26 Der Höllenschlund

UNTERHALB DES YAP- UND DES PALAU-GRABENS

Seit zwei Tagen verfolgte sie ihn. Sie hielt Abstand, stets darauf bedacht, ihn nicht zu erschrecken. Zu viele Geschichten hatte sie schon gehört, die von Beutetieren berichteten, die aus Panik in tiefe Abgründe gesprungen waren. Außerdem wollte sie ihn nicht mehr als nötig hetzen, um die Energie in seinen Muskeln nicht zu vergeuden, in diesem Fleisch, das bald ihr gehören würde.

Sie leckte über die Wand, an die er sich gelehnt hatte, und sein Geschmack steigerte ihr Verlangen. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, doch sein Salz und sein Fleisch waren zu verführerisch. Sie gab dem Drängen ihres Magens nach. Es war Zeit, die Beute zu schlagen. Sie fing an, den Abstand zu verringern.

Schließlich erreichte sie eine Engstelle, die heruntergebrochene Felsstücke so gut wie unpassierbar gemacht hatten. Sie sah, wie er vor dem Steinhaufen niederkniete und sich kopfüber in den schmalen Tunnel quetschte. Mit einem Satz sprang sie los, um ihn noch zu erwischen, solange seine Beine herausschauten. Als ahnte er etwas, zog er die Beine schnell nach. Sie senkte das Messer, hockte sich auf den Boden und wartete, bis sich seine Geräusche entfernten, während er immer tiefer kroch.

Endlich wurde es da drinnen still. Sie kniete sich hin und kroch ebenfalls mit dem Kopf voran in das Loch. Der Engpass war länger als sie angenommen hatte und knickte unangenehm zur Seite und nach oben ab. Mit der Geschicklichkeit eines Schlangenmenschen wand sie sich auf dem Rücken hindurch und wunderte sich, dass der deutlich größere Mensch es mit solcher Leichtigkeit geschafft hatte.

Mit dem Messer voran kam sie auf der anderen Seite heraus. Gerade als sie sich aufrichtete, trat er von hinten an sie heran, warf ihr eine Schlinge um den Hals und zog zu. Sie stach mit dem Messer nach hinten, doch er bohrte ihr das Knie in den Rücken, was sie sofort zu Fall brachte. Er war schnell und stark, fesselte Handgelenke und Ellbogen mit Schlingen und zog das Seil straff.

Die Gefangennahme dauerte zehn Sekunden und verlief in absoluter Stille. Erst jetzt wurde ihr klar, wer hier wen gejagt hatte. Das Humpeln, der sträfliche Mangel an Vorsicht, das war alles nur vorgetäuscht. Er hatte sich ihr als leichte Beute angeboten, und sie war darauf hereingefallen. Sie wollte ihre Wut laut herausschreien, doch in diesem Augenblick spürte sie den Knebel.

Ihr kam der Gedanke, dass es sich bei ihm womöglich um einen Hadal handelte, der seine menschlichen Schwächen nur vortäuschte, doch dann sah sie im schwachen Schimmerlicht des Felsens, dass er wirklich ein Mensch war. Seine Hautmuster verrieten den ehemaligen Gefangenen, und sie wusste auch sofort, wer er war. Die Legenden erzählten von diesem Abtrünnigen, der so viel Leid über ihr Volk gebracht hatte. Die Geschichte seines Verrats wurde allen Kindern als Beispiel für Entfremdung und Ungehorsam erzählt.

Er sprach mit ihr in schwerfälligem Hadal, dessen Schnalzer und Worte fast unverständlich waren. Seine Aussprache war barbarisch und seine Frage dumm. Wenn sie ihn richtig verstanden hatte, wollte er wissen, in welcher Richtung das Zentrum lag, und das machte sie misstrauisch. Sie hoffte darauf, dass er sich verlaufen hatte und sie ihn noch weiter in die Irre führen konnte, und so zeigte sie in die falsche Richtung. Er lächelte wissend, tätschelte ihren Kopf - eine unerhörte, wenn auch neckische Beleidigung -, und sagte etwas in seiner ausdruckslosen Sprache. Dann zog er an ihrer Leine und ließ sie den Pfad hinuntertraben.

In der Zeit, die sie als Gefangene bei den Söldnern verbracht hatte, war das Mädchen nie besonders berührt gewesen. Sie war allein gewesen, und das bedeutete, nicht mehr als ein Schatten seiner selbst zu sein. Ihr Leben war einfach ein Teil des größeren sangha, der Gemeinschaft, und ohne das sangha war sie im Grunde tot. So war es eben. Doch jetzt stellte sie dieser schreckliche Feind in die Gemeinschaft ihres Volkes zurück, und sie wusste, dass er sie auf irgendeine Weise gegen das sangha benutzen würde. Und das wäre schlimmer als tausend Tode.

Es hatte Ike eine Woche gekostet, um das Mädchen aufzuspüren, und dann noch mal zwei Tage, um sie zu ködern. Wohin sie unterwegs war, konnte er nur vermuten. Aber sie schien fest entschlossen gewesen, ihm zu folgen, also vertraute Ike darauf, dass dieser Tunnel zu dem Ort führte, an den er gelangen wollte.

Er spürte, dass die gesamte Unterwelt in Bewegung war, fast so, als dränge sie sich in einen noch tiefer gelegenen Schlupfwinkel hinein. Dieser immer tiefer werdende Tunnel, das fühlte er, führte ins Zentrum jener Mandalakarte, die sie in der Festung gefunden hatten. Dort würde er eine Antwort auf das Verschwinden der Hadal finden. Dort würde er auch Ali finden. Jetzt, da er das Mädchen in seiner Gewalt hatte, wurde Ike wieder zuversichtlicher.

Weil er wusste, dass sie sich lieber töten würde, als ihm bei seinem Plan behilflich zu sein, durchsuchte er das nackte Mädchen. Er fuhr mit den Fingern über ihre Gliedmaßen und entdeckte drei unter der Haut versteckte Obsidiansplitter, einen an der Innenseite des Bizeps, die beiden anderen am Oberschenkel. Sie waren zu genau diesem Zweck gedacht. Mit dem Messer ritzte er die Haut gerade so weit auf, um ihr die kleinen, rasiermesserscharfen Klingen herauszuziehen.

Das Mädchen war genau die Geisel, die er brauchte. Ike musterte sie. Fast jeder Gefangene, dem er hier unten begegnet war, war seelisch gebrochen gewesen und hatte nur dumpf darauf gewartet, als Packtier eingesetzt zu werden, als Fleischvorrat, als Opfer oder als Köder, um weitere Menschen herunterzulocken. Diese Gefangene nicht. Sie bestimmte ihr eigenes Schicksal, zumindest so weit, wie es hier unten möglich war. Ike schätzte sie auf ungefähr vierzehn Jahre. Er sah die Stammeszeichen rings um ihre Augen und auf den Armen, kannte den Clan jedoch nicht. Sie war wohl von Geburt an als Hadal erzogen worden.

Ebenso unübersehbar war, dass man sie zur Fortpflanzung bestimmt hatte. Ihre Brüste waren makellos und unbemalt, zwei weiße Früchte, die aus der Ansammlung von Stammessymbolen herausragten, die den Rest ihres Körpers bedeckten. Auf diese Weise war den Säuglingen in den ersten Lebensmonaten Ruhe und Frieden gesichert.

Mit der Zeit fing das Kind dann an zu lernen, indem es die Haut seiner Mutter las.

Abgesehen von den Obsidianklingen bestand ihr einziger Besitz aus ihrem Nahrungsvorrat: einem schlecht getrockneten Unterarm mitsamt verkrümmter Hand, an deren Gelenk noch immer eine Helios-Uhr befestigt war. Das meiste Fleisch war bereits bis zum Knochen abgenagt. Ike war vor zwölf Tagen an Troys sterblichen Überresten vorbeigekommen.

Da seine eigene Uhr bei der Zerstörung der Festung kaputt gegangen war, nahm er diese. Es war 2.40 Uhr und der 14. Januar, aber inzwischen hatte die Zeit für ihn keine Bedeutung mehr. Der Höhenmesser zeigte 7950 Faden, also fast 15 Kilometer unter der Meeresoberfläche, tiefer als jeder bislang bekannte Abstieg in die Abgründe der Erde. Das allein war von Bedeutung. Denn die Tiefe war es, die das letzte Bollwerk der Hadal in ihrem Schoß verbarg.

Ike hatte viele kleine Hinweise auf einen zentralen Zufluchtsort gefunden. Schließlich mussten die Hadal irgendwo geblieben sein. Es war unwahrscheinlich, dass sie sich an vielen verschiedenen Stellen versteckt hielten, denn in diesem Fall wären sie häufiger Soldaten oder Kolonisten ins Gehege gekommen. Vor allem der Angriff auf die Festung hatte seine Theorie bestätigt. Die Hadal hatten für den Kampf gegen eine kleine Gruppe menschlicher Eindringlinge eine ungewöhnlich große Zahl von Angreifern zusammengezogen. Bestimmt hatten sie sich hier unten an einem Ort versammelt, den sie absolut unangetastet bewahren wollten, einem Ort, der so alt wie ihre kollektive Erinnerung war.

Deshalb hatte sich Ike dazu entschlossen, Ali und ihre Kidnapper nicht über das Wasser zu verfolgen und dabei mehrere Wochen zu verlieren, sondern immer weiter hinabzusteigen. Bis dahin musste Ali ohne ihn überleben. Er konnte ihr das, was auch er zu Beginn seiner Gefangenschaft durchlitten hatte, nicht ersparen, und er konnte sich keine Verzweiflung leisten, also versuchte er, sie ganz und gar zu vergessen.

Eines Morgens wachte Ike auf und hatte gerade von Ali geträumt. Doch es war das Mädchen, das da rittlings und mit gefesselten Armen auf ihm saß und sich auf seiner Hose hin und her rieb. Sie bot sich ihm zu seinem Vergnügen an, und Ike kam einen Augenblick lang sogar in Versuchung.

»Du bist eine schlaue Füchsin«, flüsterte er mit ehrlicher Bewunderung. Das Mädchen war fest entschlossen, jeden Vorteil zu nutzen. Und sie verachtete ihn zutiefst. Genau das war Troys Verderben gewesen. Ike war sicher, dass der Junge der gleichen Verführung nachgegeben und damit sein Schicksal besiegelt hatte.

Er hob das Mädchen zur Seite. Nicht ihre offenkundige Gerissenheit gab ihm zu denken, auch nicht der Traum von Ali. Nein, das Mädchen kam ihm irgendwie bekannt vor. Er hatte sie schon einmal gesehen, und das beunruhigte ihn, denn es musste zurzeit seiner Gefangenschaft gewesen sein, als sie noch ein kleines Kind war. Aber er konnte sich nicht an ein solches Kind erinnern.

Tag für Tag gelangten sie tiefer hinunter. Ike erinnerte sich an die Überzeugung der Geologen, dass sich vor einer Million Jahren eine Blase aus Schwefelsäure gebildet habe, die durch die Erdkruste nach oben gestiegen sei und die Höhlen in der oberen Lithosphäre gebildet habe. Als sie den gewaltigen, ungleichmäßig ausgebildeten Höllenschlund hinabstiegen, fragte sich Ike, ob diese Säureblase sich nicht genau hier ihren Weg nach oben gebahnt habe. Das physikalische Geheimnis sprach den Bergsteiger in ihm an. Wie tief konnte dieser Schlund wohl hinabreichen? Von welcher Stelle an wurde solch ein Abgrund unerträglich?

In einer Tiefe von 8700 Faden, fast 16 Kilometern, erreichten sie den Rand einer Klippe über einer ausgedehnten Schlucht. Ein Bach vereinigte sich mit anderen Wasserläufen und ergoss sich als Wasserfall über die Klippe. Das Gestein war von Fluorinen durchzogen und sorgte für eine geisterhafte Beleuchtung. Sie standen am Rand eines abschüssigen Tals, das sich teilweise bis zu den Felswänden heraufzog. Ihr Wasserfall war nur einer von Hunderten.

Der Pfad wand sich über eine Gesteinsplatte aus olivgrünem Fels und war dort, wo es die natürlichen Gegebenheiten erforderten, ins blanke Gestein gehauen. An einer Stelle waren die Bruchstücke eines gewaltigen Stalaktiten zu einer Brücke zusammengefügt worden. Eisenketten überspannten dunkle Abgründe.

Der Abstieg erforderte Ikes gesamte Konzentration. Der Weg war uralt, links und rechts stürzten die Wände Hunderte von Metern steil ab. Das Mädchen fand, dass dies der richtige Zeitpunkt war, ihre gemeinsame Reise zu beenden und warf sich ohne jede Vorwarnung ins Nichts. Um ein Haar hätte sie auch Ike mit sich gerissen, doch es gelang ihm gerade noch, das wild um sich tretende Wesen wieder nach oben zu ziehen und in Sicherheit zu bringen. In den folgenden drei Tagen musste er ständig auf solche Ausbrüche gefasst sein.

Sie aßen nur wenig, meistens Insekten und ein paar von den Schilfschösslingen, die in der Nähe des Wassers gediehen. Ike hätte auf die Suche gehen können, überlegte es sich jedoch anders. Abgesehen davon, dass sie so schneller vorankamen, machte der Hunger das Mädchen gefügiger. Sie befanden sich tief in feindlichem Gebiet, und er hatte vor, noch tiefer einzudringen, ohne Alarm auszulösen. Deshalb hielt er Hunger für eine bessere Maßnahme als straffe Fesseln.

Am Boden trieb Nebel in großen, ausgefransten Inseln dahin. Ike konnte sich diese Wolkenbildung nur durch die vielen Wasserfälle erklären. Ihr Geräusch sorgte für ein gleichmäßiges Donnern im Hintergrund, das von hoch aufragenden Felstürmen ein wenig gedämpft wurde. Links und rechts des Weges verliefen geschickt angelegte Kanäle, ohne die wohl der gesamte Boden der Schlucht überflutet gewesen wäre. Zum großen Teil war das System noch intakt, nur hier und dort waren die Rinnen verschüttet, und sie mussten durch überschwemmte Senken waten. Gelegentlich hörten sie Musik, doch es war nur Wasser, das durch die Überreste von Instrumenten rann, die in den Gehweg eingelassen waren.

Ike konnte an der Besorgnis des Mädchens ablesen, dass sie dem Zentrum immer näher kamen. Schließlich erreichten sie ein Spalier menschlicher Mumien, die links und rechts den Weg säumten.

Ike und das Mädchen gingen zwischen ihnen hindurch. Das, was von Walker und seinen Leuten übrig geblieben war, hatte man hier aufrecht festgebunden, insgesamt dreißig von ihnen. Ihre Schenkel und Oberarme waren rituell verstümmelt. Die Augen waren ausgestochen und durch runde, weiße Marmorkugeln ersetzt worden. Da die Steinaugen ein bisschen zu groß waren, verliehen sie den Schädeln ein grausames, insektenhaftes Glotzen. Die beiden Soldaten, denen er im Vulkan das Leben gerettet hatte, standen dort, auch der schwarze Lieutenant, schließlich Walkers Kopf. Als Akt der Verachtung hatten sie sein getrocknetes Herz in seinen Bart geflochten, damit es alle sehen konnten. Hätten sie ihn als Feind respektiert, hätten sie das Herz an Ort und Stelle verspeist.

Jetzt war Ike froh, dass er seine Gefangene ausgehungert hatte. Im vollen Besitz ihrer körperlichen Kräfte hätte sie sein unbemerktes Vordringen sehr gefährden können. So konnte sie jedoch kaum einen Kilometer gehen, ohne eine Pause einzulegen. Schon bald würde sie, wie er hoffte, genug zu essen bekommen und wieder frei sein. Und Ali, die ihn jede Nacht in seinen Träumen besuchte, würde wieder bei ihm sein.

Am 23. Januar unternahm das Mädchen einen Versuch, sich in einem der Kanäle zu ertränken, indem es ins Wasser sprang und sich unter einem kleinen Vorsprung verkeilte. Obwohl Ike sie sofort herauszog, wäre es fast zu spät gewesen. Er riss ihr den Knebel heraus und pumpte das Wasser aus ihren Lungen. Sie lag schlaff vor seinen Knien, besiegt und enttäuscht. Von dem wütenden Handgemenge erschöpft, mussten sich beide ausruhen.

Später fing sie mit geschlossenen Augen an zu singen. Es war ein Lied, das sie sich selbst zum Trost sang, leise und auf Hadal. Zuerst wusste Ike gar nicht, was sie da tat, so dünn war ihre Stimme. Dann hörte er es, und es kam ihm vor, als hätte ihn jemand ins Herz getroffen.

Ungläubig schaukelte Ike in der Hocke vor und zurück. Er hörte genauer hin. Die Worte waren zu kompliziert für seinen beschränkten Wortschatz. Aber die Melodie war unverkennbar. Das Mädchen sang »Amazing Grace«.

Das Lied raubte ihm beinahe den Verstand. Es war ihr unverkennbar ebenso vertraut und teuer wie ihm. Es war das Letzte, was er je von Kora gehört hatte, ihr Gesang, als sie vor so vielen Jahren in die unendlichen Tiefen unterhalb Tibets hinabsank. I once was lost, but now am found, was blind, but now I see. Das Mädchen hatte einen eigenen Text erfunden, doch die Melodie war genau die gleiche.

Isaak war ihr Vater, aber Ike konnte keine Ähnlichkeit mit ihm feststellen. Ausgelöst durch das Lied, erkannte Ike jetzt Koras Züge im Gesicht des Mädchens wieder. Fieberhaft suchte er nach anderen Erklärungen. Vielleicht hatte Kora ihr diese Melodie nur beigebracht. Oder Ali hatte sie ihm vorgesungen. Andererseits schleppte er schon seit Tagen dieses unbestimmte Gefühl mit sich herum, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Etwas um ihre Stirn- und Wangenpartie, die Art, in der sie eigensinnig den Unterkiefer vorschob, die ganze Größe und Gestalt ihres Körpers. War das denn möglich? So manches entsprach dem Bild ihrer Mutter, aber so vieles auch nicht: ihre Augen zum Beispiel und die Form ihrer Hände.

Müde öffnete sie die Augen. Er hatte Kora nicht in ihnen gesehen, weil es nicht Koras türkisgrüne Augen waren. Und doch waren ihm diese Augen vertraut. Erst jetzt wurde es ihm klar.

Das waren seine Augen! Sie war seine eigene Tochter!

Ike ließ sich gegen die Felswand sinken. Das Alter stimmte. Die Haarfarbe auch. Er verglich ihre Hände. Sie hatte die gleichen langen Finger, seine Nägel.

»Mein Gott«, flüsterte er. »Was nun?«

In seinem bruchstückhaften Hadal fragte er: »Mutter. Du. Wo?«

Sie hörte auf zu singen und hob den Blick. Ihre Gedanken waren leicht zu erraten. Sie sah seine Verwirrung und witterte sofort eine Gelegenheit. Doch als sie versuchte, sich von dem nassen Stein zu erheben, versagte ihr der Körper den Dienst.

»Sprich bitte deutlicher, Tier-Mann«, sagte sie höflich und sehr langsam auf Hadal.

Für Ikes Ohren hatte sie so etwas wie »Was?« ausgedrückt. Er versuchte es noch einmal, kehrte seine Frage um, suchte nach dem richtigen Satzbau. »Wo. Deine. Mutter.«

Sie schnaubte verächtlich, und er wusste, dass seine Worte sich für sie wie Grunzen anhörten. Ihre Augen ruhten die ganze Zeit auf seinem Messer mit der schwarzen Klinge. Ike wusste, dass es das eigentliche Objekt ihrer Begierde war. Sie wollte ihn töten.

Diesmal kratzte er ein Zeichen auf den Boden und verband es dann mit einem anderen. »Du«, sagte er. »Mutter.«

Sie machte eine kurze, elegante Bewegung mit den Fingern, und das genügte als Antwort. Über die Toten sprach man nicht. Sie wurden jemand - oder etwas -anderes. Und da man nie wissen konnte, welche Gestalt sie bei ihrer Wiedergeburt annahmen, war es klüger, sie überhaupt nicht zu erwähnen. Ike ließ es dabei bewenden.

Natürlich war Kora tot. Und falls nicht, würde er das, was von ihr übrig war, höchstwahrscheinlich nicht mehr erkennen. Trotzdem saß vor ihm ihre Hinterlassenschaft. Und genau dieses Kind wollte er als Pfand benutzen, um Ali auszulösen. Jedenfalls war das sein Plan gewesen, doch mit einem Mal kam es ihm vor, als sei das Rettungsfloß, das er aus lauter Wrackteilen zusammengebastelt hatte, selbst wieder zum Wrack geworden.

Es war grausam, plötzlich mit seiner Tochter konfrontiert zu sein, von der er nie etwas gewusst hatte, und die in etwas verwandelt war, in das auch er sich beinahe verwandelt hätte. Was sollte er tun? Sie retten? Und dann? Offensichtlich hatten die Hadal sie angenommen und zu einer der ihren gemacht. Sie hatte keine Ahnung, wer sie war oder aus welcher Welt sie stammte. Was für eine Rettung sollte das also sein? Er blickte auf den schmalen, bemalten Rücken des Mädchens. Seit er sie gefangen genommen hatte, hatte er sie wie ein Stück Vieh behandelt. Das Einzige, was man ihm zu Gute halten konnte, war, dass er sie weder geschlagen noch vergewaltigt und auch nicht getötet hatte. Meine Tochter? Er ließ den Kopf hängen.

Wie konnte er sein eigen Fleisch und Blut zum Tausch anbieten, selbst für die Frau, die er liebte? Doch wenn er es nicht tat, musste Ali bis ans Ende ihrer Tage in Gefangenschaft bleiben. Seine Tochter hatte keine Ahnung von ihrer Herkunft. Ihr Platz war bei den Hadal, wie entbehrungsreich dieses Leben auch sein mochte. Sie von hier wegzuschleppen, bedeutete, ihr die einzigen Wurzeln zu nehmen, die sie besaß. Und Ali hier zurückzulassen, was bedeutete das? Wahrscheinlich rechnete sie nicht damit, dass er die Explosion in der Festung überlebt hatte und nach ihr suchte. Also würde sie es auch niemals erfahren, wenn er jetzt umkehrte und sein Kind mitnahm. So wie er sie kannte, würde sie dieser Entscheidung sogar zustimmen. Und was würde dann aus ihm werden? Er war ein Fluch geworden, für alle, die er jemals geliebt hatte.

Er spielte mit dem Gedanken, das Mädchen freizulassen. Das jedoch wäre nur ein feiges Ausweichen vor der Entscheidung. Er konnte nur die eine oder die andere Richtung wählen. Den Rest der Nacht quälte er sich mit diesen Gedanken.

Als das Mädchen aufwachte, überraschte Ike es mit einem Frühstück aus Larven und bleichen Knollengewächsen. Außerdem lockerte er ihre Fesseln. Er wusste, dass er die Dinge nur unnötig verkomplizierte, wenn er ihr zu neuer Kraft verhalf, und dass seine Gewissensbisse, weil er sein Kind misshandelt hatte, letztendlich nichts anderes als lebensgefährliches Moralisieren waren. Trotzdem konnte er seine Tochter nicht länger hungern lassen.

Er rechnete nicht damit, dass sie ihm antwortete, fragte sie aber trotzdem nach ihrem Namen. Sie verdrehte die Augen über so viel Dummdreistigkeit. Kein Hadal würde einem Gefangenen jemals diese Macht in die Hände spielen. Kurz darauf führte er sie wieder den Pfad hinab, wenn auch aus Rücksicht auf ihre Erschöpfung ein wenig langsamer.

Seine Entdeckung quälte ihn. Nach der Rückkehr zu den Menschen hatte Ike sich geschworen, nur noch zwischen Schwarz und Weiß zu wählen. Bleib immer deinen Grundsätzen treu. Weichst du davon ab, bist du tot. Eine Sache, die sich nicht innerhalb von drei Sekunden entscheiden ließ, war zu kompliziert.

Obwohl er nicht genau wusste, wie es so weit gekommen war, glaubte Ike doch fest daran, dass er sich für jeden einzelnen Schritt, der ihn in diese Situation geführt hatte, selbst entschieden hatte. Aber hatte seine Tochter jemals die Entscheidung getroffen, in der Dunkelheit geboren zu werden? Und niemals ihren leiblichen Vater kennen zu lernen?

Die Stimmen des Wassers begleiteten ihre Reise in die Unterwelt. Mit verbundenen Augen verbrachte Ali die ersten Tage damit, dem Meer zu lauschen, das an dem von Amphibienwesen gezogenen Floß vorbeirauschte. An den folgenden Tagen ging es tiefer hinab, an schäumenden Kaskaden vorbei und hinter gewaltigen Wasserfällen entlang. Als sie endlich ebenes Gelände erreichten, überquerten sie immer wieder Bäche auf groben Steinbrocken. Das Wasser war ihr einziger Anhaltspunkt.

Sie hielten sie abseits von den beiden Söldnern, die ihnen lebend in die Hände gefallen waren. Einmal jedoch, als ihr die Augenbinde ein wenig verrutschte, sah sie die Gefangenen im ewigen Zwielicht, das von den phosphoreszierenden Flechten ausging. Die Männer waren mit Stricken aus geflochtener Haut gefesselt und aus ihren Wunden ragten immer noch Pfeile hervor. Einer sah Ali mit entsetzten Augen an, und sie machte für ihn das Zeichen des Kreuzes. Dann schob ihr ein Bewacher die Binde wieder fest über die Augen, und sie gingen weiter. Erst später wurde Ali klar, warum man den Söldnern die Augen nicht verbunden hatte. Es war den Hadal egal, ob die beiden Soldaten den Pfad sahen oder nicht. Keiner von ihnen würde ihn jemals wieder betreten.

Diese grausame Erkenntnis war gleichzeitig ihre Hoffnung. Die Hadal hatten nicht vor, sie in nächster Zeit zu töten. Sie klammerte sich mit einer Gier an diesen Gedanken, die sie bisher nicht gekannt hatte. Nie hätte sie geglaubt, wie rücksichtslos der Willen zum Überleben war und wie wenig Heroisches er an sich hatte. Gestoßen, gezerrt, getragen und getrieben, taumelte sie weiter. Man tat ihr nichts zu Leide. Sie wurde nicht vergewaltigt. Aber sie litt.

Obwohl sie ihr regelmäßig Essen anboten, hatte sie großen Hunger. Ali weigerte sich, das Fleisch zu essen. Der Anführer der Gruppe kam zu ihr.

»Aber meine Liebe, Sie müssen doch etwas essen«, sagte er in perfektem Oxford-Englisch. »Wie wollen Sie sonst diese Pilgerfahrt beenden?«

»Ich weiß, woher dieses Fleisch stammt«, sagte sie. »Ich habe diese Leute gekannt.«

»Aber gewiss. Nun, Sie sind anscheinend noch nicht hungrig genug.«

»Wer sind Sie?« Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen.

»Ein Pilger, genau wie Sie.«

Aber Ali wusste es besser. Bevor man ihr die Augen verbunden hatte, hatte sie gesehen, wie er die Hadal herumkommandierte und wie sie ihm gehorchten. Aber auch ohne diese Beweise sah er genau so aus, wie man sich Satan vorstellte: die tief ins Gesicht gezogene Stirn, die asymmetrischen, gewundenen Hörner und die über und über tätowierte Haut. Er war größer als die meisten Hadal, hatte mehr Narben und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der von einem Wissen um die Dinge des Lebens kündete, das Ali auf keinen Fall mit ihm teilen wollte.

Nach ihrer Unterhaltung wurde Alis Speiseplan auf Insekten und kleine Fische umgestellt. Sie würgte alles herunter. Am Abend taten ihr die Beine weh, die sie sich immer wieder an vorstehenden Felsen stieß. Ali hieß den Schmerz willkommen. Er half ihr, zumindest eine Weile nicht zu trauern. Vielleicht wäre es ihr möglich gewesen, überhaupt nicht zu trauern, wenn sie wie die Söldner auch noch Pfeile mit sich hätte herumschleppen müssen. Doch die Wirklichkeit lag ständig auf der Lauer, um sie anzuspringen. Ike war tot.

Schließlich erreichten sie eine Stadt, die so alt war, dass sie eher wie ein zerbröckelnder Berg aussah. Das war ihr Ziel. Ali wusste es, weil ihr hier die Augenbinde abgenommen wurde. Müde, verängstigt und zugleich fasziniert stieg sie die ansteigenden Straßen hinan. Die Stadt lag in einem Gletscher aus Fließstein, von dem ein schwaches Leuchten ausging. Das Ergebnis war weniger Licht als ein schwacher Schimmer, in dem Ali immerhin erkennen konnte, dass die Stadt auf dem Grund einer gewaltigen Schlucht stand. Die sich langsam voranarbeitende mineralische Flut hatte schon einen Teil der Stadt verschluckt, doch viele der Gebäude ragten noch heraus und waren nun wie Bienenwaben zugänglich.

Geschleift von der Zeit und dieser geologischen Belagerung, war die Stadt dennoch nicht unbewohnt. Zu Alis Erstaunen hatten sich hier Tausende, wenn nicht gar Zehntausende Hadal versammelt. Dieser Ort war die Antwort auf die Frage, wohin die Hadal verschwunden waren. Es war, wie Ike gesagt hatte: Sie waren auf der Flucht. Und diese Stadt war ihr Ziel.

Die kleine Karawane erklomm einen Hügel in der Mitte der Stadt, auf dem sich die Überreste eines Palastes über dem bernsteinfarbenen Fließstein erhoben. Ali wurde in einen Korridor geführt, der sich in der Ruine wie eine Wendeltreppe hinaufwand. Sie sperrten sie in eine Bibliothek und ließen sie allein.

Ali sah sich erstaunt in dieser Schatzkammer um. Das also sollte die Hölle sein, eine Bibliothek unentzifferbarer Texte? Wenn ja, dann hatten sie die falsche Bestrafung für sie gewählt. Sogar eine kleine Öllampe hatten sie ihr gelassen, ähnlich denen, die Ike damals entzündet hatte. Aus der Tülle zuckte ein blaues Flämmchen.

Ali begann, mit Hilfe dieses Lichtleins ihre Umgebung zu erforschen, war jedoch beim Herumgehen nicht vorsichtig genug, und so ging die Flamme nach kurzem Zucken aus. Jetzt stand sie in der Dunkelheit, unsicher, verängstigt und allein. Mit einem Mal holte sie die lange Reise ein, und sie legte sich einfach auf den Boden und schlief ein.

Als Ali Stunden später erwachte, flackerte in der entgegengesetzten Ecke des Raums eine zweite Lampe. Als sie darauf zuschritt, löste sich eine Gestalt in einem weiten Umhang von der Wand. »Wer bist du?«, fragte eine Männerstimme. Sie klang müde und mutlos, wie ein Geist. Ali war mit einem Schlag hellwach. Das musste noch ein Gefangener sein! Sie war nicht allein!

»Und wer bist du?«, fragte sie zurück. Als sie keine Antwort erhielt, trat sie kurzerhand auf den Unbekannten zu und zog ihm die Kapuze aus dem Gesicht.

Es war nicht zu glauben. »Thomas!«

»Ali?«, entgegnete er ungläubig. »Was machen Sie denn hier?«

Als sie ihn umarmte, spürte sie seine Knochen an Rücken und Brustkorb hervorstehen. Der Jesuit hatte noch immer das gleiche zerfurchte Gesicht wie damals, als sie ihn im Museum in New York kennen gelernt hatte. Nur seine Stirn war dicker geworden, sein grauer Bart war schon mehrere Wochen alt, und auch sein Haar war lang, grau und von Dreck verklebt. Seine Augen waren unverändert. Sie hatten immer noch diesen weit gereisten Ausdruck.

»Was haben sie Ihnen angetan?«, fragte sie. »Wie lange sind Sie schon hier unten? Warum sind Sie überhaupt hier?«

Sie half dem alten Mann, sich hinzusetzen, brachte ihm etwas Wasser. Er lehnte sich an die Wand und wollte nicht aufhören, ihr vor Glück und Freude die Hand zu tätscheln. »Es ist Gottes Wille«, sagte er immer wieder.

Mehrere Stunden vergingen, bis sie einander ihre Geschichten erzählt hatten. Er habe sich auf die Suche nach ihr gemacht, berichtete Thomas, sobald die Nachricht vom Verschwinden der Expedition an die Oberfläche durchgedrungen sei. »Ihre Wohltäterin, January, hat mich unermüdlich an die Verantwortung der Beowulf-Gruppe Ihnen gegenüber erinnert. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab. Ich musste selbst nach Ihnen suchen.«

»Aber das ist doch verrückt«, sagte Ali. Ein Mann in seinem Alter, und dann auf eigene Faust!

»Hat aber trotzdem geklappt«, erwiderte Thomas vergnügt.

Er war von einer Tempelruine in Java aus in einen Tunnel hinabgestiegen, hatte gegen die Dunkelheit angebetet und versucht, die ungefähre Route der Expedition zu erraten. »Ich habe mich nicht besonders geschickt angestellt«, gab er zu. »Es dauerte nicht lange, bis ich mich total verlaufen hatte. Meine Batterien gingen zur Neige, ebenso die Lebensmittelvorräte. Als mich die Hadal mitnahmen, war es weniger eine Gefangennahme als ein Akt der Nächstenliebe. Aber wer kann schon sagen, warum sie mich nicht gleich getötet haben? Oder Sie?«

Seit seiner Ankunft hatte Thomas zwischen diesen Textbergen geschmachtet. »Ich dachte, sie würden meine Knochen einfach zwischen den Büchern verfaulen lassen«, sagte er. »Aber jetzt sind Sie hier!«

Im Gegenzug erzählte Ali vom Niedergang der Expedition. Sie berichtete auch von Ikes Selbstopferung in der Hadal-Festung.

»Sind Sie sicher, dass er tot ist?«, fragte Thomas.

»Ich habe es selbst gesehen.« Ihre Stimme versagte. Thomas sprach ihr sein Beileid aus.

»Es war Gottes Wille«, sagte Ali schließlich. »Und dieser Wille hat uns auch hierher geführt, in diese Bibliothek. Wir sollen unsere Aufgabe hier zu Ende bringen. Gemeinsam werden wir der Ursprache vielleicht ein Stück näher kommen.«

»Sie sind eine bemerkenswerte Frau«, sagte Thomas.

Sie machten sich mit ungebremstem Eifer ans Werk, stellten Textgruppen zusammen und verglichen ihre Beobachtungen. Sie durchforsteten Bücher, einzelne Blätter, alte Handschriften, Schriftrollen und Texttafeln. Die Anordnung der Werke folgte keiner bestimmten Logik. Es sah eher aus, als hätte sich der Schriftenberg dort wie eine Schneewehe angesammelt. Sie stellten die Lampe zur Seite und vergruben sich in den größten Haufen.

Das am weitesten oben liegende Material war neueren Datums, einiges sogar auf Englisch, Japanisch oder Chinesisch. Je tiefer sie vordrangen, desto älter wurden die Schriften. Einige Seiten lösten sich unter Alis Fingern auf. Auf anderen hatte sich die Tinte durch mehrere Lagen beschriebenen Papiers gefressen. Einige Bücher waren von mineralischen Verkrustungen fest verschlossen. Die meisten lieferten ihnen jedoch Schriften und Glyphen in Hülle und Fülle. Glücklicherweise war der Raum ziemlich groß, denn schon bald hatten sie einen symbolischen Sprachenbaum auf dem Boden ausgelegt, an dessen Ästen ein Bücherstapel neben dem anderen hing.

Nach fünf Wochen hatten Ali und Thomas Alphabete zu Tage gefördert, die noch kein Linguist je zu Gesicht bekommen hatte. Ali trat einen Schritt von ihrer Arbeit zurück und musste feststellen, dass sie lediglich eine dünne Schicht des angehäuften Schriftenberges abgetragen hatten. Vor ihnen lagen die Anfänge der Sprache, die Anfänge der Geschichte. In gewissem Sinne enthielten die Funde auch den Beginn der Erinnerung, sowohl der Menschen als auch der Hadal. Was mochte sich in der Mitte verbergen?

»Wir müssen uns ausruhen. Wir dürfen uns nicht verausgaben«, gab Thomas zu bedenken. Er hustete fast ununterbrochen. Ali half ihm in seine Ecke und zwang sich dazu, ebenfalls eine Pause einzulegen. Aber sie war zu aufgeregt.

»Ike erzählte mir einmal, die Hadal wollten sein wie wir«, sagte sie. »Aber sie sind schon wie wir. Und wir wie sie. Das hier ist der Schlüssel zu ihrem Paradies. Auch wenn es ihnen ihre alte Herrlichkeit nicht mehr zurückbringt, so kann es sie doch verankern, ihnen einen Zusammenhalt als Volk vermitteln. Es kann die Kluft zwischen ihnen und uns überbrücken. Das hier ist der Beginn ihrer Rückkehr zum Licht. Oder zumindest der Souveränität ihrer Rasse. Vielleicht können wir eine gemeinsame Sprache finden. Vielleicht finden wir einen Platz für sie - in unserer Mitte. Oder sie finden bei sich einen Platz für uns. All das hat jedenfalls hier seinen Anfang!«

Die Folterung von Walkers Männern begann. Ihre Schreie drangen bis zu Ali und Thomas herauf. Nach und nach verstummten sie. Nach einer Nacht des Schweigens war Ali überzeugt davon, die Männer seien gestorben. Doch dann setzten die Schreie wieder ein und hielten, mit einigen Unterbrechungen, noch mehrere Tage an.

Bevor Ali und Thomas ihre Gelehrtenarbeit wieder aufnehmen konnten, bekamen sie einen Besucher. »Das ist der, von dem ich Ihnen erzählt habe«, flüsterte sie Thomas zu. »Ich glaube, er ist ihr Anführer.«

»Das ist möglich«, erwiderte Thomas. »Aber was hat er mit uns vor?«

Der tätowierte Riese kam mit einer zerkratzten Plastikröhre auf sie zu, die die Aufschrift HELIOS trug. Ali erkannte ihre Kartentrommel sofort wieder. Er ging direkt auf sie zu. Sie roch das frische Blut an ihm. Seine Füße waren nackt. Er schüttelte die Karten heraus und entrollte sie.

»Das hier ist in meinen Besitz gelangt«, sagte er in seinem steifen Englisch.

Ali wollte ihn schon fragen, wo er die Trommel gefunden hatte, überlegte es sich dann aber anders. Offensichtlich war Gitner und seiner Gruppe die Flucht nicht gelungen.

»Sie gehören mir«, sagte sie.

»Ja, ich weiß. Die Soldaten haben es mir erzählt. Leider sind es noch keine brauchbaren Karten. Sie zeigen nur den ungefähren Verlauf Ihrer Expedition. Ich will aber mehr. Details. Umwege. Abweichungen. Jedes Lager, jeden Abend. Wer war im Lager, wer nicht. Ich will alles wissen.«

Ali warf Thomas einen ängstlichen Blick zu. Wie sollte sie sich an all diese Einzelheiten jetzt noch erinnern?

»Ich kann es versuchen«, sagte sie.

»Versuchen?« Der Riese witterte ihren Geruch. »Ihr Leben hängt allein von Ihrem Gedächtnis ab. Ich an Ihrer Stelle würde es nicht nur versuchen.«

Thomas ging einen Schritt auf ihn zu.

»Ich werde ihr helfen«, sagte er.

»Dann helfen Sie ihr gut«, sagte das Ungeheuer. »Jetzt hängt auch Ihr Leben davon ab.«

Am 11. Februar um 14.20 Uhr erreichten sie in einer Tiefe von 9856 Faden eine Klippe, die hoch über einem lang gezogenen Tal aufragte. Es war noch immer nicht der Boden des Höllenschlundes, denn in weiter Ferne konnte man ein weiteres Loch klaffen sehen. Aber es war ein geologischer Absatz, eine Art Hochebene zwischen steil abfallenden Felswänden.

Damit sie nicht wieder in Versuchung geriet, sich zur Märtyrerin zu machen, fesselte Ike seine namenlose Tochter an einen Felsvorsprung in der Wand. Dann legte er sich am Rand der Klippe auf den Bauch, um sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen.

Das Tal hatte die Form eines Kraters und war von einem bräunlichen Leuchten erhellt. Ringsum zogen sich dicke Adern schimmernder Mineralien über die Felswände. Ike erkannte, dass es sich um einen gigantischen Hohlraum von vier oder fünf Kilometern Durchmesser handelte, und er erblickte die riesige, verwinkelte Stadt, die dieser Felsendom in seinem Schoß barg.

Sie lag etwa fünfhundert Meter unter seinem Ausguck und bedeckte den gesamten Kraterboden. Sie wirkte zugleich prächtig und erbärmlich. Von seinem Aussichtspunkt konnte er die heruntergekommene Metropolis vollständig überblicken.

Türme und Pyramiden waren verfallen. In der Ferne erhoben sich ein oder zwei Gebäude bis ungefähr zur Höhe des Klippenrandes, doch auch deren Spitzen waren weggebrochen. Kanäle hatten die breiten Straßen ausgehöhlt und mäandrierende Schluchten zwischen die Gebäude gegraben. Weite Teile waren geflutet oder von Fließstein eingeschlossen. Mehrere riesige Stalaktiten waren so schwer geworden, dass sie von der unsichtbaren Decke herabgebrochen waren und sich in die Gebäude gebohrt hatten.

Ike brauchte eine Weile, bis er sich an den Maßstab dieses Ortes gewöhnt hatte. Erst dann bemerkte er, wie viele Wesen sich dort unten aufhielten. Sie waren so zahlreich und dicht gedrängt, dass er zunächst nur eine Art Flecken auf dem Kraterboden erkannte. Doch der Fleck bewegte sich langsam, träge wie ein Gletscher. Aus der Entfernung konnte er keine einzelnen Gestalten erkennen, aber seiner Schätzung nach mussten sich dort unten mehrere Tausend Hadal aufhalten, vielleicht sogar Zehntausende. Er hatte also richtig vermutet: Es gab eine Zufluchtsstätte.

Sie mussten von überall her, aus dem gesamten Subplaneten an diesen Ort gekommen sein. Ihre große Anzahl verhieß sowohl gute als auch schlechte Nachrichten. Wahrscheinlich würden Alis Entführer ebenfalls dieses Flüchtlingslager ansteuern, wenn sie nicht bereits angekommen waren. Ike hatte zwar noch keinen konkreten Plan gefasst, war jedoch davon ausgegangen, dass er es mit einer weitaus kleineren Horde zu tun haben würde. Aber hier war es unmöglich, Ali aus der Ferne ausfindig zu machen. Sich unter die Hadal zu mischen war unmöglich. Vielleicht würde es Monate dauern, sie zu finden, und die ganze Zeit über würde er sich auch noch um seine Geisel kümmern müssen. Diese Aussicht brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Er warf einen Blick auf seine Uhr und prägte sich Zeit, Datum und Höhe ein.

Als er die Schritte hinter sich hörte, wollte er mit dem Messer in der Hand aufspringen, sah jedoch nur noch einen Gewehrkolben, der ihm ins Gesicht schlug. Er spürte, wie ihm die Haut über dem Schläfenbein aufplatzte. Dann wurde es schwarz um ihn.

Als Ike wieder zu sich kam, waren seine Hände mit seinem eigenen Seil an seine Füße gefesselt. Mühsam öffnete er die Augen. Sein Bezwinger saß wartend in anderthalb Metern Entfernung, barfuß und in Lumpen, und betrachtete Ikes Gesicht durch ein Nachtsicht-Zielfernrohr der U.S. Army. Ike seufzte. Letztendlich hatten ihn die Ranger doch noch aufgespürt.

»Warte«, sagte Ike. »Warte noch, bevor du schießt.«

»Klar doch«, sagte der Mann, dessen Gesicht noch immer hinter dem Gewehr und dem Zielfernrohr verborgen war.

»Sag mir nur, warum.« Was hatte er getan, um ihre Rache auf sich zu ziehen?

»Warum was, Ike?« Der Mann hob den Kopf.

Ike war wie vom Donner gerührt. Es war kein Ranger.

»Tja, das ist eine Überraschung, was?«, sagte Shoat.

»Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass ein stinknormaler Typ wie ich den großen Ike Crockett überlisten kann. Aber es war das reinste Kinderspiel. Ich habe den Supermann fertig gemacht und nebenbei auch noch das Mädchen gekriegt.«

Ike sah zu seiner Tochter hinüber. Shoat hatte ihre Fesseln fester gezogen. Immerhin hatte er das Mädchen nicht ohne viel Federlesens abgeknallt.

Auch bärtig und ausgemergelt hatte Shoat sein feistes Grinsen nicht verloren. Er war sehr mit sich zufrieden. »In gewisser Hinsicht«, sagte er, »sind wir uns sehr ähnlich, du und ich. Wir sind Gründlinge. Wenn’s darauf ankommt, ernähren wir uns von der Scheiße anderer Leute. Und wir halten uns immer ein Hintertürchen offen. Damals in der Festung, als die Haddies plötzlich über uns herfielen, war ich darauf vorbereitet. Genau wie du.«

Ikes Gesicht schmerzte von dem Kolbenhieb. Was ihn aber am meisten schmerzte, war sein verletzter Stolz. »Hast du mich verfolgt?«

Shoat tätschelte das Zielfernrohr seines Gewehres. »Überlegene Technologie«, sagte er. »Ich habe dich aus zwei Kilometern Entfernung entdeckt, so deutlich wie am helllichten Tag. Und nachdem dir unser kleines Vögelchen ins Netz gegangen ist, war es noch viel einfacher. Aber wie auch immer ...« Er warf einen Blick hinter Ike über den Vorsprung. »Jedenfalls sind wir der Sache auf den Grund gegangen, was?«

Während Shoat redete, versuchte Ike die Lage einzuschätzen. Ein Rucksack an der Wand, halb leer. Nicht weit von dem lauernden Mädchen entfernt hatte Shoat den Plastikmüll einer Militärration auf dem Boden verstreut. Also war er ziemlich lange ohnmächtig gewesen; Shoat hatte ihn nicht nur fesseln können, sondern auch noch Zeit fürs Essen gehabt. Noch wichtiger war die Information, dass er offensichtlich allein gekommen war: Es waren nur ein Rucksack und die Reste einer Ration zu sehen. Und die Proteinriegel ließen darauf schließen, dass er sich nicht von dem ernährte, was ihm die Umgebung bot. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, wie man das machte.

Eine Sache jedoch machte Ike stutzig. Shoat hatte doch ein Peilgerät, also eine Fahrkarte nach Hause. Warum trieb er sich immer noch so tief unter der Erde herum?

»Sie hätten ein Floß nehmen oder einfach losmarschieren sollen«, sagte Ike. »Inzwischen könnten sie schon fast oben sein.«

»Das hätte ich auch getan, aber leider hat mir jemand mein Lieblingsspielzeug weggenommen.« Shoat hob den Lederbeutel an, der ihm wie ein Amulett um den Hals hing. »Das war die Garantie für meine Rückkehr. Ich habe erst gemerkt, dass mein Peilungsschätzchen weg ist, als ich es brauchte und im Beutel nur das hier fand.«

Er öffnete den Beutel und schüttelte ein flaches Jadeplättchen heraus.

Ike war sofort klar, dass jemand das Gerät gestohlen und durch dieses Stück aus einer antiken Hadal-Rüstung ersetzt haben musste.

»Und jetzt wollen Sie, dass ich Sie nach oben führe?«, vermutete er.

»Ich glaube nicht, dass wir ein gutes Team wären, Ike. Wie weit würden wir kommen, bevor uns Haddie erwischt? Oder du mich fertig machst?«

»Was wollen Sie dann?«

»Mein Peilgerät. Das wäre wirklich nett von dir.«

»Selbst wenn wir es finden - was können Sie hier schon damit anfangen?« Die Hadal würden ihn trotzdem aufspüren, ob er sein Peilgerät nun bei sich trug oder nicht.

Shoat lächelte rätselhaft und richtete das Jadeplättchen wie eine Fernbedienung auf Ike. »Damit kann ich das Programm wechseln.« Er machte ein schnalzendes Geräusch. »Ich spiele nur ungern den Propheten, Ike, aber du bist nicht mehr als eine Illusion. Genau wie das Mädchen und alle anderen da unten. Keiner von euch existiert.«

»Und Sie?« Ike verspottete ihn nicht. Das hier war der Schlüssel zu Shoats eigenartigem Benehmen.

»Ich schon. Klar doch. Ich bin so etwas wie die treibende Kraft. Der Urgrund aller Dinge. Oder die letzte Ursache. Wenn Ihr alle nicht mehr existiert, werde ich immer noch da sein.«

Shoat wusste etwas, oder glaubte es jedenfalls, doch Ike hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte. Er war ihnen unbekümmert ins Zentrum des Abgrunds gefolgt und hatte ihnen dort aufgelauert. Er hätte sie in den vergangenen Wochen jederzeit aus der Entfernung erschießen können. Stattdessen hatte er sie aus irgendeinem Grund verschont. Welcher Logik folgte dieser Bursche? Shoat war klug, gerissen und gefährlich. Ike machte sich Vorwürfe. Er hatte ihn unterschätzt.

»Sie haben den Falschen erwischt«, sagte Ike. »Ich habe Ihr Gerät nicht mitgenommen.«

»Natürlich nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht. Walkers Jungs hätten sich solche Tricks auch nicht einfallen lassen. Die hätten mir einfach eine Kugel verpasst. Du wahrscheinlich auch. Also muss es jemand anderes gewesen sein, jemand, der den Diebstahl vertuschen wollte. Jemand, der glaubt, meinen Code zu kennen. Ich weiß, wer es war, Ike. Und ich weiß, wann sie es getan hat.«

»Das Mädchen?«

»Glaubst du wirklich, ich hätte dieses wilde Tier in meine Nähe gelassen? Nein. Ich meine Ali.«

»Ali? Sie ist eine Nonne.« Ike schnaubte verächtlich, um seine Ablehnung zu unterstreichen. Aber wer könnte es sonst gewesen sein?

»Eine ziemlich gerissene Nonne. Du brauchst es gar nicht erst abzustreiten, Ike. Ich weiß, dass sie mit dir Hasch-mich gespielt hat. Solche Dinge bleiben mir nicht lange verborgen. Ich habe eine gute Menschenkenntnis.«

Ike betrachtete ihn. »Also sind Sie mir gefolgt, um ihr auf die Spur zu kommen.«

»Kluger Junge.«

»Aber ich habe sie nicht gefunden.«

»Doch, Ike. Du hast sie gefunden.« Shoat zog ihn an seinen Fesseln zum Klippenrand, legte Ike das Fernglas um den Hals und lockerte vorsichtig den Strick, mit dem Ikes Hände an seine Füße gefesselt waren. Dann trat er ein Stück zurück und zückte seine Pistole.

»Schau mal durch«, forderte er Ike auf. »Dort unten ist jemand, den du kennst. Sie und dieser lächerliche Häuptling. Seine satanische Majestät. Der Bursche, der sie entführt hat.«

Ike setzte sich mühsam auf. Seine Hände waren taub vom Strick, doch es gelang ihm, das Fernglas vor die Augen zu halten. Er suchte die Kanäle und die überfüllten Straßen ab, die jetzt vom grünen Licht des Nachtsichtgerätes erhellt waren.

»Such nach einem spitzen Turm, dann halte dich links«, wies ihn Shoat an.

Selbst mit Shoats Anweisungen, der durch das Zielfernrohr seines Gewehrs blickte, dauerte es mehrere Minuten. »Siehst du diese Säulen?«

»Sind das Walkers Leute?« Dort unten hingen zwei leblose Körper. Ali war nicht dabei. Noch nicht.

»Die ruhen sich nur ein bisschen aus«, sagte Shoat. »Sind ganz schön hart rangenommen worden. Es gibt noch einen weiteren Gefangenen. Ich habe ihn gesehen, bei Ali. Aber sie holen ihn immer wieder weg.«

Ike suchte weiter oben.

»Sie ist da«, ermutigte Shoat ihn. »Ich kann sie sehen. Unglaublich. Sieht aus, als schriebe sie in ihr Fahrtenbuch. Notizen aus dem Untergrund?«

Ike suchte weiter. Über den Hadal-Massen erhob sich ein Berg aus Fließstein, der ein aus dem Fels gehauenes Gebäude bis auf die oberen Stockwerke eingeschlossen hatte. Auf Ikes Seite waren Außenmauern des Gebäudes eingestürzt und gaben den Blick auf einen geräumigen Saal ohne Decke frei. Und dort saß sie. Ungefesselt. Warum auch nicht? Zwei Stockwerke tiefer belagerte sie die gesamte Hadal-Bevölkerung.

»Gefunden?«

»Ich sehe sie.« Eigenartigerweise konnte er keine Spuren ritueller Verstümmelungen erkennen. Normalerweise fingen sie mit den Brandzeichen und den Wundnarben gleich in den ersten Tagen an. Es dauerte Jahre, bis man davon genesen war. Aber Ali sah immer noch unberührt und unversehrt aus.

»Gut.« Shoat riss ihm das Fernglas aus den Händen. »Jetzt hast du deine Spur wieder. Du weißt, wohin du gehen musst.«

»Sie wollen, dass ich mich durch eine Stadt voller Hadal schleiche und Ihnen Ihr Peilgerät zurückhole?«

»Für so dumm musst du mich nicht halten. Auch du bist sterblich. Abgesehen davon: Warum sollte man eine Stadt heimlich betreten, wenn man ebenso gut einen großen Auftritt haben kann?«

»Ich soll einfach so hineinmarschieren und Ihr Eigentum zurückverlangen?«

»Besser du als ich.«

»Selbst wenn Ali das Peilgerät hätte - was dann?«

»Ich bin Geschäftsmann, Ike. Ich lebe und sterbe für Verhandlungen. Mal sehen, auf welche Geschäfte sich die Brüder dort unten einlassen.«

»Die dort unten? Die Hadal?«

»Du bist mein Bevollmächtigter. Mein privater Gesandter.«

»Sie werden Ali niemals freilassen.«

»Ich will ja nur mein Gerät.«

Ike war völlig verwirrt. »Warum sollten sie es herausrücken?«

»Genau darüber will ich mit ihnen verhandeln.« Shoat streckte die Hand nach seinem Tornister aus und zog einen ramponierten Laptop heraus, auf dem das Helios-Logo prangte. »Unsere Walkie-Talkies sind alle weg. Aber hier drin ist eine kleine Gegensprechanlage. Wir schalten eine Art Videokonferenz.«

Shoat klappte das Gerät auf und stellte den Rechner an. Er ging ein Stück zurück, steckte sich einen kleinen Ohrhörer ins Ohr und hielt sich das kleine Videomikrofon vors Gesicht. Seine grinsende Fratze huschte über den Bildschirm. »Test, Test, Test«, kam seine Stimme aus dem Computerlautsprecher.

Das noch immer an die Wand gefesselte wilde Mädchen stieß einen angsterfüllten Laut aus. Diese Art von Magie war ihr völlig unbekannt.

»Ich sage dir, was du zu tun hast, Ike. Du nimmst den Laptop mit hinunter in diese Totenstadt. Sobald du Ali gefunden hast, klappst du den Laptop auf. Achte darauf, dass zwischen dem Computer und mir kein Hindernis steht. Ich möchte nicht, dass die Übertragung gestört wird. Dann holst du mir ihren Häuptling ans Rohr. Und dann gibst du ihm erst mal diese Göre zurück, sozusagen als Beweis für meinen guten Willen. Von da an übernehme ich.«

»Und was ist für mich drin?«

Shoat grinste. »Kluges Kerlchen. Woran denkst du denn? Dein Leben? Oder Alis Leben? Jede Wette, dass ich die Antwort kenne.«

Das war genau die Chance, die Ike für Ali gewollt hatte. »Na gut«, sagte er. »Sie sind der Boss.«

»Schön, dich wieder an Bord zu haben, Ike.«

»Schneiden Sie mich los.«

»Aber sicher.« Shoat wackelte mit dem Messer, als sei Ike ein ungezogener kleiner Junge. Dann ließ er es auf den Boden fallen. »Ich möchte nur rasch noch etwas klarstellen. Es wird eine Weile dauern, bis du zum Messer gekrochen bist und dich losgeschnitten hast. Bis dahin sitze ich längst gemütlich mit geladener Flinte in meinem Versteck. Du begleitest diese kleine Menschenfresserin durch den Mob dort unten zu ihren Leuten, wo du mich sofort mit ihrem Obermacker in Verbindung setzt, egal wer dieser Kerl sein mag.«

Shoat stellte den Computer auf den Boden und zog sich zu einer höher gelegenen Nische mit schartigen Rändern in der Felswand zurück. Ikes Blick ruhte auf dem Messer.

»Keine Tricks, keine Umwege, keine Täuschungsmanöver. Der Laptop ist angeschaltet. Schalte ihn nicht aus. Ich möchte alles hören, was du sagst«, rief Shoat.

»Und komm bloß nicht auf die Idee, mich zu suchen. Von meiner Position aus habe ich alles prima unter Kontrolle. Eine falsche Bewegung, Ike, und das Feuerwerk geht los. Aber ich erschieße nicht dich, Ike. Ali wird für deine Sünden bezahlen. Sie ist zuerst dran. Danach suche ich mir meine Ziele nach Lust und Laune aus. Für dich wird es allerdings keine Kugel geben, das verspreche ich dir. Die Hölle darf dich behalten. Haben wir uns verstanden?« Ike kroch auf das Messer zu.



Und in der tiefsten Tiefe

lauert stets Noch eine tiefere

und tut sich auf Und droht,

mich zu verschlingen,

gegen die Die Hölle, die ich leide,

himmlisch scheint.


JOHN MILTON,

Das verlorene Paradies

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