xxviii.

Ich hatte Sensenbrink noch niemals so blass gesehen. Gewiss, ein Held war der Mann nie gewesen, aber sein Gesicht hatte eine Hautfarbe, die ich zuletzt 1917 im Schützengraben gesehen hatte, in diesem verregneten Herbst, als die Beinstümpfe aus dem schlammigen Erdreich ragten. Vielleicht kam es von der ungewohnten Betätigung, denn statt mich anzurufen, kam er persönlich ins Büro, um mich schnellstmöglich in den Konferenzraum zu bitten. Andererseits: Er wirkte sonst ja ausgesprochen sportlich.

»Es ist unglaublich«, sagte er immer wieder, »es ist unglaublich. Das hat es in der gesamten Firmengeschichte noch nicht gegeben.« Dann griff er mit seiner schweißnassen Hand nach der Klinke, um das Büro wieder zu verlassen, drehte sich im Gehen zu mir um, sagte: »Wenn ich das damals am Kiosk schon gewusst hätte«, und rannte schwungvoll mit dem Kopf gegen den Türrahmen.

Das hilfsbereite Fräulein Krömeier sprang sofort auf, aber Sensenbrink griff sich nur wie in Trance an den Kopf und taumelte weiter nach draußen, wobei er zwischen mehrere »Unglaublich« auch ein oder zwei »Schon in Ordnung, ich komme klar« einstreute. Fräulein Krömeier sah mich so verstört an, als stünde der Russe schon wieder an den Seelower Höhen, aber ich nickte ihr beruhigend zu. Nicht dass mich die letzten Wochen und Monate gelehrt hätten, die Befürchtungen des Herrn Sensenbrink besonders ernst zu nehmen. Vermutlich hatte wohl wieder irgendein besorgter Bürokrat oder Demokrat irgendeinen Protestbrief an irgendeinen Staatsanwalt geschrieben, derlei gab es ja nach wie vor ständig, und unermüdlich wurde da die Untersuchung als ergebnislos und widersinnig abgebrochen. Vielleicht war es diesmal auch ein wenig anders, und es würde immerhin ein Beamter ins Haus kommen – aber etwas Besorgniserregenderes war wohl kaum zu befürchten. Im Übrigen war ich selbstverständlich bereit, für meine Überzeugungen jederzeit erneute Festungshaft auf mich zu nehmen.

Dennoch musste ich zugeben, dass auch mich eine gewisse Neugier beschlich, als ich mich auf den Weg zum Konferenzsaale machte. Es mochte daran liegen, dass nicht nur ein Herr Sawatzki oder die Dame Bellini dorthin strebten, sondern sich generell auf den Gängen eine unbestimmte Nervosität oder Spannung spüren ließ. Mitarbeiter standen in kleinen Gruppen in den Türrahmen, plauderten im Flüstertone und blickten mich heimlich, fragend oder verunsichert an. Ich beschloss, einen kleinen Umweg zu machen, und ging zur hauseigenen Cafeteria, um dort etwas Traubenzucker zu besorgen. Was immer in jenem Konferenzsaal vorging, ich beschloss, meine Position ein wenig herauszuarbeiten, indem ich die Herrschaften warten ließ.

»Na, Sie ham Nerven«, sagte Frau Schmackes, die die Cafeteria betreute.

»Ich weiß«, sagte ich freundlich, »deshalb war es auch nur mir möglich, ins Rheinland zu gehen.«

»Übertreim Se mal nich, ick bin da ooch schon jewesen«, sagte Frau Schmackes, »aber ick kann diese Kölner ooch nich leiden. Wat darf et sein?«

»Ein Päckchen von Ihrem Traubenzucker, bitte.«

»Denn krieg ick 80 Cent von Ihnen«, sagte sie, bevor sie sich fast verschwörerisch vorbeugte: »Sie wissen, dat der Kärrner vorhin extra jekommen is? Der is schon da, der is schon im Konferenzsaal, hab ick jehört.«

»Soso«, sagte ich und bezahlte, »und wer ist das?«

»Na, ick sach mal so«, sagte Frau Schmackes, »det is der Chef vons Ganze. Det merkt man sonst nich so, weil die Bellini ja normalerweise den Laden schmeißt, und wenn Se mich fragen, die hat die Sache sowieso besser im Griff. Aber bei großen Katastrophen kommt der Kärrner selbst.« Sie schob mir 20 Cent Rückgeld über den Tisch. »Bei großen Erfolgsmeldungen natürlich ooch. Aber die müssen denn schon ziemlich jroß sein. Der Flashlight jeht’s ja nicht schlecht…«

Ich wickelte sorgsam ein Stück Traubenzucker aus und schob es mir in den Mund.

»Sollten Sie sich nicht langsam mal auf den Weg machen?«

»Das haben im Winter 1941 auch alle gesagt«, winkte ich ab, schlenderte aber dann doch gemessenen Schrittes in die richtige Richtung. Es galt ja, auch den Eindruck zu vermeiden, dass diese Veranstaltung mir Angst bereitete und ich ihr deshalb fernblieb.

Inzwischen hatten sich auf den Fluren die Gruppen noch vermehrt. Es war fast wie ein Spalier aus Mitarbeitern, an dem ich entlangschritt wie beim Abnehmen einer Parade. Ich lächelte freundlich einigen jungen Damen zu, klappte den rechten Arm hin und wieder grüßend zurück, hörte gelegentlich ein Kichern, aber auch ein »Sie machen das schon!«.

Selbstverständlich. Es fragte sich nur, was.

Die Tür zum Konferenzraume war noch geöffnet, Sawatzki stand im Türrahmen. Er sah mich schon von Weitem nahen und machte mit der Hand eine unmissverständliche Geste, ich möge mich beeilen. Es war ganz klar, dass er mich damit nicht tadelte – sein zuversichtliches Gesicht signalisierte mir vielmehr sofort, dass er dringend, furchtbar dringend wissen wollte, worum es ging. Ich reduzierte das Lauftempo nochmals ein wenig, wie nebenbei einer jungen Dame ein Kompliment für ein wirklich sehr hübsches Sommerkleid machend. Meine Geschwindigkeit erinnerte mich fast etwas an das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte, die dieser nie einholen kann.

»Guten Morgen, Herr Sawatzki«, sagte ich fest, »haben wir uns heute überhaupt schon gesehen?«

»Rein mit Ihnen«, drängelte Sawatzki leise, »rein, rein, rein. Sonst sterb ich vor Neugier.«

»Da ist er ja«, sagte drinnen Sensenbrink, »Endlich!«

Im Raum saßen noch einige mehr Herren rund um den Konferenztisch. Mehr als beim ersten Mal, und direkt neben der Dame Bellini hatte jemand Platz genommen, bei dem es sich offenbar um jenen Kärrner handeln musste, eine leicht beleibte, aber ehemals sportliche Figur, die um die vierzig Jahre zählte.

»Herrn Hitler kennen Sie natürlich alle«, sagte der noch immer kreidebleiche, aber wenigstens nicht mehr so verschwitzte Sensenbrink in die Runde, »umgekehrt ist das vermutlich trotz seiner nun schon etwas längeren Zusammenarbeit mit uns nicht immer so. Und da hier nun wirklich die – wenn ich das so sagen darf – Top-entscheider unseres Hauses am Tisch sitzen, möchte ich sie kurz vorstellen.«

Daraufhin rapportierte Sensenbrink eine Reihe von Namen und Ämtern, eine bunte Abfolge von Seniors und Vice Account Managing Executives und was es dergleichen heute so gibt. Die Titel und Gesichter waren samt und sonders derart austauschbar, dass man sofort wusste, dass der einzige merkenswerte Name der des Kärrner war, den ich entsprechend auch als Einzigen mit einem dezenten Kopfnicken bedachte.

»Schön«, sagte Kärrner, »nachdem wir jetzt alle wissen, wer wir sind, könnten wir vielleicht langsam die Überraschung aufklären? Ich habe gleich nachher noch ein Meeting.«

»Gewiss«, sagte Sensenbrink. Mir fiel auf, dass mir noch immer kein Sitzplatz angeboten worden war. Andererseits war mir auch keine Art Probebühne bereitet worden wie bei meinem ersten Besuch in der Firma. Man konnte wohl davon ausgehen, dass es um keine Vorführung ging, die hier von mir erwartet wurde, sondern dass meine Position unangefochten war. Ich sah zu Sawatzki. Sawatzki hatte die rechte Hand zur Faust geballt, er hielt sie vor den Mund und machte mit den Knöcheln unablässig wellenartig knetende Bewegungen.

»Es ist noch nicht offiziell«, sagte Sensenbrink, »aber ich habe es aus absolut sicherer Quelle. Genauer: Ich habe es aus zwei absolut sicheren Quellen. Es ist wegen des NPD-Specials. Die Sondersendung, die wir direkt nach dem ›Bild‹-Coup gebracht haben.«

»Und was ist damit?«, fragte Kärrner ungeduldig.

»Herr Hitler erhält den Grimme-Preis.«

Im Raume herrschte Totenstille.

Dann ergriff Kärrner das Wort.

»Und das ist sicher?«

»Bombensicher«, sagte Sensenbrink und wandte sich an mich. »Ich dachte, die Meldefrist wäre schon abgelaufen, aber irgendjemand hat Sie nachnominiert. Ich habe mir sagen lassen, dass Sie das Feld von hinten überrollt haben. Einmal fiel das Wort ›tsunamimäßig‹.«

»Ein Blitzsieg!«, rief Sawatzki aufgeregt.

»Sind wir jetzt Kultur?«, hörte ich mit halbem Ohr von einem der zahllosen Executives, alles Weitere ging in stürmischem Applaus unter. Kärrner stand auf, nahezu zeitgleich war die Dame Bellini auf den Beinen, dann erhob sich die ganze Runde. Die Glastür öffnete sich, zwei Damen unter Leitung von Sensenbrinks Vorzimmerdame Hella Lauterbach schritten herein, mehrere Flaschen mit saurem Schaumweine hereintragend. Ich musste gar nicht erst nachsehen, um zu wissen, dass Sawatzki wohl in diesen Sekunden einen Auftrag für dieses fruchtige Bellini-Getränk erteilte. Von außen drängten verschiedene Menschen herein, Schreibkräfte, Assistenten, Praktikanten und Helferinnen. Die Worte »Grimme-Preis« wechselten unablässig mit »echt?« und »Wahnsinn!«. Ich sah Kärrner, der sich mühsam durch die Menge auf mich zu drückte, mit ausgestreckter Hand und einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.

»Ich hab’s gewusst«, schrie er aufgewühlt und blickte dabei abwechselnd mich an und Sensenbrink, »ich hab’s gewusst. Wir können mehr als nur Comedy-Trash! Wir können viel mehr!«

»Premium!«, schrie Sensenbrink mit sich überschlagender Stimme zurück und erneut und noch lauter: »Premium!« Das half mir insofern weiter, als man daraus schließen konnte, dass es sich bei diesem Preise offenbar um ein anerkanntes Qualitätssiegel für Rundfunk zu handeln schien.

»Sie sind einfach gut«, sagte eine sanfte weibliche Stimme dicht neben mir. Ich drehte mich um. Neben mir stand, in einem anderen Gesprächszirkel, der Rücken der Dame Bellini.

»Das Kompliment kann ich nur erwidern«, sagte ich, ohne mich ihr auffälliger als nötig zuzuwenden.

»Schon mal an einen Film gedacht?«, raunte sie.

»Schon länger nicht mehr«, antwortete ich über meine Schulter hinweg, »wer einmal mit Riefenstahl gearbeitet hat…«

»Rede! Rede!«, dröhnte es aus der Menge.

»Sie müssen etwas sagen!«, drängte Sensenbrink. Und obwohl ich normalerweise nicht zu derlei geselligen Anlässen zu sprechen pflege, ließ es sich in diesem Augenblicke doch wohl nicht vermeiden. Die Menge wich ein wenig zurück und verstummte, nur Sawatzki quetschte sich noch kurz dazwischen, um mir ein Glas von diesem Bellini-Getränk zu reichen. Ich nahm es dankend und musterte die Runde. Vorbereitet hatte ich leider nichts, insofern galt es, auf bewährte Muster zurückzugreifen.

»Volksgenossinnen und Volksgenossen!

Ich wende mich an Sie

Um

in dieser Stunde des Triumphes

zweierlei zu verdeutlichen:

Dieser Triumph ist fraglos erfreulich,

er ist verdient,

lange verdient. Wir haben größere Produktionen

aus dem Felde geschlagen,

teurere,

auch internationale!

Aber dieser Sieg,

er kann dennoch lediglich eine Etappe sein

auf dem Wege

zum Endsieg.

Wir verdanken den Sieg vor allem Ihrer überzeugten Arbeit!

Ihrer bedingungslosen, fanatischen Unterstützung.

Doch wir wollen

in dieser Stunde auch der Opfer gedenken,

die ihr Blut für unsere Sache gaben…«

»Pardon«, sagte Kärrner plötzlich, »aber davon weiß ich ja gar nichts.«

Mir fiel erst hier auf, dass ich offenbar geistesabwesend ein wenig zu sehr in den Standardablauf der ersten Reden nach den Blitzkriegserfolgen gerutscht war. Möglicherweise wirkte das nun etwas unangemessen. Ich überlegte, ob ich unter Umständen eine Entschuldigung oder etwas dergleichen vorbringen sollte, wurde jedoch durch eine Stimme daran gehindert.

»Dass Sie in solch einem Moment auch daran noch denken«, meinte eine mir unbekannte Mitarbeiterin mit einem unendlich bewegten Gesichtsausdruck, »die Frau Klement aus der Lohnbuchhaltung ist ja erst letzte Woche…! Das ist so –« und dann schniefte sie gerührt in ein Taschentuch.

»Die Frau Klement – natürlich! Wie konnte ich das vergessen«, sagte sofort Kärrner mit leicht verfärbtem Kopfe. »Verzeihung, fahren Sie bitte fort. Das ist mir sehr unangenehm.«

Ich dankte Kärrner mit einem Nicken und suchte den Faden wieder aufzunehmen.

»Ich selbst bin ergriffen von dem Bewusstsein

der mir von der Vorsehung erteilten Bestimmung,

der Firma Flashlight Freiheit und Ehre

wiedergegeben zu haben.

Die Schande, die vor 22 Jahren im Wald von Compiègne ihren Ausgang nahm,

wurde an gleicher Stelle –

Verzeihung, wurde in Berlin wieder gelöscht.

Ich will nun schließen mit der Erwähnung

jener Namenslosen, die nicht weniger ihre Pflicht erfüllten,

die millionenfach Leib und Leben einsetzten,

und zu jeder Stunde bereit waren,

als brave deutsche Offiziere und Soldaten«

– hier musste ich aufgrund einiger irritierter Blicke leichte Korrekturen einfügen –

»und auch als brave deutsche Regisseure und Kameraleute und Kameraassistenten,

als Beleuchter und Mitarbeiter der Maske

für ihre Firma das letzte Opfer zu bringen, das ein…

ein Regisseur und Beleuchter zu geben hat.

Viele von ihnen liegen nun gebettet an den Seiten der Gräber,

in denen schon ihre Väter aus dem großen –

aus viel größeren Fernsehproduktionen ruhen.

Sie sind Zeugen stillen Heldentums all jener«

– und hier wurde es nun etwas schwierig –

»die wie Frau Klement aus der Buchhaltung

eingetreten sind für die Freiheit und Zukunft

und ewige Größe des großdeutschen –

der großen deutschen Firma Flashlight! Sieg –«

Und tatsächlich scholl es mir entgegen wie weiland im Reichstage: »– Heil!«

»Sieg –«

»Heil!!«

»Sieg –«

»Heil!!!«

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