Ah, der Herr Hitler«, sagte der Zeitungskrämer, »das ist aber schön. Ich habe fast mit Ihnen gerechnet!«
»So«, sagte ich lachend, »warum das denn?«
»Na, ich habe Ihren Auftritt gesehen«, sagte er, »und dann habe ich mir gedacht, dass Sie vielleicht lesen wollen, was so darüber geschrieben wird. Und dass Sie bei der Gelegenheit vielleicht einen Ort suchen, an dem die Auswahl an Zeitschriften etwas größer ist! Kommen Sie rein, kommen Sie rein! Setzen Sie sich. Möchten Sie einen Kaffee? Was ist? Ist Ihnen nicht gut?«
Das war mir unangenehm, dass er mir diese kleine Schwäche ansehen konnte, und es war auch wirklich eine kleine Schwäche gewesen, ein Aufwallen wohliger Gefühle, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. Ich war am Morgen gegen halb zwölf Uhr frisch erwacht, ich hatte eine Kleinigkeit zu mir genommen und dann in der Tat beschlossen, die Zeitungen zu lesen, das hatte der Zeitungskrämer alles ganz richtig erraten. Vor zwei Tagen waren auch die Anzüge geliefert worden, sodass ich in etwas weniger Offizielles hatte schlüpfen können. Es war ein einfacher dunkler Anzug im klassischen Schnitt, ich hatte dazu den dunklen Hut gewählt, ich war losmarschiert, und sofort zog ich weitaus weniger Blicke auf mich als sonst. Es war ein sonniger Tag, strahlend klar und erwartbar frisch temperiert, ich fühlte mich für den Moment aller Pflichten ledig und schritt tüchtig aus. Es war so friedlich, fast gewöhnlich, und da ich vorzugsweise Grünzüge und kleine Parks nutzte, gab es auch nicht so vieles, was meine Aufmerksamkeit erforderte, außer einer verrückten Frau, die sich bückte, sichtlich bemüht, im etwas zu lange ungemähten Grase die Exkremente eines Spaniels zu entdecken und aufzulesen. Für einen Moment dachte ich, dass auch eine Epidemie die Ursache für diese Irren sein konnte, allerdings schien der Vorgang niemanden zu beunruhigen. Im Gegenteil, wie ich kurz darauf bemerkte, hatte man hier und da fürsorglich eine Art Automat aufgestellt, bei der solche verrückten Frauen kleine Tüten herausziehen konnten. Ich kam vorerst zu dem Schlusse, dass es sich um Frauen handeln musste, denen der innige Kinderwunsch unerfüllt geblieben war, eine derartige Hysterieform, wie sie diese übersteigerte Fürsorge für allerlei Hunde darstellte, war da natürlich zwangsläufig. Und ich musste zugeben, diesen armen Wesen dann Tüten zu geben, war eine erstaunlich pragmatische Lösung. Langfristig galt es natürlich, die Frauen wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuführen, aber wahrscheinlich war wieder irgendeine Partei dagegen gewesen. Man kennt das ja.
Unter solchen weniger anstrengenden Überlegungen war ich ganz in Gedanken zum Zeitungskrämer spaziert, unbehelligt, kaum bis nicht erkannt, die Situation kam mir merkwürdig vertraut vor, aber erst die Worte des Zeitungskrämers hatten mir deutlich gemacht, woran es lag. Es war jene zauberhafte Stimmung, wie ich sie in meinen Anfängen in München nur zu oft erlebt hatte – nach meiner Entlassung aus der Festungshaft, ich war in München leidlich bekannt, noch war ich nur ein kleiner Parteivorsitzender, ein Redner, der dem Volke ins Herz schaute, und es waren die kleinen und kleinsten Leute, die mir in bewegender Weise ihre Zuneigung zuteil werden ließen. Ich ging über den Viktualienmarkt, die ärmsten Marktweiblein winkten mich freundlich zu sich, gaben mir einmal zwei Eier, ein Pfund Äpfel, man kam nach Hause wie der reinste Fourageur, wo einen die Vermieterin strahlend begrüßte, und die ehrliche Freude leuchtete ihnen so gleißend hell aus ihren Gesichtern wie in jenem Augenblicke dem Zeitungshändler. Und dieses Gefühl von damals, es kam so schnell über mich, noch bevor ich es selbst begreifen konnte, so überwältigend, dass ich rasch in eine andere Richtung blickte. Aber der Zeitungskrämer hatte natürlich aufgrund seiner langen Berufserfahrung eine beeindruckende Menschenkenntnis erworben, wie sie sonst nur manchen Droschkenfahrern zu eigen ist.
Ich hustete verlegen und sagte: »Keinen Kaffee, bitte. Eine Tasse Tee wäre schön. Oder ein Glas Wasser.«
»Kein Problem, kein Problem«, sagte er und füllte Wasser in einen Wasserkocher, ähnlich wie ich ihn in meinem Hotelzimmer hatte. »Ich hab die Zeitungen neben dem Sessel aufgehoben. Es sind nicht sehr viele, ich denke, das Internet ist da wohl die bessere Adresse.«
»Ja, dieses Internetz«, sagte ich zustimmend und setzte mich. »Eine sehr gute Einrichtung. Ich glaube auch nicht, dass mein Erfolg vom Wohlwollen der Zeitungen abhängig sein wird.«
»Ich will Ihnen ja nicht den Spaß verderben«, sagte der Zeitungskrämer, während er Teebeutel aus einem Fach holte, »aber Sie müssen keine Angst haben… Die, die Sie gesehen haben, mögen Sie.«
»Ich habe keine Angst«, stellte ich klar, »was gilt schon die Meinung eines Kritikers?«
»Na ja…«
»Nichts«, sagte ich, »nichts! Sie hat in den Dreißigern nichts gezählt, sie zählt jetzt nichts. Diese Kritiker erzählen den Leuten immer nur, was sie glauben sollen. Das gesunde Volksempfinden ist ihnen gleich. Nein, in seiner Seele weiß das Volk auch ohne unsere Herren Kritiker, was es zu denken hat. Wenn das Volk gesund ist, weiß es sehr gut, was etwas taugt und was nicht. Braucht der Bauer einen Kritiker, der ihm sagt, was die Erde taugt, in der er seinen Weizen anbaut? Der Bauer weiß es selbst am besten.«
»Weil er täglich seinen Acker sieht«, sagte der Zeitungskrämer, »aber Sie sieht er nicht jeden Tag.«
»Dafür sieht er täglich in das Fernsehgerät. Da hat er einen guten Vergleich. Nein, der Deutsche braucht keinen Meinungsvorbeter. Er bildet sich seine Meinung selbst.«
»Sie müssen’s ja wissen«, sagte der Zeitungskrämer mit einem Schmunzeln und hielt mir den Zucker hin. »Sie sind ja der Fachmann der freien Meinungsbildung.«
»Was soll das denn heißen?«
»Bei Ihnen muss man wirklich aufpassen«, sagte der Krämer kopfschüttelnd, »man will dauernd anfangen, mit Ihnen zu reden, als wären Sie’s wirklich.« Eine Hand klopfte außen an die Verkaufstheke. Er stand auf. »Lesen Sie mal, was die schreiben, ich hab jetzt Kundschaft. Ist ja auch nicht so viel.«
Ich blickte auf den kleinen Stapel neben dem Sessel. Ich war auf keiner Titelseite, aber das war ja auch nicht anzunehmen gewesen. Es hatten sich auch die großen Zeitungen nicht um das Thema gekümmert. Diese formidable »Bild«-Zeitung etwa war nicht dabei. Nun war jener Wizgür schon länger im Programm, da war eine Berichterstattung wohl nicht so interessant gewesen. Es waren letzten Endes nur kleinere regionale Blätter, für die täglich einer der Redakteure in das Fernsehgerät sehen musste, um eine kleine Kolumne zu füllen. Drei dieser Redakteure also hatten in der Hoffnung auf Unterhaltung die Sendung des Wizgür eingeschaltet. Sie alle waren der Ansicht, dass meine Rede das Interessanteste der Sendung gewesen sei. Einer meinte, es sei erstaunlich, dass ausgerechnet eine Hitlerfigur auf den Punkt gebracht habe, was eigentlich die Sendung des Wizgür schon die ganze Zeit darstelle, nämlich eine Ansammlung von Ausländerklischees. Die beiden anderen sagten, Wizgür habe durch meinen »herrlich bösen Beitrag« endlich den Biss wiedergewonnen, den er selbst viel zu lange habe vermissen lassen.
»Und«, fragte der Zeitungskrämer, »zufrieden?«
»Ich habe schon einmal von ganz unten angefangen«, sagte ich und nahm einen Schluck Tee, »da habe ich vor zwanzig Leuten gesprochen. Ein Drittel von denen war vermutlich irrtümlich gekommen. Nein, ich kann mich nicht beklagen. Ich muss nach vorne sehen. Wie fanden Sie’s?«
»Gut«, sagte er, »heftig, aber gut. Nur der Wizgür schien mir nicht recht begeistert.«
»Ja«, sagte ich, »das kenne ich noch von früher. Die Arrivierten schreien immer, wenn eine neue, frische Idee Einzug hält. Dann fürchten sie um ihre Pfründe.«
»Wird er Sie noch mal in seine Sendung lassen?«
»Er wird tun, was die Produktionsfirma ihm sagt. Er lebt vom System, er muss seine Spielregeln befolgen.«
»Man möchte kaum glauben, dass ich Sie erst vor ein paar Wochen vor meinem Kiosk aufgesammelt habe«, sagte der Zeitungskrämer.
»Die Regeln sind noch immer dieselben wie vor sechzig Jahren«, sagte ich, »die ändern sich nicht. Es sind nur weniger Juden beschäftigt. Deswegen geht es dem Volke auch besser. Apropos: Ich habe mich noch gar nicht recht bei Ihnen bedankt. Hat man…?«
»Keine Angst«, sagte der Zeitungskrämer, »wir haben da ein kleines Arrangement getroffen. Ich bin versorgt.« Dann klingelte sein tragbares Telefon. Er hob den Apparat an den Kopf und meldete sich. Ich griff mir zwischenzeitlich eine jener »Bild«-Zeitungen und blätterte sie durch. Das Blatt vermittelte eine durchaus ansprechende Mischung aus Volkszorn und Gehässigkeit. Den Anfang machten Berichte von politischen Tölpeleien, es formte sich das Bild einer so tumben wie jedoch letztlich immerhin gutartigen Kanzlermatrone, die unbeholfen durch eine Horde hinderlicher Zwerge schlurfte. Parallel dazu wurde von dem Blatte so gut wie jede demokratisch »legitimierte« Entscheidung als völliger Unsinn entlarvt. Insbesondere der Gedanke der europäischen Einigung war der herrlichen Hetzschrift komplett zuwider. Am besten gefiel mir jedoch die subtile Arbeitsweise. So wurde beispielsweise in einer Witzekolumne zwischen Scherzen über Schwiegermütter und gehörnte Ehemänner unauffällig folgender Witz untergebracht:
Ein Portugiese, ein Grieche und ein Spanier gehen in ein Bordell. Wer zahlt? Deutschland.
Der war sehr gelungen. Streicher hätte natürlich noch eine Zeichnung dazu in Auftrag gegeben, auf der diese drei verschwitzten, unrasierten Südländer ein unschuldiges Ding mit ihren dreckigen Fingern betatschen, während der ehrliche deutsche Arbeiter schuften muss, aber unterm Strich wäre das wohl hier eher hinderlich gewesen, es hätte den Scherz aus seiner klugen Unauffälligkeit herausgehoben.
Ansonsten wurde ein bunter Eintopf an Verbrechensgeschichten über die Seiten gegossen, danach folgte die seit jeher beste erhältliche Beschwichtigungsberichterstattung – der Sport, und dann eine Versammlung von Fotos, auf denen berühmte Menschen alt oder hässlich aussahen, eine vollendete Symphonie von Neid, Missgunst und Niedertracht. Eben aus diesem Grunde hätte ich es gerne gesehen, wenn eine kleine Notiz meines Auftrittes in diesem Umfelde Erwähnung gefunden hätte. Aber der Zeitungskrämer hatte das Blatt völlig zu Recht nicht auf den Stapel gelegt, es fand sich nichts. Ich ließ das Blatt sinken, als der Krämer sein Telefon wieder wegsteckte.
»Das war mein Sohn«, sagte er, »der, dessen Schuhe Ihnen nicht gefallen. Er hat gefragt, ob Sie der Typ aus meinem Kiosk sind. Er hat Sie gesehen. Auf dem Handy von einem Freund. Ich soll Ihnen sagen, Sie seien total krass.«
Ich blickte den Zeitungskrämer verständnislos an.
»Er findet Sie wohl gut«, übersetzte der Krämer. »Ich will gar nicht wissen, was die alles für Filmchen auf ihren Handys haben, aber da landet auf jeden Fall nichts, was sie nicht irgendwie gut oder spannend finden.«
»Die Jugend empfindet noch unverfälscht«, bestätigte ich ihm. »Da gibt es kein gut oder schlecht, sie denken so, wie es ihnen die Natur eingibt. Wenn ein Kind richtig erzogen ist, wird es keine falsche Entscheidung treffen.«
»Haben Sie eigentlich Kinder?«
»Leider nein«, sagte ich. »Das heißt, es wurde gelegentlich aus interessierten Kreisen gestreut, es gäbe da einige Bankerten, wie es bei uns heißt.«
»Oho«, meinte der Zeitungskrämer und zündete sich launig eine Zigarette an, »es ging um den Unterhalt…«
»Nein, man wollte mich unmöglich machen. Eine Lächerlichkeit sondergleichen. Seit wann ist es unrecht oder unehrenhaft, einem Kinde das Leben zu schenken?«
»Sagen Sie das mal der CSU.«
»Gut, man muss da immer wieder auf die einfachen Menschen Rücksicht nehmen. Da kann man ja mit Argumenten kommen, wie man will, da überfordert man immer wieder viele damit. Himmler hat das mal versucht, in der SS. Der wollte gleiche Rechte für eheliche und uneheliche Kinder von SS-Männern durchsetzen, nicht mal da hat das richtig geklappt. Leider, die armen Kinder. Da wird so ein kleiner Bub, ein kleines Mädel schief angesehen, es wird gehänselt, die anderen Kinder tanzen um es herum, sie singen Spottverse. Das ist auch nicht gut für den Gemeinsinn. Wir sind alle Deutsche, die ehelichen und die unehelichen. Ich sage immer: Kind ist Kind, das gilt im Kindbett wie im Schützengraben. Man muss es natürlich auch anschließend versorgen, das ist klar. Aber was wäre das für ein Schweinehund, wenn er sich anschließend aus dem Staube macht?«
Ich legte die »Bild«-Zeitung wieder zurück.
»Und was ist dann aus der Sache geworden?«
»Nichts. Das waren Verleumdungen, natürlich. Und man hat dann auch nichts mehr davon gehört.«
»Na, dann«, sagte der Zeitungskrämer und nahm einen Schluck Tee.
»Ich weiß natürlich nicht, ob sich irgendwann die Gestapo noch darum gekümmert hat, aber das wird wohl nicht mehr nötig gewesen sein.«
»Wahrscheinlich nicht. Sie haben die Presse ja gleichgeschaltet…« Und dabei lachte er, als habe er einen Witz gemacht.
»Ganz genau«, nickte ich. Dann ertönte der »Walkürenritt«.
Fräulein Krömeier hatte mir das eingerichtet. Nachdem wir diese ganzen Computer in Betrieb genommen hatten, war ihr aufgefallen, dass man mir auch eines jener tragbaren Telefone besorgt hatte. Es war jenes Gerät eine unglaubliche Angelegenheit, mit der man obendrein ebenfalls in diesem Internetz herumfahren konnte, und das sogar noch einfacher als mit dem Mausgerät: Man steuerte es einfach mit den Fingern. Ich ahnte sofort, dass ich hier schöpferische arische Genialität in Händen hielt, und natürlich ließ sich mit wenigen Handgriffen herausfinden, dass die Marktreife jener Technik bei der hervorragenden Firma Siemens entwickelt worden war. Diese Handgriffe musste freilich Fräulein Krömeier durchführen, die Leseanzeige war ohne Brille nicht zu entziffern. Ich wollte im Anschlusse das ganze Telefon ihr überantworten, letzten Endes darf sich der Führer nicht mit zu viel Krimskrams befassen, dafür gibt es schließlich ein Sekretariat. Andererseits erinnerte sie mich nicht zu Unrecht daran, dass ich ihrer Tätigkeiten nur halbtags gewiss war. Ich tadelte mich daraufhin auch im Stillen, ich war zu abhängig von meinem Parteiapparat geworden. Ich stand eben wieder am Anfang, da musste ich wohl oder übel auch einmal selbst an den Apparat.
»Wolln Se ’nen bestimmten Klingelton?«, hatte Fräulein Krömeier gefragt.
»Ich doch nicht«, hatte ich spottend erwidert, »ich arbeite doch nicht in einem Großraumbüro!«
»Na ja, denn mache ick halt den normalen rein.«
Daraufhin hörte man ein Geräusch, das klang, als spielte ein betrunkener Clown Xylophon. Wieder und wieder.
»Was ist denn das?«, fragte ich entsetzt.
»Det is Ihr Telefon«, sagte Fräulein Krömeier und fügte hinzu: »meen Führa!«
»Und das klingt so?«
»Nur, wenn et klingelt.«
»Machen Sie das aus! Ich will nicht, dass die Leute mich für einen Idioten halten!«
»Drum hab ick Se ja jefragt«, sagte Fräulein Krömeier. »Is Ihnen der hier lieber?«
Man hörte mehr Clowns mit unterschiedlichsten Instrumenten.
»Das ist ja entsetzlich«, stöhnte ich.
»Aber is Ihnen nich ejal, wat die Leute von Ihnen halten?«
»Mein liebes Fräulein Krömeier«, sagte ich, »ich persönlich halte die kurze Lederhose für die männlichste Hose, die es gibt. Und wenn ich eines Tages wieder Oberbefehlshaber der Wehrmacht bin, werde ich eine ganze Division mit diesen kurzen Hosen ausrüsten. Und mit Wollstrümpfen.«
An dieser Stelle machte Fräulein Krömeier ein eigenwilliges Geräusch und begann sofort, sich die Nase zu putzen.
»Schon gut«, fuhr ich fort, »Sie kommen nicht aus Süddeutschland, Sie können das nicht verstehen. Doch wenn diese Division erst steht, wenn sie paradiert, dann wird man es sehen, dass all diese Witzeleien über die Seppelhose nichtig sind. Aber, und hier kommen wir zum eigentlichen Punkte: Ich habe auf dem Wege zur Macht erkennen müssen, dass man in dieser Hose als Politiker von den Wirtschaftsführern, von den Staatsmännern nicht ernst genommen wird. Ich habe weniges so bedauert, aber ich habe die kurze Wichs aufgeben müssen, und ich habe es getan, weil es meiner Sache und damit der Sache des Volkes dient. Und ich sage Ihnen: Ich habe diese wunderbaren Hosen nicht aufgegeben, damit mir ein Telefonapparat dieses Opfer zunichtemacht und mich dastehen lässt wie einen vollendeten Suppenkasper! Also holen Sie aus diesem Gerät endlich einen vernünftigen Klang.«
»Drum hab ich Se doch jefragt«, schniefte Fräulein Krömeier und legte das Taschentuch weg. »Ick kann det Ding klingeln lassen wie ’n janz normalet Telefon. Ich kann aber ooch jeden anderen Klang herbekommen. Sätze, Jeräusche, ooch Musik…«
»Auch Musik?«
»Wenn ick se nich selber spielen muss. Also, uff ’ner Schallplatte sollte se schon sein!«
Nun, und dann hatte sie mir den »Walkürenritt« eingestellt.
»Gut, nicht wahr?«, fragte ich den Zeitungskrämer und hob souverän den Apparat an mein Ohr. »Hitler hier!«
Ich hörte nichts außer weiteren reitenden Walküren.
»Hitler!«, sagte ich, »hier Hitler!« Und als die Walküren weiterritten, wechselte ich zu »Führerhauptquartier!« Für den Fall, dass der Anrufer zu überrascht war, dass er mich gleich selbst am Apparate hatte. Nichts geschah, nur die Walküren wurden lauter. Es tat inzwischen im Ohr regelrecht weh.
»HITLER HIER!«, schrie ich, »HIER FÜHRERHAUPTQUARTIER!« Ich kam mir vor wie 1915 an der Westfront.
»Bitte drücken Sie auf den grünen Knopf«, rief der Zeitungskrämer mit einem wehleidigen Unterton, »ich hasse Wagner.«
»Welcher grüne Knopf?«
»Na, das Ding auf Ihrem Telefon«, schrie er, »Sie müssen’s nach rechts schieben.«
Ich blickte auf den Apparat. Tatsächlich war hier ein grüner Schieber abgebildet. Ich schob ihn nach rechts, die Walküren verstummten, und ich schrie: »HITLER HIER! FÜHRERHAUPTQUARTIER!«
Nichts geschah, außer dass der Zeitungskrämer mit den Augen rollend meine Hand samt dem Apparat nahm und sie mit sanftem Druck an mein Ohr führte.
»Herr Hitler?«, hörte ich den Hotelreservierer Sawatzki, »hallo? Herr Hitler!«
»Jawohl«, sagte ich, »Hitler hier!«
»Ich versuche schon die ganze Zeit, Sie zu erreichen. Ich soll Ihnen von Frau Bellini ausrichten: Die Firma ist sehr zufrieden!«
»Nun ja«, sagte ich, »das ist schön. Ich selbst hatte mir allerdings etwas mehr erwartet.«
»Mehr?«, fragte Sawatzki irritiert, »noch mehr?«
»Mein lieber Herr Sawatzki«, sagte ich beschwichtigend, »drei Zeitungsartikel sind ganz gut und schön, aber wir haben schließlich andere Ziele…«
»Zeitungsartikel«, krähte Sawatzki, »wer redet von Zeitungsartikeln? Sie sind bei Youtube gelandet. Und Sie kriegen Klicks ohne Ende!« Dann senkte er seine Stimme und meinte: »Unter uns – es gab hier direkt nach der Sendung einige Stimmen, die Sie fallen lassen wollten. Ich nenne keine Namen. Aber jetzt… Schauen Sie sich das an! Die Jugend liebt Sie.«
»Die Jugend empfindet eben noch unverfälscht«, sagte ich.
»Und deswegen müssen wir sofort neue Sachen produzieren«, rief Sawatzki aufgeregt. »Ihr Anteil wird ausgedehnt. Es sind jetzt auch kleine Einspieler vorgesehen! Sie müssen sofort ins Büro kommen! Wo sind Sie?«
»Im Kiosk«, sagte ich.
»Gut«, sagte Sawatzki, »bleiben Sie da, ein Taxi ist unterwegs!« Dann legte er auf.
»Und«, fragte der Zeitungskrämer, »gute Nachrichten?«
Ich hielt ihm meinen Telefonapparat hin. »Kommen Sie damit zu einer Angelegenheit namens Jutjuub?«