xxxv.

Tatsächlich ging mir der Gedanke an eine Anzeige doch kurz durch den Kopf, aber ich verwarf ihn so entschlossen wie unwiderruflich. Es widersprach all meinen Prinzipien. Der Führer passt nicht in eine Opferrolle. Er ist nicht von der Fürsprache oder Fürsorge so jämmerlicher Gestalten wie Staatsanwälten oder Polizeibeamten abhängig, er versteckt sich nicht hinter ihnen, er nimmt das Recht in die eigene Faust. Oder gibt es vielmehr in die glühenden Hände der SS, und die nimmt es dann in ihre vielen Fäuste. Wenn ich eine SS gehabt hätte, dann hätte ich dafür gesorgt, dass diese obskure »Parteizentrale« noch in der folgenden Nacht in Flammen stehen würde und jedes ihrer feigen Mitglieder innerhalb einer Woche in seinem eigenen Blute über die wahrhaftigen Prinzipien völkischen Denkens nachgrübeln konnte. Aber von wem konnte ich derlei in dieser friedfertigen, gewaltentwöhnten Zeit verlangen? Sawatzki war schlagfertig, aber nicht schlagkräftig, ein Arbeiter der Stirne, nicht der Faust. So blieb mir nur die Vertagung des Problems auf unbestimmte Zeit und die Aufgabe, durch die eine oder andere Verlegung innerhalb der Sanitätsräumlichkeiten dafür Sorge zu tragen, dass keine Fotoreporter zu mir durchdrangen, die unvorteilhafte Bilder anfertigten. Dennoch war die Tatsache des Zwischenfalles an sich nicht zu verheimlichen, und schon nach wenigen Tagen konnte man in den Zeitungen darüber lesen, dass ich ein Opfer »rechtsradikaler Gewalt« geworden war – es war freilich der gewöhnliche inkompetente Zeitungsunfug, diese dummbeuteligen Wachsfiguren auch noch unverdientermaßen als »rechtsradikal« zu adeln. Dennoch gibt es nichts, was nicht wenigstens zu irgendetwas gut wäre. Innerhalb weniger Tage, fast Stunden, hatte ich daraufhin etliche erstaunliche Telefonate mit Menschen, denen Fräulein Krömeier auf Anregung und mit dem Segen des Herrn Sawatzki die Nummer meines mobilen Telefonapparates gegeben hatte.

Das erste Gespräch, das nicht aus Besserungswünschen von Firmenmitarbeitern bestand, führte ich mit Frau Künast, die mir »von Herzen gute Besserung« wünschte, sich nach meinem Wohlergehen erkundigte und wissen wollte, ob ich eigentlich in irgendeiner Partei sei.

»Jawohl«, sagte ich, »in meiner eigenen.«

Künast lachte und meinte, die NSDAP sei ja nun doch wenigstens vorübergehend in einer Art Dämmerschlaf oder Ruhezustand, und bis sie wieder erwache, solle ich doch einmal überlegen, ob mir, der ich offenbar als Künstler mit Leib und Leben gegen rechte Gewalt einträte, die grüne Partei nicht eine Heimat bieten könnte, »wenigstens für eine gewisse Zeit«, wie sie nochmals lachend anbot.

Ich nahm den Anruf kopfschüttelnd zur Kenntnis und hätte ihn wohl als eine weitere wunderliche Ausgeburt parlamentarisch-demokratischer Träumereien bald vergessen, wäre nicht schon am folgenden Tage noch ein Anruf gekommen, der jenem nicht wenig ähnelte. Ich hatte einen Herrn am Apparat, der, wie ich mich dunkel erinnerte, entweder gerade eine Lehrstelle als Gesundheitsminister absolvierte oder absolviert hatte. Der Name ist mir auch nach längerem Nachdenken nicht wieder eingefallen, ich habe es bei dieser Partei inzwischen ohnehin endgültig aufgegeben zu versuchen, den Überblick zu behalten. Es wird ja auf den zuständigen Sendeplätzen häufig kolportiert, der einzig verbliebene ältere Herr der Verbindung sei ein hemmungsloser Trunkenbold. Ich glaube, man tut dem Manne unrecht, und gehe eher davon aus, dass es schier unmöglich ist, in diesem bizarren Ringelreihen auch nur eine Stunde mitzutun, ohne wie volltrunken zu wirken.

Der Gesundheitslehrling sagte mir, wie leid ihm dieser Übergriff tue, gerade jemand wie ich, der eine Lanze bräche für die weiteste und breiteste Meinungs- und Redefreiheit, habe in dieser schweren Zeit jegliche Unterstützung nötig. Ich kam kaum dazu zu betonen, dass bekanntlich der Starke am mächtigsten alleine sei, denn schon insistierte der Lehrling, er werde alles tun, um eine rasche Rückkehr von mir auf den Fernsehschirm zu ermöglichen, und für einen Moment fürchtete ich, er würde meine Behandlung selbst in die notorisch weichfingrig-inkompetente Hand nehmen. Stattdessen befragte er mich wie beiläufig nach meiner Parteizugehörigkeit, und ich antwortete ihm wahrheitsgemäß.

Der Lehrling lachte knabenhaft hell. Dann sagte er mir, ich sei köstlich, und nachdem die NSDAP ja derzeit auf dem Friedhof der Geschichte ruhe, könne er sich gut vorstellen, dass vielleicht die FDP für mich zu einer neuen politischen Heimat werden könne. Ich sagte ihm, dass er und seine Kollegen endlich aufhören sollten, meine Partei zu beleidigen, und dass ich keinerlei wie immer geartetes Interesse an seiner Ansammlung liberaler Politmaden hätte. Der Lehrling lachte erneut, sagte, dass ich ihm solcherart gefalle und schon bald ganz der Alte wäre, und versprach abschließend ungefragt, mir einen Aufnahmeantrag zukommen zu lassen. Das Telefon, so dachte ich in diesem Moment, ist einfach nicht das richtige Mittel der Verständigung für Leute ohne Ohren. Und ich hatte es kaum aus der Hand gelegt, als es erneut läutete.

Es stellte sich heraus, dass der Gesundheitslehrling und die grüne Künast keineswegs die Einzigen waren, die beschlossen hatten, aus meinem entschlossen erbrachten Blutzoll herauszulesen, was ihnen gerade beliebte. Gleich mehrere Anrufer diverser Parteien beglückwünschten mich zu meinem entschiedenen Eintreten für Gewaltfreiheit, das ihrer Beobachtung nach in meinem demonstrativen Verzicht auf Selbstverteidigung bestanden hatte, darunter befand sich auch die einzige Gruppierung, der ich vom Namen her Sympathie entgegenbringen konnte: Mit diesem Herrn von der Tierschutzpartei hatte ich ein sehr angenehmes Gespräch, im Verlauf dessen er mich dankenswerterweise auf einige unglaubliche Grausamkeiten gegen rumänische Straßenhunde aufmerksam machte. Ich beschloss, den empörenden Vorgängen in diesem Lande in näherer Zukunft besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Allerdings ließen sich die jüngsten Ereignisse in den Augen jener »professionellen« Politiker auch ganz anders interpretieren. Die »Bürgerrechtsbewegung Solidarität« erklärte mich zum Leidensgenossen des irgendwie verfolgten Parteigründers Larouche, eine seltsame Ausländerpartei namens BIG versicherte mir, dass in einem Lande, in dem man Ausländer nicht verprügeln dürfe, selbstverständlich auch Deutsche nicht verprügelt werden dürften, woraufhin ich sofort mit Nachdruck entgegnete, dass ich in einem solchen Lande nicht leben wollte, in dem man Ausländer nicht mehr verprügeln dürfe. Daraufhin wurde am anderen Ende der Leitung wieder einmal unverständlicherweise herzlich gelacht. Bei noch anderen galt ich nicht als Symbol für Meinungsfreiheit, sondern dagegen, jedenfalls gegen die falschen Meinungen, ich wurde nicht nur als Kämpfer gegen Gewalt gedeutet, sondern auch mehrfach als Kämpfer dafür (CSU, zwei Schützenvereine, ein Hersteller für Handfeuerwaffen) und einmal als Opfer von Gewalt gegen Senioren (Familienpartei). Mit besonderem Dilettantismus glänzte ein Aufruf der Piratenpartei, die in meinem Verhalten und insbesondere meinem Verzichte auf eine Anzeige einen Protest gegen den Überwachungsstaat und eine besondere Staatsferne und die »totale Piratendenke« erkannt zu haben glaubte. Der Wahrheit am nächsten kam noch eine Gruppierung namens »Die Violetten«, die in mir den Zeugen einer Welt jenseits des Nur-Materialistischen sehen wollte, der »seine Wiederkehr unter dem Banner der vollkommenen Friedfertigkeit mit allergrößter Duldsamkeit den härtesten Prüfungen unterworfen« hätte. Ich lachte derart dauerhaft, dass ich wegen meiner Rippen um mehr Schmerzmittel bitten musste.

Aus dem Büro brachte mir Fräulein Krömeier weitere Post. Auch sie war mehrfach angerufen worden, es handelte sich im Wesentlichen um andere Personen derselben Parteien und Gruppen, neu waren die Meldungen diverser Kommunistenverbände, die Begründung dafür ist mir zwischenzeitlich entfallen, sie wird wohl letztlich nicht zu weit entfernt gewesen sein von jener Stalins für seinen Pakt mit uns 1939. Allen diesen Anrufern und Skribenten war gemein, dass sie mich zur Mitgliedschaft in ihrem Verbunde zu überreden gedachten. Tatsächlich gab es nur zwei Parteien, die sich nicht meldeten. Naivlinge hätten dahinter vermutlich Desinteresse gewittert, aber ich wusste es besser. Weshalb ich nach einem weiteren halben Tage, als eine mir unbekannte Berliner Nummer auf dem Telefon aufleuchtete, aufs Geratewohl hineinrief:

»Hallo? Ist da die SPD?«

»Äh, ja – spreche ich mit Herrn Hitler?«, sagte eine Stimme am anderen Ende.

»Aber ja«, rief ich, »ich habe schon auf Sie gewartet!«

»Auf mich?«

»Nicht speziell. Aber auf jemanden von der SPD. Wer spricht denn?«

»Gabriel, Sigmar Gabriel. Das ist ja wunderbar, dass Sie schon wieder so gut telefonieren können, ich habe die schlimmsten Dinge gehört und gelesen. Das klingt ja schon wieder richtig gut.«

»Das liegt nur an Ihrem Anruf.«

»Oh! Weil er Sie so freut?«

»Nein, weil er so spät kommt. In der Zeit, die vergeht, bis der deutschen Sozialdemokratie mal eine Idee kommt, könnte man auch zwei schwere Tuberkulosen ausheilen.«

»Haha«, machte Gabriel, und es klang erstaunlich natürlich. »Da haben Sie manchmal nicht unrecht. Sehen Sie, und gerade deshalb rufe ich an…«

»Ich weiß. Weil meine Partei gerade im Ruhezustand ist.«

»Welche Partei?«

»Sie enttäuschen mich, Gabriel! Wie heißt meine Partei?«

»Äh…«

»Na!«

»Sie müssen entschuldigen, ich glaube, ich stehe gerade etwas auf der Leitung…«

»N.S.D.A.…?«

»P?«

»P. Genau. Die ruht gerade. Und Sie wollen wissen, ob ich zufällig derzeit eine neue Heimat suche. In Ihrer Partei!«

»In der Tat hatte ich so etwas…«

»Schicken Sie Ihre Papiere ruhig in mein Büro«, plauderte ich.

»Sagen Sie, haben Sie gerade Schmerzmittel genommen? Oder einige Schlaftabletten zu viel?«

»Nein«, sagte ich und war schon drauf und dran hinzuzufügen, es habe aber gerade eine angerufen. Dann fiel mir ein, dass Gabriel möglicherweise recht hatte. Man weiß ja nie, was die Mediziner über diese Schlauchbeutel so alles verabreichen. Und mir fiel ein, dass diese SPD in ihrer gegenwärtigen Form nun wirklich keine Partei mehr war, die man hätte in ein Konzentrationslager sperren müssen. In ihrer Tranigkeit mochte sie gar noch zu mancherlei brauchbar sein. Also verwies ich sofort auf eine gewisse Medikamenteneinnahme und verabschiedete mich dann letztlich doch recht freundlich.

Ich lehnte mich in mein Kissen zurück und überlegte, wer wohl als Nächstes anrufen würde. Es fehlte eigentlich nur noch das Telefonat mit dem Kanzlerinnenwahlverein. Wer kam dafür wohl infrage? Die klumpige Matrone selbst schied natürlich aus. Aber diese Arbeitsministerin hätte mich gefreut. Ich hätte gerne gewusst, wieso sie die Fortpflanzung eingestellt hatte, nur ein Kind vom Mutterkreuz in Gold entfernt. Jener Guttenberg wäre auch interessant gewesen, ein Mann, der – obwohl dem jahrhundertetiefen Sumpfe adligen Inzests entstiegen – in großen Zusammenhängen zu denken vermochte, ohne sich dauernd mit kleinlich-professoralen Einwänden aufzuhalten. Aber dessen Blütezeit in der Politik schien mir überschritten. Wer blieb? Das ökologische Brillenbürschlein? Die Null von Fraktionschef? Der bemüht biedere Finanzschwabe im Rollstuhl?

Tatsächlich galoppierten nun schon wieder die Walküren. Die Nummer war mir unbekannt, die Vorwahl stammte jedoch aus Berlin. Ich entschied mich für den Windbeutel.

»Guten Tag, Herr Pofalla«, sagte ich.

»Wie bitte?« Das war unbestreitbar die Stimme einer Dame. Ich schätzte sie älter ein, vielleicht Mitte fünfzig.

»Verzeihung – wer spricht?«

»Golz ist mein Name, Beate Golz«, und sie nannte den Namen eines recht bekannten deutschstämmigen Verlags. »Und mit wem spreche ich?«

»Hitler«, sagte ich und räusperte mich, »entschuldigen Sie, ich hatte jemand anderes erwartet.«

»Rufe ich ungelegen an? Ihr Büro sagte mir, ich könnte nachmittags problemlos…«

»Nein, nein«, wehrte ich ab, »das ist schon in Ordnung. Bitte nur keine Fragen mehr nach meinem Wohlbefinden.«

»Geht’s Ihnen noch so schlecht?«

»Nein, aber dennoch – man kommt sich schon vor wie die reinste Schellackplatte.«

»Herr Hitler… ich rufe an, weil ich Sie fragen möchte, ob Sie nicht ein Buch schreiben wollen?«

»Das habe ich schon«, sagte ich, »sogar zwei.«

»Ich weiß. Über zehn Millionen Exemplare. Wir sind sehr beeindruckt. Aber jemand mit diesem Potenzial darf doch nicht achtzig Jahre Pause machen.«

»Ja, sehen Sie, das lag nicht so ganz in meiner Hand…«

»Sie haben natürlich recht, ich verstehe schon, dass man nicht so gut zum Schreiben kommt, wenn einem der Russe über den Bunker rollt…«

»In der Tat«, sagte ich. Ich selbst hätte es kaum anders ausdrücken können. Ich war angenehm überrascht vom offenkundigen Einfühlungsvermögen jener Frau Golz.

»Aber jetzt ist der Russe ja wieder weg. Und sosehr wir alle Ihre wöchentliche Bilanz im Fernsehen genießen – ich denke, es ist an der Zeit, dass der Führer wieder einmal ein umfassendes Zeugnis seiner Weltsicht darlegt. Oder – bevor ich mich hier völlig zum Idioten mache – haben Sie längst anderweitige Verpflichtungen?«

»Nun, ich veröffentliche üblicherweise im Franz-Eher-Verlag«, sagte ich, aber dann fiel mir ein, dass der sich wohl momentan ebenfalls im Ruhezustand befand.

»Ich nehme an, Sie haben schon länger von Ihrem Verlag nichts mehr gehört, oder?«

»Das stimmt eigentlich«, sinnierte ich, »ich frage mich, wer in diesem Moment meine Tantiemen kassiert.«

»Das Land Bayern, wenn ich richtig informiert bin«, sagte Frau Golz.

»Frechheit!«

»Sie können natürlich klagen, aber Sie wissen ja, wie das bei Gerichten ist…«

»Wem sagen Sie das!«

»Ich würde mich allerdings freuen, wenn Sie stattdessen den etwas einfacheren Weg gehen würden.«

»Und der sähe wie aus?«

»Sie schreiben ein neues Buch. In einer neuen Welt. Wir würden es gerne verlegen. Und weil wir hier unter Profis reden, kann ich Ihnen Folgendes anbieten.« Dann nannte sie neben diversen Werbemaßnahmen größeren Umfanges auch eine Vorschusszahlung in einer Höhe, die mir sogar in diesem fragwürdigen Eurogeld eine beträchtliche Anerkennung entlockte – was ich aber selbstverständlich vorerst für mich behielt. Zudem dürfte ich mir die Mitarbeiter frei aussuchen, auch deren Honorare würde der Verlag übernehmen.

»Unsere einzige Bedingung: Es muss die Wahrheit drinstehen.«

Ich rollte mit den Augen. »Sie wollen wohl auch wissen, wie ich heiße.«

»Nein, nein, Sie heißen selbstverständlich Adolf Hitler. Welchen Namen sollen wir denn sonst auf so ein Buch drucken? Moische Halbgewachs?«

Ich lachte. »Oder Schmul Rosenzweig. Sie gefallen mir.«

»Was ich meine ist: Wir wollen kein Comedy-Buch. Ich nehme an, das ist auch in Ihrem Sinne. Der Führer macht keine Witze, nicht wahr?«

Es war erstaunlich, wie simpel alles mit dieser Dame war. Sie wusste einfach, wovon sie redete. Und mit wem.

»Werden Sie drüber nachdenken?«, fragte sie.

»Lassen Sie mir etwas Zeit«, sagte ich, »ich werde mich melden.«

Ich wartete exakt fünf Minuten. Dann rief ich sie zurück. Ich forderte eine beträchtlich höhere Summe. Im Nachhinein muss ich annehmen, dass sie damit gerechnet hatte.

»Na denn: Sieg Heil«, sagte sie.

»Darf ich das als Zusage verstehen?«, hakte ich nach.

»Sie dürfen«, lachte sie.

Ich antwortete: »Sie auch!«

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