GALÂPAGOS-INSELN 8. JUNI
Der Hubschrauber schien immer weiter nach Westen über das kobaltblaue, uferlose Wasser zu fliegen, auf das der Sonnenuntergang rote Flecken malte. Die Nacht hetzte sie über den unendlichen Pazifik. Wie ein kleines Kind hoffte Ali, sie könnten der Dunkelheit davonfliegen.
Die Inseln waren auf einer Strecke von mehreren Kilometern von Gerüsten, Plattformen und Aufbauten überzogen, die an manchen Stellen bis zu zehn Stockwerke aufragten. Ali hatte formlose Lavahaufen erwartet und sah sich jetzt mit einer rigiden Geometrie konfrontiert. Das Nazca-Depot, das seinen Namen von der tektonischen Platte herleitete, mit der es in Verbindung stand, war nichts anderes als ein gigantisches, auf Pylonen verankertes Parkhaus. Längsseits lagen Supertanker im Wasser, die Mäuler weit aufgesperrt, in denen auf Fließbändern kleine Berge Roherz verschwanden. Lastwagen karrten Container von einer Ebene zur anderen.
Der Hubschrauber schwebte zwischen skeletthaften Türmen hindurch und landete nur kurz, um Ali auszuspucken. Bei dem stechenden Geruch der zu Nebelschwaden verwirbelten Gase zuckte Ali zusammen. Sie war gewarnt worden. Das Nazca-Depot war eine reine Arbeitszone. Es gab Baracken für die Arbeitskräfte, aber keine Aufenthaltsräume für Durchreisende, nicht einmal Feldbetten oder einen Cola-Automaten. Zufällig tauchte zwischen den Fahrzeugen und in all dem Krach ein Mann zu Fuß auf. »Entschuldigung!«, schrie Ali durch den Hubschrauberlärm. »Wie komme ich zur Nine-Bay?«
Der Blick des Mannes glitt an ihren langen Armen und Beinen hinab, dann zeigte er lustlos in eine Richtung. Sie duckte sich unter den Trägern und Dieselausdünstungen hindurch, kletterte drei Treppen zu einem Lastenaufzug hinunter, dessen Türen sich wie ein Maul öffneten und schlossen. Ein Witzbold hatte LASCIATE OGNI SPERANZA, VOI CH’ENTRATE über das Tor geschrieben, Dantes Willkommensgruß am Eingang zur Hölle.
Ali verließ den Käfig auf einer Plattform, wo hunderte von Leuten, meistens Männer, in die gleiche Richtung drängten. Obwohl eine frische Meeresbrise über das Deck wehte, roch es unangenehm nach ihren Körperausdünstungen. In Israel, Äthiopien und im afrikanischen Busch war sie oft genug inmitten von Soldaten und Arbeitern gereist: Sie rochen überall gleich. Es war der Geruch der Aggression.
Dröhnende Lautsprecherstimmen ermahnten die Neuankömmlinge, sich in einer Reihe aufzustellen, Tickets vorzuzeigen und Ausweise bereitzuhalten. »Geladene Waffen sind nicht erlaubt. Zuwiderhandelnde werden entwaffnet und ihre Waffen eingezogen.« Von Arrest oder Bestrafung war keine Rede. Anscheinend war es Strafe genug, die Ertappten ohne Artillerie nach unten zu schicken.
Die Meute schob Ali an einem fünfzehn Meter langen schwarzen Brett vorbei. Es war alphabetisch in A-G, H-P und Q-Z eingeteilt. Tausende von Nachrichten waren hier angeheftet: Ausrüstung zu verkaufen, Dienstleistungen, Termine und Örtlichkeiten für Verabredungen, E-Mail-Adressen, Verwünschungen. HINWEIS FÜR REISENDE verkündete warnend ein Plakat des Roten Kreuzes. SCHWANGEREN WIRD VON EINEM ABSTIEG DRINGEND ABGERATEN. GESUNDHEITLICHE SCHÄDEN KÖNNEN ...
Ein anderer Anschlag des Gesundheitsministeriums listete eine Hitparade der zwanzig beliebtesten Tiefendrogen mitsamt ihren Nebenwirkungen auf. Ali war nicht sehr erfreut darüber, dass sie auch zwei der Drogen in ihrer Ausrüstung wieder fand. Die vorangegangenen sechs Wochen waren ein einziger Wust an Vorbereitungen inklusive Schutzimpfungen und Genehmigungen von Helios sowie körperlichen Trainings gewesen, der ihr keine Stunde Freizeit gelassen hatte. Tag für Tag hatte sie gelernt, wie wenig der Mensch wirklich vom Leben im Subplaneten wusste.
»Deklarieren Sie alle mitgeführten explosiven Stoffe«, plärrte der Lautsprecher. »Explosive Stoffe müssen deutlich gekennzeichnet und im Tunnel K nach unten transportiert werden. Zuwiderhandlungen werden ...«
Die Schlange bewegte sich peristaltisch vorwärts, streckte sich und zog sich wieder zusammen. Im Gegensatz zu Alis Rucksack tendierte das Gepäck hier eher zu Metallkoffern und zentnerschweren Seesäcken mit schusssicheren Vorhängeschlössern. Noch nie in ihrem Leben hatte Ali so viele Gewehrfutterale gesehen. Es sah aus wie bei einem Treffen von Warlords, bei dem sich die Teilnehmer sämtliche Spielarten von Tarn- und Schutzkleidung, Patronengurten und Pistolenhalftern vorführten. Starke Körperbehaarung und Stiernacken waren oberstes Gebot. Ali war froh, dass es so viele waren, denn einige der Männer machten ihr allein mit ihren Blicken Angst.
In Wahrheit machte sie sich selbst Angst. Sie war völlig aus der Bahn geworfen. Selbstverständlich hatte sie diese Reise aus freiem Willen angetreten, und wenn sie aussteigen wollte, musste sie lediglich stehen bleiben.
Aber etwas nahm hier seinen Anfang.
Auf dem Weg durch die Sicherheitskontrolle sowie die Pass- und Fahrkartenkontrolle näherte sich Ali einer großen Öffnung aus schimmerndem Stahl. Fest in das solide schwarze Gestein eingepasst, sah das gewaltige Tor aus Stahl, Titan und Platin unverrückbar aus. Es war einer der fünf Fahrstuhlschächte, der das Nazca-Depot mit den oberen Regionen des Erdinneren, drei Kilometer unter ihnen, verband. Die Anlage des gesamten Komplexes aus Tunneln und Entlüftungsschächten hatte über vier Milliarden Dollar gekostet. Und mehrere hundert Menschenleben. Betrachtete man sie als öffentliches Verkehrssystem, unterschied sie sich kaum von einem modernen Flughafen oder dem amerikanischen Eisenbahnsystem vor einhundertfünfzig Jahren. Sein Sinn und Zweck bestand darin, für die kommenden Jahrzehnte der Kolonisierung Tür und Tor zu öffnen.
Notgedrungen wurde das Gedrängel der Soldaten, Siedler, Arbeiter, Ausreißer, Sträflinge, Almosenempfänger, Drogensüchtigen, Fanatiker und Traumtänzer allmählich zivilisierter, beinahe manierlich. Endlich hatten sie kapiert, dass es hier Platz für alle gab. Ali ging auf eine Reihe rostfreier Stahltüren zu. Drei waren bereits geschlossen. Als sie näher kam, schloss sich langsam eine vierte. Der Rest stand offen. Ali hielt auf den entferntesten, am wenigsten umlagerten Eingang zu. Die Kammer dahinter war wie ein kleines Amphitheater, mit konzentrischen Reihen aus Plastiksitzen, die sich bis zu einem leeren Mittelpunkt senkten. Es war dunkel und kühl, eine Wohltat nach dem Gedränge der verschwitzten Körper draußen. Sie ging auf die andere Seite, gegenüber der Tür. Nach einer Minute hatten sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt, und sie suchte sich einen Platz aus. Mit Ausnahme eines Mannes am Ende der Sitzreihe war sie nun für kurze Zeit allein. Ali stellte ihr Gepäck auf den Boden, atmete tief ein und genoss das Gefühl der sich entspannenden Muskeln.
Der Sitz war ergonomisch geformt, mit einer geschwungenen Lehne und einem Gurt, der sich über der Brust schließen ließ. Zu jedem Sitz gehörten ein Klapptisch, ein tiefer Behälter für persönliches Hab und Gut sowie eine Sauerstoffmaske. In die Rückenlehne jedes Sitzes war ein LCD-Bildschirm eingebaut. Er zeigte einen Höhenmesser mit dem Eintrag »0000 Meter« an. Die Uhr wechselte zwischen der tatsächlichen Uhrzeit und ihrer Abfahrtszeit in Minusminuten. Der Fahrstuhl sollte in 24 Minuten abfahren.
Jetzt erst bemerkte sie ihren Nachbarn. Er saß nur wenige Plätze von ihr entfernt, aber in dem gedämpften Licht konnte sie seine Silhouette kaum erkennen. Er sah sie nicht an, doch Ali spürte instinktiv, dass sie beobachtet wurde. Er hatte das Gesicht nach vorne gerichtet und trug eine dunkle Brille, fast so eine, wie man sie beim Schweißen benutzte. Also war er ein Arbeiter, entschied sie. Bis sie seine Tarnhosen sah. Dann also ein Soldat, korrigierte sie sich. Ihr fiel auf, dass der Mann die Nase witternd in die Luft hielt. Er roch sie.
Er drehte den Kopf etwas und sah sie an. Die Brille war so dunkel und die Gläser so verkratzt, dass sie sich fragte, ob er damit überhaupt etwas sah. Einen Moment später entdeckte Ali die Muster in seinem Gesicht. Sogar im Dämmerlicht erkannte sie, dass die Tätowierungen nicht einfach mit Tinte in die Haut geritzt waren. Wer auch immer ihn verziert hatte, war mit einem Messer vorgegangen. Seine großen Wangenknochen waren eingekerbt und vernarbt. Diese offenkundige Brutalität versetzte ihr einen Schlag.
»Darf ich?«, fragte er und rückte näher heran. Um besser riechen zu können? Ali sah rasch zur Tür hinüber, durch die immer mehr Passagiere hereinmarschiert kamen.
»Was wollen Sie?«, fuhr sie ihn an. Unglaublich, aber die Brille war auf ihre Brust gerichtet. Um besser sehen zu können, beugte er sich sogar nach vorne. Er schien zu blinzeln, abzuwägen.
»Was tun Sie da?«, zischte sie.
»Es ist schon eine Weile her«, sagte er. »Früher kannte ich solche Dinger ...«
Seine Unverfrorenheit verblüffte sie. Wenn er noch einen Zentimeter näher kam, würde sie ihn ohrfeigen.
»Was sind das für welche?« Er zeigte direkt auf Alis Brüste.
»Sind Sie noch ganz dicht?«, flüsterte Ali.
Er reagierte nicht darauf. Als hätte er sie überhaupt nicht gehört.
»Glockenblumen?«, fragte er und wackelte unsicher mit der Fingerspitze.
Ali seufzte erleichtert. Der Kerl betrachtete ihr Kleid.
»Immergrün«, sagte sie und sah ihn misstrauisch an. Sein Gesicht war monströs.
»Genau, so heißen sie«, murmelte der Mann vor sich hin, ging zu seinem Sitz zurück und richtete das Gesicht wieder nach vorne.
Ali fiel ein, dass sie einen Pullover im Rucksack hatte und zog ihn an. Jetzt füllte sich die Kammer rasch. Mehrere Männer besetzten die Sitze zwischen Ali und dem seltsamen Fremden. Als keine Plätze mehr frei waren, schlossen sich die Türen mit einem leisen schmatzenden Geräusch. Das LCD zeigte noch sieben Minuten an.
In der Kammer hielt sich keine andere Frau und auch kein Kind auf. Ali war froh um ihren Pullover. Einige Männer hyperventilierten und starrten mit großen Augen zur Tür. Andere ballten die Fäuste, einige klappten tragbare Computer auf, lösten Kreuzworträtsel oder drängten sich Schulter an Schulter aneinander, um zu tuscheln.
Der Mann links von ihr hatte das Tablett aus dem Vordersitz herausgeklappt und legte in aller Ruhe zwei Plastikspritzen darauf. Die Nadel der einen war von einer babyblauen Kappe geschützt, die der anderen von einer rosafarbenen. Er hielt die babyblaue Spritze hoch, damit Ali sie besser sehen konnte. »Syloban«, sagte er. »Betäubt die Zäpfchen der Netzhaut und vergrößert die Stäbchen. Mit anderen Worten: Man wird hyperlichtempfindlich. Nachtsicht. Das einzige Problem besteht darin, dass man es nicht mehr absetzen darf. Da oben gibt es viele Soldaten mit grauem Star. Haben nicht regelmäßig weitergemacht.«
»Und was ist in der anderen?«, erkundigte sie sich.
»Bro«, sagte er. »Russische Steroide. Zur Akklimatisierung. Damit haben die Russen ihre Soldaten in Afghanistan gedopt. Kann nicht schaden, stimmt’ s?« Er streckte ihr eine weiße Pille entgegen.
»Und dieser kleine Engel hilft mir beim Schlafen.«
Er schluckte sie hinunter.
Plötzlich befiel sie Traurigkeit, und mit einem Mal wusste sie warum. Die Sonne! Sie hatte vergessen, noch einen letzten Blick auf die Sonne zu werfen. Jetzt war es zu spät.
Ali spürte einen leichten Stoß an ihrer rechten Seite.
»Hier, das ist für Sie«, raunte ein schmächtiger Mann und bot ihr eine Orange an. Ali nahm das Geschenk mit zögerlichem Dank entgegen.
»Danken Sie dem Kerl da drüben.« Er zeigte mit dem Finger auf den Fremden mit den Tätowierungen. Sie beugte sich vor, doch der Mann schaute nicht herüber.
Ali betrachtete grübelnd die Orange. War sie ein Friedensangebot? Eine Aufforderung? Wollte er, dass sie sie schälen und essen oder für später aufheben sollte? Wie die meisten Waisen hatte Ali die Angewohnheit, Geschenke sofort auf ihre Absicht hin abzuklopfen, ganz besonders die kleinen. Doch je mehr sie darüber nachdachte, umso weniger konnte sie diese Orange deuten.
»Also, ich weiß eigentlich gar nicht, was ich damit anfangen soll«, beschwerte sie sich bei ihrem Nachbarn, dem Überbringer. Er blickte von einem dicken Handbuch mit Computercodes auf.
»Das ist eine Orange«, sagte er dann.
Weit mehr als die Sache es verdiente, irritierten sie die Gleichgültigkeit des Überbringers und die Frucht selbst. Ali hatte Angst. Seit Wochen schon waren ihre Träume mit schrecklichen Bildern der Hölle bevölkert. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Aberglauben. Sie war sicher, dass ihre Ängste mit jedem Schritt der Reise abnehmen würden. Wenn es doch nur schon zu spät wäre, ihre Meinung noch einmal zu ändern! Die Versuchung, einen Rückzieher zu machen, war furchtbar. Und Gebete boten auch nicht mehr die Stütze, die sie ihr einst gewesen waren. Das war beunruhigend.
Ali wollte die Orange hinlegen, aber dann wäre sie von der Ablage gerollt. Der Boden war zu schmutzig. Die Orange war zu einer Verbindlichkeit geworden, die auf ihrem Schoß lag. Den Anweisungen auf dem LCD folgend, legte sie die Gurte an. Ihre Finger zitterten. Sie nahm die Orange wieder in die Hand, legte schützend die Finger darum, und das Zittern ließ nach.
Die Anzeige zählte bis auf drei Minuten herunter. Wie auf ein bestimmtes Signal hin, absolvierten die Passagiere ihre letzten Rituale. Nicht wenige Männer banden Gummi schläuche um die Oberarmmuskeln und schoben sich vorsichtig Nadeln in die Venen. Diejenigen, die Pillen einnahmen, sahen aus wie Vögel, die Würmer verschluckten. Ali hörte das Zischen der Spraydosen, an denen andere saugten. Wieder andere tranken aus kleinen Fläschchen. Jeder hatte sein eigenes Druckausgleichsritual. Sie hatte nichts als diese Orange. Ihre Schale schimmerte aus der Dunkelheit ihrer gewölbten Handflächen. Licht brach sich in ihrer gefärbten Oberfläche. Alis Aufmerksamkeit veränderte sich. Mit einem Mal wurde die Orange für sie zu einem kleinen runden Zentrum des Geschehens.
Ein kleines Glöckchen bimmelte. Ali blickte in dem Moment auf, in dem die Zeitansage auf Null umsprang. In der Kammer ‘wurde es totenstill. Ali spürte eine leichte Bewegung. Die Kammer glitt auf einer Schiene nach hinten und blieb dann wieder stehen. Ali hörte von weiter unten ein metallisches Einrasten, woraufhin die Kammer sich ungefähr drei Meter senkte und wieder anhielt. Ein weiteres metallisches Klacken, diesmal von oben. Sie bewegten sich abermals nach unten, hielten wieder an. Ali wusste, was das bedeutete. Die Kammern wurden wie Güterwaggons aneinander gekoppelt, immer eine über der anderen. Anschließend würde der gesamte Zug ohne jegliche Kabelverankerung auf einem Luftkissen nach unten gelassen werden. Sie hatte keine Ahnung, wie die Zellen wieder nach oben transportiert wurden, aber nachdem man in den Eingeweiden des Subplaneten gewaltige Erdölvorkommen erschlossen hatte, dürfte Energie das geringste Problem sein.
Sie verdrehte den Hals, um einen Blick durch das große gewölbte Fenster an der Rückwand zu erhaschen. Während eine Zelle nach der anderen in die Tiefe glitt, gab das Fenster allmählich so etwas wie eine Aussicht preis. Dem LCD zufolge befanden sie sich sieben Meter unterhalb der Wasseroberfläche. Das Wasser hatte eine dunkel türki se, von Scheinwerfern erhellte Färbung. Dann sah Ali den Mond. Direkt durch das Wasser. Den runden weißen Mond. Ein herrlicher Anblick.
Sie sanken noch einmal sieben Meter. Der Mond verzerrte sich und verschwand. Sie hielt die Orange in den Händen. Wieder sieben Meter tiefer. Das Wasser wurde dunkler. Ali spähte durch die Scheibe. Dort draußen war etwas. Rochen. Auf ihren muskulösen Flügeln dahinsegelnd, umkreisten sie die Röhre.
Nach weiteren sieben Metern schoben sich dicke Metallblenden vor die Plexiglasscheibe. Das Fenster wurde schwarz, ein gebogener Spiegel. Sie sah nach unten auf ihre Hände und entließ die angehaltene Luft. Und plötzlich war die Angst weg. Das Zentrum des Geschehens lag genau dort, wo es sein sollte. Sie hatte es fest im Griff. War das womöglich der tiefere Sinn des Geschenks? Sie schaute die lange Sitzreihe entlang. Der Fremde hatte den Kopf an die Stuhllehne zurückgelehnt und die Brille auf die Stirn geschoben. Auf seinen Lippen lag ein kleines, zufriedenes Lächeln. Als er ihren Blick auf sich spürte, drehte er den Kopf zur Seite und blinzelte ihr zu.
Jetzt fielen sie abrupt in die Tiefe. Das erste Aufwallen der Schwerkraft ließ Ali nach einem Halt suchen. Sie fand die Armlehnen und drückte den Kopf fest gegen die Kopfstütze ihres Sitzes. Die plötzliche Leichtigkeit ließ alle möglichen biologischen Alarmsirenen aufheulen. Ihr wurde schlecht, ein stechender Kopfschmerz meldete sich. Dem LCD zufolge wurden sie nicht langsamer. Die Geschwindigkeit blieb gleichmäßig, kompromisslose 600 Meter pro Minute. Doch der Eindruck schwächte sich allmählich ab. Ali gewöhnte sich daran, im Inneren eines rasenden Senkbleis zu sitzen. Es gelang ihr, die Fußsohlen fest auf den Boden zu setzen, den Griff etwas zu lockern und sich umzusehen. Der Kopfschmerz ließ nach, und auch mit der Übelkeit konnte sie jetzt umgehen.
Die Hälfte der Passagiere war in Schlaf oder einen drogenumnebelten Dämmerzustand versunken. Die Köpfe der Männer schaukelten auf der Brust, ihre Körper hingen schlaff in den Gurten. Die meisten sahen blass oder seekrank aus. Der tätowierte Soldat schien zu meditieren. Oder zu beten.
Sie rechnete rasch im Kopf nach. Das passte nicht zusammen. Bei 600 Metern pro Sekunde dürfte die Fahrt nicht länger als acht oder neun Minuten dauern. Aber sie hatte gelesen, dass sie erst in sieben Stunden unten ankommen würden. Sieben Stunden so dasitzen?
Die Höhenanzeige auf dem LCD raste in die MinusTausend und wurde dann deutlich langsamer. Bei minus 4800 kamen sie zum Stillstand. Ali erwartete eine erläuternde Durchsage, doch es kam keine. Ein Blick in die Runde belehrte sie rasch, dass in dieser geschlossenen Versammlung halb toter Mitreisender jede Information überflüssig war.
Jetzt meldete sich das Fenster zurück. Vor der Plexiglaswand der Röhre wurde die Dunkelheit von starken Scheinwerfern erleuchtet. Zu Alis großem Erstaunen blickte sie auf den Meeresboden hinaus. Es hätte ebenso gut die Mondoberfläche sein können.
Lichtstrahlen zerschnitten die ewige Nacht. Hier gab es keine Berge. Der Boden war flach, weiß und mit eigenartigen Kritzeleien überzogen. Die Kritzeleien stammten von den Bewohnern des Ozeanbodens. Ali sah ein Wesen, das sich auf stelzenartigen Beinen langsam über die Ablagerungen fortbewegte und dabei kleine Punkte auf der leeren Fläche hinterließ. Weiter draußen gingen noch mehr Lichter an. Hunderte schlaffer Kanonenkugeln lagen auf der Ebene verstreut. Aus ihrer Lektüre wusste Ali, dass es sich um Manganknötchen handelte. Dort draußen lag ein Vermögen an Manganvorkommen, das man zu Gunsten wesentlich lukrativerer Möglichkeiten weiter unten einfach ignoriert hatte.
Die Aussicht war wie ein Traum. Ali versuchte, sich selbst in dieser nichtmenschlichen Geographie zu verorten. Aber mit jedem Schritt schien sie weniger und weniger hierher zu gehören. Ein schauerlicher Fisch mit langen Zähnen und einer grünlichen Lichtknospe, mit deren Hilfe er Beute anlockte, navigierte am Fenster vorbei. Ansonsten war es dort draußen sehr einsam. Sie klammerte sich an der Orange fest.
Nach einer Stunde setzte sich die Kapsel wieder in Bewegung, diesmal langsamer. Während sie sank, stieg der Ozeanboden bis auf Augenhöhe, dann Deckenhöhe, dann war er weg. Einen kurzen Moment lang war im Fenster aufgebohrtes Gestein zu sehen, dann wurde die Scheibe rasch schwarz und sie sah nur noch sich selbst.
Hier fängt er an, dachte Ali. Der Rand der Welt. Es war, als trete man eine Reise ins eigene Innere an.
Die Frontier ist der äußerste Ausläufer der Woge,
der Schnittpunkt zwischen Wildnis und Zivilisation,
der Ort, an dem die Amerikanisierung am raschesten
und effektivsten erfolgt.
Die Wildnis beherrscht den Siedler.
FREDERIC JACKSON TURNER, Die Bedeutung der Frontier in der amerikanischen Geschichte