xxix.

Ich hatte mich früh auf den Weg gemacht. Ich hatte mir vorgenommen, diesen Tag zu genießen. Denn es ist etwas Großes, etwas Besonderes, wenn man nach einem überwältigenden Triumphe einen stillen Ort betritt. Ein Büro, noch bevor die Betriebsamkeit des Alltags ihren Anfang nimmt, ein vom berauschten Publikum geleertes Stadion, durch das noch der Wind des Siegers weht, oder auch, sagen wir, das eroberte Paris um fünf Uhr morgens.

Ich ging zu Fuß, ich wollte die Stadt für mich. Die Sonne erhellte bereits den klaren Frühlingsmorgen, die Luft war von angenehmer Kühle und auch noch sauberer als etwa zur Mittagszeit. In den Grünanlagen führten vernachlässigt gekleidete Berliner ihre Hunde das erste Mal an diesem Tage vor die Türe, die mir allmählich vertrauten verwirrten Frauen sammelten den üblichen Kot in ihre Tüten. Eine geistesabwesende, wohl durchaus unausgeschlafene Raucherin führte gar zu meiner stillen Erheiterung die Tüte an den Mund, um hernach die Hand mit der Zigarette zu den Hinterlassenschaften ihres wahrlich winzigen Hundes zu beugen. Sie schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen und korrigierte den Irrtum.

Die Vögel stimmten ihren Morgengesang an, mir fiel wieder einmal auf, um wie vieles stiller eine Stadt doch ist ohne das Feuer der Flugabwehrkanonen. Überhaupt herrschte eine außerordentlich friedliche Stimmung, die Temperatur war jetzt schon sehr angenehm. Ich machte eigens einen kleinen Umweg, um am Kiosk des Zeitungskrämers vorbeizusehen, doch selbst dort herrschte noch die tiefste Stille. Ich atmete tief ein und schritt tüchtig aus, bis ich am Firmengebäude eintraf. Ich öffnete die Eingangstüre, ich stellte zufrieden fest, dass noch nicht einmal ein Portier in seiner Loge saß. Er hatte am Vorabend ein Schutzfutteral über den Telefonapparat gezogen, wie schon mehrfach konnte ich nicht umhin, darin ein weiteres Indiz seiner außerordentlich gewissenhaften Arbeitsweise erfreut zur Kenntnis zu nehmen. Vor seinem Abteile standen große Zeitungspakete, die er später zu verteilen hätte. Bormann hätte es wohl nicht gerne gesehen, aber ich gehöre nun einmal nicht zu jenen, die in Kleinigkeiten unbedingt auf Hierarchien achten, insofern hatte ich keine Bedenken, mir einfach selbst die morgendliche Lektüre zu entnehmen. Ich nahm den Schreibstift, der an einer langen Kette an der Theke befestigt war, und notierte auf einen der Lieferzettel: »Habe meine Zeitungen schon entnommen. Danke.«, und signierte mit »A. Hitler«. Die »Bild«-Zeitung, so nahm ich zufrieden zur Kenntnis, hatte mich wieder einmal zum Tagessieger von irgendetwas erklärt. Die Dringlichkeit einer neuerlichen Gleichschaltung der deutschen Presse sank.

Dann schritt ich, die Zeitschriften unter dem Arm, versonnen voran durch die Flure. Sonnenlicht schien durch die oberen Fenster herein, hinter den verschlossenen Glastüren sah man einige Telefonapparate blinkten, doch kein Ton war zu vernehmen. Die Stühle standen in den Arbeitsräumen an den Schreibplätzen, es war, als nähme man eine Möbelparade ab. Ich bog in den Flur, der mich zu meinem Büro führte, als ich dort durch die Türe einen Lichtschein wahrnahm. Ich ging zögernd näher.

Die Türe stand offen. Dahinter, an ihrem Schreibtisch, saß Fräulein Krömeier und tippte etwas in ihren Apparat.

»Guten Morgen«, sagte ich.

»Ick muss Ihnen jleich wat – meen F…«, sagte sie etwas steif, »ick kann nich mehr jrüßen, und ick kann hier ooch nich mehr arbeeten. Ick kann det allet nich mehr machen.« Dann schniefte sie etwas und bückte sich zu ihrem Rucksack. Sie nahm ihn auf den Schoß, öffnete den Reißverschluss, dann schloss sie ihn wieder und setzte den Rucksack ab, ohne dass sie etwas daraus entnommen hatte. Sie stand auf, sie öffnete eine Schublade des Schreibtischs, sie sah hinein, dann schloss sie die Schublade wieder, setzte sich hin und schrieb weiter.

»Fräulein Krömeier, ich…«

»Det tut mir ooch leid, aber et jeht nich mehr«, sagte sie tippend. »Det is so ’ne Scheiße!« Dann sah sie zu mir und schrie: »Warum können Se denn nicht so Sachen machen wie die anderen ooch? Wie der Klamaukheiner, der immer den Postmann macht? Oder der Bayer, der Mittermeier? Warum können Se nich irgendwie rumzappeln, und dann von mir aus machen Se noch irjendnen Dialekt dazu? Det war schön hier! Det hat mir richtich Spaß jemacht!«

Ich blickte Fräulein Krömeier an und fragte etwas täppisch: »Ich soll herumzappeln?«

»Ja! Oder Sie beschimpfen einfach Leute! Det muss dann nich mal witzig sein! Warum müssen Sie denn immer der Hitler sein?«

»Man kann sich das nicht aussuchen«, sagte ich. »Die Vorsehung stellt uns an unseren Platz, und da erfüllen wir dann unsere Pflicht!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ick tippe jetze noch die Annonce für die interne Ausschreibung«, schniefte sie, »und dann kriejen Se janz schnell Ersatz. Det jeht janz schnelle, det werden Se sehen, da jibt et jarantiert jede Menge, die auf’n Zuch aufspringen möchten.«

Ich senkte meine Stimme und sagte leise, aber fest: »Sie hören jetzt das Tippen auf und sagen mir, was los ist. Sofort!«

»Na, ick kann hier nich mehr arbeeten!«, sagte sie trotzig.

»Soso, können Sie nicht. Und warum nicht?«

»Weil ick jestern bei meiner Oma war!«

»Muss ich das jetzt verstehen?«

Fräulein Krömeier holte tief Luft.

»Ick mag meine Oma. Ick hab bei der fast ein Jahr lang jelebt, als meine Mama mal länger krank war. Und jestern war ich wieder bei ihr. Und se fragt mich, wat ick so mache, und denn hab ick ihr erzählt, det ick bei eenem richtijen Star arbeete. Ick war so stolz. Und dann fragt sie, wer det is, und ick lass sie ooch noch raten, und se kommt jar nicht drauf, und denn sag ick et ihr: bei Ihnen. Und denn ist die so stinksauer, die Oma hat ’nen richtigen Wutausbruch jekricht. Und se fängt ooch noch zu weinen an, und se sagt, det det nicht witzig ist, wat Sie machen. Det es da nichts zu lachen jibt. Det man so wie Sie eenfach nicht rumloofen kann. Und ick hab ihr jesagt, det det allet Satire ist. Det Sie det machen, damit det nich mehr vorkommt. Aber sie sacht, det is keene Satire. Sie sagt, det Sie eenfach detselbe sagen wie der Hitler früher ooch. Und det die Leute früher auch jelacht haben. Und ick sitz da und denk mir, Mensch, det is doch eenfach ’ne alte Frau, die übertreibt. Die hat ja noch nie viel vom Krieg erzählt, die is bloß sauer, weil se bestimmt viel mitjemacht hat. Und dann jeht se zu ihrem Schreibtischchen und zieht ’nen Umschlag vor und holt ’n Foto raus.«

Sie machte eine kurze Pause und sah mich eindringlich an: »Det hätten Se sehen müssen, wie sie det Foto rausjezogen hat. Als wär det ’ne Million Euro wert. Als wär det det letzte Foto der Welt. Ick hab mir ’ne Kopie jemacht. Ick hab eine halbe Stunde auf se einreden müssen, bevor sie det Bild zum Kopieren aus der Hand jejeben hat.«

Sie bückte sich wieder und holte aus ihrem Rucksack eine Fotokopie hervor, die sie mir hinschob. Ich besah mir das Bild. Auf dem Foto waren ein Mann, eine Frau und zwei Buben im Grünen abgebildet, sie mochten sich an einem See befinden, jedenfalls lagen sie auf einer Decke oder einem großen Strandtuche. Man konnte davon ausgehen, dass es sich wohl um eine Familie handelte. Der Mann in der Badehose war vielleicht etwas über dreißig Jahre alt, dunkle kurze Haare, er schien sportlich, die blonde Frau sah durchaus attraktiv aus. Die Buben hatten Papierhüte auf, wohl aus einer Tageszeitung gefertigt, und sie hatten Holzschwerter in der Hand, mit denen sie lachend posierten. Und das mit dem See war richtig vermutet, jemand hatte mit einem dunklen Stift unten auf das Bild »Wannsee, Sommer 1943« geschrieben. Insgesamt schien es sich um eine tadellose Familie zu handeln.

»Was ist damit?«, fragte ich.

»Det is die Familie meiner Oma. Ihr Papa, ihre Mama, ihre beiden Brüder.«

Ich habe nicht sechs Jahre lang Krieg geführt, ohne die Tragödien zu ahnen, die derlei auslöst. Die Wunden, die der Tod zur Unzeit in den Seelen reißt. »Wer ist gestorben?«, fragte ich.

»Alle. Sechs Wochen später.«

Ich blickte auf den Mann, die Frau, auf die beiden Buben, besonders auf die beiden Buben, und ich musste mich räuspern. Man kann vom Führer des Deutschen Reiches unerbittliche Härte gegenüber sich selbst verlangen und auch gegenüber seinem Volk, und ich bin noch immer der Erste, der diese Ansprüche an sich richtet. Auch hätte ich mich hier sicherlich unbeugsam und eisern gezeigt, wenn es sich um eine Aufnahme jüngeren Datums gehandelt hätte, sagen wir, um einen Soldaten jener neuen Wehrmacht, selbst wenn er im Zuge dieser unsäglichen afghanischen Maßnahme der Unfähigkeit der Politik geopfert worden war. Doch diese Aufnahme, die so sichtbar aus jener Zeit stammt, die mir noch immer nahe war, dieses Bild, es rührte an mein Herz.

Man kann mir sicher nicht vorwerfen, dass ich an den Fronten im Westen und Osten nicht jederzeit und ohne zu zögern bereit gewesen wäre, Hunderttausende zu opfern, um Millionen zu retten. Männer in den Tod zu schicken, die zur Waffe gegriffen hatten, im Vertrauen darauf, dass ich ihr Leben zum Wohle des Deutschen Volkes einsetzen und im Falle des Falles auch hingeben würde. Und vielleicht hatte sogar dieser Mann dazugehört, es war gut möglich, dass er sich gerade im Fronturlaub befunden hatte. Aber die Frau. Die Buben. Ja, überhaupt die Zivilbevölkerung… Mich würgte noch immer diese Ohnmacht, dass ich das Volk zu Hause nicht hatte besser schützen können. Dass dieser Säufer Churchill sich nicht geschämt hatte, die Unschuldigsten der Unschuldigen im Feuersturme elendiglich verglühen zu lassen als lebende Fackeln seines alles verzehrenden Hasses.

All der Zorn und die Wut jener Jahre kochten wieder hoch, und ich sagte mit feuchten Augen dem Fräulein Krömeier:

»Es tut mir aufrichtig leid. Ich werde – ich verspreche Ihnen: Ich werde alles, alles daransetzen, dass es nie wieder ein englischer Bomber auch nur wagt, in die Nähe unserer Grenzen und unserer Städte zu kommen. Nichts soll vergessen sein, und eines Tages werden wir jede Bombe tausendfach vergelten…«

»Bitte«, sagte Fräulein Krömeier stockend, »bitte hören Se mal einen Moment auf. Nur einen Moment. Se wissen doch überhaupt nicht, wovon Se reden.«

Das war freilich gewöhnungsbedürftig, noch immer. Es ist lange her, dass der Führer einmal getadelt worden ist, auch noch zu Unrecht getadelt worden ist, der Führer ist ja normalerweise zu weit oben in der völkischen Hierarchie, als dass man ihn tadeln dürfte. Man soll den Führer auch überhaupt nicht tadeln, sondern ihm vertrauen, insofern ist eben jeder Tadel dem Vorgesetzten gegenüber ungerechtfertigt und mir gegenüber ganz besonders, aber dennoch – das Fräulein Krömeier schien mir ehrlich betrübt, und daher schluckte ich eben diesen wohl im Zorne abgegebenen Kommentar einmal hinunter, denn selbstverständlich war der Einwand völliger Blödsinn. Gerade in dieser Beziehung weiß wohl kaum jemand besser, wovon er redet, als ich.

Also schwieg ich für einen Moment.

»Wenn Sie den Tag frei haben möchten –«, setzte ich dann an, »ich denke, die Situation ist schwierig für Sie. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass ich Ihre Mitarbeit außerordentlich schätze. Und wenn Ihre Frau Großmutter damit nicht zufrieden ist, vielleicht hilft es, wenn Sie ihr mitteilen, dass ihr Zorn hier wohl den Falschen trifft. Der Bombenkrieg war Churchills Idee…«

»Es trifft überhaupt nicht den Falschen, det is ja det Schlimme«, schrie das Fräulein Krömeier. »Wer redet denn hier von irjend eenem Bombenkrieg? Diese Menschen sind in keenem Bombenkrieg gestorben. Man hat sie vergast!«

Ich hielt inne und blickte nochmals auf das Foto. Der Mann, die Frau, die Buben sahen nicht kriminell aus, nicht wie Zigeuner, kein bisschen wie Juden. Obwohl, in ihren Gesichtszügen, wenn man wirklich ganz genau hinsah – nein, das konnte auch Einbildung sein.

»Wo ist denn Ihre Großmutter auf dem Bild?«, fragte ich, aber die Antwort konnte ich mir sofort denken.

»Sie hat det Foto jemacht«, sagte Fräulein Krömeier mit einer Stimme wie ganz rohes, unbehandeltes Holz. Sie sah reglos auf die Bürowand gegenüber. »Et is det eenzije Bild ihrer Familie, det se noch hat. Und da isse noch nich mal selber mit drauf.« Dann lief eine wimperntuscheschwarze Träne über ihr Gesicht.

Ich hielt ihr ein Taschentuch hin. Sie reagierte erst nicht, dann nahm sie es und schmierte sich damit viel Tusche durchs Gesicht.

»Vielleicht war es ein Irrtum?«, sagte ich. »Ich meine, diese Leute sehen überhaupt nicht aus wie…«

»Wat is’n det für’n Arjument?«, fragte Fräulein Krömeier kalt. »Und wenn se versehentlich umjebracht worden sind, is wohl allet im jrünen Bereich oder wat? Nee, der Irrtum is, det eener überhaupt auf die Idee jekommen is, man müsste die Juden umbringen! Und die Zigeuner! Und die Schwulen! Und alle, die ihm nicht in den Kram passen. Ick will Ihnen mal wat verraten: Der Trick geht so – wenn man die Leute nicht alle umbringt, dann bringt man die Falschen ooch nich um! So einfach ist det!«

Ich stand etwas ratlos im Raume, ich war von diesem Ausbruch reichlich überrascht, selbst wenn man auf die erheblich weichere Gefühlswelt einer Frau gefasst ist.

»Es war also ein Irrtum…«, hielt ich fest, aber ich kam gar nicht zum Schluss, weil sie sofort aufsprang und brüllte: »Nein! Es war keen Irrtum. Es waren Juden! Sie ham se völlig legal vergast! Schon weil se keenen Stern jetragen haben. Sie sind unterjetaucht und ham den Stern abjelegt, weil se jehofft haben, det man se nich als Juden erkennt. Aber leider hat eener der Polizei eenen Tipp jejeben! Det waren also nich nur Juden, det waren sogar illegale Juden! Sind Sie jetzt beruhigt?«

Ich war es in der Tat. Das war ja nun wahrhaft erstaunlich, ich hätte diese Leute womöglich selbst nicht einmal verhaftet, so deutsch sahen die aus, ich war so verblüfft, ich dachte zuerst sogar, ich sollte Himmler bei Gelegenheit nochmals meine Anerkennung für seine gründliche, unbestechliche Arbeit ausdrücken. Allerdings schien es mir gerade in diesem Momente einmal nicht ratsam, direkt und wahrheitsgetreu zu antworten.

»Entschuldijung«, sagte sie dann plötzlich in die Stille. »Sie können ja nüscht dafür. Et is ooch ejal. Ick kann meener Oma det nich antun, det ich weiter für Sie arbeete. Die jeht daran kaputt. Et is nur – können Se nich eenfach mal sagen: ›Et tut mir leid mit der Familie von Ihrer Oma, det war ein grauenhafter Irrsinn damals‹? So wie det jeder normale Mensch ooch tun würde? Oder det Se dran arbeeten, det den Leuten endlich aufjeht, wat det damals für Schweine jewesen sind. Det Se mit mir, det wir alle hier mit dran arbeeten, det sowat nie wieder passiert.« Und dann fügte sie beinahe flehend hinzu: »Det isset doch, wat wa hier machen, oder? Sagen Se doch eenfach det! Für mich.«

Olympia 1936 kam mir in den Sinn. Vielleicht nicht ganz zufällig, denn die blonde Frau auf dem Foto erinnerte mich ausgesprochen an die Fechtjüdin Helene Mayer. Man hat Olympische Spiele im Lande, man hat eine großartige Gelegenheit, beste, ja erstklassige Propaganda zu machen. Man kann das Ausland positiv beeindrucken, man kann Zeit gewinnen für die Aufrüstung, wenn man noch schwach ist. Und man muss sich entscheiden, ob man währenddessen gleichzeitig weiterhin Juden verfolgt und all jene Vorteile damit zunichte macht. Da muss man dann glasklare Prioritäten setzen. Man lässt also eine Helene Mayer mittun, auch wenn sie dann nur die Silbermedaille holt. Man muss sich auch sagen: Jawohl, dann verfolge ich eben vierzehn Tage lang keine Juden. Oder meinetwegen auch drei Wochen. Und wie dereinst galt es auch jetzt wieder, Zeit zu gewinnen. Gewiss, ich hatte erste Zustimmung im Volke, ich hatte einen gewissen Erfolg. Aber hatte ich bereits eine Bewegung hinter mir? Ich brauchte und mochte Fräulein Krömeier. Und wenn Fräulein Krömeier offenbar einen unerkannten Teil jüdischen Blutes in ihren Adern hatte, dann galt es damit umzugehen.

Nicht, dass mich das gestört hätte. Wenn der Rest des genetischen Materials gut genug ist, kann der Körper einen bestimmten jüdischen Anteil verkraften, ohne dass jener sich auf Charakter und Rassemerkmale auswirkt. Wann immer Himmler das bestritten hat, habe ich ihn auf meinen braven Emil Maurice hingewiesen. Ein jüdischer Urgroßvater hat ihn nicht daran gehindert, mein bester Mann in Dutzenden von Saalschlachten zu werden, treu an meiner Seite, in vorderster Front gegen die Bolschewikenbrut. Ich habe mich selbst dafür eingesetzt, dass er in meiner SS bleiben konnte – denn fanatische, granitene Überzeugung kann alles, sie kann sogar das Erbgut beeinflussen. Ich habe es übrigens selbst gesehen, wie Maurice mit der Zeit und mit eisernem Willen immer mehr jüdische Bestandteile in sich abtötete. Eine mentale Eigen-Aufnordung gewissermaßen – phänomenal! Doch das treue, eben noch sehr junge Fräulein Krömeier war noch nicht so weit. Das Bewusstsein um diesen kleinen jüdischen Bestandteil ließ sie in ihrer Entschlossenheit wanken, und dies galt es zu verhindern. Nicht zuletzt auch wegen des guten Einflusses auf Herrn Sawatzki und umgekehrt. Olympia 1936. Die Verschleierung eigener Ziele bot sich geradezu an.

Andererseits schmerzte mich die Kritik des Fräulein Krömeier an meinem Lebenswerk. Jedenfalls dem meines bisherigen Lebens. Ich beschloss, den geraden Weg zu gehen. Den Weg der ewigen, der unverfälschten Wahrheit. Den aufrechten Weg des Deutschen. Wir Deutsche können ohnehin nicht lügen. Oder doch wenigstens nicht sehr gut.

»Von welchen Schweinen reden Sie?«, fragte ich ruhig.

»Na, von den Nazis!«

»Fräulein Krömeier«, hob ich an, »Sie werden es wohl nicht gerne hören, doch Sie irren sich, in vielen Dingen. Das ist nicht Ihr Fehler, aber es ist dennoch falsch. Es wird heute gerne so hingestellt, als hätten damals einige überzeugte, zum letzten entschlossene Nationalsozialisten ein ganzes Volk übertölpelt. Und das ist nicht ganz falsch, es hat diesen Versuch in der Tat gegeben. 1924, in München. Doch er ist unter blutigen Opfern gescheitert. Die Folge war ein anderer Weg. 1933 wurde kein Volk mit einer Propagandaaktion überwältigt. Es wurde ein Führer gewählt, auf eine Weise, die sogar im heutigen Sinne als demokratisch gelten muss. Es wurde ein Führer gewählt, der in unwiderlegbarer Klarheit seine Pläne offengelegt hatte. Die Deutschen haben ihn gewählt. Ja, sogar Juden. Und vielleicht sogar die Eltern Ihrer Frau Großmutter. Die Partei hatte damals schon vier Millionen Mitglieder. Und auch das nur, weil ab 1933 keine weiteren Mitglieder mehr aufgenommen wurden. Es hätten 1934 auch acht Millionen, zwölf Millionen sein können. Ich glaube nicht, dass eine der heutigen Parteien nur annähernd diese Zustimmung genießt.«

»Und wat wollen Se mir damit sagen?«

»Es gab entweder ein ganzes Volk von Schweinen. Oder das, was geschehen ist, war keine Schweinetat, sondern der Wille eines Volkes.«

Fräulein Krömeier sah mich mit großen, fassungslosen Augen an: »Det – det können Se doch nicht so sagen! Det war doch nicht der Wille der Leute, det die Familie meener Oma stirbt! Det war doch die Idee von den Leuten, die da angeklagt worden sind. In Dings, in… Nürnberg!«

»Fräulein Krömeier, ich bitte Sie! Diese Nürnberger Veranstaltung ist doch nichts gewesen als die reine Volkstäuschung. Wenn Sie Verantwortliche suchen, haben Sie letztlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie folgen der Linie der NSDAP, und das heißt, die Verantwortung trägt, wer im Führerstaat nun einmal die Verantwortung trägt – das ist der Führer und niemand sonst. Oder Sie müssen diejenigen verurteilen, die diesen Führer gewählt oder aber nicht abgesetzt haben. Und das waren ganz gewöhnliche Menschen, die entschieden haben, einen außergewöhnlichen Mann zu wählen und ihm das Schicksal ihres Landes anzuvertrauen. Wollen Sie Wahlen verbieten, Fräulein Krömeier?«

Sie blickte mich verunsichert an. »Ick versteh davon vielleicht nicht so viel wie Sie, Sie haben det sicher allet studiert und jelesen. Aber – aber Sie finden det doch ooch schlimm, oder? Det, wat da passiert ist! Sie wollen det doch ooch verhindern, det noch mal…«

»Sie sind eine Frau«, sagte ich nachsichtig, »und Frauen sind in Gefühlsdingen immer sehr impulsiv. Das ist der Wunsch der Natur. Männer sind sachlicher, wir denken nicht in Kategorien von schlimm, nicht schlimm und dergleichen. Es geht uns darum, Aufgaben zu bewältigen, Ziele zu erkennen, zu setzen und zu verfolgen. Diese Fragen erlauben jedoch keine Sentimentalität! Es sind die wichtigsten Fragen unserer Zukunft. Es mag hart klingen, doch wir dürfen nicht jammernd in die Vergangenheit blicken, sondern müssen es lernend tun. Was geschehen ist, ist geschehen. Fehler sind nicht dazu da, um bedauert zu werden, sondern um nicht erneut gemacht zu werden. Nach einem Brande werde ich niemals derjenige sein, der Wochen, Monate um das alte Haus weint! Ich bin derjenige, der das neue Haus errichtet. Ein besseres, ein festeres, ein schöneres Haus. Doch ich kann dabei nur die kleine Rolle spielen, die mir die Vorsehung zuschreibt. Ich kann für dieses Haus nur ein kleiner bescheidener Architekt sein. Der Bauherr, Fräulein Krömeier, der Bauherr ist das deutsche Volk und muss immer das deutsche Volk bleiben.«

»Und et darf nie verjessen…«, sagte Fräulein Krömeier mit einem mahnenden Gesichtsausdruck.

»Ganz genau! Es darf niemals vergessen, welche Kraft in ihm schlummert. Welche Möglichkeiten es hat! Das deutsche Volk kann die Welt verändern!«

»Ja«, warf sie ein, »aber doch nur zum Juten! Et darf nie wieder sein, det det deutsche Volk wat Schlimmet macht!«

Es war dieser Moment, in dem mir klar wurde, wie sehr ich Fräulein Krömeier doch schätzte. Denn es ist schon erstaunlich, wie manche Frauen auf ihren verschlungenen Wegen dann aber dennoch bei den richtigen Zielorten eintreffen. Fräulein Krömeier hatte es erkannt: Geschichte wird von Siegern geschrieben. Und eine positive Beurteilung deutscher Taten setzt selbstverständlich deutsche Siege voraus.

»Das, genau das muss unser Ziel sein«, lobte ich, »und wir werden es erreichen: Wenn sich das deutsche Volk erfolgreich durchsetzt, werden Sie und ich in hundert, in zweihundert, in dreihundert Jahren in unseren Geschichtsbüchern nur Lobeshymnen finden!«

Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht: »In zweehundert Jahren muss det wer anderet nachlesen. Da sind Sie und icke tot.«

»Nun«, sagte ich nachdenklich, »das sollte man wenigstens annehmen.«

»Es tut mir leid«, sagte sie dann und drückte einen Knopf auf der Tastatur. Ich kannte den Klang inzwischen, es war das Geräusch, mit dem Fräulein Krömeier auf dem Gemeinschaftsapparat im Flur Dokumente ausdrucken ließ. »Ick hätt hier wirklich jerne weiterjemacht.«

»Und wenn Sie es Ihrer Frau Großmutter verschweigen?«

Die Antwort freute mich so sehr, wie sie schmerzte: »Nee. Ick kann meene Oma nicht belüjen!«

Aber ich könnte sie zügig einer Sonderbehandlung zuführen lassen, dachte ich spontan, wenn auch nur kurz. Realistisch gesehen kann man niemandem eine Sonderbehandlung zukommen lassen, wenn man keine Gestapo hat. Und keinen Heinrich Müller.

»Bitte, übereilen Sie nichts«, sagte ich. »Ich verstehe Ihre Lage, aber bitte verstehen Sie auch, dass ich gute Mitarbeiterinnen nicht im Dutzend billiger bekomme. Ich würde mich, wenn Sie nichts einzuwenden haben, persönlich bei Ihrer Frau Großmutter für Ihren weiteren Verbleib in meinem Büro verwenden.«

Sie sah mich an. »Ick weeß ja nich…«

»Sie werden sehen, dass ich alle Bedenken der alten Dame ausräumen kann«, versicherte ich. Man konnte dem Fräulein Krömeier die Erleichterung förmlich ansehen.

Es gibt viele Menschen, die nicht zu diesem Unterfangen geraten hätten. Persönlich hatte ich noch nie Grund, an meiner Überzeugungskraft zu zweifeln. Und das nicht nur deshalb, weil ich weiß, dass man hinter meinem Rücken gemunkelt hat, man höre jedes Mal, wenn ich mich in der Nähe von Frau Goebbels aufhalte, deren Eierstöcke rattern oder auch klappern oder welches Geräusch auch immer der harte Soldatenscherz da für angemessen hält. Nein, derlei Spöttereien greifen zu kurz. Es handelt sich hier um die selbstbewusste Ausstrahlung des Siegers, dessen, der eben nicht zweifelt. Richtig eingesetzt wirkt das bei den jüngsten Frauen genauso wie bei den ältesten. Die Jüdinnen machen da keine Ausnahme, im Gegenteil, in ihrem Drange nach Assimilation, nach Normalität sind sie meiner Erfahrung nach sogar besonders anfällig. Helene Mayer, unsere Fechtjüdin von Olympia, hat ihre Silbermedaille sogar mit dem Deutschen Gruß in Empfang genommen. Oder wenn ich an die Zehntausende denke, die glaubten, sie könnten sich fühlen wie Deutsche, nur weil sie ihr Drückebergertum im vorigen Weltkriege an der Front verrichtet hatten und sich mitunter zum Erwerb eines Eisernen Kreuzes durchgelogen hatten.

Wer derlei macht, während die eigenen Rassegenossen bereits verprügelt werden, während ihre Geschäfte boykottiert und zertrümmert werden, der ist sechzig Jahre später erst recht zu übertölpeln, zumal – und das sage ich ohne falsche Eitelkeit, sondern weil es nun einmal der tiefsten Wahrheit entspricht – von einem ausgewiesenen Kenner der Stärken und Schwächen dieser Rasse.

Und all jene Romantiker und Klischeegläubigen, die nun eine außergewöhnliche Gewandtheit erhoffen, die der vorgeblich überlegenen Intelligenz dieser verschlagenen Parasiten gewachsen ist, die muss ich »leider« enttäuschen. Eine Gaskammer als Duschraum auszugeben, war schließlich auch schon damals nicht unbedingt der Gipfel der Raffinesse. Und in diesem speziellen Falle genügte das übliche Maß an höflicher Aufmerksamkeit in Kombination mit dem ehrlichen wie überschwänglichen Lob für die vortreffliche Arbeit ihrer begabten Enkelin. Ich sagte im Wesentlichen, wie unentbehrlich Fräulein Krömeier für meine Arbeit sei, und der Glanz in den Augen der alten Fregatte teilte mir mit, dass ich keine neue rechte Hand brauchen würde. Was irgendwelche Bedenken in weltanschaulichen Dingen betraf, hörte die Dame ab diesem Zeitpunkt ohnehin längst nur noch das, was sie hören wollte.

Aber es half natürlich, dass ich diesen Besuch nicht in Uniform machte.

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