xi.

Als ich morgens in das mir zur Verfügung gestellte Büro kam, wurde mir erneut bewusst, wie weit der Weg war, den ich noch zu gehen hatte. Ich betrat einen Raum, vielleicht fünf mal sieben Meter, Deckenhöhe zwei Meter fünfzig, wenn es hoch kommt. Bedauernd dachte ich an meine Reichskanzlei. Das waren Räume gewesen, wenn man da hineintrat, da fühlte man sofort eine gewisse Zwergenhaftigkeit, man erschauerte vor der Macht, der Hochkultur. Nicht vor der Pracht wohlgemerkt, das hat mir noch nie etwas gegeben, dieses Protzentum, aber in der Reichskanzlei, wenn man da jemanden empfing, dann sah man ihm sofort an, dass er die Überlegenheit des Deutschen Reiches empfand, auch rein körperlich. Das hat Speer wunderbar hinbekommen: Allein im Großen Empfangssaal, diese Kronleuchter, ich glaube, da hat einer allein eine Tonne gewogen, wenn der heruntergekommen wäre, der Mann darunter wäre Mus gewesen, ein Brei, ein breiiges Mus aus Knochen und Blut und aus zermalmtem Fleisch, und vielleicht hätten noch Haare an der Seite hervorgesehen, da hatte ich fast selber Angst, mich drunterzustellen. Ich habe das natürlich nicht gezeigt, ich bin unter diesen Kronleuchtern hindurch, als wäre es nichts, das ist ja auch eine Gewöhnungssache, so etwas.

Aber genau so muss es sein!

Das geht nicht an, dass man da für Millionen und Abermillionen eine Reichskanzlei hinstellt, und dann kommt jemand hinein und denkt sich: »Ach, die hätte ich mir aber größer vorgestellt.« Dass der überhaupt denkt, das darf nicht sein, das muss körperlich sofort spürbar sein: Er – nichts, das deutsche Volk – alles! Ein Herrenvolk! Davon muss eine Aura ausgehen, wie vom Papst, aber natürlich wie von einem Papst, der beim geringsten Widerwort mit Flamme und Schwert dreinschlägt wie der Herrgott selbst. Da müssen dann diese gewaltigen Flügeltüren aufgehen, und heraus tritt der Führer des Deutschen Reiches, und die ausländischen Gäste, die müssen sich fühlen wie Odysseus vor Polyphem, aber dieser Polyphem hat zwei Augen! Dem macht man nichts vor!

Und eine Tür hat er auch, nicht einen Felsblock.

Und Rolltreppen, man kam sich beinahe vor wie im Kaufhof in Köln. Ich habe mir das da gleich nach der Arisierung mal angesehen, das musste man diesem Tietz lassen: Warenhäuser einrichten, das können die Juden. Aber das ist eben auch wieder der Unterschied: Dort sollte der Kunde glauben, dass er König sei, doch wenn er in die Reichskanzlei kam, wusste der Kunde – hier hat er sich einer größeren Sache zu beugen, im Geiste jedenfalls. Ich habe es nie befürwortet, dass da sämtliche Besucher umherkriechen, womöglich auch noch auf dem Boden.

Der Boden des mir zur Verfügung gestellten Büros bestand aus einem dunkelgrauen Stoffkonglomerat, keine Teppiche, eine Art Fußbodenbespannung, erstellt aus einem verfilzten, schäbigen Stoff, keine Winteruniform hätte man dem deutschen Landser daraus zumuten mögen. Ich hatte derlei hier schon mehrfach gesehen, es war wohl so üblich, insofern brauchte ich darin wenigstens keine Herabsetzung meiner Person zu vermuten. Es war offenbar ein Bestandteil jener armseligen Zeit, in der Zukunft, das schwor ich mir, würde es andere Böden geben für den deutschen Arbeiter, die deutsche Familie.

Und andere Wände.

Die Wände hier waren papierdünn, wahrscheinlich geschuldet einem Rohstoffmangel. Ich hatte einen Schreibtisch, offensichtlich aus zweiter Hand, und musste den Raum mit einem zweiten Schreibtisch teilen, der wohl für die zugesagte Schreibkraft vorgesehen war. Ich seufzte tief und blickte aus dem Fenster. Das Fenster ging auf einen Parkplatz mit vielfarbigen Aschentonnen, die ihre Ursache darin hatten, dass man den Müll sorgsam trennte, wohl ebenfalls aus Gründen des Rohstoffmangels. Ich mochte mir nicht überlegen, aus dem Inhalt welcher dieser Tonnen letzten Endes der armselige Bodenbelag gefertigt war. Dann lachte ich lautlos auf angesichts der bitteren Ironie des Schicksals. Wenn dieses Volk sich damals im rechten Augenblicke nur etwas mehr Mühe gegeben hätte, so hätte sich heute angesichts der Rohstoffe des gesamten Ostens derartige Sammeltätigkeit erübrigt. Abfälle aller Art hätte man achtlos in nur zwei Tonnen werfen können oder sogar in nur eine einzige. Ich schüttelte den Kopf, verständnislos.

Vereinzelt trieben sich Ratten dort in dem Hofe herum, abwechselnd mit Gruppen von Rauchern. Ratten, Raucher, Ratten, Raucher, so ging das in einem fort. Ich blickte wieder auf meinen bescheidenen, ja armseligen Schreibtisch und die billige, relativ weiße Wand dahinter. Da konnte man draufhängen, was man wollte, selbst einen bronzenen Reichsadler, es wurde nicht besser. Man konnte schon froh sein, wenn die Wand nicht unter der Last zusammenfiel. 400 Quadratmeter Büro hatte ich einst, jetzt saß der Führer des Großdeutschen Reiches in einer Schuhschachtel. Was war nur aus der Welt geworden?

Und was aus meiner Schreibkraft?

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb eins.

Ich öffnete die Tür und sah hinaus. Es war niemand zu sehen bis auf eine Dame mittleren Alters in einem Kostüm. Sie lachte, als sie meiner ansichtig wurde.

»Ach, Sie sind das! Proben Sie schon? Wir sind ja alle so gespannt!«

»Wo ist meine Sekretärin!«

Sie blieb kurz stehen, um nachzudenken. Dann sagte sie: »Das ist eine 400-Euro-Kraft, oder? Dann kommt die vermutlich nur nachmittags. Etwa gegen zwei.«

»Ach was«, sagte ich verdutzt, »und was mache ich bis dahin?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie und wandte sich lachend zum Weitergehen, »vielleicht einen kleinen Blitzkrieg?«

»Das werde ich mir merken!«, sagte ich recht frostig.

»Wirklich?« Sie blieb stehen und drehte sich noch einmal kurz um. »Das ist ja super. Ich freue mich, wenn Sie’s für Ihr Programm brauchen können! Wir sind ja hier alle in einer Firma!«

Ich ging wieder in mein Büro und schloss die Tür. Auf beiden Schreibtischen stand eine Schreibmaschine ohne Walze vor einem vermutlich irrtümlich dort angebrachten Fernsehapparat. Ich beschloss, meine Fortbildung im Rundfunkwesen fortzusetzen, fand aber keinen kleinen Bedienungskasten. Es war unerfreulich. Ich griff zornig zum Telefon – dann ließ ich den Hörer wieder auf die Gabel sinken. Ich wusste ja gar nicht, mit wem mich die Zentrale hätte verbinden sollen. In diesem Umfelde brachte mir die ganze moderne technische Infrastruktur überhaupt nichts. Ich seufzte, und an mein Herz pochte ein Moment des bangen Verzagens. Jedoch nur kurz: Ich schob die Anfechtungen der Schwäche entschlossen zur Seite. Ein Politiker macht aus dem Vorhandenen das Beste. Beziehungsweise aus dem nicht Vorhandenen, wie in diesem Fall. Nun, dann konnte ich ja genauso gut einmal hinausgehen und zwischenzeitlich das neue deutsche Volk betrachten.

Ich trat vor die Türe und sah mich um. Gegenüber war eine kleine Grünanlage, deren Laubbäume schon intensivste Herbstfarben trugen. Links und rechts schlossen sich andere Häuser an. Mein Blick streifte eine verrückte Frau, die am Rande jener Grünanlage einen Hund an der Leine führte und im Begriffe war, dessen Hinterlassenschaft aufzuklauben. Ich überlegte kurz, ob sie wohl schon sterilisiert war, kam aber zu dem Schlusse, dass sie in jedem Falle für Deutschland wenig repräsentativ sein konnte, also wählte ich eine andere Richtung und begab mich aufs Geratewohl nach links.

Ein Zigarettenautomat hing an der Wand, an dem sich vermutlich die Raucher versorgten, die den Parkplatz mit den Ratten teilten. Ich passierte ihn und etliche Passanten. Meine Uniform wurde offenbar nicht als störend empfunden, das mochte daher rühren, weil derlei hier nicht unüblich zu sein schien. Mir begegneten zwei Männer in mäßig imitierten Wehrmachtsuniformen, eine Krankenschwester und zwei Ärzte. Diese Häufung kostümierter Figuren kam mir entgegen: Ich schätze die Aufmerksamkeit nicht mehr so sehr, seit ich damals, nach meiner Haftentlassung, von Anhängern regelrecht verfolgt wurde. Man musste sie im wahrsten Sinne des Wortes mit kleinen Manövern überlisten, damit man einmal von Fotografen ungestört eine kleine Rast einlegen konnte. Doch so, in dieser speziellen Umgebung, war ich gewissermaßen als ich selbst und doch inkognito unterwegs, ideal für das Studium der Bevölkerung. Denn viele Menschen benehmen sich in Gegenwart des Führers nicht mehr ganz natürlich. Ich sage dann immer: »Machen Sie sich keine Umstände!«, aber gerade die kleinen Leute scheren sich darum natürlich nicht. In meiner Münchner Zeit, da waren die kleinen Leute geradezu wie verrückt an mir gehangen. Das konnte ich hier nicht brauchen. Ich wollte den echten, den unverfälschten Deutschen sehen, den Berliner.

Einige Minuten später passierte ich eine Baustelle. Männer mit Helmen schlurften herum, es sah im Wesentlichen so aus, wie ich es noch von meiner bitterarmen Zeit in Wien kannte, während der ich mich auf Baustellen verdingt hatte, um mir mein tägliches Brot zu verdienen. Ich blickte neugierig durch den Zaun, ich erwartete, den Häusern beim Wachsen zusehen zu können, aber offenbar hatte die Technik hier nicht allzu große Fortschritte gemacht. Im oberen Stockwerk faltete ein Polier gerade einen Jüngling zusammen, er mochte ein Werkstudent sein, ein angehender Architekt, ein junger, hoffnungsvoller Mensch, wie ich einst einer war. Auch er musste sich der schieren Gewalt des Arbeiters unterwerfen, die erbarmungslose Welt der Baustelle war heute noch dieselbe wie einst. Da konnte der junge Mann Einblicke gewonnen haben in Sprachwissenschaft und Naturphilosophie, das zählte nichts in diesem Universum aus Zement und Stahl. Andererseits bedeutete das auch: Es gab sie noch immer, die brutale, schlichte Masse, ich musste sie nur erwecken. Und auch die Qualität des Blutes schien durchaus brauchbar.

Ich musterte weiterschlendernd die Gesichter, die mir entgegenkamen. Insgesamt hatte sich nicht allzu viel geändert. Die Maßnahmen unter meiner Regierungszeit hatten sich offenbar ausgezahlt, auch wenn sie wohl nicht fortgesetzt worden waren. Vor allem Mischlinge waren kaum zu erkennen. Man sah relativ starke östliche Einflüsse, immer wieder slawische Elemente in den Gesichtern, aber das war in Berlin ja schon immer so gewesen. Was hingegen neu war, war ein erhebliches türkisch-arabisches Element im Straßenbild. Frauen mit Kopftüchern, alte Türken in Jacke und Schiebermütze. Zu einer Vermengung des Blutes war es allerdings allem Anscheine nach nicht gekommen. Die Türken, die ich sah, sahen aus wie Türken, eine Verbesserung durch arisches Blut war da nicht konstatierbar, obwohl die Türken daran sicher ein erhebliches Interesse hatten. Schleierhaft blieb mir jedoch, was der Türke in so großer Zahl auf der Straße trieb. Dazu noch um diese Uhrzeit. Um importiertes Dienstpersonal schien es sich jedenfalls nicht zu handeln, von Eile war bei den Türken nichts zu spüren. Eher ließ ihre Art des Fortkommens eine gewisse Gemächlichkeit erahnen.

Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ein Läuten, wie es üblicherweise in Schulen das Ende einer Stunde oder des Unterrichtes ankündigte. Ich sah auf, tatsächlich war unweit ein Schulgebäude zu sehen. Ich beschleunigte meine Schritte und setzte mich auf eine freie Bank dem Gebäude gegenüber. Vielleicht ergab sich eine Schulpause oder sonst eine Gelegenheit, einmal in großer Zahl die Jugend zu mustern. Und in der Tat strömte eine erhebliche Menge aus dem Gebäude, allerdings war eine nähere Identifikation der Schulart völlig unmöglich. Etliche Buben konnte ich ausmachen, es schien jedoch keine gleichaltrigen Mädeln zu geben. Was aus dem Gebäude kam, war entweder im Grundschulalter oder schien bereits durchaus gebärfähig. Es mochte sein, dass die Wissenschaft einen Weg entdeckt hatte, jene verwirrenden Jahre der Pubertät zu vermeiden und vor allem die jungen Frauen sofort in ein fruchtbares Alter zu katapultieren. Der Gedanke war im Grunde naheliegend, da eine über lange Jahre der Jugend durchgeführte Abhärtung sinnvoll nur beim Manne ist. Die Spartaner des klassischen Griechenland hatten es damit nicht anders gehalten. Dafür sprach auch: Die jungen Frauen kleideten sich in jedem Fall sehr körperbetont und signalisierten eindeutig das Bestreben der Partnerwahl zur gemeinsamen Familiengründung. Allerdings waren sie, und das war wiederum verwunderlich, in den wenigsten Fällen Deutsche. Es schien sich zugleich auch um eine Schule für türkische Gastschüler zu handeln. Bereits nach wenigen Gesprächsfetzen formte sich ein erstaunliches, ja nachgerade erfreuliches Bild.

Tatsächlich konnte ich beobachten, wie offenbar bei jenen türkischen Schülern meine Prinzipien als richtig erkannt und zu Direktiven umgesetzt worden waren. Den jungen Türken wurden ganz offensichtlich nur die einfachsten Sprachkenntnisse beigebracht. Korrekter Satzbau war kaum zu erkennen, es glich eher einem Sprachverhau, von geistigem Stacheldraht durchzogen, von mentalen Granaten zerpflügt wie die Schlachtfelder der Somme. Was übrig blieb, mochte allenfalls zur notdürftigen Verständigung reichen, aber nicht zu organisiertem Widerstand. In Ermangelung eines ausreichenden Wortschatzes wurden zudem die meisten Sätze mit ausladenden Gesten ergänzt, eine regelrechte Zeichensprache wurde angewendet gemäß Vorstellungen, wie ich sie selbst entwickelt und gewünscht hatte. Zwar für die Ukraine, für das eroberte russische Gebiet, aber es war natürlich für jede andere beherrschte Bevölkerungsgruppe genauso angemessen. Eine weitere technische Maßnahme schien obendrein dazugekommen zu sein, etwas, das ich freilich nicht hatte vorhersehen können: Jene türkischen Schüler mussten offenbar kleine Ohrstöpsel tragen, die eine Aufnahme unnötiger zusätzlicher Informationen oder Wissensbestandteile verhindern sollten. Das Prinzip war einfach und schien fast zu gut zu funktionieren – einige dieser jungen schülerartigen Gestalten warfen Blicke von einer derartigen geistigen Sparsamkeit, dass man sich kaum vorstellen konnte, welche nützliche Tätigkeit sie eines Tages für die Gesellschaft würden erfüllen mögen. Den Bürgersteig jedenfalls, wie ich wieder mit einem raschen Blick feststellen konnte, fegten weder sie noch sonst jemand.

Als die Schüler beider Rassen meiner ansichtig wurden, ging ein freudiges Wiedererkennen über einige ihrer Gesichter. Es war ganz klar, dass die deutschstämmigen Schüler mich wohl aus dem Geschichtsunterrichte kannten, die türkischstämmigen aus den Untiefen des Fernsehapparates. Es kam, wie es kommen musste. Ich wurde wieder fälschlicherweise identifiziert als der »andere Herr Stromberger aus Switsch«, musste einige Autogramme geben und mehrere Fotos mit diversen Schülern machen lassen. Das Durcheinander war nicht übertrieben, aber doch so beträchtlich, dass ich vorübergehend den Überblick verlor und fast den unsinnigen Eindruck gewann, die deutschen Schüler sprächen denselben zerhackten Sprachsalat. Als ich aus dem Augenwinkel eine weitere verrückte Frau sah, die geradezu akribisch die einzelnen Exkrementteile ihres Hundes auflas, hielt ich den rechten Zeitpunkt für gekommen, mich wieder in die Ruhe und Abgeschiedenheit meines Büros zurückzuziehen.

Ich saß gerade etwa zehn Minuten hinter meinem Schreibtische und betrachtete die neuerliche Wachablösung von Rauchern zu Ratten, als die Türe sich öffnete und jemand eintrat, der möglicherweise erst vor Kurzem jener Gruppe der Schulfrauen unbestimmbaren Alters entwachsen war. Sie trug allerdings auffallend schwarze Kleidung zu ihren langen, dunklen Haaren, die sie glatt zur Seite gescheitelt hatte. Und gewiss, wer hätte eine Vorliebe fürs Dunkle, ja Schwarze besser zu schätzen gewusst als ich, nicht zuletzt bei der SS hatte das immer sehr schneidig ausgesehen. Doch im Gegensatz zu meinen SS-Männern sah die junge Frau fast schon beunruhigend bleich aus, was besonders ins Auge stach, weil sie wiederum einen auffallend dunklen, fast bläulichen Lippenstift bevorzugte.

»Um Gottes willen«, sagte ich aufspringend, »fühlen Sie sich wohl? Ist Ihnen kalt? Setzen Sie sich rasch!«

Sie sah mich unbeirrt ein Kaugummi kauend an, zog dann zwei Stöpsel an Schnüren aus ihrem Ohr und sagte: »Hm?«

Ich begann an der Theorie der Türkenstöpsel zu zweifeln. Die junge Frau strahlte überhaupt nichts Asiatisches aus, ich musste der Sache wohl ein anderes Mal auf den Grund gehen. Und zu frieren schien sie auch nicht, jedenfalls ließ sie einen schwarzen Rucksack von ihrer Schulter gleiten und zog den schwarzen Herbstmantel aus. Darunter trug sie gewöhnliche Kleidung, mit der Einschränkung, dass auch diese von komplett schwarzer Färbung war.

»Na«, sagte sie dann, ohne weiter nach meiner Frage zu forschen, »Sie sind denn wohl der Herr Hitler!« Sie hielt mir ihre Hand hin.

Ich schüttelte ihre Hand, setzte mich wieder und sagte relativ knapp: »Und wer sind Sie?«

»Vera Krömeier«, sagte sie. »Det is ja kuhl. Kann ich Sie jleich mal wat fragen? Is det Messed Ekting?«

»Verzeihung?«

»Na det, wat der de Niro ooch macht. Und der Patschino. Messed Ekting. Wo man so janz drinne is in seine Rolle?«

»Sehen Sie, Fräulein Krömeier«, sagte ich bestimmt und erhob mich, »ich weiß nicht genau, wovon Sie reden, aber entscheidend ist vor allem, dass Sie wissen, wovon ich rede, und da…«

»Da hamse recht«, sagte Fräulein Krömeier und nahm mit zwei Fingern das Kaugummi aus dem Mund. »Hamwa hier ooch ’nen Papierkorb? Den verjessense nämlich meestens.« Sie sah sich um, entdeckte keinen Papierkorb, stand mit einem »Moment« auf, schob das Kaugummi wieder in den Mund und verschwand. Ich stand ein wenig unnütz in der Mitte des Raumes. Dann setzte ich mich wieder. Kurz darauf kehrte sie zurück, einen leeren Papierkorb in der Hand. Sie stellte ihn ab, holte erneut das Kaugummi aus ihrem Mund und ließ es zufrieden in den Korb fallen.

»So«, sagte sie, »bessa.« Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Wat hamse sich denn so vorjestellt, Meesta?«

Ich seufzte. Sie also auch. Ich musste wohl ganz von vorne anfangen.

»Zunächst«, sagte ich, »heißt das nicht ›Meister‹, sondern ›Führer‹. Also ›Mein Führer‹, wenn Sie möchten. Und ich möchte, dass Sie anständig grüßen, wenn Sie hier hereinkommen!«

»Jrüßen?«

»Mit dem Deutschen Gruß natürlich! Mit dem erhobenen rechten Arm.«

Begreifend leuchtete ihr Gesicht auf, dann war sie mit einem Satz auf den Beinen: »Ick hab det ja jewusst. Jenau det isset doch! Messed Ekting! Soll ick et jleich ma’ machen?«

Ich nickte zustimmend. Sie eilte aus der Tür, schloss sie, klopfte an, und als ich »Herein« sagte, trat sie ein, riss ihren Arm senkrecht in die Höhe und schrie: »JUTEN MORJEN, MEEN FÜHRA!« Und dann fügte sie hinzu: »Det jehört so jeschrien, wa? Ick hab det ma’ innem Film jesehen.« Dann hielt sie erschrocken inne und brüllte: »ODA JEHÖRT DET ALLET JESCHRIEN? HAM DIE BEI DEM HITLA IMMA ALLE DAUERND JESCHRIEN?« Sie musterte mein Gesicht und sagte wieder in einer besorgten, aber normalen Stimmlage: »Det war jetz ooch wieder falsch, oda? Det tut ma leid! Nehmn Sie jetze wen anderet?«

»Nein«, sagte ich beruhigend, »das ist schon in Ordnung. Ich erwarte von keinem Volksgenossen Perfektion. Ich erwarte nur, dass er sein Bestes gibt, ein jeder auf seinem Posten. Und Sie scheinen mir auf einem ausgezeichneten Wege dazu. Aber bitte, tun Sie mir einen Gefallen: Schreien Sie nicht mehr!«

»Jawohl, meen Führa!«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Jut, wa?«

»Sehr schön«, lobte ich. »Die Hand sollte allerdings etwas weiter nach vorn. Sie melden sich schließlich nicht in einer Dorfschule!«

»Jawohl, meen Führa. Un wat machn wa nu?«

»Zunächst«, sagte ich, »zeigen Sie mir, wie man diesen Fernsehapparat bedient. Dann entfernen Sie den Apparat auf Ihrem Schreibtisch, Sie werden ja hier nicht fürs Fernsehen bezahlt. Und dann brauchen wir eine vernünftige Schreibmaschine für Sie. Es geht da nicht jeder Apparat, wir brauchen den Schrifttyp Antiqua 4 mm, und was immer Sie für mich schreiben, schreiben Sie mit einem Zeilenabstand von einem Zentimeter. Sonst kann ich das Ganze nur mit Brille lesen.«

»Schreibmaschine kannick nich«, sagte sie, »ick kann nur oofm Pezeh. Und wenn Se mir den wegnehmen, kannick janüscht mehr. Aba erstens kriegen wir mit dem Computer jede Schriftgröße, die Se brauchen. Und zweetens kann ick Ihnen schon mal Ihren Computer anschließen.«

Und dann stellte sie mir eine der erstaunlichsten Errungenschaften aus der Geschichte der Menschheit vor: den Computer.

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