und konnte dann das Gewicht auf den anderen Fuß verlagern und den knackenden Holzstückchen ausweichen.

Man muß immer wach sein, dachte er, auf solchen Touren muß man immer wach sein, man darf keine Sekunde schlafen. Das kann das Leben kosten. Überhaupt heute. Es ist ein verfluchtes Gefühl, wenn alles so reibungslos abgeht! Wenn einer von diesen vier aus dem Bahnwärterhäuschen zurück geschossen hätte, dann läge jetzt nicht dieser Druck auf meiner Brust. Dann würde mein Finger im Abzug der Maschinenpistole nicht zittern. Und er zittert nicht nur vor Kälte.

Die Explosion klang dumpf. Aber der Donner ließ ahnen, daß sie ihren Zweck erreicht hatte. Timm blieb ein paar Sekunden lauschend stehen.

Er konnte die Sterne durch die dürren Baumkronen sehen. Die Nacht war kalt, klar und still. So kurz vor dem ersten Schnee sind die Wälder immer still, dachte Timm. Er lauschte, aber es kam kein Geräusch mehr von der Brücke. Vor ihm auf dem Pfad stand stellenweise verdorrtes, sehr hohes Waldgras. Es ist ein Pfad, den selten einer gegangen ist in der letzten Zeit. Wenn trockenes Waldgras niedergetreten wird, richtet es sich nicht mehr auf, dachte er. Er ging mit angespanntem Gesicht weiter. Es war mehr ein halbgebücktes Schleichen, denn ab und zu hingen Äste über den Pfad, die er nicht berühren wollte. Wenn ich in diesem Tempo weitergehe, bin ich in zwei Stunden am See, dachte er. Ob an der Straße was los ist? Die Aufklärer sagen: nur wenig Fahrzeuge. Er ging mit federnden Gelenken weiter. Einen Kilometer, noch einen. Und noch einen und einen weiteren.

Das Mädchen, an das er dachte, lebte in dem Nest, in dem der Regimentsstab untergebracht war. Keine Hiesige, eine aus Breslau. Eine Lehrerin, die sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Dutzend Kilometer hinter der Front Kinder zu unterrichten, die nachts neben den gepackten Koffern der Eltern schliefen. Sie war nichts Besonderes, aber sie schlief nicht mit jedem, und das war immerhin in diesen Zeiten ein achtbarer Grundsatz. Timm hatte sich in sie verlieben müssen, bevor sie ihn über Nacht bei sich behielt. Man muß sich anzupassen verstehen. Morgen werde ich dem Furier ein paar Tüten von diesem rosa Puddingpulver abschwatzen, dachte er, jedesmal erzählt sie mir, wie wunderbar Pudding schmeckt, wenn er richtig zubereitet ist. Mit Rosinen und Mandeln. Und mit Zitronen- stückchen. Ob sie Rosinen hat? Mandeln? Zitronen hat der Furier auch nicht. Aber Puddingpulver hat er ein halbes Auto voll. Sie hatten es irgendwo auf dem Rückzug mitgenommen, weil nichts anderes da war. Vielleicht ist er froh, wenn er was davon los wird. Diesmal werde ich drei Tage bei ihr bleiben. Es läßt sich machen. Der Leutnant wird ja sagen. Ihm geben sie das Ritterkreuz, wenn wir die Russen hier an dieser Kante so stoppen, daß sie nicht zum Angriff kommen. Und wer macht die Arbeit? Timm! Also wird Timm drei Tage bei der Lehrerin Hannelore rosa Pudding essen. Mit oder ohne Rosinen. Ich werde ihr überhaupt…

Er warf sich blitzschnell hin und blieb eine endlos lange Zeit ohne Bewegung liegen. Aber es schien nur so, als ob er sich nicht bewegte. Er hatte die Maschinenpistole im Anschlag und lauerte darauf, daß ihn jemand anrief, daß ein Gewehrschloß knackte. Es ereignete sich nichts. Da zog Timm unendlich langsam die Oberschenkel an den Leib und richtete sich so weit auf, daß er über die Büsche hinweg die Lichtung sehen konnte.

Eigentlich war es keine Lichtung, sondern nur eine Stelle im Wald, an der die Bäume sehr weit standen. Es gab auf mehrere hundert Meter nur dünne Stämmchen und Büsche. Timm hatte weiter nichts gesehen als das kurze, dicke Rohr eines Sturmgeschützes.

Er blieb regungslos an der Außenseite des Waldpfades liegen. Er rührte sich kaum dabei, als er mechanisch die zusammengefaltete Karte zum Mund führte. Er biß und kaute darauf herum, während seine Augen weit geöffnet auf das Fahrzeug starrten, daß ihm die Breitseite zukehrte. Er erkannte es sofort als ein sowjetisches Geschütz. Es war gedrungener gebaut als die deutschen Geschütze. Das Rohr war kurz, konisch und dick. Es war waagerecht gekurbelt, in Ruhestellung. Timm erkannte jetzt auch die Raupenketten und das Heck des Fahrzeuges mit den Auspufftöpfen. Und er sah, daß es nicht allein hier stand. Es war nicht abgeschossen, vergessen, kein Wrack mit rostenden Stahlplanken. Es war eins von vielen Geschützen, die zwischen den Bäumen parkten. Timm konnte sie sehen. Sie standen nicht weit voneinander entfernt, manche gegen Fliegersicht mit Reisig abgedeckt. Es waren ein Dutzend oder mehr. Man konnte sie nicht alle sehen, und es war zu vermuten, daß ein Teil von ihnen noch weiter entfernt im Dunkel unter den Bäumen parkte. Sie standen ungeordnet da, und Timm übersah die Lage sofort. Es war eine Bereitstellung. Eine Batterie oder auch zwei oder drei, die hier in Abruf Stellung lagen. Neues Material aus dem Osten, für den kommenden Angriff zusammengezogen, aber noch weit von der Front entfernt. So weit wie der Angriff vom heutigen Tag.

Es rührte sich nichts bei den Fahrzeugen. Nirgends war ein Posten zu sehen, so sehr Timm seine Augen anstrengte. Er kaute erregt auf dem ekelhaft schmeckenden Papier des Kartenblattes, bis er fühlte, daß es nur noch aus einem Brei von Papierfasern bestand. Da ließ er es aus dem Mund gleiten und schob es vorsichtig unter das Laub. Er spürte, wie der Schweiß auf seinem Rücken eiskalt wurde. In die Lenden kroch ein ziehendes, sich bis in die Oberschenkel fortpflanzendes Gefühl. Timm hatte Angst vor dem Posten, den er nicht sah und der doch irgendwo stehen mußte, zwischen den Bäumen versteckt, ihn regungslos beobachtend. Er biß sich schmerzhaft in die Lippe, als er merkte, daß seine Hände zitterten. Du darfst nicht die Nerven verlieren, Junge, sagte er sich. Er redete es sich ein und bemühte sich, die Hände stillzuhalten und des Gefühls in den Lenden Herr zu werden. Du mußt ganz ruhig bleiben, Timm. Wenn er dich gesehen hat, dann wird er über kurz oder lang doch schießen, oder er wird dich anrufen. Wenn er dich gesehen hat! Aber warum soll er dich gesehen haben? Vielleicht schläft er unter seinem Baum. Vielleicht haben sie gerade abgelöst. Übrigens hätte er dich längst angerufen, wenn er dich gesehen hätte. Unsinn! Er hat dich nicht gesehen! Er wird dich auch nicht sehen. Denn wenn du ihn kommen hörst, wirst du still auf der Erde liegenbleiben wie ein Baumstumpf. Er bewegte sich nicht. Er starrte nur geradeaus, und er fühlte, wie ihm der Schweiß unter dem Helm hervorrann.

Er kann dich aber doch gesehen haben, überlegte er wieder. Er kann dich gesehen haben und dich jetzt ganz genau in seinem Visier haben. Er kann abwarten, mit dir spielen, weil er genau gesehen hat, wer du bist. Er kann grinsend hinter einem solchen Baum hocken und dich beobachten, du entgehst ihm nicht. Sie haben gute Augen. Und sie hören gut. Mag sein, daß sie nach Knoblauch stinken und nach Machorka, aber sehen und hören können sie. Mach dir nichts vor, Timm, er sitzt hinter seinem Baum und lauert. Und er wird dich töten. Es gibt keinen Zweifel, er wird dich töten, aber erst dann, wenn er sicher ist, daß du allein bist, oder überhaupt erst dann, wenn er es für richtig befindet. Er läßt dich zappeln wie die Maus in der Falle. Er will dich nervös machen, es gelingt ihm auch. Er läßt dich hier liegen, bis du irrsinnig bist vor Angst und aufspringst, und dann knallt er dich ab wie der Jäger ein auffliegendes Rebhuhn.

Es war, als bliebe das Blut in seinen Adern stehen, als wäre sein Körper mit einemmal nicht mehr warm und lebendig, sondern eiskalt, starr. Dann schüttelte ihn der Frost, und er strengte sich vergeblich an, die Hände ruhig zu halten. Er hatte längst den Finger aus dem Abzug der Maschinenpistole nehmen müssen. Er biß die Zähne zusammen, denn er meinte, daß das Geräusch bei ihrem Aufeinanderklappen bis an das Sturmgeschütz zu hören sein müsse. Um ihn herum war es still. Es regte sich nichts. Das war es, was Timm nervös machte. Wenn in diesem Augenblick auf der Lichtung vor ihm die Soldaten durcheinander gerannt wären, wenn die Scheinwerfer sich in das Walddunkel gefressen hätten und die aufs Geratewohl abgefeuerten Gewehrschüsse durch die Büsche neben ihm geprasselt wären, dann wäre Timm ruhig gewesen. Die Stille war es, die ihn ängstigte. Er lag am Rand des Waldpfades auf dem Bauch und biß sich die Lippe blutig. Erst als einige Minuten vergangen waren, spürte er plötzlich den Schmerz in der Lippe. Er sagte sich, diese Lippe wird Hannelore nicht gefallen. Und im gleichen Augenblick, als er sich das sagte, wußte er, daß er das Schlimmste überwunden hatte.

Er schöpfte tief Luft und lauschte in den Wald hinein. Mit Befriedigung stellte er fest, daß seine Hände wieder sicher wurden. Aber gleichzeitig begann ihn der Gedanke an die anderen Männer zu bewegen. Er wußte, daß es ihnen ebenso gehen würde wie ihm. Diese Bereitstellung der Sturmgeschütze hatten die Aufklärer nicht entdeckt. Sie war ein Hindernis, das man nicht voraussehen konnte. Die Aufklärer hatten diesen Wald für absolut sicher gehalten. Timm überlegte, wie sich die anderen Soldaten seiner Gruppe verhalten würden, wenn ihnen das gleiche zustieß wie ihm. Ob sie überhaupt die Geistesgegenwart besitzen würden, stillzubleiben, oder ob sie vielleicht die Bereitstellung erst zu spät entdeckten?

Er spürte mit einemmal seine Glieder wieder. Das war ein Zeichen dafür, daß er wieder fähig zum Handeln war. Timm ist wieder da, dachte er grimmig, Timm lebt noch! Er spürte die Wodkaflasche in der Hosentasche und wunderte sich, daß sie nicht zersprungen war. Sie haben dickes Glas, dachte er. Dann legte er behutsam wieder den Finger in den Abzug der Maschinenpistole. Er machte eine einfache Überlegung; Wenn der Posten dich im Visier hat, wird er dich so oder so abknallen. Hat er dich nicht im Visier, dann wird er dich aufspüren, wenn du hier noch lange herumliegst. Also: Deine Chance ist es, zu verschwinden. Es ist die letzte Chance, und es ist nicht gewiß, daß du Glück hast, aber du mußt die Probe machen.

Er hatte nicht die Absicht, zurückzukriechen, um die anderen zu warnen. Sie mußten ein Stück hinter ihm sein, aber sie waren auf anderen Wegen gegangen. Er dachte nur an sich, und er bewegte sich unendlich langsam auf dem Waldpfad rückwärts. Er kroch ein paar Zentimeter, einen Viertelmeter und einen halben, einen Meter und noch einen. Es geschah nichts. Der Wald blieb ruhig, und die Sterne flackerten ebenso unbeständig weiter wie zuvor. Timm kroch, sich dabei das salzige Blut von der aufgebissenen Lippe leckend. Er kroch weiter und weiter, und schließlich war er so weit gekrochen, daß er das Sturmgeschütz nicht mehr sehen konnte. Es war dunkel, und der Pfad vor ihm lag nur wenige Meter im dünnen Sternenlicht, das durch die Baumkronen fiel. Weiter hinten erhob sich die Dunkelheit wie eine stumpfe Mauer, und Timm dachte: Dort hast du vor ein paar Minuten noch gelegen, und keiner hat geschossen. Es gibt keinen, der dich gesehen hat. Er verhielt und lauschte. Dann erhob er sich auf die Füße und nahm die Maschinenpistole unter den Arm. Er lief wie auf Kommando, mit katzenhafter Behendigkeit, lautlos, mit großen, ungleichmäßigen Sprüngen. Er brachte einige hundert Meter zwischen sich und den Platz, an dem die Sturmgeschütze standen, und er blieb erst keuchend stehen, sich duckend, erstarrt wie eine Bildsäule, als aus dem Gebüsch seitlich des Pfades plötzlich eine Stimme halblaut seinen Namen rief.

Zado hatte Bindig plötzlich seitwärts zwischen das Geäst gezogen, einen Finger dabei auf den Mund legend; er hatte ein feines Gehör, und die tappenden Laute von Timms Gummisohlen waren ihm nicht entgangen. Sie sahen ihn den Pfad entlanghetzen und wußten, daß etwas geschehen war. Als sie ihn angehalten hatten, zogen sie ihn zu sich in den Schutz der Büsche, und Timm keuchte flüsternd: »Fort! Sie haben da vorne…«

»Ruhig…«, flüsterte Zado, »ganz ruhig, Klaus. Haben sie dich gesehen?«

»Nein«, gab Timm zurück, »aber wir kommen nicht vorbei. Die anderen auch nicht. Sie haben eine Batterie Sturmgeschütze mitten im Wald stehen, und sie werden…«

Die Geschoßsalve einer Maschinenpistole zersägte seinen Satz. Sie war ganz plötzlich da, weit entfernt, aber doch nicht so weit, daß sie bedeutungslos gewesen wäre. Es war das trockene, bellende Geknatter einer russischen Waffe, ein langer Feuerstoß und nach einer sekundenlangen Pause ein weiterer, kürzerer, dem vorerst Stille folgte.

Die drei hockten im Gebüsch neben dem Pfad. Zado hatte Timm, noch während die Maschinenpistole bellte, tiefer zwischen das Astwerk gezerrt. Sie lauschten ein paar Sekunden. Es geschah nichts. Die Nacht war wieder still. Aber die Stille war trügerisch, jeder der drei wußte es. Der Posten, oder einer der Posten, war gewarnt; irgendeiner der anderen Männer war ihm in die Hände gelaufen. Bindig knöpfte die Tasche der Kombination auf und nahm die beiden Handgranaten heraus. Er prüfte die Zünder oberflächlich und befestigte die beiden eiförmigen, geriffelten Stahlkörper dann an einer Schlaufe des Koppels. Er ließ den bereits aufgeknöpften russischen Mantel von der Schulter gleiten und nahm die Pelzmütze vom Helm. Er tat es nicht sonderlich schnell, gerade so, wie man etwas tut, was ebenso unbequem wie notwendig ist. Er zog den Lederriemen des Helmes fest und überzeugte sich, daß die erste Patrone des Magazins in der Kammer der Maschinenpistole lag. Zuletzt nahm er die Pistole und entfernte das Magazin. Er hatte in dem Bahnwärterhäuschen vier Schüsse abgegeben. Die Patronen fehlten in dem Magazin. Er griff in die Tasche und nahm vier Patronen, die er lose eingesteckt hatte. Er füllte das Magazin auf und schob es dann in die Pistole zurück; dann lud er die Waffe ebenfalls durch und sicherte sie nicht mehr.

Als er damit fertig war, sagte er leise zu den beiden anderen : »Wollen wir hier liegenbleiben?«

Aber er bekam keine Antwort, denn im gleichen Augenblick explodierte dort, wo vorher die Maschinenpistole gebellt hatte, eine Handgranate, und ein paar harte russische Stimmen riefen sich unverständliche Worte zu. Eine Trillerpfeife ertönte dazwischen, und dann fielen ein paar einzelne Schüsse.

Es war, als erwache Timm aus einer Erstarrung, als die Trillerpfeife ertönte. Er hörte sie und hatte im gleichen Augenblick das Bild vor sich, das sich dort bot. Ein Zugführer, der seine Leute ansetzt, den Wald zu durchkämmen. Timm erhob sich automatisch. Er spürte mit einem Mal, daß er wieder der alte war. Er legte sich die Maschinenpistole zurecht und zwängte seinen Oberkörper durch die Zweige. Auf dem Pfad war nichts zu sehen. Er winkte den beiden und trat hinaus. Sie folgten ihm. Sie hasteten hinter Timm den Weg zurück, den sie gekommen waren. Wieder fielen hinter ihnen Schüsse. Aber sie galten nicht ihnen. Sie waren weit entfernt von dem Platz, an dem geschossen wurde. Es waren einzelne Gewehrschüsse, hallend und scharf, dazwischen Feuerstöße aus Maschinenpistolen. Timm hielt im Laufen inne und lauschte zurück. Dann sagte er leise: »Das war eine Beretta.«

Er sagte es so, als habe er bis zu diesem Augenblick noch daran geglaubt, daß die Schießerei zufällig oder versehentlich entstanden sei und seine Soldaten unentdeckt geblieben wären. Es klang wie eine traurige Feststellung.

»Sie müssen weiter rechts von mir gegangen sein«, sagte er. »Ich habe es mir gedacht. Die Sturmgeschütze stehen hintereinander. In der Dunkelheit sind sie nur durch einen Zufall zu entdecken.«

Die Beretta schoß noch immer. Sie gab kurze, sparsame Feuerstöße ab. Die anderen Waffen bellten bösartig, in lang-gezogenen, einander übertönenden Salven. Timm sagte nichts, aber er wußte, daß dort nur einer der Männer lag und sich verteidigte. Entweder waren die anderen tot, oder sie hatten diesen einen aufgegeben. Es war schwer zu entscheiden, ob sie damit richtig gehandelt hatten.

»Was willst du?« erkundigte sich Zado. Timm deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und sagte schnell: »Zurück bis an den Waldrand, und dann immer am Waldrand entlang nach Osten, bis wir aus diesem Tohuwabohu heraus sind.«

Zado nickte. Sie hasteten weiter, und das Geknatter der Schüsse hinter ihnen wurde von Minute zu Minute schwächer. Dann hörte die Beretta auf zu schießen.

»Aus!« sagte Zado heiser. »Er hat ziemlich lange ausgehalten.« Aber in diesem Augenblick begann viel weiter links ebenfalls eine Beretta zu schießen, und in ihre Feuerstöße mischten sich die dumpf klingenden Explosionen von Handgranaten.

Timm verzog das Gesicht. Er sah aus, als habe er Schmerzen. Aber die anderen sahen es nicht. Timm überlegte, ob von den Männern noch einer übrigbleiben würde. Es ist die beste Gruppe aus dem ganzen Haufen, dachte er. Die jungen Kerle sind die Besten. Und sie knallen sie mir einen nach dem anderen ab.

Sie hatten den Waldrand schnell erreicht. An der Brücke rührte sich nichts. Aber in der Luft lag eine feine Spur von Rauch. Timm begriff, daß der Kessel der Lokomotive explodiert war.

Sie bewegten sich im Rücken des Waldes nach Osten und machten einen großen Bogen, der sie weit von der Stelle wegführte, an der die Sturmgeschütze standen, aber auch weit von den Seen weg, zwischen denen die Maschine sie abholen sollte. Timm hatte sich die Karte genau eingeprägt. Er ließ Zado und Bindig ihre Kartenblätter ebenfalls vernichten, und sie marschierten weiter, sich nach den Sternen orientierend. Sie betraten unbekanntes Gebiet, das weder auf dem Kartenblatt noch in dem Sandkasten zu sehen gewesen war, den sie beim Stab für diesen Einsatz aufgebaut hatten. Nach einer Stunde hörten sie keine Schüsse und keine Handgranaten mehr. Sie kamen in die Nähe der Straße, die sie kreuzen mußten, und auf der Straße fuhren Autos mit angehängten Geschützen. Es waren kurze Kolonnen, dazwischen flitzten kleine, wendige Stabsfahrzeuge. Nach einer halben Stunde gelang es ihnen, die Straße zu überqueren. Der Wald auf der anderen Seite verschluckte sie, und sie marschierten viele Kilometer in diesem Wald weiter nach Osten, bevor sie wieder nordwärts abbogen.

Vor ihnen lag buschiges, unübersichtliches Gelände, flach und langweilig. Timm hatte am Handgelenk einen winzigen Kompaß baumeln. Er führte die beiden anderen sicher. Er war gewiß, der Gefahr entronnen zu sein. Sie hatten eine weite Strecke zwischen sich und den Platz der Schießerei gelegt. Hier war das Gebiet, das hinter jeder Front immer am wenigsten beaufsichtigt war. Das Gebiet zwischen den Stellungen und den Etappenorten. Die leichte Artillerie stand weiter vorn, die schwere war viele Kilometer östlich stationiert. In diesem Gebiet spielte sich das Leben nur auf den Straßen und Wegen ab. Die Wälder waren still.

Als der Morgen graute, hatten die drei den großen Bogen beinahe vollendet. Sie waren müde und hungrig. Ihre Schritte waren schlapp, und Timm wußte, daß ihre Aufmerksamkeit nachgelassen hatte. So, wie sie jetzt waren, würden sie am hellen Tage in eine russische Kolonne hineinlaufen. Er beeilte sich, vorwärts zu kommen, und trieb sie an, bis er die Wasserfläche des Sees in der Morgendämmerung erkennen konnte. Da ließ er sie zurück und begann den Landeplatz zu suchen. Er fand ihn und überzeugte sich davon, daß er brauchbar war. Er mußte alle Kräfte zusammennehmen, als er auf einen einzeln stehenden Baum kletterte, um die Gegend zu überblicken. Er konnte weit ins Land sehen, aber solange er auch Ausblick hielt, er bemerkte nichts, was sich bewegte, nichts, was seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Auf dem Rückweg fand er eine Mulde im Boden, die mit Gestrüpp überwuchert war. Er stieg hinein und stellte fest, daß sie drei Leuten Platz bieten würde. Da holte er die beiden anderen nach, führte sie zu der Mulde und sagte: »Legt euch hin und schlaft. Ich wecke euch, wenn ich müde bin.«

Thomas Bindig erwachte, als es bereits spät am Abend war. Er fühlte die Kälte in all seinen Gliedern und hob langsam den Kopf. Der Helm lag neben ihm, und der Lauf der Maschinenpistole zeigte genau in sein Gesicht. Er schob ihn gedankenlos beiseite und richtete sich auf. Die Zweige der Sträucher, zwischen denen er lag, hingen ihm ins Gesicht. Er bewegte die erstarrten Finger, und dann hörte er neben sich die Stimmen. Es war Timm, der sich mit Zado unterhielt. Er sah sie im gleichen Augenblick, sie hockten am Rand der Mulde und starrten auf die Ebene zwischen den Seen hinaus. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, und aus ihrem seltsamen Benehmen konnte er nicht klug werden. Sie beachteten ihn nicht, als er zu ihnen kroch, und er hockte sich neben Timm und fragte: »Warum habt ihr mich so lange schlafen lassen?« Timm antwortete nicht auf die Frage. Er reckte den Kopf und sagte leise zu Zado: »Wir müssen ihn holen. Er sitzt mitten auf dem freien Feld. Wenn er sich eine Zigarette anbrennt, wird man es bis Moskau sehen…«

»Was ist?« erkundigte sich Bindig. Er fühlte sich ausgeschlafen und erfrischt. Nur ein wenig durchgefroren.

»Wir sollten immer ein Glas mitnehmen«, sagte Zado. »Du siehst, daß man es manchmal braucht. Ob er der einzige ist, der davongekommen ist?«

»Möglich«, antwortete Timm. »Jedenfalls ist es der Kleine. Er muß etwas abgekriegt haben…«

Bindig konnte die Gestalt nicht erkennen. Er strengte seine Augen an, aber er sah an der Stelle, wo die anderen die Gestalt sitzen sahen, nur einen dunklen Brocken auf der Erde liegen. Es war schon zu dunkel, um mehr zu erkennen.

Zado blickte ihn an und fragte: »Ausgeschlafen?«

»Ihr habt mich den ganzen Tag schlafen lassen…«, sagte Bindig vorwurfsvoll. »Was war los?«

»Nichts. Bis vorhin, als der Kleine auftauchte.«

Es war der Oberkellner aus Stuttgart. Sie hatten ihn schon von weitem gesehen, wie er, an den Saum der Büsche gedrückt, die den See umgaben, heranschlich. Sie hatten ihn beobachtet, aber nicht angerufen, weil sie nicht wußten, ob er verfolgt wurde. Doch offensichtlich wurde er nicht verfolgt. Er war ein paar hundert Meter von ihrem Versteck zu Boden gefallen und liegengeblieben. Ein dunkles Bündel, mit einem Stahlhelm bedeckt, das Gesicht noch rußgeschwärzt von der letzten Nacht.

Als Zado an ihn herankroch, hob er blitzschnell die Maschinenpistole, doch er ließ sie sofort wieder sinken, einen erstaunten, angstvollen Ausdruck in seinem schmutzigen Gesicht. Er riß den Mund weit auf, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen über die Lippen. Seine Augäpfel waren rot geädert, die Lider verschwollen. Die Lippen zuckten wie bei einem Kind in den Sekunden, die einem quäkenden Weinen vorangehen. Er blickte Zado mit irren Augen an. Er zitterte am ganzen Körper. Zado legte ihm die Hand auf den Ellbogen und sagte ruhig: »Kleiner… ich bin’s! Komm! Noch ein Stückchen…«

Da erst sah er das Blut. Er packte schnell zu und besah sich die Wunde. Der Oberkellner stöhnte und knirschte mit den Zähnen. »Ruhig…«, sagte Zado leise, aber energisch, »ganz ruhig, Kleiner, sonst wird Vati böse!«

Es hatte ihm den linken Oberarm aufgerissen. Die Tarnjacke war bis zum Handgelenk blutig und wies an der ganzen linken Leibseite dunkle, feuchte Flecke auf. Oben, unweit der Schulter, war sie zerrissen. Das Unterzeug war blutverkrustet. Die Wunde war groß. Sie hatte schmutzige, zerfranste Ränder. Zado sah auf den ersten Blick, daß der Knochen nicht verletzt war. Es war eine riesige Fleischwunde, eine Splitterwunde, kein Geschoß. »Handgranate?« erkundigte er sich.

Der Verletzte stöhnte. Als Zado die Stoffetzen von der Wunde nahm, öffnete er den Mund und wollte einen Schrei ausstoßen. Aber Zado verband nicht den ersten Verwundeten. Er hielt ihm die flache Hand auf den Mund, und der Mann brachte nichts weiter heraus als ein dumpfes Gurgeln.

»Ruhig…«, sagte er wieder, »gleich ist’s vorbei. Dann kommt bald die Tante Ju, und wir fliegen heim zu den Mädchen…«

Er sah, daß im Ärmel ein Verbandpäckchen hing. Der Verletzte mußte es sich selbst umgewickelt haben, aber es hatte nicht fest genug gesessen und war verrutscht. Zado riß sein eigenes Verbandpäckchen auf und legte es auf die Wunde. Es reichte nicht aus, denn der Splitter hatte einen großen Fleischfetzen herausgerissen. Zado band den Mull provisorisch fest, und dann sagte er zu dem Verletzten: »Ganz ruhig jetzt. Da vorn ist ein Versteck. Ich bringe dich hin. Hast du Schmerzen?«

Der Oberkellner stöhnte. Aber die Verletzung war nicht so schwer, daß er nicht hätte gehen können. Als Zado ihn aufheben wollte, richtete er sich von selbst auf und stellte sich auf die Füße.

»Komm«, forderte Zado ihn auf, »halt dich an mir fest.« Er hob sich den Arm des Soldaten über die Schulter. Der Mann torkelte. Er muß unheimlich viel Blut verloren haben, dachte Zado. Wie er es nur gemacht hat, daß sie ihn nicht erwischt haben?

Sie brachten ihn zwischen den Büschen unter und verbanden ihn. Sie steckten ihm die Schokolade, die er in den Taschen hatte, in den Mund und fütterten ihn mit den stockig schmeckenden Kraftkeksen. Dann gaben sie ihm ihre Schmerzlabletten. Es waren winzige, weiße Perlen, die bitter schmeckten. Aber sie waren so stark, daß sie den unerträglichsten Schmerz für einige Zeit milderten und erträglich machten. Sie .steckten ihm die Tabletten in den Mund, und Timm hielt ihm die Wodkaflasche an die Lippen, die er noch immer in der Hosentasche hatte. Der Oberkellner trank, als wäre es Wasser. Er spülte die bitteren Tabletten mit dem scharfen Schnaps hinunter und legte dann den Kopf zurück. Die drei anderen saßen schweigend dabei. Aber er sprach erst, nachdem die Tabletten gewirkt hatten. Er räusperte sich und sagte mit schmerzverzerrten Mundwinkeln: »Gebt mir noch Wodka…«

Timm hielt ihm die Flasche hin. Der Verletzte richtete sich auf und nahm die Flasche mit der rechten Hand. Er trank, ohne abzusetzen, und als er Timm die Flasche zurückgab, mochte er mehr als ein Viertelliter getrunken haben.

»Junge, du wirst blau sein wie eine Strandhaubitze«, sagte der Unteroffizier. Aber der Verletzte schüttelte den Kopf. »Die Schmerzen. Das Zeug ist gut gegen Schmerzen«, sagte er heiser. Dann verlangte er eine Zigarette. Er verdeckte die Glut mit der hohlen Hand und starrte vor sich hin. Timm hielt noch immer Ausschau am Rande der Mulde. Nach einiger Zeit sagte der Verletzte leise: »Du brauchst dir nicht die Augen anzustrengen, Klaus. Es kommt keiner mehr. Die anderen vier sind tot.« Er senkte den Kopf und zog an der Zigarette.

»Alle?« fragte Timm. »Oder ist noch einer verwundet? Vielleicht kommt noch einer. Du bist auch gekommen!«

»Nein!« sagte der Verletzte. »Es kommt keiner mehr. Sie sind tot. Sie sind bereits begraben. Ich habe gesehen, wie sie sie begraben haben.«

Er sprach mit schwerer Zunge, als bereite ihm das Sprechen Schmerzen. Er war matt und ausgeblutet. Nur der Schnaps hielt ihn aufrecht.

»Ihr seid in die Bereitstellung hineingelaufen?« fragte Timm. »Sie war verflucht gut versteckt. Ich habe sie auch erst im letzten Augenblick gesehen.«

Der Verletzte nickte. Dann ließ er sich wieder zurückfallen und sprach liegend, ohne die anderen anzusehen, weiter.

»Ich war allein. Ich war hinter den anderen. Nicht auf dem gleichen Weg, aber nicht weit davon weg. Ich habe es genau gesehen. Die beiden vor mir standen mit einemmal vor dem Posten. Er schoß sofort. Sie erschossen ihn, aber es war noch ein zweiter da, und der war versteckt. Der erschoß sie beide. Dann war das ganze Lager wach. Aber sie kümmerten sich nicht um die Toten. Sie suchten zuerst den Wald ab. Die beiden anderen von uns kamen auf die Schüsse hin zu uns gelaufen. Sie wollten uns helfen. Aber das war ihr Fehler. Es dauerte eine halbe Stunde, dann war das Gefecht entschieden. Tot. Alle.«

Er legte sich auf die Seite und schloß die Augen. Die anderen sagten nichts. Es war dunkel geworden. Der Himmel war klar wie am vorangegangenen Tag. Die Sterne waren noch blaß, aber sie nahmen von Minute zu Minute an Leuchtkraft zu. Es war still hier zwischen den Seen. Am Nachmittag hatte es ab und zu in der Ferne Motorengeräusche gegeben, aber sie waren nur leise und undeutlich hörbar gewesen. Irgendwo, auf der Straße, spielte sich der Verkehr ab.

»Wenn ich nur wüßte, ob sie noch suchen«, sagte Timm leise. Er dachte bereits an die Maschine, die hier landen würde. Gewiß, es würde schnell gehen, und sie würden wenige Minuten später wieder in der Luft sein. Aber es war ungewiß, ob sich nicht irgendwo zwischen den Seen Streifen herumtrieben.

»Nein«, sagte der Verletzte, »sie suchen nicht mehr. Sie haben damit aufgehört. Bis Mittag haben sie gesucht. Dann haben sie aufgehört. Sie haben nur die Posten verdoppelt.«

»Und du?« erkundigte sich Timm. »Wie hast du es angestellt, daß sie dich nicht erwischt haben? Wie hast du das alles sehen können, ohne daß sie dich fanden?«

Der Verletzte bewegte leicht den linken Arm. Er verzog wieder das Gesicht dabei, und Timm fragte: »Tut es noch weh? Willst du noch Tabletten?«

»Es geht«, sagte der Verletzte, »den Tag über war es schlimmer. Sie haben mich nicht gesehen. Ich ging hinter den anderen. Als es knallte, stieg ich auf einen Baum. Ich war weit zurück, aber dann, als ich oben war, zogen sich die anderen zurück. Bis beinahe unter meinen Baum. Ich habe dort oben gehockt, und unten schossen sie einander tot. Es ging hin und her. Von links waren es Becker und Flix. Sie schossen ihre Magazine leer, aber hübsch langsam, so daß es lange vorhielt, was sie an Munition in den Taschen hatten. Zuletzt hatten sie nur noch die Pistolen. Und dann die Messer. Aber dazu kamen sie nicht. Die Russen hatten sie eingekreist, und sie hatten keine Chance mehr. Sie deckten sie mit Handgranaten zu, und das war das Ende. Mittag haben sie alle vier begraben. Tot. Aus.«

»Und du?« fragte Timm.

Der Verletzte hob den Kopf. Seine Augen glänzten. Er hat Fieber, dachte Bindig, er wird in ein paar Stunden einen Schüttelfrost haben und niemand mehr kennen.

»Ich?« sagte der Verletzte. »Ich habe in meinem Baum gehangen und nichts getan. Ich war froh, daß sie mich nicht sahen. Sie hatten diese verfluchten schwarzen Teufelskappen auf. Panzermänner. Kerle wie Bäume. Sie haben Becker und Flix begraben und die anderen beiden auch. Die hatten sie ein Stückchen weiter links erwischt. Der Wald war voll von diesen Teufelskappen. Sie ließen keinen Winkel aus, aber sie fanden nichts mehr. Ein Glück, daß sie keinen Hund hatten. Ein einziger lumpiger Köter, und ich wäre jetzt nicht hier…« Er verstummte und ließ den Kopf wieder sinken. Das Fieber begann ihn zu schütteln, Timm hielt ihm wieder die Wodkaflasche hin. Er spürte, wie die Zähne des Verletzten an den Flaschenhals schlugen.

»Junge«, sagte Timm, »wenn wir nach Hause kommen, werden sie uns anscheißen, weil wir vier Mann verloren haben!«

»Aber die Brücke ist nicht mehr«, sagte Bindig, »das sollen sie uns erst nachmachen. Die Brücke war kein Kinderspiel.«

»Sie haben sie begraben«, flüsterte der Verletzte im Fieber.

»Gib ihm Schnaps«, forderte Zado.

Timm hielt ihm wieder die Flasche hin. Er sagte: »Hattest du den Weg im Kopf? Hast du gleich gefunden?«

Er bekam keine Antwort. Der Verletzte schluckte. Lange Zeit später flüsterte er: »Die Maschinenpistole ist von Flix. Er hat sie beim Zurücklaufen verloren. Er war schon angeschossen und lief ganz krumm. Im Bauch, glaube ich. Ich habe sie heute nachmittag aufgehoben, als ich davonschlich…«

Er preßte die Zähne aufeinander. Das Fieber schüttelte ihn. »Jesus Maria, gib ihm Schnaps!« sagte Zado. »Gib ihm Schnaps, die Maschine kommt erst in ein paar Stunden.«

Bindig brannte Zigaretten an und gab jedem eine. Der Verletzte rauchte hastig, in langen, tiefen Zügen. Die Zigarette wurde feucht in seinen Fingern, so schwitzte er.

»Was war das?« fragte Bindig, auf den Oberarm deutend. »Handgranaten?«

»Ja…«, hauchte der Verletzte. Die Zähne schlugen aufeinander, während er sprach. »Sie warfen diese verfluchten Handgranaten, und die Splitter surrten mir um die Ohren. Es war ein großer Splitter, das Blut tropfte von oben herunter auf die Erde. Und ich konnte das Verbandpäckchen nicht erreichen, ich mußte mich festhalten. Mit einer Hand. Und abwärts auch. Es ist… Habt ihr noch was von diesen beschissenen Tabletten…«

Als es Zeit war, daß die Maschine auftauchte, sagte Zado zu Timm: »Jetzt fehlt weiter nichts, als daß die Maschine nicht kommt…« Timm hatte die Leuchtzeichen aufgestellt. Er hockte neben Zado am See und wartete auf das Motorengeräusch, um die Magnesiumfackeln anzubrennen. Gut, daß ich sie bei mir hatte und nicht einer der anderen, dachte er. Die Junkers würde umkehren und heimfliegen, wie ich diese Piloten kenne.

Es war kalt geworden. Die Luft war frostklar und frisch. Jetzt, in der Dunkelheit, schienen die Geräusche von der Landstraße näher gerückt zu sein. Aber es waren nicht viele Geräusche. Ab und zu ein einzelnes Fahrzeug, dann wieder eine kurze Kolonne. »Wenn die Maschine nicht kommt, baue ich mir hier eine Hütte und jage Enten«, sagte Zado. »An diesen Seen gibt es immer Enten. Ich schieße Enten und bringe sie dem russischen Kommissar. Vielleicht verschafft er mit eine Flugkarte nach Deutschland.«

Er wartete darauf, daß Timm grinste, aber Timm grinste nicht. »Scheiße!« sagte er schließlich mürrisch. »Wir sind der traurigste Haufen der gesamten großdeutschen Wehrmacht. Es gibt keinen traurigeren Haufen mehr als uns. Wenn es noch ein Vierteljahr so weitergeht, werden sie uns bis auf den letzten Mann verheizt haben. Sie denken, wir paar Leute können das schaffen, was die ganze Armee nicht geschafft hat,«

»Was?« fragte Timm zerstreut.

»Die Russen aufhalten«, sagte Zado. »Die Russen aufhalten und Stalin gefangennehmen. Kurz vor Berlin. Vielleicht in Berlin, vor der Scala.«

»Noch sind sie nicht in Berlin«, sagte Timm dumpf.

»Aber sie werden bald dort sein«, sagte Zado. »Neulich haben sie ein Flugblatt abgeworfen, da schrieben sie, daß sie Berlin erobern werden und den Nationalsozialismus zerschlagen und die Kriegsverbrecher zerschlagen und die Gefangenen aus den Konzentrationslagern befreien und die Demokratie einführen werden. Sie haben sich eine Menge vorgenommen. Weißt du, was Kriegsverbrecher sind? Oder was Demokratie ist?«

»Nein«, sagte Timm kopfschüttelnd, »ich bin Soldat. Und du solltest über solchen Unsinn lieber dein Maul halten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Zado, »es geht mich ja nichts an, aber neulich haben sie ein Flugblatt abgeworfen, da stand ein Gedicht drauf. Der Führer kann es nicht einmal mit Weibern, stand da. War schön gereimt. Der Dichter soll mal in Berlin gelebt haben…«

»Ich kenne keine Dichter«, sagte Timm, »ich bin Soldat, und mir ist es egal, ob es der Führer mit Weibern kann oder nicht. Solange Krieg ist, wird gekämpft. Wenn er vorbei ist, werden wir eine andere Aufgabe bekommen.«

»Wenn du dann noch lebst«, sagte Zado. »Es sieht nicht danach aus. Wenn die an den Sturmgeschützen ihre Satanskappen aufsetzen und in Richtung Berlin abrauschen, dann sind wir dagewesen.«

»Spekuliere nicht so viel«, sagte Timm, »du verstehst davon nichts. Und nimm dich in acht, wenn du deine Flugblattweisheiten ausplauderst. Es heißt nicht jeder Timm. Manche heißen anders, und die wissen auch, wo die Feldgendarmerie wohnt.«

Zado holte aus der Wadentasche die Blechflasche mit dem Kognak. Er hielt sie Timm hin und sagte: »Da, trink einen Schluck. Es ist eine verfluchte Zeit. Man hockt hier an diesem See und weiß nicht, was man von der Welt halten soll. Und das von Hitler und den Weibern habe ich nur zu dir gesagt.«

Timm trank. Er wischte sich den Mund mit der flachen Hand ab und gab Zado die Flasche zurück. »Guter Schnaps«, sagte er. »Manchmal bin ich Klaus Timm. Aber manchmal bin ich auch für die Kampfmoral in meinem Zug verantwortlich, Zado. Vergiß das nicht.«

»In Ordnung, Klaus«, sagte Zado, »ich werde dir keinen Ärger machen. Ich werde die Schnauze halten, bis alles vorbei ist, und dann werden wir vielleicht erfahren, was Demokratie ist und was Kriegsverbrecher sind und ob es der Führer mit Weibern konnte oder nicht. Ist in Ordnung.« Timm hob ruckartig den Kopf. Er lauschte ins Dunkel und drehte den Kopf nach allen Seiten, um das schwache Geräusch aufzufangen, das in der Luft war. Es kam näher und wurde lauter. Timm sah nach der Uhr. Der kleine Zeiger stand auf der Zwei. Es war die Junkers. Timm hetzte los und zündete die Lichter an der einen Seite an, während Zado sie an der anderen Seite in Brand setzte. Die Maschine zog eine Kurve, glitt abwärts und setzte auf. Sie wendete sofort und schob sich wieder in Startposition. Es ging alles wie einexerziert vor sich. Sie schleppten den Verletzten zum Einstieg. Er phantasierte, als sie ihn anhoben, und begann laut zu schreien. Sie achteten jetzt nicht mehr darauf, denn das Motorengeräusch der Maschine war ohnehin laut genug, um alles in der Gegend aufmerksam zu machen. Sie beeilten sich nur, in die Maschine zu kommen. Der Funker schob die Tür hinter ihnen zu. Die Magnesiumfackeln brannten noch, als der Pilot den Motor wieder auf Touren laufen ließ. Die Maschine startete mühelos. Sie rumpelte ein paar hundert Meter über den Boden, dann hob sie sich und zog über den See zur Linken davon. Unten brannten langsam die Magnesium fackeln aus. Vier kleine, immer winziger werdende Lichtpunkte.

»Was ist los?« fragte der Funker, derselbe, mit dem sie eingeflogen waren. »Nur noch vier Mann?«

»Sie haben sie begraben…«, brabbelte der Verletzte. Er lag auf dem Boden der Maschine. Sie hatten ihm ein paar Fetzen untergeschoben. Er fieberte jetzt stark, über dem Ruß auf seinem Gesicht standen die Schweißtropfen.

Die anderen drei saßen abgekämpft auf den Bänken. Sie hatten die Waffen abgelegt und die Stahlhelme abgeschnallt. In der Maschine roch es nach Treibstoff und Schmieröl. Es war eine alte, längst ausgediente Maschine. Aber sie flog ruhig und zuverlässig. Nicht sehr schnell und nicht wendig. Nur eben ein Flugzeug, das sich von der Erde erheben konnte.

»Eure Aufklärer haben uns das eingerührt«, sagte Timm mit einemmal gereizt zu dem Funker. »Einen Dreck haben sie gemacht, aber nicht aufgeklärt. Sehen nicht mal eine Kolonne von Sturmgeschützen im Wald! Die vier gehen auf euer Konto, auf euer Pilotenkonto und auf euer Beobachterkonto mit Schokakola und Tee in Thermosflaschen und gelben Schals und dicken Siegelringen!«

Der Funker schüttelte betroffen den Kopf. Er sagte: »Es tut mir leid. Vielleicht war wirklich einer von uns daran schuld. Aber vielleicht waren auch die Russen daran schuld. Ihr denkt immer, das sind Nippesfiguren oder Trottel. Aber die wissen auch, wie man Krieg führt. Manchmal sind sie schlauer als wir…«

»Manchmal…«, sagte Timm, »manchmal habe ich den Eindruck, daß ausgerechnet ihr Schlipshelden uns erzählen wollt, was die Russen können. Das wissen wir selber. Besser als ihr…«

Der Funker zog sich zurück, ohne noch ein Wort zu sagen. Er flog nicht zum erstenmal eine solche Gruppe und wußte, wie die Nerven dieser Leute aussahen, wenn man sie abholte. Er schob das Schott hinter sich zu und ließ die Männer allein.

»Sie haben sie begraben…«, phantasierte der Verletzte, »und ihr seid schuld daran! Ihr habt sie umgebracht! Ihr!« Er schrie, aber es klang schwach in dem Gedonner des Motors. Timm ließ den Kopf wieder sinken und starrte auf seine Schuhspitzen. Seine Finger krümmten sich auf den Knien.

»Ruhig!« sagte Zado zu dem Verletzten. »Ganz ruhig, Kleiner! Jetzt bist du gleich zu Hause. Dann kommen die Karbolmäuschen und geben dir jeden Abend einen Gutenachtkuß, und wenn du die Flosse wieder bewegen kannst, bekommst du ein Extrazimmer mit Damenbedienung, früh, mittags und abends, und zum Kaffee dreimal, solange du kannst. Die schönsten Damen aus dem ganzen Hauptverbandplatz, blonde und schwarze und rothaarige, was du willst, hygienisch einwandfrei und sehr liebevoll! Sie werden dir den Hintern einpudern und die Nase putzen, und wir werden jeden zweiten Tag kommen und dir Schnaps bringen, damit du in Stimmung bist, wenn sie abends frisch gewaschen in deinem Zimmer erscheinen. Und Jetzt halt die Schnauze und schlaf, sonst machst du uns noch alle verrückt, wir haben keine Schmerztabletten mehr.«

Er fühlte, wie irgend etwas in ihm zu zittern begann. Er kannte das, es war immer so. Die Nerven, dachte er, es geht wieder los. Um seinen Kopf schien ein eiserner Ring zu liegen, der ihm das Gehirn zusammenpreßte. Er begann mit den Knien zu wippen.

»Ihr alle…«, keuchte der Verletzte am Boden, »ihr habt sie erschossen! Mich wolltet ihr auch erschießen… Aber mich nicht! Nicht mich, ihr Hunde… Ich sprenge euch… in… die…« Er richtete sich auf mit fiebrig glänzenden Augen, Er stützte sich auf den gesunden Arm dabei und glotzte die anderen an. Aus der Brusttasche zog er eine zerdrückte Zigarette und steckte sie zwischen die Lippen. Dann zog er die Streichhölzer aus der Tasche und versuchte mit einer Hand die Zigarette anzubrennen. »Nicht rauchen!« sagte Timm ärgerlich. »Bist du verrückt? Die ganze Kabine ist voller Benzindunst!« Er sah, daß der Verletzte ihn nicht beachtete und weiter mit der Zündholzschachtel hantierte. Er zerbrach ein Hölzchen und fischte ein weiteres aus der Schachtel heraus. »Gib Feuer«, bat der Verletzte gereizt. »Gib mir Feuer, du Schwein!«

»Leg dich hin«, sagte Timm leise, »gleich sind wir da, dann kannst du rauchen.«

»Feuer!« schrie der Verletzte. »Du Schwein sollst mir Feuer geben, oder ich schieße dich zusammen!«

Bindig sah Zados zitternde Hände. Er nahm den Verletzten bei der Schulter und sagte ihm sanft ins Ohr: »Wart doch bloß, bis wir aus der Maschine sind! Leg dich hin…«

Aber der Verletzte stieß ihn zurück und sprang mit einer unwahrscheinlichen Kraftanstrengung auf die Füße. Er nestelte mit der rechten Hand an der Pistolentasche und schrie: »Das Schwein soll mir Feuer geben! Ich schieße ihn zusammen! Ich schieße ihm… in die Fresse…«

Er hatte die Pistolentasche schon offen und zog die Waffe heraus. Aber er konnte sie nicht auf Timm anschlagen, denn der war aufgesprungen und schlug mit dem Kolben der Beretta gegen das Handgelenk des Verletzten. Der ließ die Pistole mit einem Schmerzensschrei fallen und stürzte sich auf den Unteroffizier. Die anderen sprangen auf und versuchten ihn beiseite zu drängen. Timm brauchte sie nicht. Er schlug den kleinen Soldaten hart ins Gesicht. Es war ein kurzer, klatschender Schlag, und der Mann heulte auf. Dann stieß Timm ihm die Faust unter den Brustkorb, und er klappte zusammen. Es war, als sei alle Kraft, die er eben aufgeboten hatte, verpufft. Er krümmte sich auf dem Boden der Kabine zusammen, und Tränen begannen über sein Gesicht zu laufen. Er schluchzte, als Bindig ihn packte und wieder auf die Fetzen legte, aber er wehrte sich nicht mehr. Der Funker schob das Schott auf und rief: »Landung in drei Minuten!«

»Sie haben sie begraben…«, wimmerte der Verletzte schluchzend. Timm nahm die Pistole vom Boden auf und steckte sie ein. Die Maschine glitt tiefer, auf den Flugplatz zu.

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