WESTLICH DER CLIPPERTON-STUFE
Nach Mollys Tod stürzten sie sich mit betonter Ernsthaftigkeit in ihre wissenschaftliche Arbeit. Die Ufer rückten näher und die Strömung wurde schneller. Weil sie rascher vorankamen, blieb ihnen mehr Zeit, um ihr Ziel -das nächste Proviantlager - zu erreichen, und sie fingen an, die Uferstreifen genauer zu untersuchen. Manchmal blieben sie sogar zwei oder drei Tage an einem Ort.
Die Gegend musste früher einmal reich an Leben gewesen sein. An einem einzigen Tag entdeckten sie dreißig neue Pflanzen, darunter eine Grasart, die auf Quarz wuchs. Seine Wurzeln entzogen dem Untergrund Gase und wandelten sie in metallische Zellulose um. Sie fanden die kristallisierten Überreste eines Tieres und fingen eine fast siebzig Zentimeter lange Riesengrille. Die Geologen machten eine fingerdicke Goldader ausfindig.
Im Namen von Helios, das die Patentrechte auf sämtliche Entdeckungen dieser Art besaß, sammelte Shoat ihre Berichte jeden Abend auf Diskette. Hatte eine Entdeckung - wie etwa das Gold - einen besonderen Wert, stellte er einen Gutschein für eine Prämienauszahlung aus. Die Geologen hatten inzwischen schon so viele davon, dass sie sie untereinander als Währung einsetzten und sich damit Kleidungsstücke, Nahrung oder Reservebatterien abkauften.
Ali interessierte sich mehr für die Beweise einer hadalischen Zivilisation. Sie entdeckten ein kompliziertes System von Wasserleitungen, das in den Felsen gegraben worden war, um das Wasser von weiter flussaufwärts bis in das terrassenförmige Tal zu transportieren. Auf einem etwas erhöht verlaufenden Pfad lag eine aus der Schädeldecke eines Neandertalers gefertigte Trinkschale. An einer anderen Stelle fanden sie ein riesenhaftes Skelett in vor Rost starrenden Ketten. Ethan Troy, der forensische Anthropologe, war der Meinung, dass die tief in den Schädel des Riesen eingeritzten Muster mindestens ein Jahr vor dem Tod des Gefangenen angebracht worden sein mussten.
Sie versammelten sich um eine Steinplatte, auf der ockerfarbene Handabdrücke leuchteten. In der Mitte waren Sonne und Mond dargestellt. Die Wissenschaftler waren verblüfft. »Soll das heißen, dass die Hadal Sonne und Mond anbeten? 5600 Faden unter dem Meer?«
Was für eine herrliche Ketzerei, dachte Ali. Die Kinder der Dunkelheit verehrten das Licht. Sie machte ein Foto. Als ihr Blitzlicht aufzuckte, verlor die gesamte, mit Piktogrammen überzogene Wand ihre Farbe; nicht nur die pigmentierten Darstellungen, sondern auch der Untergrund. Alles verblasste und verschwand. Zehntausend Jahre alte Kunstwerke verwandelten sich in nackten Stein.
Doch nachdem die Tierfiguren und Handabdrücke, die Bilder von Sonne und Mond weggebrannt waren, entdeckten sie eine tiefer liegende, in den Fels eingeritzte Schrift. Jemand hatte ein gut sechzig Zentimeter langes Stück mit Zeichen überzogen. In der Finsternis waren die Kerben kaum mehr als dunkle Linien auf dunklem Stein. Zögernd näherten sich die Wissenschaftler der Wand, als könnte sie ebenfalls vor ihren Augen entschwinden.
Ali strich mit den Fingerspitzen über die Steinwand. »Vielleicht ist es absichtlich eingekerbt worden, damit man es in der Dunkelheit lesen kann, wie Blindenschrift.«
»Das soll Schrift sein?«
»Ein Wort ... ein einziges Wort. Seht euch dieses Zeichen an.«
Ali fuhr an einer Gravur mit einem Y-ähnlichen Schweif entlang, dann an einem umgedrehten E. »Und diese hier. Schaut euch die Linienführung an. Buchstabenstellung und Strich erinnern an Sanskrit oder Hebräisch. Paleo-Hebräisch vielleicht. Oder noch älter. Ur-Hebräisch. Phönizisch. Wie man es auch nennen mag.«
»Hebräisch? Phönizisch? Womit schlagen wir uns denn jetzt herum? Mit den verlorenen Stämmen Israels?«
»Haben unsere Vorfahren den Hadal das Schreiben beigebracht?«
»Oder die Hadal uns«, erwiderte Ali.
Sie konnte ihre Fingerspitzen einfach nicht von dem Wort nehmen. »Ist euch klar, dass die Menschen schon vor hunderttausend Jahren Sprachen entwickelt haben?«, flüsterte sie. »Schriftzeichen findet man aber erst in der Jungsteinzeit. Hethitische Hieroglyphen. Die Kunst der australischen Aborigines. Siebentausend oder achttausend Jahre, wenn’s hoch kommt. Diese Schrift muss mindestens fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahre alt sein, zwei- oder dreimal älter als jede bisher bekannte Schrift. Wir haben es hier mit linguistischen Fossilien zu tun. Vielleicht tasten wir uns, sprachlich gesehen, an Adam und Eva heran. Die Wurzel der menschlichen Sprache. Das erste Wort.«
Ali war hingerissen. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass die anderen sie nicht verstanden. Das hier war ein überwältigender Fund! Und sie konnte die Entdeckung mit niemandem feiern. Beruhige dich, sagte sie sich. Trotz ihrer vielen Reisen war Alis Welt ein papiernes Reich aus Linguisten und Bischöfen gewesen. Sie hatte sich in einer sehr ruhigen Nische eingerichtet, die keine ausgelassenen Feste kannte. Trotzdem hätte Ali es schön gefunden, wenn wenigstens einmal jemand einer Champagnerflasche den Hals abgeschlagen und sie mit Schaum bespritzt hätte, wenn ihr jemand um den Hals gefallen und ihr einen herzhaften Kuss aufgedrückt hätte.
»Ich frage mich bloß, was das heißt«, brummte jemand.
»Wer weiß?«, erwiderte Ali. »Wenn Ike Recht hat und es sich wirklich um eine verlorene Sprache handelt, dann wissen es nicht einmal die Hadal. Allein die Tatsache, dass sie die Schrift mit einer Schicht primitiver Bilder übermalt haben, spricht dafür, dass ihnen die Bedeutung völlig abhanden gekommen ist.«
Als sie zu den Flößen zurückgingen, tanzten die fremden Zeichen vor ihren Augen. Es ergab keinen Sinn.
Am fünften September trafen sie die ersten Hadal. Sie hatten gerade an einem mit Fossilien verkrusteten Ufer angelegt, die Flöße entladen, die Ausrüstung auf sichereres Terrain geschleppt und waren dabei, sich zum Schlafen fertig zu machen, als einer der Soldaten in den dunklen Falten des Gesteins weiter hinten ungewöhnliche Formen entdeckte. Wenn sie die Strahlen ihrer Lampen in einem bestimmten Winkel darauf hielten, wurde so etwas wie ein zweites Pompeji sichtbar, mehrere Schichten von Körpern, die von einer dicken Schicht durchsichtigen, kunststoffartigen Gesteins überzogen waren. Die Körper lagen so da, wie sie gestorben waren, einige zusammengekauert, die meisten lang ausgestreckt. Wissenschaftler und Soldaten schwärmten über das fast einen Hektar große Gräberfeld aus, wobei sie immer wieder auf der glatten Oberfläche ausrutschten.
Aus manchen Wunden ragten noch immer spitze Feuersteine heraus. Einige waren enthauptet oder mit ihren eigenen Eingeweiden erdrosselt worden. An allen hatten sich wilde Tiere zu schaffen gemacht. Einzelne Gliedmaßen fehlten, Brust- und Bauchhöhlen waren ausgeräubert. Es handelte sich zweifellos um das Ende eines ganzen Stammes oder der Bewohner eines Dorfes.
Unter Alis hin und her huschender Stirnlampe glänzte die weiße Haut wie Quarzkristall. Trotz der schweren Knochenwülste an Brauen und Wangen und trotz des bestialischen Endes, das sie genommen hatten, wirkten diese Gestalten auffällig fein gezeichnet. Die Toten hatten breite, negroide Nasen und volle Lippen, waren jedoch von der ewigen Nacht zu Albinos gebleicht. Einige hatten Andeutungen von Bartwuchs, kaum mehr als fusselige Ziegenbärtchen. Die meisten sahen kaum älter als dreißig aus. Viele waren noch Kinder.
Ali versuchte, sie in die Familie des Homo sapiens zu integrieren. Es trug nicht eben zur Erleichterung dieser Aufgabe bei, dass sie Hörner auf dem Schädel trugen, dazu Kalziumwülste und -auswüchse, die ihre Köpfe verformten. Sie kam sich merkwürdig bigott vor. Diese Mutationen, Krankheiten oder Launen der Evolution bewirkten, dass sie einen inneren Sicherheitsabstand einhielt. Sie bedauerte es, über sie hinwegzutrampeln, und gleichzeitig war sie froh darüber, dass sie sicher im Stein eingeschlossen waren. Denn sie konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass diese Kreaturen all das, was man ihnen angetan hatte, ohne zu zögern auch ihr antun würden.
Ethan Troy deckte eines ihrer Geheimnisse auf. Es war ihm gelungen, einzelne Körper, meistens von Kindern, aus der durchsichtigen Gesteinsmasse herauszuhauen. »Ihr Zahnschmelz ist nicht richtig gewachsen. Er ist gestört worden. Und alle Kinder weisen Spuren von Rachitis oder anderen Missbildungen an den Gliedmaßen auf. Man muss sich nur die aufgeblähten Bäuche ansehen. Sie haben großen Hunger gelitten. Eine Hungersnot. So etwas habe ich einmal in einem Flüchtlingslager in Äthiopien gesehen. Das vergisst man nie wieder.«
»Soll das heißen, dass es sich hier um Flüchtlinge handelt?«, fragte jemand. »Vor wem sollen sie denn geflohen sein?«
»Vor uns«, sagte Troy.
»Willst du damit sagen, Menschen haben sie getötet?«
»Zumindest indirekt. Ihre Nahrungskette wurde unterbrochen. Sie waren auf der Flucht. Vor uns.«
»Quatsch«, raunzte Gitner, der in seinem Schlafsack auf dem Rücken lag. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte. Was da aus den Leichen herausragt, sind steinzeitliche Speerspitzen. Wir haben nichts damit zu tun. Diese Leute hier sind von anderen Hadal abgemurkst worden.«
»Das hat nichts damit zu tun«, erwiderte Troy. »Sie waren am Ende ihrer Kräfte. So gut wie verhungert. Eine leichte Beute.«
»Sie haben Recht«, sagte Ike. Er mischte sich nicht oft in Gruppendiskussionen ein, aber diese hier hatte er aufmerksam verfolgt.
»Sie sind unterwegs. Alle. Sie gehen immer tiefer, um unserem Vordringen auszuweichen.«
»Was macht das schon?«, fragte Gitner.
»Sie waren hungrig«, sagte Ike. »Verzweifelt. Das macht schon was.«
»Uralte Geschichte. Dieser Haufen hier ist schon vor langer Zeit gestorben.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Na, dieser merkwürdige Fließstein. Sie sind völlig damit überzogen. Das ist mindestens fünfhundert Jahre her, wahrscheinlich eher fünftausend.« Der Petrologe grinste wissend.
Ike ging zu ihm hinüber. »Leihen Sie mir mal Ihren Gesteinshammer«, sagte er.
Gitner warf ihn Ike zu. In letzter Zeit schien er nur noch genervt zu sein. Die endlosen Debatten über die Querverbindungen der Hadal zu den Menschen ödeten ihn an.
»Wann bekomme ich den wieder?«, fragte er.
»Ist nur geliehen«, erwiderte Ike. »Solange wir schlafen.« Er entfernte sich ein Stück und legte den Hammer gleich neben der Wand flach auf den Boden. Dann ging er weg.
Am nächsten Morgen musste sich Gitner von jemand anderem einen Hammer leihen, um seinen zu befreien. Über Nacht war er von einer zwei Millimeter dicken Schicht Fließstein überzogen worden.
Es war eine ganz einfache Rechnung. Die Flüchtlinge waren vor nicht länger als fünf Monaten hier niedergemetzelt worden. Die Expedition folgte ihrer Fluchtrichtung. Und diese Fährte war so gut wie frisch.
Sogar die Söldner verließen sich inzwischen auf Ikes untrüglichen Sinn für drohende Gefahren. Seit sich herumgesprochen hatte, dass er einmal Bergsteiger gewesen war, nannten sie ihn scherzhaft El Cap, nach El Capitan, dem Monolithen im Yosemite National Park. Es war eine gefährliche Anhänglichkeit, die Ike noch mehr störte als ihren Kommandeur. Ike wollte ihr Vertrauen nicht. Er ging ihnen aus dem Weg. Er hielt sich dem Lager noch mehr fern. Trotzdem bemerkte Ali seinen ungebrochenen Einfluss. Einige der jungen Kerle hatten sich die Arme und das Gesicht wie Ike tätowiert. Manche fingen sogar an, barfuß zu gehen oder die Gewehre quer über die Schulter zu tragen.
Ike verfiel wieder in die Gewohnheit, der Expedition einen oder zwei Tage vorauszugehen. Ali vermisste ihn. Sie wachte immer früh auf, doch jetzt sah sie sein Kajak nicht mehr davongleiten, während das Lager noch im Schlaf lag. Seine Abwesenheit machte ihr Angst, besonders am Abend, bevor sie einschlief. Wenn er weg war, spürte sie immer deutlicher, dass ihr etwas fehlte.
Am neunten September fingen sie das Signal für das zweite Proviantlager auf. Ohne es zu wissen, hatten sie die internationale Datumsgrenze überquert. Als sie den verabredeten Ort erreichten, waren weit und breit keine Zylinder zu sehen. Stattdessen fanden sie eine schwere Stahlkugel von der Größe eines Basketballs auf dem Boden. Sie war mit einem Kabel verbunden, das von der dreißig Meter hohen Decke herabbaumelte.
»He, Shoat«, erkundigte sich jemand gereizt. »Wo ist unser Essen?«
»Ich bin sicher, dass es dafür eine Erklärung gibt«, antwortete der ebenso verdutzte Shoat.
Sie entriegelten den Basketball. Darin lag, eingebettet in Styropor, ein kleiner Sender mit einer Nachricht. »An die Helios Expedition: Versorgungszylinder auf Ihr Signal hin bereit zum Eintauchen. Bitte die ersten Ziffern von Pi in umgekehrter Reihenfolge eingeben.« Sie vermuteten, dass es sich um eine Vorsichtsmaßnahme handelte, um ihren Nachschub vor eventueller Piraterie der Hadal zu schützen.
Shoat brauchte jemanden, der ihm die Zahlenfolge von Pi aufschrieb. Er tippte sie wie verlangt ein und drückte auf die Taste mit dem Pfundzeichen, und ein kleines rotes Lämpchen wechselte auf Grün.
»Ich denke, wir warten ab«, sagte er.
Sie schlugen das Lager gleich auf dem Uferstreifen auf und wechselten sich damit ab, die Unterseite des Bohrlochs mit einem Scheinwerfer abzusuchen. Kurz nach Mitternacht stieß einer von Walkers Posten einen lauten Ruf aus. Ali hörte das Schaben von Metall. Alle liefen zusammen und richteten die Lampen nach oben. Dort war es, eine silbrige Kapsel, die sich an einem schimmernden Faden zu ihnen herabsenkte. Es war, als schaute man einer Rakete beim Landen zu. Alle brachen in lauten Jubel aus.
Der Zylinder zischte, als er den Fluss berührte. Die Metallhülle war von blauen Brandflecken bedeckt. Alle drängten näher, wichen aber vor der immensen Hitze gleich wieder zurück. Keiner der Versorgungszylinder im ersten Proviantlager hatte dermaßen geglüht. Das hieß, dass der Zylinder durch eine vulkanische Schicht gedrungen war. Ali roch den auf der Oberfläche verdampfenden Schwefel.
»Unser Nachschub wird da drin gekocht«, schimpfte jemand.
Sie bildeten eine Kette und reichten Plastikflaschen durch, die über dem Zylinder ausgegossen wurden. Das Metall dampfte, Farbenspiele huschten über die Oberfläche. Endlich war sie so weit abgekühlt, dass sie die Verschlüsse aufdrehen konnten. Sie schoben ihre Messer in die Ritzen, lockerten die Lukentür und klappten sie dann ganz auf.
»O Gott, was ist das für ein Gestank?«
»Fleisch! Haben sie uns Fleisch heruntergeschickt?«
»Die Hitze muss da drinnen ein Feuer entfacht haben.«
Lichtstrahlen bohrten sich in den Innenraum. Ali blickte über mehrere Schultern, doch vor lauter Rauch, Gestank und Hitze war kaum etwas zu sehen.
»Herr im Himmel, was haben die uns bloß geschickt?«
»Sind das Menschen?«, fragte sie.
»Sehen aus wie Hadal.«
»Wie kannst du das sagen? Sie sind viel zu verbrannt«, sagte jemand.
Walker drängte sich nach vorne, dicht gefolgt von Ike.
»Was ist das, Shoat?«, wollte Walker wissen. »Was haben die bei Helios vor?«
Shoat war völlig aus der Fassung.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte er, und dieses eine Mal glaubte ihm Ali.
Im Inneren der Kapsel befanden sich drei Körper, in einer provisorischen Wiege aus Nylon einer über den anderen geschnallt. Solange der Zylinder senkrecht gestanden hatte, mussten sie wie Feuerspringer in ihren Gurten gehangen haben.
»Das sind ja Uniformen«, bemerkte jemand. »Seht doch - U.S. Army!«
»Was machen wir jetzt? Die sind doch alle tot.«
»Schnallt sie los. Holt sie raus.«
»Die Schnallen sind festgeschmolzen. Wir müssen sie rausschneiden. Lasst das Ding erst noch ein bisschen abkühlen.«
»Was die bloß da drinnen wollten?«, fragte einer der Ärzte Ali verwundert.
Die leblosen Glieder rutschten herab. Ein Mann hatte sich die Zunge abgebissen, der kleine Muskelstrang lag noch auf seinem Kinn. Dann hörten sie ein Stöhnen. Es kam von unterhalb der Lukenöffnung, dort, wo der dritte Mann außerhalb ihrer Reichweite in den Gurten hing. Ohne ein Wort sprang Ike in das qualmende Innere. Gleich hinter der Luke stellte er sich breitbeinig über die Körper, zerschnitt das Gewirr aus Seilen und Gurten und holte zuerst die Toten heraus. Dann kroch er tiefer hinein, schnitt den dritten Mann los und zerrte ihn bis zur Luke, von wo ihn ein Dutzend Hände ganz aus dem Behälter herauszogen.
»Seht euch nur diese Zielfernrohre an.« Einer der Geologen nahm mit dem Gewehr eines der Soldaten den Fluss ins Visier.
»Diese Dinger sind für nächtliche Scharfschützenaufgaben ausgerüstet. Was wollten die hier unten bloß jagen?«
»Um die kümmern wir uns«, sagte Walker, und seine Söldner sammelten alle anderen Waffen ein.
Ali half, den dritten Mann auf den Boden zu betten und trat dann zurück. Er lag im Sterben. Ike kniete sich neben ihn, zusammen mit den Ärzten, Walker und Shoat.
Walker schälte ein verkohltes Kleidungsstück zurück. »Erste Kavallerie«, las er und blickte Ike an. »Das sind doch Ihre eigenen Leute. Warum kommen die zu uns herunter?«
»Ich habe keine Ahnung.« »Kennen Sie diesen Mann?«
»Nein.«
Die Ärzte deckten den verbrannten Mann mit einem Schlafsack zu und gaben ihm etwas Wasser zu trinken. Der Mann öffnete sein unversehrtes Auge.
»Crockett?«, krächzte er.
»Sieht aus, als kenne er Sie«, meinte Walker. Das ganze Lager war atemlos vor Spannung.
»Warum haben Sie dich heruntergeschickt?«, fragte Ike.
Der Mann versuchte, Worte zu bilden. Er kämpfte unter dem Schlafsack. Ike gab ihm mehr Wasser.
»Komm näher«, sagte der Soldat.
Ike beugte sich über ihn, um ihn besser verstehen zu können.
»Judas!«, zischte der Mann.
Das Messer stieß von unten durch den Schlafsack, doch der Stoß wurde entweder vom festen Gewebe oder den Schmerzen des Mannes abgelenkt. Die Klinge schrammte über Ikes Brustkorb, drang aber nicht ein. Der Soldat verfügte noch über genug Kraft, um einen zweiten Stich auszuführen, dann packte ihn Ike am Handgelenk.
Walker, Shoat und die Ärzte waren bei dem Angriff zurückgeschreckt. Einer der Söldner reagierte mit drei rasch aufeinander folgenden Schüssen in den Brustkorb des verbrannten Mannes. Bei jedem Treffer bäumte sich der Körper auf.
»Feuer einstellen!«, brüllte Walker.
Schnell war die Sache zu Ende. Das einzige Geräusch war das vorüberrauschende Wasser. Ungläubig sahen die Expeditionsteilnehmer einander an. Keiner rührte sich vom Fleck. Alle waren Zeugen des Angriffs gewesen, alle hatten sie das geflüsterte Wort des Soldaten vernommen.
Ike kniete wie vor den Kopf gestoßen in ihrer Mitte. Er hielt immer noch das Handgelenk des Attentäters in einer Faust, und der lange Schnitt quer über seine Rippen färbte sich rot. Dann blickte er verwirrt von einem zum anderen. Plötzlich löste sich ein schreckliches, grelles Geräusch aus seiner Kehle.
Das hatte Ali nicht erwartet.
»Ike?«, sagte sie aus dem Kreis der Zuschauer heraus. Sie verließen sich schon so lange auf seine Stärke, dass sie seine Schwäche in Gefahr brachte. Und jetzt zerbrach er vor aller Augen.
Ike warf Ali nur einen kurzen Blick zu. Dann rannte er weg.
»Was hatte das denn zu bedeuten?«, murmelte jemand.
Sie ließen die Leichen in den Fluss hinaustreiben. Viele Stunden später wurden noch zwei weitere Zylinder zu ihnen herabgelassen, jeder davon randvoll mit Versorgungsgütern. Sie aßen. Helios hatte ihnen ein Festmahl für einhundert Personen gesandt: geräucherte Regenbogenforelle, Lammfleisch in Kognak, Käsefondue, dazu ein Dutzend verschiedene Sorten Brot, Wurst, Teigwaren und Obst. Der knackige grüne Kopfsalat entlockte manch einem eine Freudenträne. Das Essen sei, so ein beigelegter Zettel, eine besondere Aufmerksamkeit anlässlich der Geburtstagsfeier von C. C. Cooper. Alis Vermutungen gingen in eine andere Richtung. Ike sollte jetzt eigentlich tot sein, und dieses Bankett war eher als Leichenschmaus gedacht.
Der Anschlag auf Ikes Leben war unerklärlich. Alle waren sich einig, dass Ike das wichtigste Expeditionsmitglied war. Sogar die Söldner hätten zu seinen Gunsten gesprochen. Mit ihm als Kundschafter waren sie sich wie das auserwählte Volk vorgekommen, dazu bestimmt, im Gefolge eines tätowierten Moses aus der Wildnis herauszufinden. Doch nun war er als Verräter gebrandmarkt und aus unerklärlichen Gründen auf die Abschussliste gesetzt worden.
Das Kommunikationskabel nach oben war von der Magmaschicht verbrannt worden, und so blieben der Expedition nichts anderes als Vermutungen und Aberglaube.
»Was muss man wohl tun, um die U.S. Army auf sich zu hetzen?«, fragte sich Quigley, der Psychiater. »Das war doch das reinste Selbstmordkommando. Ich meine, die opfern doch nicht einfach so drei Männer.«
»Und die Sache mit dem >Judas Ich dachte immer, wenn das Kriegsgericht einmal vorbei ist, dann lassen sie einen in Ruhe. Da sage noch mal einer was von Pech. Der Bursche ist der geborene Außenseiter.«
»Als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen.«
»Mach dir um ihn keine Sorgen, Ali«, sagte Pia, der die Liebe in Gestalt von Spurner teilhaftig geworden war. »Er kommt schon wieder.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, meinte Ali. Sie wollte Shoat oder Walker die Schuld zuweisen, doch die beiden schienen von dem Zwischenfall ebenso schockiert zu sein wie alle anderen. Wenn Helios beabsichtigte, Ike zu töten, warum setzten sie dann nicht ihre eigenen Leute ein? Warum die U.S. Army? Und warum sollte die Army auf die Bitte von Helios eingehen? Das alles ergab keinen Sinn.
Als die anderen schliefen, entfernte sich Ali aus dem Lichtkreis ihrer Lagerstätte. Ike hatte weder sein Kajak noch seine Flinte mitgenommen, also suchte sie ihn zu Fuß mit ihrer Taschenlampe. Seine Spuren zogen sich das schlammige Flussufer entlang.
Die Selbstgefälligkeit der Gruppe machte sie wütend. Sie waren in jeder Hinsicht von Ike abhängig. Ohne ihn wären sie wahrscheinlich alle schon tot oder hätten sich hoffnungslos verlaufen. Er hatte sie nie im Stich gelassen, und jetzt, da er sie brauchte, ließen sie ihn einfach im Stich.
Wir waren sein Verderben. Das erkannte sie jetzt. Wären sie nicht so schwach, so unwissend und stolz gewesen, wäre er jetzt tausend Kilometer oder noch weiter entfernt. Doch er war an sie gefesselt. So waren Schutzengel nun mal. Von ihrem eigenen Pathos zum Untergang verdammt.
Doch die Schuld der Gruppe in die Schuhe zu schieben war, wie Ali zugeben musste, nur eine Ausflucht. Denn es war ihre eigene Schwäche, ihr Unwissen und ihr Stolz gewesen, der Ike gefesselt hatte - nicht an die Gruppe, sondern an sie, Ali. Das Wohlbefinden der Gruppe war lediglich ein angenehmer Nebeneffekt gewesen. Die unbequeme Wahrheit war die, dass er sich ihr versprochen hatte.
Auf dem Weg am Fluss entlang versuchte Ali, ihre Gedanken zu ordnen. Zu Anfang war ihr Ikes Ergebenheit eher unerwünscht, fast lästig gewesen. Sie hatte die Tatsache, dass er sie verehrte, unter einem Haufen eigener Phantasien vergraben, hatte sich eingeredet, er durchstreife die Tiefe aus eigenen, ihr unverständlichen Gründen, vielleicht um eine legendäre verlorene Gefährtin zu finden, oder um Rache zu üben. Womöglich war das am Anfang sogar der Grund für seine Teilnahme gewesen, aber jetzt stimmte es nicht mehr. Sie wusste es. Ike war ihretwegen hier.
Sie fand ihn umgeben von tiefster Nacht, ohne Licht und ohne Waffe. Er saß dem Fluss zugewandt in seiner Lotusposition, den Rücken schutzlos jedem Feind dargeboten. Er hatte sich der Gnade dieses unwirtlichen Ortes überantwortet.
»Ike«, sagte sie.
Sein struppiger Kopf blieb unbeweglich. Ihr Lichtstrahl warf seinen Schatten auf das schwarze Wasser, wo er sich rasch verlor. Sie kam näher und zog den Rucksack ab. »Du hast dein eigenes Begräbnis verpasst«, scherzte sie. »Sie haben uns das reinste Festessen heruntergeschickt.«
Nicht die kleinste Regung. Nicht einmal sein Brustkorb hob sich.
»Ike«, sagte sie. »Ich weiß, dass du mich hören kannst.«
Eine Hand ruhte in seinem Schoß; die Fingerspitzen der anderen stützten sich mit dem Gewicht eines Insekts auf den Steinboden. Sie kam sich vor wie ein unbefugter Eindringling. Aber jetzt störte sie ihn nicht bei einer inneren Einkehr, sondern dabei, wahnsinnig zu werden. Er würde diesen Kampf nicht gewinnen, jedenfalls nicht allein. Sie öffnete ihren Rucksack und zog ein ErsthilfeSet heraus. »Ich versorge jetzt die Schnitte.«
Ali fing energisch mit einem Betadine-Schwamm zu reiben an. Dann hielt sie inne. Die malträtierte Haut selbst veranlasste sie dazu. Sie fuhr mit den Fingern über seinen Rücken. Knochen, Muskeln, Hadal-Tinte, Narbengewebe und die Schwielen von den Riemen seines Gepäcks versetzten sie in Erstaunen. Das war der Körper eines Sklaven.
Diese Erkenntnis brachte sie völlig aus der Fassung. Sie hatte die Verdammten in vielen Inkarnationen kennen gelernt, als Gefangene, als Prostituierte, als Mörder und davongejagte Aussätzige. Doch einem Sklaven war sie noch nirgendwo begegnet. In diesem Zeitalter sollte es solche Geschöpfe eigentlich nicht mehr geben.
Ali staunte, wie gut seine Schulter sich in ihre Hand schmiegte. Dann rief sie sich mit einem nüchternen Klaps auf diese Schulter wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Du wirst es überleben«, raunte sie ihm ins Ohr. Sie entfernte sich ein Stück und setzte sich dann auf den Boden. Den Rest der Nacht lag sie dort zu einer Kugel zusammengerollt, mit seiner Flinte im Anschlag. Sie beschützte Ike, während er seine Rückkehr in die Welt zu Ende brachte.
Bin ich denn nicht
Eine Fliege gleich dir?
Oder bist du
Ein Mensch nicht gleich mir?
WILLIAM BLAKE,
Die Fliege