JAVA 1998
Es war wirklich ein Liebesmahl. Frisch gepflückte Himbeeren von den gipfelnahen Hängen des Gunung Merapi, eines üppig bewachsenen Vulkans, der direkt unter der Sichel des Mondes in den Himmel ragte. Kaum zu glauben, dass der alte, blinde Mann todkrank war, so ungebremst war seine Begeisterung für die Himbeeren. Kein Zucker, auch keine Sahne. De l’Ormes Freude an den reifen Früchten war wirklich sehenswert, und so füllte Santos die Schüssel des alten Mannes Beere für Beere aus seiner eigenen Schüssel nach.
De l’Orme hielt inne und wandte den Kopf zur Seite.
»Das müsste er sein«, sagte er.
Santos hörte nichts, wischte sich aber die Finger an einer Serviette ab.
»Entschuldige mich«, sagte er und erhob sich rasch, um die Tür zu öffnen. Er spähte in die Nacht hinaus. Der Strom war abgeschaltet, und er hatte eine große Kohlenschale aufstellen lassen, um den Pfad zu erhellen. Da er niemanden sah, dachte er schon, de l’Ormes scharfe Ohren hätten ihn dieses Mal betrogen. Doch dann erblickte er den Reisenden.
Der Mann kniete vor ihm in der Dunkelheit und wischte sich mit einer Hand voll Blätter den Straßenstaub von den schwarzen Schuhen. Seine Hände waren breit wie die eines Maurers, sein Haar war weiß.
»Kommen Sie doch herein«, sagte Santos. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Doch er machte keine Anstalten dazu.
Dem alten Jesuiten fielen solche Dinge auf, die Kluft zwischen einem Wort und einer Tat. »Schon gut«, sagte er und hörte mit der Wischerei auf. »Ich muss heute Nacht noch ein ganzes Stück weiterlaufen.«
»Lassen Sie die Schuhe draußen«, wies ihn Santos an, versuchte dann jedoch, seinen Zorn in Großzügigkeit umzuwandeln. »Ich wecke den Jungen, der soll sie putzen.«
Der Jesuit erwiderte nichts. Er blickte Santos nur an, wobei sich der junge Mann nicht sehr wohl in seiner Haut fühlte. »Er ist ein guter Junge.«
»Wie Sie wünschen«, sagte nun der Jesuit, zog kurz an seinem Schnürsenkel, und der Knoten löste sich mit einem leisen Floppen. Dann band er den anderen Schuh auf und erhob sich.
Santos wich einen Schritt zurück. Er hatte weder diese Körpergröße noch dermaßen grobe, kräftige Knochen erwartet.
»Thomas.« De l’Orme stand im Halbschatten einer Walfängerlampe, die Augen hinter einer kleinen Brille verborgen. »Du kommst spät. Ich dachte schon, die Leoparden hätten dich erwischt. Und jetzt, sieh nur, haben wir das Abendessen ohne dich beendet.«
Thomas trat auf das spärliche, aus Obst und Gemüse bestehende Bankett zu und erblickte die kleinen Knochen einer Taube, der örtlichen Delikatesse. »Mein Taxi hat schlappgemacht«, erklärte er. »Der Fußmarsch dauerte länger, als ich dachte.«
»Du musst erschöpft sein. Ich hätte Santos in die Stadt geschickt, um dich abzuholen, aber du sagtest, du kennst dich auf Java aus.«
Das Licht der Kerzen auf dem Fensterbrett tauchte seinen kahlen Schädel in einen milchigen Heiligenschein. Thomas vernahm ein leises, klapperndes Geräusch vom Fenster, als werfe jemand Münzen gegen die Scheibe. Aus der Nähe sah er, dass es sich um Riesenmotten und stabförmige Insekten handelte, die wie von Sinnen an das Licht heranzukommen versuchten.
»Lange her«, sagte Thomas.
»Sehr lange«, lächelte de l’Orme. »Wie viele Jahre? Aber jetzt sind wir wieder vereint.«
Thomas blickte sich um. Das Zimmer war groß für das Gästezimmer eines ländlichen pastoran, dem niederländisch-katholischen Gegenstück eines Pfarrhauses, auch wenn es sich um einen so erlesenen Gast wie de l’Orme handelte. Wahrscheinlich war sogar eine Wand entfernt worden, um de l’Orme mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Mit Überraschung registrierte er die vielen Landkarten, Werkzeuge und Bücher. Mit Ausnahme eines blank polierten, von Papier überquellenden Sekretärs im Kolonialstil sah das Zimmer überhaupt nicht nach de l’Orme aus.
Es gab die übliche Ansammlung von Tempelfigürchen, Fossilien und Kunstgegenständen, mit der jeder Ethnologe auf Feldforschung seine Behausung dekorierte. Doch diesem Durcheinander aus Fundstücken und alltäglichem Krimskrams lag ein Ordnungsprinzip zu Grunde, das ebenso viel Auskunft über das Genie de l’Orme gab, wie über die Themen, mit denen er sich vorrangig beschäftigte. De l’Orme war nicht gerade bescheiden, aber er gehörte auch nicht zu den Leuten, die ein ganzes Regal mit eigenen veröffentlichten Gedichten und ihren zweibändigen Memoiren sowie ein weiteres mit mehreren Metern Monografien über Verwandtschaft, Paläotechnologie, Stammesmedizin, Botanik, Religionswissenschaft und dergleichen voll stopften. Ebenso wenig wäre er auf die Idee gekommen, sein berüchtigtes Buch Eine Angelegenheit des Herzens, eine marxistische Verteidigung Teilhard de Chardins im obersten Regal wie in einem Schrein aufzustellen. Auf das ausdrückliche Verlangen des Papstes hatte de Chardin damals widerrufen, was ihn seine Reputation unter den zeitgenössischen Wissenschaftlern gekostet hatte. De l’Orme hatte nicht widerrufen, was den Papst gezwungen hatte, seinen verlorenen Sohn in die Dunkelheit zu verstoßen.
Thomas kam zu dem Schluss, dass es für diese stolze Zurschaustellung der Werke in diesem Raum nur eine Erklärung geben konnte: der Geliebte. Wahrscheinlich wusste de l’Orme nicht einmal, dass seine Bücher förmlich auf dem Präsentierteller standen.
»War mir klar, dass ich dich, einen alten Ketzer, ausgerechnet zwischen Priestern antreffen muss«, rügte Thomas seinen alten Freund und machte eine Handbewegung in Richtung Santos.
»Und dann auch noch im Zustand der Sünde. Oder, sag an, ist er etwa einer von uns?«
»Siehst du?«, wandte sich de l’Orme lachend an Santos.
»Ungehobelt wie eine Dachlatte, hab ich’s dir nicht gesagt? Aber lass dich nicht davon täuschen!«
Santos war keineswegs beschwichtigt. »Einer wovon, wenn Sie sich bitte näher erklären würden? Einer Ihrer Sorte? Mit Sicherheit nicht. Ich bin Wissenschaftler.«
Aha, dachte Thomas, also ist dieser stolze Bursche mehr als ein Blindenhund. De l’Orme hatte sich endlich dazu durchgerungen, einen seiner Favoriten anzulernen. Er musterte den jungen Mann auf der Suche nach einem zweiten Eindruck, doch der fiel nur wenig besser als der Erste aus. Santos trug langes Haar, ein Ziegenbärtchen und ein sauberes weißes Hemd. Nicht einmal unter seinen Fingernägeln war Dreck.
De l’Orme kicherte weiter in sich hinein.
»Aber Thomas ist doch ebenfalls Wissenschaftler«, zog er seinen jungen Gefährten auf.
»Was du nicht sagst«, konterte Santos.
De l’Ormes Grinsen verflüchtigte sich. »Allerdings«, sagte er bestimmt. »Und zwar ein hervorragender Wissenschaftler. Mit allen Wassern gewaschen. Bewährt. Der Vatikan kann sich glücklich schätzen, ihn zu haben. Seine wissenschaftliche Reputation verschafft denen in Rom die einzige Glaubwürdigkeit, die ihnen in der modernen Zeit noch geblieben ist.«
Thomas fühlte sich von dieser Verteidigungsrede nicht geschmeichelt. De l’Orme nahm das Vorurteil, ein Geistlicher könne kein Denker in der wirklichen Welt sein, allzu persönlich, denn indem er der Kirche die Stirn geboten und die Kutte trotzdem anbehalten hatte, hatte er die Kirche in gewisser Weise bestätigt. Insofern sprach hier die eigene Tragödie aus seinem Mund.
Santos wandte den Kopf zur Seite. Im Profil wirkte sein Ziegenbärtchen wie ein Schnörkel an seinem sonst makellosen Michelangelo-Kinn. Wie alle Erwerbungen de l’Ormes war er körperlich so perfekt, dass man sich unwillkürlich fragte, ob der blinde Mann wirklich blind war. Vielleicht, rätselte Thomas, besaß ja auch die Schönheit eine ganz besondere geistige Dimension.
Aus der Ferne wehte diese unirdische, Gamelan genannte Musik herein. Angeblich brauchte man ein Leben lang, um die aus fünf Noten bestehenden Akkorde vollends genießen zu können. Gamelan hatte noch nie beruhigend auf ihn gewirkt. Das Geklimper machte ihn eher nervös. Java war nicht der beste Ort, um einfach irgendwo hineinzuplatzen.
»Vergib mir«, sagte er, »aber mein Zeitplan ist diesmal sehr gedrängt. Sie haben mich bereits für morgen Nachmittag auf die Fünf-Uhr-Maschine in Jakarta gebucht. Das heißt, ich muss bis Tagesanbruch wieder in Jogya sein, obwohl ich bereits jetzt schon viel Zeit mit meinem Zuspätkommen vergeudet habe.«
»Dann bleiben wir zwei eben die ganze Nacht auf«, knurrte de l’Orme. »Dabei möchte man meinen, sie ließen zwei alten Männern ein bisschen Zeit miteinander.«
»In dem Fall sollten wir uns eine von denen hier genehmigen.«
Thomas klappte seine Ledermappe auf. »Und zwar schnell.«
De l’Orme klatschte laut in die Hände. »Der Chardonnay? Mein zweiundsechziger?« Dabei wusste er genau, dass es nichts anderes sein konnte. So wie immer. »Den Korkenzieher, Santos. Warte nur, bis du den hier probiert hast. Und ein wenig gudeg für unseren Vagabunden. Eine Spezialität des Landes, Thomas, Hühnchen und Tofu in Kokosmilch gekocht ...«
Mit einem leidenden Blick machte sich Santos auf, um den Korkenzieher zu holen und das Essen aufzuwärmen. De l’Orme wiegte zwei der drei Flaschen, die Thomas vorsichtig aus der Tasche zog, in den Armen. »Atlanta?«
»Zentrale Seuchenkontrolle«, berichtigte Thomas. »Es gab Berichte von mehreren neuen Arten von Viren in der Region um Kap Horn ...«
Von Santos umhegt, verbrachten die beiden Männer die folgende Stunde am Tisch und hechelten ihre Abenteuer durch. Sie hatten sich tatsächlich schon siebzehn Jahre nicht mehr gesehen. Schließlich kamen sie auf die anstehende Arbeit zu sprechen.
»Eigentlich darfst du dort unten überhaupt keine Ausgrabungen machen«, sagte Thomas.
Santos saß zur Rechten von de l’Orme und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Genau darauf hatte er den ganzen Abend gewartet.
»Das hier kann man nicht unbedingt als Ausgrabung bezeichnen«, mischte er sich ein. »Terroristen haben eine Bombe hochgehen lassen. Wir sind lediglich zufällige Passanten, die sich eine offene Wunde ansehen.«
Thomas überhörte das Argument geflissentlich. »Borobudur ist für sämtliche archäologischen Tätigkeiten gesperrt. Insbesondere die unteren Bezirke direkt am Berg dürfen auf keinen Fall angerührt werden. Die UNESCO hat sich dafür ausgesprochen, dass keine der verborgenen Stützmauern ausgegraben oder sonst wie freigelegt werden soll. Die indonesische Regierung hat jegliche Art von Forschungsarbeiten unterhalb der Erdoberfläche kategorisch verboten. Dort darf weder ein Graben ausgehoben noch sonstwie herumgebuddelt werden.«
»Entschuldigung, aber ich muss mich wiederholen: Wir graben dort nicht. Da ist eine Bombe hochgegangen. Wir riskieren lediglich einen Blick in das dabei entstandene Loch.«
De l’Orme versuchte es mit einer Ablenkung. »Manche Leute glauben, es habe sich um eine von muslimischen Extremisten gezündete Bombe gehandelt, aber meiner Meinung haben wir es wieder mit dem alten Problem zu tun. Transmigrai. Die Bevölkerungspolitik der Regierung. Sie ist höchst unbeliebt. Sie zwingen Leute dazu, von überfüllten Inseln auf weniger besiedelte umzuziehen. Das ist übelste Tyrannei.«
Thomas ging nicht auf seine Abschweifungen ein. »Du hast dort unten nichts zu suchen«, wiederholte er. »Das ist unbefugtes Betreten, und du bist daran schuld, wenn dort auch in Zukunft keine Grabungen mehr stattfinden dürfen.«
Auch Santos ließ sich nicht ablenken: »Monsieur Thomas«, sagte er, »entspricht es denn nicht den Tatsachen, dass es die Kirche war, die die UNESCO und die Indonesier dazu überredet hat, sämtliche Grabungen in dieser Tiefe zu untersagen? Und dass Sie höchstpersönlich der Bevollmächtigte waren, der die Bemühungen der UNESCO um die Restaurierung zum Stillstand brachte?«
De l’Orme lächelte unschuldig, als wundere er sich selbst darüber, woher sein Schützling über derlei Dinge Bescheid wusste.
»Die Hälfte dessen, was Sie da sagen, ist wahr«, erwiderte Thomas.
»Dann kamen die Anweisungen also von Ihnen?«
»Ich habe sie nur weitergeleitet. Die Restaurierung war abgeschlossen.«
»Die Restaurierung schon, aber die Ermittlungen offensichtlich noch nicht. Die Gelehrten haben hier acht verschiedene große Kulturen gezählt, eine über der anderen. Und jetzt, innerhalb von zwei Wochen, haben wir darunter sogar Hinweise auf zwei weitere gefunden.«
»Wie auch immer«, meinte Thomas, »ich bin jedenfalls hier, um die Grabungen abzubrechen. Ab heute Nacht ist Schluss damit.«
Santos schlug mit der flachen Hand aufs Holz.
»Eine Schande! Sag doch etwas!«, appellierte er an de l’Orme.
Die Antwort war nicht mehr als ein Flüstern: »Perinde ac Cadaver.«
»Wie bitte?«
»Wie ein Leichnam«, sagte de l’Orme. »Das Perinde ist das erste Gebot des jesuitischen Gehorsams. Ich gehöre nicht mir, sondern Ihm, der mich geschaffen hat, Ihm und Seinen Stellvertretern. Ich muss gehorchen wie ein Kadaver, dem weder Wille noch Verstand eigen ist.«
Der junge Mann erbleichte.
»Stimmt das?«, fragte er.
»Allerdings«, antwortete de l’Orme.
Das Perinde schien sehr viel zu erklären. Thomas beobachtete, wie Santos de l’Orme einen mitleidigen Blick zuwarf, deutlich erschüttert von dem schrecklichen Kodex, der seinen gebrechlichen Mentor einst gefangen gehalten hatte. »Schön und gut«, wandte sich Santos schließlich an Thomas. »Aber für uns zählt das nicht.«
»Nicht?«, fragte Thomas.
»Wir verlangen die freie Entfaltung unserer Ansichten. Und zwar uneingeschränkt. Euer Gehorsam hat nichts mit uns zu tun.«
Uns, nicht mir. Der junge Mann wurde Thomas allmählich sympathisch.
»Aber jemand hat mich hierhergebeten, damit ich mir ein in Stein gehauenes Bild ansehe«, sagte Thomas. »Ist das nicht auch Gehorsam?«
»Glaub mir, mein Freund, das war ganz gewiss nicht Santos«, lächelte de l’Orme. »Im Gegenteil, er hat stundenlang zu verhindern versucht, dich zu informieren. Er hat mir sogar gedroht, als ich dir das Fax schickte.«
»Warum das denn?«
»Weil das Bild natürlich ist«, erwiderte Santos. »Und Sie werden jetzt versuchen, es zu etwas Übernatürlichem zu machen.«
»Das Angesicht des absolut Bösen?«, fragte Thomas. »So hat es mir de l’Orme beschrieben. Ich weiß nicht, ob es natürlichen Ursprungs ist oder nicht.«
»Es ist nicht das wahre Gesicht. Nur eine Interpretation. Der Albtraum eines Bildhauers.«
»Wenn es aber nun doch ein reales Gesicht darstellt? Ein Gesicht, das uns von anderen Artefakten und anderen Ausgrabungsstätten her bekannt ist? Wie kann es dann etwas anderes als natürlich sein?«
»Da haben wir’s schon!«, beschwerte sich Santos. »Dass Sie mir die Worte im Mund umdrehen, ändert nichts an Ihrer Zielsetzung. Sie wollen dem Teufel in die Augen sehen, auch wenn es nur die Augen eines Menschen sind.«
»Ob Mensch oder Dämon, das obliegt meiner Entscheidung. Es gehört zu meiner Aufgabe, all das zu sammeln, was seit Menschengedenken aufgezeichnet wurde, und es zu einem schlüssigen Bild zusammenzusetzen. Einen Beweis für die Existenz der Seele zu liefern. Habt ihr Fotos davon gemacht?«
Santos war verstummt.
»Zweimal sogar«, beantwortete de l’Orme seine Frage. »Aber der erste Film ist einem Wasserschaden zum Opfer gefallen. Und wie mir Santos berichtete, sind die Aufnahmen des Zweiten so dunkel geworden, dass man nichts darauf erkennen kann. Und die Akkus der Videokamera sind leer. Wir sind hier schon tagelang ohne Strom.«
»Dann vielleicht ein Gipsabdruck? Die Darstellungen sind doch Hochreliefs, oder nicht?«
»Dazu war keine Zeit. Die Erde rutscht nach oder das Loch füllt sich mit Wasser. Wir haben keinen sauber ausgehobenen Graben, und dieser Monsun ist die reinste Plage.«
»Willst du damit sagen, dass es davon überhaupt keine Aufnahmen, keinerlei Aufzeichnungen gibt? Nach drei Wochen? Überhaupt nichts?«
Santos machte einen verlegenen Eindruck. De l’Orme kam ihm zu Hilfe: »Morgen Abend haben wir Material in Hülle und Fülle. Santos hat geschworen, nicht eher aus der Tiefe heraufzusteigen, ehe er nicht das gesamte Bildnis aufgezeichnet hat. Danach kann die Grube selbstverständlich wieder verschlossen werden.«
Angesichts des Unvermeidlichen zuckte Thomas die Achseln. Es war nicht an ihm, de l’Orme und Santos persönlich davon abzuhalten. Die Archäologen wussten es zwar noch nicht, aber sie befanden sich in einem Wettlauf nicht nur mit der Zeit. Morgen würden indonesische Einheiten einrücken, um die Grabungsstätte zu schließen und die mysteriösen Steinsäulen unter Tonnen vulkanischer Erde zu begraben. Thomas war froh, dass er bis dahin längst wieder weg war. Er machte sich nicht besonders viel daraus, einen Blinden gegen Bajonette argumentieren zu sehen.
Es war schon fast ein Uhr morgens. In der Ferne wehte die Gamelan-Musik zwischen den Vulkanen, vermählte sich mit dem Mond, verführte das Meer.
»In diesem Fall würde ich das Fresko gern selbst sehen«, sagte Thomas.
»Jetzt?«, fuhr ihn Santos an.
»Genau das habe ich erwartet«, meinte de l’Orme. »Er ist fünfzehntausend Kilometer gereist, da darf er auch einen kurzen Blick darauf werfen. Gehen wir.«
»Von mir aus«, brummte Santos. »Aber er geht mit mir. Du brauchst deine Ruhe, Bernard.«
Thomas registrierte die Zärtlichkeit. Einen Augenblick war er fast neidisch.
»Dummes Zeug«, sagte de l’Orme. »Ich gehe mit.«
Sie stiegen im Licht der Taschenlampen und unter schimmelig riechenden Regenschirmen mit klebrigen Bambusgriffen den Pfad hinauf. Die Luft war so feucht, dass es schon fast keine Luft mehr war. Es sah aus, als müsste der Himmel jeden Augenblick aufbrechen und sich in einen Wasserfall verwandeln. Diese Monsunschauer in Java konnte man nicht einfach als Regen bezeichnen. Es waren Naturschauspiele, eher Vulkanausbrüchen vergleichbar. Sie bläuten einem so viel Demut ein wie Jehovah persönlich. Man konnte sogar die Uhr nach ihnen stellen.
»Thomas«, sagte de l’Orme, »was wir gefunden haben, datiert weiter zurück, als alles andere, was wir kennen. Es ist unsagbar alt. Zu jener Zeit kletterte die Menschheit noch auf Bäumen herum, erfand gerade mal das Feuer und schmierte mit Fingerfarbe an Höhlenwände. Das ist es, was mir Angst macht. Diese Leute, wer sie auch gewesen sein mögen, dürften eigentlich noch keine Werkzeuge gehabt haben, um Feuerstein zu bearbeiten, geschweige denn, um etwas derartig Kunstvolles aus dem Stein herauszumeißeln. Oder Porträts auf eigens dafür errichteten Säulen zu schaffen. So etwas dürfte überhaupt nicht existieren.«
Thomas dachte nach. Es gab nicht viele Orte auf der Welt, an denen es ältere Beweise für das erste Auftreten der Menschheit gab als auf Java. Der Javamensch -Pithecanthropus, besser bekannt als Homo erectus - war nur wenige Kilometer von ihrem Standpunkt entfernt bei Trinil und Sangiran am Solo-Fluss gefunden worden. Eine Viertelmillion Jahre lang hatten sich die Vorfahren des heutigen Menschen von den Früchten der Bäume ernährt -und sich auch gegenseitig umgebracht und aufgefressen. Auch davon gaben die fossilen Funde unzweifelhaft Zeugnis.
»Du erwähntest einen Fries mit grotesken Figuren.«
»Monströse Gestalten«, bestätigte de l’Orme. »Genau dorthin bringen wir dich jetzt. Zum Sockel von Säule C.«
»Könnte es sich um Selbstporträts handeln? Vielleicht waren es ja Hominiden. Vielleicht waren sie ja mit Talenten gesegnet, die wir ihnen bislang nicht zugetraut hätten.«
»Vielleicht«, antwortete de l’Orme. »Andererseits ist da dieses Gesicht.«
Das Gesicht war es, das Thomas von so weit her an diesen Ort gelockt hatte. »Du sagtest, es sei abscheulich.«
»Nein, das Gesicht selbst ist überhaupt nicht abscheulich. Das ist ja das Problem. Es ist ein vertrautes Gesicht. Das Gesicht eines Menschen.«
»Eines Menschen?«
»Es könnte dein Gesicht sein.«
Thomas warf dem Blinden einen strengen Blick zu.
»Oder meines«, fügte de l’Orme hinzu. »Abscheulich ist nur der Kontext. Dieses ganz normale Gesicht blickt gelassen auf Szenen der Grausamkeit, der Entwürdigung und der Ungeheuerlichkeit.«
»Und?«
»Das ist alles. Es schaut zu. Und man sieht genau, dass es nie mehr wegschauen wird. Dieser Zuschauer wirkt irgendwie zufrieden. Ich bin mit den Fingern über die Szene gefahren«, sagte de l’Orme. »Sogar die Berührung damit ist widerlich. Dieses Nebeneinander von Normalität und Chaos ist höchst ungewöhnlich. Und es ist so banal, so prosaisch. Das ist am verblüffendsten. Es steht völlig außerhalb jeden Zusammenhangs mit seiner Entstehungszeit, welche Zeit das auch immer gewesen sein mag.«
Von den weit auseinanderliegenden Dörfern wehte das Geräusch von Feuerwerkskörpern und Trommeln herüber. Ramadan, der muslimische Fastenmonat, war am gestrigen Tag zu Ende gegangen. Thomas sah, wie sich die Neumondsichel zwischen die Berge schob. In den Familien wurde ausgelassen gefeiert. Ganze Dorfgemeinschaften blieben bis zum Morgengrauen wach, schauten sich ihre wayang genannten Schattenspiele mit den Scherenschnittpuppen an, die Geschichten von Liebe und grausamen Schlachten auf ein weißes Laken warfen. Bis zum Morgengrauen würde das Gute über das Böse triumphiert haben, das Licht über die Dunkelheit. Das übliche Märchen.
Einer der Berge unter dem Mond teilte sich im Mittelgrund und verwandelte sich in die Ruinen von Borobudur. Der gewaltige Stupa stellte den Berg Meru dar, eine Art kosmischen Mount Everest. Borobudur war die größte Ruine des schon seit über eintausend Jahren bei einem Ausbruch des Gunung Merapi begrabenen Komplexes. In diesem Sinne war es ein Palast des Todes und eine Kathedrale in einem, ein südostasiatisches Gegenstück zu den ägyptischen Pyramiden.
Der Eintrittspreis war, zumindest symbolisch, der Tod. Man betrat das Gebilde durch den aufgesperrten Rachen eines wilden, gierigen, alles verschlingenden, mit Menschenschädeln umkränzten Untiers - der Göttin Kali. Direkt dahinter stand man in einem labyrinthischen Jenseits. Jeder Reisende musste an einer über zehntausend Quadratmeter großen, fünf Kilometer langen, in Stein gemeißelten »Geschichtenwand« vorbei. Die Geschichte, die hier erzählt wurde, glich bis auf wenige Details der von Dantes Inferno und Paradiso. Ganz unten stellten die in Stein gemeißelten Bildplatten die in Sünde gefangene Menschheit dar, inklusive scheußlicher Bestrafungen durch höllische Dämonen. Bis zu dem Punkt, an dem man zu einem Plateau kugelförmiger Stupas aufgestiegen war, hatte Buddha die Menschheit aus ihrem Zustand des Samsara heraus und zur Erleuchtung geführt. Dafür war in dieser Nacht nicht genug Zeit. Es ging bereits auf 2 Uhr 30 zu.
»Pram?«, rief Santos in die Dunkelheit vor ihnen. »Asalamu alaikum.« Thomas kannte diesen Gruß. Friede sei mit dir. Aber es kam keine Antwort.
»Pram ist ein bewaffneter Posten, den ich zur Bewachung der Stätte angeheuert habe«, erläuterte de l’Orme. »Er war früher ein berühmter Guerilla. Wie du dir vorstellen kannst, ist er inzwischen schon ziemlich alt. Und wahrscheinlich betrunken.«
»Merkwürdig«, murmelte Santos. »Bleibt hier. Ich gehe nachsehen.« Mit diesen Worten stieg er den Pfad höher hinauf und war kurz darauf nicht mehr zu sehen.
»Warum dieser dramatische Auftritt?«, erkundigte sich Thomas.
»Santos? Er meint es gut. Er wollte einen guten Eindruck auf dich machen. Aber du machst ihn nervös.
Ihm bleibt heute Nacht, wie ich leider zugeben muss, nur noch seine gespielte Tapferkeit, mehr nicht.«
De l’Orme legte eine Hand auf Thomas’ Unterarm. »Sollen wir?«
Sie setzten ihren Spaziergang fort. Man konnte sich hier nicht verlaufen. Der Pfad lag wie eine geisterhafte Schlange vor ihnen. Borobudur ragte im Norden vor ihnen auf.
»Wo gehst du von hier aus hin?«, fragte Thomas.
»Sumatra. Ich habe dort eine Insel gefunden, Nias. Angeblich ist es die Stelle, an der Sindbad der Seefahrer damals gelandet ist und den alten weisen Mann des Meeres getroffen hat. Ich fühle mich bei den Eingeborenen dort sehr wohl, und Santos hat seine Beschäftigung mit einigen Ruinen aus dem 4. Jahrhundert, die er im Dschungel ausfindig gemacht hat.«
»Und der Krebs?«
De l’Orme antwortete nicht mal mit einem seiner Scherze.
Santos kam völlig verdreckt mit einem alten japanischen Karabiner in der Hand den Pfad heruntergerannt. »Verschwunden«, keuchte er. »Und das Gewehr hat er in einem Erdhaufen zurückgelassen. Aber zuvor hat er sämtliche Kugeln verschossen.«
»Wenn du mich fragst, ist er nach Hause, um mit seinen Enkelkindern zu feiern«, sagte de l’Orme.
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Erzähl mir bloß nicht, die Tiger hätten ihn geholt.«
Santos senkte den Gewehrlauf. »Natürlich nicht.«
»Wenn du dich damit sicherer fühlst, kannst du das Ding ja nachladen«, meinte de l’Orme.
»Wir haben keine Kugeln mehr.« »Um so sicherer sind wir. Ziehen wir also weiter.«
Unweit des Mauls der Kali, am Sockel des Monuments, bogen sie vom Pfad ab und kamen an einem aus Bananenblättern gefertigten Unterschlupf vorbei, wo der alte Pram wohl seine Nickerchen gehalten hatte.
»Seht ihr?« sagte Santos. Der Boden war wie von einem Kampf aufgewühlt.
Thomas sah sich auf der Ausgrabungsstätte um. Es sah eher wie eine Schlammschlacht aus. In den Dschungelboden senkte sich eine tiefe Grube, daneben lag ein großer Haufen Erde und Wurzeln. Auf einer Seite befanden sich die Steinplatten, von denen de l’Orme erzählt hatte, groß wie Gullydeckel. »Was für ein Durcheinander«, kommentierte Thomas. »Ihr habt ja förmlich gegen den Dschungel selbst gekämpft.«
»Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass wir das hinter uns haben«, nickte Santos.
»Befindet sich der Fries dort unten?«
»In zehn Metern Tiefe.«
»Darf ich?«
»Aber sicher.«
Thomas hielt sich an der Bambusleiter fest und kletterte vorsichtig hinab. Die Sprossen waren glitschig, und seine Sohlen waren nicht zum Leitern steigen, sondern eher für Straßenpflaster gedacht.
»Sei vorsichtig«, rief ihm de l’Orme nach.
»Alles klar, ich bin schon unten.« Thomas blickte nach oben. Es sah aus, als schaute man aus einem tiefen Grab heraus. Schlamm quoll zwischen den Bambusmatten auf dem Boden hervor, und die hintere, vom Regenwasser gesättigte Wand, drückte ihre Bambusverschalung bedenklich nach innen. Es sah aus, als würde hier im nächsten Augenblick alles zusammensacken und einbrechen.
Jetzt kam de l’Orme herunter. Das jahrelange Herumklettern auf wackligen Ausgrabungsgerüsten war ihm zur zweiten Natur geworden. Seine dürre Gestalt brachte die primitive Leiter kaum zum Wackeln.
»Du bewegst dich immer noch flink wie ein Affchen«, frozzelte Thomas.
»Das ist nur die Schwerkraft«, grinste de l’Orme. »Warte nur, bis ich mich wieder heraufquälen muss.« Er legte den Kopf zur Seite und rief Santos hinauf: »Alles klar. Die Leiter ist frei. Du darfst dich uns anschließen.«
»Gleich. Ich will mich nur noch einmal umsehen.«
»Na, was hältst du davon?«, fragte de l’Orme Thomas, sich dessen nicht bewusst, dass Thomas in völliger Dunkelheit stand und auf die leistungsstärkere Taschenlampe von Santos gewartet hatte. Jetzt zog er seine kleinere Leuchte aus der Tasche und schaltete sie an.
Die Säule aus Magmagestein war recht dick und eigenartigerweise vom Wüten des Dschungels und dem Zahn der Zeit völlig unbehelligt geblieben. »Sauber, sehr sauber«, sagte er. »Die Konservierung erinnert mich eher an eine Wüstenumgebung.«
Er führte den Lichtstrahl an den Rand der Steinmetzarbeiten: Die Details sahen aus wie neu, kein bisschen verwittert. Dieses Gebäude musste sehr tief in der Erde begraben gewesen sein, und das seit spätestens einhundert Jahren nach seiner Fertigstellung.
De l’Orme streckte eine Hand aus und legte die Fingerspitzen auf das Bild, um sich zu orientieren. Er hatte sich die gesamte Oberfläche allein durch seine Berührung eingeprägt und fing jetzt an, etwas Bestimmtes zu suchen. Thomas folgte seinen Fingern mit dem Lichtstrahl.
»Entschuldige, Richard«, sprach de l’Orme zu dem Stein, und jetzt erblickte Thomas die so angesprochene, vielleicht zehn Zentimeter hohe Ungeheuerlichkeit, die ihre eigenen Eingeweide wie eine Opfergabe darbot. Blut ergoss sich über den Boden, und aus der Erde entsprang eine Blume.
»Richard?«
»Ach, ich habe all meinen Kindern einen Namen gegeben«, sagte de l’Orme.
Richard war nur eine von vielen dieser Kreaturen. Die Säule war so dicht mit Missgestalten und Marterungen bedeckt, dass das ungeübte Auge nur mit Mühe eine von der anderen unterscheiden konnte.
»Hier, Susanne ... sie hat ihre Kinder verloren«, stellte ihm nun de l’Orme eine Frauengestalt vor, der an jeder Hand ein kleines Kind baumelte. »Und diese drei Herren hier habe ich die Musketiere getauft.« Er wies auf ein schauerliches Trio, das sich gegenseitig auffraß. »Einer für alle, alle für einen.«
Es war entschieden abscheulicher als nur eine Aneinanderreihung von Perversionen. Hier war jede Spielart des Leidens dargestellt. Die Kreaturen waren zweibeinig und verfügten über opponierende Daumen, einige von ihnen trugen Tierfelle und sogar auch Hörner. Abgesehen davon hätten es Paviane sein können.
»Du könntest mit deinem ersten Eindruck richtig liegen«, sagte de l’Orme. »Ich hielt diese Geschöpfe zuerst für Mutationen oder Missgeburten. Inzwischen frage ich mich jedoch, ob sie nicht ein Fenster zu einer mittlerweile ausgestorbenen Menschenart sind.«
»Könnte es sich nicht ebenso gut um eine Zurschaustellung psychosexueller Phantasien handeln?«, fragte Thomas. »Vielleicht die Albträume des von dir erwähnten Gesichts?«
»Man wünschte sich beinahe, dem wäre wirklich so«, erwiderte de l’Orme. »Aber das glaube ich nicht. Nur einmal angenommen, unser Meisterbildhauer hier hat irgendwie sein Unterbewusstsein angezapft. Damit ließen sich einige der Gestalten erklären. Aber was du hier siehst, ist keinesfalls die Arbeit der Hand eines Einzelnen. Um diese und die anderen Säulen zu bebildern, hätten mehrere Generationen einer ganzen Künstlerschule im Einsatz sein müssen. Verschiedene Bildhauer hätten unterschiedliche Auffassungen, vielleicht sogar ihr eigenes Unterbewusstsein hinzugefügt. Abgesehen davon: Findest du nicht, dass wir hier eher Szenen des bäuerlichen und des höfischen Lebens, Jagdszenen oder Götterbilder vorfinden müssten? Stattdessen haben wir nur ein einziges großes Bild der Verdammnis vor uns.«
»Aber du glaubst doch nicht, dass es sich dabei um ein Abbild der Realität handelt?«
»Ehrlich gesagt: doch. Es ist alles viel zu realistisch und ohne einen Anflug von Erlösung, um nicht die Wirklichkeit zu sein.«
De l’Orme fand eine Stelle unweit der Mitte des Steins. »Und dann das Gesicht selbst«, sagte er. »Es schläft nicht, und es träumt oder meditiert auch nicht. Es ist hellwach.«
»Richtig, das Gesicht«, ermutigte ihn Thomas.
»Urteile selbst.« Mit einer schwungvollen Gebärde legte nun de l’Orme die flache Hand in die Mitte der Säule, ungefähr auf Kopfhöhe. Doch noch während sich seine Handfläche auf den Stein senkte, verwandelte sich de l’Ormes Gesichtsausdruck. Er sah aus wie jemand, der sich zu weit nach vorne gebeugt und plötzlich die Balance verloren hat.
»Was ist denn?«, erkundigte sich Thomas.
De l’Orme nahm die Hand weg. Unter ihr befand sich nichts.
»Das ist doch nicht möglich!«, rief er.
»Was denn?« fragte Thomas.
»Das Gesicht. Das ist die Stelle, an der es war. Jemand hat das Gesicht zerstört.«
Unter de l’Ormes ausgestrecktem Finger war ein großer aus dem Relief herausgemeißelter Kreis zu sehen, an dessen Rändern noch immer ein paar fein ausgemeißelte Haare und der Ansatz eines Nackens zu sehen waren. »Das war das Gesicht?«, fragte Thomas.
»Jemand hat es mutwillig zerstört!«
Thomas ließ den Blick aufmerksam über die Darstellungen im näheren Umfeld wandern. »Und den Rest unberührt gelassen. Aber warum?«
»Das ist entsetzlich!«, heulte de l’Orme. »Und wir haben keine einzige Aufzeichnung davon. Wie konnte so etwas nur geschehen? Santos war gestern den ganzen Tag hier. Und Pram schob hier Dienst, bis er seinen Posten verlassen hat, der elende Kerl!«
»Könnte es Pram gewesen sein?«
»Pram? Wie kommst du denn darauf?«
»Wer hat sonst noch davon gewusst?«
»Das ist die Frage.«
»Bernard«, sagte Thomas. »Die Sache ist sehr ernst. Es ist fast so, als wollte jemand verhindern, dass ich dieses Gesicht zu sehen bekomme.«
Der Gedanke ließ de l’Orme auffahren. »Oh, das ertrage ich nicht. Warum sollte jemand ein solches Kunstwerk zerstören, nur um .«
»Meine Kirche sieht durch meine Augen«, sagte Thomas. »Jetzt wird sie niemals sehen, was es hier zu sehen gab.«
De l’Orme hielt beunruhigt die Nase an den Stein. »Die Beschädigung ist erst vor wenigen Stunden erfolgt«, teilte er Thomas mit. »Man kann immer noch den frischen Stein riechen.«
Thomas untersuchte die Narbe. »Eigenartig. Keine Meißelspuren. Diese Rillen sehen eigentlich eher wie die Krallenspuren von einem wilden Tier aus.«
»Absurd. Welches Tier würde so etwas tun?«
»Da hat du Recht. Jemand muss ein Messer eingesetzt haben, um das Gesicht wegzureißen. Oder eine Ahle.«
»Das ist ein Verbrechen!« De l’Orme kochte vor Wut.
Von oben fiel Licht auf die beiden alten Männer tief unten in der Grube. »Ihr seid ja immer noch dort unten«, rief Santos.
Thomas hob die Hand, um seine Augen vor dem Lichtstrahl abzuschirmen. Santos hielt die Lampe weiterhin direkt auf sie gerichtet. Thomas kam sich plötzlich sehr angreifbar und gefangen vor. Bedroht. Die Respektlosigkeit des Mannes dort oben machte ihn wütend. De l’Orme bekam von der stummen Provokation nicht das Geringste mit.
»Was treiben Sie da eigentlich?«, wollte Thomas wissen.
»Genau«, pflichtete ihm de l’Orme bei. »Während du dich irgendwo herumtreibst, haben wir eine schreckliche Entdeckung gemacht.«
Santos bewegte seinen Lichtstrahl zur Seite. »Ich habe Geräusche gehört und gedacht, vielleicht ist es Pram.«
»Vergiss Pram. Die Ausgrabung ist sabotiert worden, das Gesicht verstümmelt.«
Santos kam mit kräftig ausholenden Schritten herabgestiegen. Die Leiter bebte unter seinem Gewicht. Thomas zog sich ans Ende der Grube zurück, um ihm Platz zu machen.
»Diebe«, stieß Santos hervor. »Tempeldiebe ... der Schwarzmarkt ...«
»Hör auf«, unterbrach ihn de l’Orme. »Das hier hat nichts mit Diebstahl zu tun.«
»Es war auch nicht Pram«, sagte Thomas.
»Nicht? Woher wollen Sie das wissen?«
Thomas leuchtete mit seiner Lampe in eine Ecke hinter der Säule. »Ich stelle lediglich Vermutungen an. Es könnte ebenso gut jemand anderes gewesen sein. Schwer zu erkennen, wer das ist. Außerdem habe ich den Mann nie kennen gelernt.«
Santos drängte sich hinter die Säule, und richtete seinen Lichtstrahl in den Spalt auf die Überreste. »Pram«, würgte er und übergab sich dann in den Schlamm.
Es sah wie ein Betriebsunfall unter Einwirkung schweren Geräts aus. Der Körper war in eine sechs Zoll breite Spalte zwischen zwei Säulen gerammt worden. Die Kraft, die nötig war, um die Knochen zu brechen, den Schädel zu zerquetschen und den ganzen Körper mit Haut, Fleisch und Kleidern in den engen Zwischenraum zu zwängen, war jenseits aller Vorstellungskraft.
Thomas bekreuzigte sich.
Wie rasch wir doch aufbrausen,
wir Menschen auf Erden.
HOMER, Odyssee