Die nächsten Tage und Nächte sollten für mich zu einer schweren Prüfung werden. Unter unwürdigsten Umständen, notdürftig beherbergt zwischen fragwürdigen Veröffentlichungen, Tabakwaren, Naschwerk und Getränkedosen, nachts auf einem leidlich, aber nicht übermäßig sauberen Sessel gekrümmt, musste ich die Ereignisse der letzten sechsundsechzig Jahre nachholen, ohne dabei ungünstige Aufmerksamkeit zu erregen. Denn während andere sich wohl stundenlang, tagelang fruchtlos den Kopf zermartert hätten mit naturwissenschaftlichen Verständnisfragen, mit der vergeblichen Lösung des Rätsels über diese ebenso fantastische wie unerklärliche Zeitreise, war mein methodisch denkender Verstand zuverlässig in der Lage, sich den Gegebenheiten anzupassen. Statt wehleidigen Lamentierens nahm er die neuen Fakten hin und erkundete die Lage. Zumal – um den Ereignissen kurz vorzugreifen – die veränderten Bedingungen erheblich mehr und bessere Möglichkeiten zu bieten schienen. So sollte sich etwa herausstellen, dass innerhalb der letzten sechsundsechzig Jahre die Anzahl sowjetrussischer Soldaten auf deutschem Reichsgebiet und insbesondere im Großraum Berlin beträchtlich zurückgegangen war. Man ging nun von einer Zahl zwischen etwa dreißig und fünfzig Mann aus, worin ich blitzartig für die Wehrmacht eine außerordentlich verbesserte Erfolgsaussicht erkennen konnte verglichen mit der letzten Schätzung meines Generalstabs von etwa 2,5 Millionen gegnerischen Soldaten allein an der Ostfront.
So spielte ich auch nur für einen kurzen Moment mit dem Gedanken, Opfer eines Komplotts geworden zu sein, einer Entführung, im Verlauf derer der feindliche Geheimdienst mir möglicherweise einen aufwendigen Streich spielte, um mir so gegen meinen eisernen Willen wertvolle Geheimnisse zu entlocken. Allein die technischen Erfordernisse, eine völlig neue Welt zu schaffen, in der ich mich ja auch noch frei bewegen konnte – diese Variante der Realität war schier noch undenkbarer als die Wirklichkeit, die ich in jeder Sekunde vorfand, mit Händen greifen, mit Augen sehen konnte. Nein, in diesem bizarren Hier und Jetzt galt es den Kampf zu führen. Und der erste Schritt zum Kampfe ist noch stets die Aufklärung.
Man kann sich unschwer vorstellen, dass die Beschaffung verlässlicher neuester Informationen ohne die nötige Infrastruktur beträchtliche Probleme bereitete. Die Voraussetzungen dazu waren denkbar schlecht: In außenpolitischer Hinsicht standen mir weder die Abwehr noch das Auswärtige Amt zur Verfügung, innenpolitisch war ein Kontakt zur Geheimen Staatspolizei vorerst nicht leicht umzusetzen. Auch der Besuch einer Bibliothek schien mir in der allernächsten Zeit zu riskant. Insofern war ich auf die Inhalte zahlreicher Publikationen angewiesen, deren Vertrauenswürdigkeit ich freilich nicht überprüfen konnte, sowie auf Äußerungen und Gesprächsfetzen von Passanten. Zwar hatte der Zeitungskrämer mir freundlicherweise den Betrieb eines Radioapparates ermöglicht, der aufgrund der zwischenzeitlichen Fortschritte der Technik zu unfassbar geringem Umfange geschrumpft war – allein, es hatten sich die Gepflogenheiten des Großdeutschen Rundfunks seit 1940 erschütternd geändert. Direkt nach dem Einschalten ertönte ein infernalischer Lärm, häufig unterbrochen von unfassbarem, vollkommen unverständlichem Geschwätz. Am Inhalt änderte sich in der Fortdauer nichts, allein die Häufigkeit des Wechsels zwischen Getöse und Geschwätz nahm zu. Ich entsinne mich minutenlanger vergeblicher Versuche, den Lärm des technischen Wunderwerks zu entschlüsseln, dann schaltete ich entsetzt ab. Ich saß wohl eine Viertelstunde reglos, beinahe schockstarr, bevor ich beschloss, meine Rundfunkbemühungen fürs Erste zurückzustellen. Insofern blieb ich letzten Endes auf die verfügbaren Presseerzeugnisse zurückgeworfen, deren vorrangigstes Ziel eine wahrhafte geschichtliche Aufklärung nie gewesen ist und selbstverständlich auch heute nicht sein konnte.
Eine erste Bestandsaufnahme, die zweifellos unvollständig bleiben musste, sah wie folgt aus:
1. Der Türke war uns offenbar doch nicht zu Hilfe gekommen.
2. Angesichts der siebzigsten Wiederkehr des Unternehmens Barbarossa wurde mehrfach vor allem über diesen Aspekt deutscher Geschichte berichtet. Dabei wurde die Operation in einem insgesamt negativen Lichte gezeigt. Es wurde allgemein behauptet, der Feldzug sei nicht siegreich gewesen, ja der gesamte Krieg sei nicht gewonnen worden.
3. Ich selbst galt tatsächlich als tot. Es wurde mir unterstellt, ich hätte Selbstmord begangen. Und gewiss, ich erinnere mich, diese Möglichkeit theoretisch im Kreise der Vertrauten erörtert zu haben, und sicher fehlten mir in der Erinnerung einige Stunden einer gewiss schweren Zeit. Aber letzten Endes musste ich nur an mir herabsehen, um die Tatsachen zu erkennen.
War ich denn tot?
Aber man weiß ja, was man von unseren Zeitungen zu halten hat. Da notiert der Schwerhörige, was ihm der Blinde berichtet, der Dorftrottel korrigiert es, und die Kollegen in den anderen Pressehäusern schreiben es ab. Jede Geschichte wird von Neuem aufgegossen mit demselben abgestandenen Lügensud, um dann anschließend das »herrliche« Gebräu dem ahnungslosen Volke zu kredenzen. Wenn ich auch in diesem Falle bereit war, durchaus so etwas wie Nachsicht walten zu lassen. Dass das Schicksal derart bemerkenswert in sein eigenes Räderwerk hineingreift, das kommt so selten vor, dass es selbst für die klügsten Köpfe schwer zu begreifen sein muss, geschweige denn für den durchschnittlichen Vertreter unserer so genannten Meinungsveröffentlicher.
4. Was aber alle anderen Sachverhalte anging, galt es, dem Gehirn den Magen eines Wildschweins angedeihen zu lassen. Die militärischen, militärhistorischen, politischen und ganz allgemein jegliches Thema bis hin zu Wirtschaft betreffenden Fehleinschätzungen der Presse, unterlaufen aus Ahnungslosigkeit oder Böswilligkeit, galt es zu ignorieren, ein denkender Mensch musste sonst schlichtweg wahnsinnig werden angesichts von so viel gedruckter Dummheit.
5. Oder ein Magengeschwür bekommen, so gottlos verblödet schmierten die syphilitisch degenerierten Gehirne der offenbar von jeder staatlichen Kontrolle befreiten Hetzpresse sich ihr zusammenphantasiertes Weltbild zurecht.
6. Das Deutsche Reich schien einer sogenannten »Bundesrepublik« gewichen, deren Leitung allem Anschein nach einer Frau oblag (»Bundeskanzlerin«), allerdings auch schon anderen Herren anvertraut worden war.
7. Es gab wieder Parteien und freilich das damit unfehlbar einhergehende unproduktive Gezänk. Die schier unausrottbare Sozialdemokratie trieb erneut ihr fruchtloses Unwesen auf dem Rücken des leidgeprüften deutschen Volkes, andere Vereine schmarotzten vom Volksreichtum wiederum auf ihre Weise, eine Wertschätzung ihrer »Arbeit« blieb – was verblüffen mag – sogar in der sonst so wohlgesinnten Lügenpresse größtenteils aus. Aktivitäten der NSDAP fanden hingegen nicht mehr statt, es war möglich, dass angesichts einer nicht auszuschließenden Niederlage in der Vergangenheit die Siegermächte die Parteiarbeit erschwert hatten, wenn nicht die Organisation sogar in die Illegalität gedrängt worden war.
8. Der »Völkische Beobachter« war nicht überall erhältlich, der Kiosk des offenbar wohl doch reichlich liberalen Zeitungskrämers jedenfalls führte ihn nicht, wie bei ihm auch überhaupt keinerlei deutschnational orientierte Publikationen auslagen.
9. Das Reichsgebiet schien deutlich verringert, die umgebenden Staaten waren jedoch weitgehend die gleichen geblieben, sogar Polen führte seine widernatürliche Existenz offenbar unvermindert fort, teilweise sogar auf ehemaligem Reichsgebiet! Bei aller Nüchternheit konnte ich an dieser Stelle eine gewisse Empörung nicht unterdrücken, im ersten Moment rief ich doch tatsächlich in das Dunkel des nächtlichen Kiosks hinein aus: »Da hätte ich mir den ganzen Krieg ja schenken können!«
10. Die Reichsmark war kein Zahlungsmittel mehr, obgleich das von mir angestrebte Konzept, sie zur europaweit gültigen Währung zu erheben, offenbar von anderen verwirklicht worden war, vermutlich von irgendwelchen ahnungslosen Dilettanten aufseiten der Siegermächte. Forderungen wurden jedenfalls momentan in einer Kunstwährung namens »Euro« beglichen, die freilich erwartungsgemäß von größtem Misstrauen begleitet wurde. Wer immer das veranlasst hatte, ich hätte es ihm gleich sagen können.
11. Es schien eine Art Teilfrieden zu geben, doch die Wehrmacht befand sich nach wie vor im Krieg, sie hieß allerdings inzwischen »Bundeswehr« und war in einem beneidenswerten Zustand, ohne Zweifel bedingt durch den technischen Fortschritt. Wenn man den veröffentlichten Zahlen glauben durfte, war von einer praktischen Unverwundbarkeit des deutschen Soldaten im Felde auszugehen, Verluste traten nur mehr vereinzelt auf. Man kann sich meinen Kummer vorstellen, als ich aufstöhnend an mein eigenes, tragisches Los dachte, an die bitteren Nächte im Führerbunker, gramgebeugt über den Karten im Lagezentrum brütend, ringend mit einer feindseligen Welt und mit dem Schicksal: Damals verbluteten an zahlreichen Fronten noch über 400000 Soldaten, und das allein im Januar 1945 – mit dieser fabelhaften Truppe von heute hätte ich Eisenhowers Armeen fraglos ins Meer gefegt, Stalins Horden wären in wenigen Wochen am Ural und Kaukasus zerquetscht worden wie Maden. Es war dies eine der wenigen wirklich guten Nachrichten, die mich erreichten: Die künftige Eroberung von Lebensraum im Norden, Osten, Süden, Westen schien mir mit jener neuen Wehrmacht kaum weniger Erfolg versprechend als mit der alten. Verantwortlich dafür schien im Übrigen die kürzlich erfolgte Reform eines jungen Ministers, der wohl das Format eines Scharnhorst besaß, allerdings aufgrund einer Intrige so missgünstiger wie engstirniger Universitätsgelehrter das Feld hatte räumen müssen. Es schien wohl heute genauso zu sein wie damals an der Wiener Akademie, an der ich weiland hoffnungsvoll meine Entwürfe und Zeichnungen einreichte: Vom Neide zerfressen hemmen die Kleingeister noch stets das frische, unverzagt auftrumpfende Genie, weil sie es nicht ertragen können, dass dessen Glanz das Glimmen ihrer eigenen Mitleid erregenden Lichtlein so deprimierend deutlich überstrahlt.
Na ja.
Angesichts dieser allgemein recht gewöhnungsbedürftigen Umstände konnte ich aber zugleich nicht unzufrieden feststellen, dass zumindest vorerst keine akute Gefahr herrschte, obzwar es Unannehmlichkeiten gab. Wie es einem kreativen Geist zukommt, pflegte ich zuletzt lange zu arbeiten, aber auch lange zu ruhen, um die gewohnte Frische und Reaktionsschnelligkeit beibehalten zu können. Der Zeitungskrämer hingegen pflegte berufsbedingt schon am frühesten Morgen seinen Kiosk zu eröffnen, weshalb auch ich, der ich oft meine Studien bis weit in die frühen Morgenstunden ausgedehnt hatte, mit erfrischendem Schlaf ab dieser Uhrzeit nicht mehr rechnen konnte. Verschärfend kam hinzu, dass dieser Mensch schon morgens ein geradezu enervierendes Redebedürfnis hatte, wohingegen ich zu dieser Zeit üblicherweise einer gewissen Findungsphase bedarf. Schon am ersten Morgen betrat er geradezu schwungvoll den Kiosk mit dem Ausruf:
»Na, mein Führer, wie war die Nacht?«
Und dabei riss er ohne die geringste Verzögerung seine Verkaufsöffnung auf, worauf ein besonders grelles Licht den Kiosk blendend erhellte. Ich stöhnte auf, kniff die gepeinigten Augen zu, mühte mich, mir die Umstände meines Aufenthalts ins Gedächtnis zu rufen. Im Führerbunker war ich nicht, das stand mir sofort wieder in aller Deutlichkeit vor Augen. Ansonsten hätte ich diesen Trampel sofort standrechtlich erschießen lassen können. Dieser morgendliche Terror war ohne Wenn und Aber die reinste Wehrkraftzersetzung. Dennoch hielt ich an mich, wurde meiner neuen Situation gewahr, ja sprach mir selbst beruhigend zu, dass dieser Kretin aufgrund seines Broterwerbs wohl keine Alternative hatte und es auf seine tölpelhafte Weise wahrscheinlich sogar gut mit mir zu meinen glaubte.
»Auf geht’s«, krähte der Krämer nun, »kommen Sie, helfen Sie mir mal!« Und dabei deutete er nickend mit seinem Kopf auf etliche transportable Zeitschriftenhalter, von denen er einen bereits nach außen schob.
Ich quälte mich seufzend hoch, um, noch immer ermüdet, seinem Wunsche zu folgen. Es war schon paradox: Vorgestern hatte ich noch die 12. Armee verschoben, heute waren es Regale. Mein Blick fiel auf das neue Heft von »Wild und Hund«. Manches gab es also immer noch. Und obwohl ich nie ein leidenschaftlicher Jäger gewesen bin, im Gegenteil die Jagd schon immer eher kritisch betrachtet habe, packte mich doch in jenem Augenblick kurz die Sehnsucht, diesem seltsamen Alltag zu entfliehen, mit einem Hund durch die Natur zu streifen, in der Natur Auge in Auge mit der Kreatur das Werden und Vergehen der Welt zu verfolgen… Dann riss ich mich aus meinen Träumereien. In wenigen Minuten richteten wir nun gemeinsam seinen Kiosk zum Verkaufe her. Der Krämer holte zwei Klappstühle heraus und stellte sie vor dem Häuschen in die Sonne. Er bot mir einen Platz an, holte eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche, klopfte einige Zigaretten aus der Öffnung und hielt sie mir hin.
»Ich rauche nicht«, schüttelte ich den Kopf, »doch danke.«
Er nahm eine Zigarette, steckte sie in seinen Mund, holte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und entzündete sie. Er sog den Rauch ein, ließ ihn dann genussvoll ausströmen und sagte:
»Ahhh – und jetzt ein Kaffee! Für Sie auch? Das heißt, wenn Sie mögen – ich habe hier nur Pulverkaffee.«
Das war nicht überraschend. Natürlich blockierte der Engländer nach wie vor die Seewege, dieses Problem hatte ich zur Genüge kennenlernen »dürfen«, es war nur verständlich, dass in meiner Abwesenheit die wie auch immer geartete oder benannte neue Reichsführung mit der Lösung überfordert gewesen sein musste – und es noch immer war. Die tapfere, leidensfähige deutsche Bevölkerung musste also wie seit so langer Zeit mit Ersatzmitteln arbeiten. Muckefuck hatte man den Kaffeeersatz wohl genannt, und mir fiel sofort auch wieder der pappsüße Presskornriegel ein, der hier notgedrungen in der Rolle des guten deutschen Brotes dilettieren musste. Und der bedauernswerte Zeitungskrämer schämte sich vor seinem Gast, weil er im Würgegriff der britischen Parasiten der Menschheit nichts Besseres anzubieten hatte. Es war schier empörend. Eine Welle der Rührung stieg in mir hoch.
»Sie können nichts dafür, guter Mann«, beruhigte ich ihn, »ich bin ohnehin kein Liebhaber des Kaffees. Für ein Glas Wasser wäre ich jedoch dankbar.«
So verbrachte ich meinen ersten Morgen in dieser seltsamen neuen Zeit an der Seite des rauchenden Zeitungskrämers, begleitet vom festen Vorsatz, so lange die Bevölkerung zu studieren und aus ihrem Verhalten neue Erkenntnisse zu gewinnen, bis möglicherweise der Krämer aufgrund seiner angedeuteten Beziehungen tatsächlich eine kleine Tätigkeit für mich vermitteln konnte.
Die ersten Stunden am Kiosk gehörten den einfachen Arbeitern und den Rentnern. Sie redeten nicht viel, kauften Rauchwaren, die Morgenzeitung, vor allem eine Zeitung namens »Bild« war sehr beliebt, gerade auch bei Älteren, ich nahm an, weil der Verleger eine unerhört große Schrift bevorzugte, damit auch Menschen mit Sehschwäche nicht auf Informationen zu verzichten brauchten. Eine ausgezeichnete Idee, musste ich im Stillen zugeben, daran hatte nicht einmal der eifrige Goebbels gedacht – mit dieser Maßnahme hätten wir ohne Zweifel noch mehr Begeisterung in diesen Bevölkerungsgruppen entfachen können. Gerade den älteren Volkssturmleuten hatte es in den letzten von mir erlebten Kriegstagen an Schwung, Durchhaltewillen und Opferbereitschaft gemangelt, wer konnte ahnen, dass so einfache Mittel wie eine größere Schrift so viel Wirkung erzielten?
Andererseits: Es hatte ja auch Papier gefehlt. Dieser Funk war doch alles in allem ein unheilbarer Trottel gewesen.
Meine Anwesenheit vor dem Kiosk führte allmählich zu ersten Problemen. Gelegentlich gab es zwar, gerade unter den jüngeren Arbeitern, Heiterkeit, häufiger auch Anerkennung, die in den Worten »kuhl« und »krass« ausgedrückt wurde, unverständlich, gewiss, aber das Mienenspiel ließ auf einen unleugbaren Respekt schließen.
»Gut, nicht wahr«, strahlte da der Zeitungskrämer den Kunden an, »da merkt man keinen Unterschied, oder?«
»Nee«, sagte der Kunde, ein Arbeiter, er mochte Mitte zwanzig sein, und faltete seine Zeitung. »Aber darf man denn das?«
»Was?«, fragte der Krämer.
»Na, in der Uniform.«
»Was gibt es am deutschen Soldatenrock auszusetzen?«, fragte ich argwöhnisch und auch mit leichtem Ärger im Tonfall.
Der Kunde lachte, vermutlich, um mich zu beschwichtigen.
»Der ist wirklich gut. Nein, ich meine, Sie machen das ja wohl beruflich, aber braucht man da eine Sondererlaubnis, wenn man die ständig in der Öffentlichkeit trägt?«
»Das wäre ja noch schöner!«, gab ich empört zurück.
»Ich meine ja nur«, sagte er etwas eingeschüchtert, »wegen der Verfassung…«
Das gab mir zu denken. Er meinte es nicht böse, und tatsächlich war die Verfassung meiner Uniform nicht die beste.
»Gut, sie ist etwas schmutzig«, gab ich leicht geknickt zu, »aber selbst schmutzig ist das Kleid des Soldaten noch immer von größerer Ehre als jeder saubere Frack des verlogenen Diplomatentums!«
»Warum soll die verboten sein?«, fragte der Zeitungskrämer nüchtern, »ist doch kein Hakenkreuz dran.«
»Was soll denn das nun wieder heißen?«, schrie ich da erbost. »Sie werden ja wohl auch so wissen, in welcher Partei ich bin!«
Der Kunde verabschiedete sich mit einem Kopfschütteln. Als er weg war, bat der Zeitungskrämer mich, wieder Platz zu nehmen, und wandte sich ruhig an mich.
»Er hat nicht ganz unrecht«, sagte er freundlich. »Die Kunden gucken schon seltsam. Ich weiß ja, dass Sie Ihre Arbeit sehr ernst nehmen. Aber könnten Sie nicht wirklich was anderes anziehen?«
»Ich soll mein Leben, meine Arbeit, mein Volk verleugnen? Das können Sie nicht von mir verlangen«, sagte ich und sprang wieder auf. »Ich werde diese Uniform tragen bis zum letzten Blutstropfen. Ich werde die Opfer der Bewegung nicht durch erbärmlichen Verrat ein zweites Mal von hinten erdolchen wie Brutus den Cäsar…«
»Müssen Sie eigentlich immer gleich so ein Fass aufmachen?«, sagte der Zeitungskrämer nun auch ein wenig ungehalten. »Es hat ja nicht nur was mit der Uniform zu tun…«
»Sondern?«
»Das Ding stinkt. Ich weiß ja nicht, woraus Sie sie gemacht haben, aber haben Sie da alte Tankwartsuniformen verarbeitet oder was?«
»Im Feld kann der einfache Landser auch nicht den Rock wechseln, und ich werde hier nicht der Dekadenz derer anheimfallen, die es sich hinter der Front gemütlich machen.«
»Das mag ja alles sein, aber denken Sie doch mal an Ihr Programm!«
»Wieso?«
»Na, Sie wollen doch Ihr Programm an den Mann bringen, oder?«
»Ja und?«
»Haben Sie schon mal daran gedacht, was passiert, wenn hier mal wirklich ein paar Leute vorbeikommen und Sie kennenlernen wollen? Und dann stehen Sie da und riechen, dass man sich nicht traut, neben Ihnen eine Zigarette anzuzünden.«
»Sie haben sich ja auch getraut«, erwiderte ich. Aber meinen Worten fehlte die gewohnte Schärfe, weil ich seinen Argumenten widerwillig beipflichten musste.
»Ich bin eben mutig«, lachte er. »Kommen Sie, gehen Sie rasch nach Hause, und holen Sie sich ein paar andere Klamotten.«
Da war es wieder, das leidige Wohnproblem.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das derzeit schwierig ist.«
»Na, aber Ihre Ex arbeitet doch vielleicht jetzt. Oder sie geht einkaufen. Warum stellen Sie sich denn so an?«
»Nun ja«, sagte ich zögernd, »das ist sehr problematisch. Die Wohnung…« Ich war jetzt wirklich ein wenig in argumentativen Nöten. Es war aber auch eine entwürdigende Situation.
»Haben Sie am Ende keinen Schlüssel?«
Diesmal musste ich selbst lachen angesichts von so viel Naivität. Ich wusste gar nicht, ob es für den Führerbunker überhaupt einen Schlüssel gab.
»Nein, äh, wie soll ich sagen: Der Kontakt ist irgendwie… ist, äh, unterbrochen… worden.«
»Haben Sie ein Kontaktverbot?«
»Ich kann es mir ja selbst nicht wirklich erklären«, sagte ich, »aber es ist wohl etwas in der Art.«
»Himmel, so wirken Sie gar nicht«, sagte er etwas reserviert. »Was haben Sie denn angestellt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß, »mir fehlt die Erinnerung an die Zwischenzeit.«
»Sie scheinen mir jedenfalls nicht gewalttätig«, sagte er nachdenklich.
»Nun«, sagte ich und rückte mir mit der Hand den Scheitel zurecht, »ich bin natürlich Soldat…«
»Also schön, Sie Soldat«, sagte der Zeitungskrämer. »Ich mach Ihnen noch einen Vorschlag. Weil Sie gut sind und ich an solche Besessenen wie Sie glaube.«
»Natürlich«, bekräftigte ich seine Rede, »wie jeder vernünftige Mensch. Man muss seine Ziele mit ganzer Kraft verfolgen, ja, mit Besessenheit. Der laue, verlogene Kompromiss ist die Wurzel allen Übels und…«
»Ist ja gut«, unterbrach er mich, »also passen Sie auf. Ich bringe Ihnen morgen ein paar alte Sachen von mir. Sie brauchen sich nicht bedanken, ich hab in letzter Zeit etwas zugelegt, ich bring die Knöpfe nicht mehr zu«, und dabei blickte er unzufrieden auf seinen Bauch, »aber Ihnen könnten sie passen. Sie arbeiten ja glücklicherweise nicht als Göring.«
»Wie käme ich dazu?«, fragte ich irritiert.
»Und dann bringe ich Ihre Uniform gleich in die Reinigung…«
»Die Uniform gebe ich nicht aus der Hand!«, betonte ich unnachgiebig.
»Schön«, sagte er, und er wirkte mit einem Male ein wenig erschöpft, »dann bringen eben Sie Ihre Uniform in die Reinigung. Aber das sehen Sie doch ein, oder? Dass man die mal sauber machen muss.«
Man wurde behandelt wie ein kleines Kind, es war empörend. Aber, so viel war klar, das würde so bleiben, solange ich schmutzig wie ein Kind herumlief. Also nickte ich.
»Bloß mit den Schuhen wird das schwierig werden«, sagte er. »Was haben Sie für eine Größe?«
»43«, sagte ich gottergeben.
»Da werden Ihnen meine zu klein sein«, sagte er. »Aber ich lass mir was einfallen.«