18 Ein wunderschöner Morgen


ZENTRUM FÜR GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN, UNIVERSITÄT COLORADO, DENVER

Dr. Yamamoto trat mit einem Lächeln aus dem Fahrstuhl.

»Einen wunderschönen guten Morgen!«, flötete sie dem Hausmeister zu.

»Na, schön wär’s«, erwiderte er brummig.

Draußen wütete ein heftiger Schneesturm mit meterhohen Verwehungen. Das Forschungszentrum war von der Umwelt fast völlig abgeschnitten. Dr. Yamamoto hatte das ganze Labor für sich allein.

Sie betrat ihr Reich ohne doppelte Sicherheitshandschuhe und ohne Gesichtsmaske. Mit der Zeit waren alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen auf der Strecke geblieben - ein Zeichen dafür, dass sich das Projekt »Digitaler Hadal« seinem Ende zuneigte. Das junge Hadal-Weibchen war bis auf den Kopf verschwunden.

Dafür konnte man es schon bald mit Hilfe einer CD-ROM und einer Maus wieder auferstehen lassen. Es würde elektronische Unsterblichkeit erlangen. Überall dort, wo ein Computer stand, würde Dawn auferstehen. In gewisser Hinsicht steckte ihre Seele tatsächlich in der Maschine.

Dr. Yamamoto wurde schon seit mehreren Wochen von Albträumen geplagt. Darin stürzte Dawn über eine Klippe oder wurde, laut um Hilfe rufend, aufs Meer hinausgezogen. Auch andere Labormitarbeiter berichteten über ähnliche Albträume. Trennungsangst, diagnostizierte sie selbst. Dawn war ein Teil von ihnen geworden. Sie würden sie sehr vermissen.

Inzwischen waren nur noch die oberen zwei Drittel ihrer Schädeldecke übrig. Es ging sehr langsam voran. Die Maschine war auf die feinste Stufe eingestellt. Das Gehirn bot das interessanteste Forschungsfeld. Die Hoffnung, dass sich sensorische und kognitive Prozesse tatsächlich enträtseln ließen - mit anderen Worten, dass sich der tote Verstand zum Sprechen bringen ließ -, war groß. Aber in den nächsten zehn Wochen konnten sie noch nichts anderes tun, als einen besseren Wurstschneider zu beaufsichtigen. Geduld war eine Sache von Diät-Pepsi und lästerlichen Scherzen.

Yamamoto ging auf den Metalltisch zu. Die Schädeldecke des Mädchens schimmerte blass aus dem gefrorenen blauen Gelblock. Sie sah aus wie ein Mond, der von einem Würfel Weltraum gehalten wird. Aus der Oberseite und den Seitenflächen des Gels ragten Elektroden heraus. An der Unterseite fraß sich die Klinge immer weiter voran. Die Kamera fotografierte unablässig. Die Maschine hatte den Unterkiefer abgeschält und sich dann über die obere Zahnreihe weiter zur Nasenhöhle vorgearbeitet. Äußerlich waren die fledermausartige Nase mit den breiten Nüstern und die lang gezogenen, zerfransten Ohrmuscheln verschwunden. Was die inneren Strukturen anging, war auch das Kleinhirn inzwischen fast vollständig in digitale Einzelteilchen aufgelöst. Für ein nekrotisches Gehirn waren alle Funktionen erstaunlich intakt, praktisch lebensfähig. Alle hatten sich darüber gewundert. Hoffentlich bin ich noch so gesund, wenn ich mal gestorben bin, hatte jemand gescherzt.

Gerade jetzt wurde es noch einmal richtig interessant. Von überall her meldeten sich fast täglich Neurochirurgen, Hirn- und Wahrnehmungsspezialisten, um auf dem Laufenden zu bleiben.

Vielleicht ergaben sich richtige Persönlichkeitsstrukturen, Denkvorgänge, Hinweise auf Gewohnheiten und Instinkte. Kurz gesagt, sie waren drauf und dran, durch ein Fenster in Dawns Kopf zu schauen und einen Blick auf ihre Sicht der Welt zu erhaschen. Ein Durchbruch, der sich etwa mit der Landung eines Raumschiffs auf einem anderen Planeten vergleichen ließ. Mehr noch, es war, als könnte man zum ersten Mal einen Außerirdischen interviewen und ihn nach seinen Ansichten befragen.

Yamamoto fingerte sich durch die Elektroden, entwirrte die Kabel auf der rechten Seite und legte sie ordentlich auf den Tisch. Es war noch immer ungeklärt, warum Dawn leichte elektrische Impulse erzeugte. Die Anzeige hätte eigentlich eine Nulllinie anzeigen müssen, doch in unregelmäßigen Abständen zeichnete das Gerät einen schroffen, nadelförmigen Ausschlag auf. Das ging schon seit Monaten so. Andererseits hieß es, wenn man bei Elektroden nur lange genug wartete, gäbe auch ein Glas Marmelade Lebenszeichen von sich.

Yamamoto wechselte zur linken Seite des Tisches und breitete die Kabel auf ihrer Handfläche aus. Es war fast so, als würde man einem Kind Zöpfe flechten. Sie unterbrach ihre Arbeit, um durch den Gelblock einen Blick auf das zu werfen, was von Dawns Gesicht übrig geblieben war. »Einen wunderschönen guten Morgen«, sagte sie.

Der Kopf schlug die Augen auf.

Rau und Bud Parsifal fanden Vera in einem Laden für Westernbekleidung auf dem Flughafen Denver, wo sie Cowboyhüte anprobierte.

»Wie sehe ich aus?«, wollte Vera wissen.

Rau schlug applaudierend auf seine Aktentasche. Parsifal sagte nur: »Gott behüte!«

»Seid ihr zusammen angekommen?«, fragte sie.

»Aus London, über Cincinnati«, antwortete Parsifal. »Mexico City«, sagte Rau. »Wir haben uns auf dem Laufband getroffen.«

»Ich hatte Angst, dass es keiner schafft«, meinte Vera. »Womöglich sind wir bereits zu spät dran.«

»Du hast angerufen, hier sind wir«, brummte Parsifal.

Rau, der jetzt selbst einen Hut anprobierte, warf einen Blick auf die Uhr. »Thomas kommt in ungefähr einer Stunde an. Was ist mit den anderen?«

»Überall verstreut«, erwiderte Vera. »Unterwegs, nicht zu erreichen, anderweitig beschäftigt. Ich vermute, ihr habt das mit Branch bereits mitgekriegt.«

»Ist der Kerl völlig übergeschnappt?«, sagte Parsifal. »Einfach so in den Subplaneten abzuhauen. Allein. Gerade er müsste doch wissen, wozu die Hadal fähig sind.«

»Um die mache ich mir die geringsten Sorgen. Du weißt wohl noch nichts von dem Eliminierungsbefehl? Sämtliche Armeen haben ihn erhalten. Sogar Interpol.« Parsifal blinzelte Vera misstrauisch an: »Was soll der Quatsch? Branch eliminieren?«

»January hat alles getan, was in ihrer Macht steht, um den Befehl rückgängig zu machen. Aber da gibt es einen gewissen General Sandwell, der eine rachsüchtige Ader hat. Ziemlich merkwürdig. January versucht gerade, mehr über diesen General herauszufinden.«

»Thomas ist außer sich«, ergänzte Rau. »Branch war unser direkter Draht zum Militär. Jetzt können wir nur noch raten, was die Burschen im Schilde führen.«

»Und wer diese Virenkapseln aussetzt.«

»Widerliche Sache«, knurrte Parsifal.

Sie holten Thomas, der direkt aus Hongkong kam, am Flugsteig ab. Er ließ den Blick über sein Begrüßungskomitee schweifen.

»Mit Cowboyhut?«, fragte er Rau.

»Schau dich doch mal im Vatikan um«, meinte Rau grinsend.

Ein Kleinbus brachte sie zum medizinischen Zentrum. Am Eingang zum Forschungstrakt erwartete sie ein wildes Durcheinander von Polizisten und Fernsehkameras. Eine Phalanx von Vertretern der Universität warf sich abwechselnd den Medienwölfen zum Fraß vor. Aus allen Mündern stiegen Frostwölkchen auf. Offensichtlich hatte man sich gedacht, dass mitten im Winter eine Pressekonferenz im Freien zumindest nicht allzu lange dauern würde.

»Ich muss Sie abermals darum bitten, Ihren gesunden Menschenverstand einzusetzen«, redete eine altehrwürdig aussehende Gestalt beschwichtigend auf die Kameralinsen ein. »So etwas wie Besessenheit gibt es nicht.«

Aus der Menge rief eine hübsche Nachrichtenmoderatorin, die von den Knien abwärts vom geschmolzenen Schnee ganz nass war. »Dr. Yaron, dementieren Sie Berichte, dass im Medizinischen Zentrum der Universität zurzeit Exorzismus als Behandlungsmethode angewandt wird?«

Ein bärtiger Mann mit breitem Grinsen neigte sich zum Mikrofon hinunter. »Zurzeit warten wir noch damit«, sagte er. »Der Kerl mit den Hühnern und dem Weihwasser ist noch nicht eingetroffen.«

Die Polizisten vor den gläsernen Schiebetüren waren nicht gewillt, irgendjemanden einzulassen. Sogar Veras Ärzteausweis half nicht weiter. Schließlich zog Parsifal einen alten NASA-Pass heraus. »Bud Parsifal!«, staunte einer der Posten. »Aber selbstverständlich, kommen Sie herein!« Alle wollten ihm die Hand schütteln. Parsifal strahlte vor Freude.

»Diese Astronauten«, flüsterte Vera Rau zu.

Auch im Inneren des Labortrakts herrschte hektische Betriebsamkeit. Spezialisten überflogen Listen, Röntgenbilder und Filmaufnahmen oder klickten sich durch Computermodelle. Tragbare Telefone klemmten zwischen Kinn und Schultern, während Daten von Bildschirmen und Klemmbrettern abgelesen wurden. Anzüge waren ebenso anzutreffen wie Schulterhalfter und unterschiedlich gefärbte Chirurgenkittel. Das Durcheinander erinnerte Vera an das Nachbeben einer Naturkatastrophe, an eine völlig überlastete Notaufnahme.

Vera klopfte an eine Tür. Eine blonde Frau in einem Laborkittel stand über ein Mikroskop gebeugt. »Guten Tag, Frau Doktor Koenig«, sagte Vera. Die Frau sah auf, strahlte dann über das ganze Gesicht. Vera stellte sie den anderen vor. »Mary Kay war eine meiner besten Studentinnen.«

»Ach, Vera«, sagte Mary Kay, »du hast den schlechtesten Zeitpunkt für deinen Besuch erwischt«, sagte sie. »Die gesamte Fakultät ist aus dem Häuschen. Überall Regierungsleute, FBI und so weiter.« Die blauschwarzen Ringe unter den Augen der jungen Ärztin lieferten den Beweis dafür. Worin auch immer dieser Notfall bestehen mochte - sie hatte bereits viele Stunden dafür geopfert.

»Eigentlich sind wir genau deshalb hergekommen. Wir haben mitbekommen, dass hier etwas vorgefallen ist«, sagte Vera, »und möchten so viel wie möglich darüber in Erfahrung bringen. Falls du ein paar Minuten entbehren kannst.«

»Aber selbstverständlich.«

Sie führte sie tiefer in diesen Trakt des Hauses hinein und redete beim Gehen weiter: »Unsere Abteilung für Computeranatomie hat im Lauf der vergangenen zweiundfünfzig Wochen ein Exemplar eines Hadal zur generellen Erforschung zerschnitten. Projektleiterin war Dr. Yamamoto, eine bekannte Pathologin. Sie kennen sie ja. Sie arbeitete am Sonntagmorgen allein im Labor, als es passierte.«

Die Gruppe betrat einen großen Raum, in dem es nach Chemikalien und totem Gewebe roch. Raus erster Eindruck war der, dass hier eine Bombe explodiert sein musste. Große Maschinen waren umgestürzt. Aus der Deckenabhängung waren Kabel herausgerissen. Überall lagen lange Streifen zerrissenen Teppichbodens. In den Überresten suchten Kriminologen und Mediziner gemeinsam nach Antworten.

»Ein Wachmann fand Dr. Yamamoto zusammengekauert in der Ecke dort drüben. Er forderte Hilfe an. Das war seine letzte Nachricht. Als wir ihn fanden, hing er mit Versorgungsleitungen gefesselt unter der Decke. Seine Speiseröhre war herausgerissen. Mit bloßer Hand.

Yammie lag in der Ecke. Nackt. Blutend. Apathisch.«

»Was ist passiert?«

»Zuerst dachten wir, jemand sei eingebrochen, um entweder etwas zu stehlen oder unsere Forschungen zu sabotieren. Aber wie Sie sehen, gibt es hier keine Fenster und nur die eine Tür. Dann vermuteten wir, irgendwelche Hadal seien vielleicht durch das Belüftungssystem geklettert, um unsere Datenbank zu vernichten.«

»Wo ist Branch, wenn wir ihn brauchen?«, sagte Rau. »Ich habe noch nie gehört, dass die Hadal so etwas getan hätten.«

»Jedenfalls waren das unsere ersten Spekulationen«, fuhr Mary Kay fort. »Sie können sich den Aufruhr vorstellen. Die Polizei kam. Wir waren gerade dabei, Yammie auf einer Trage wegzubringen. Plötzlich kam sie wieder zu Bewusstsein und fing an zu toben. Es war schrecklich. Sie zerstörte die Maschinen. Sie verletzte zwei Wachleute mit einem Skalpell. Schließlich mussten wir sie mit einem Betäubungsgewehr zur Ruhe bringen. Wie ein wildes Tier.«

»Das ist ja grauenhaft.«

Sie waren vor einem über zwei Meter langen Sektionstisch angekommen. Vera hatte den menschlichen Körper schon auf viele Arten misshandelt gesehen, von Traumata erschüttert, von Krankheiten und Hunger entstellt. Auf den Anblick der schlanken jungen Frau mit den japanischen Zügen, die vor ihnen lag und deren Kopf wie bei einer elektronischen Medusa vor Steckern und Kabeln wimmelte, war sie nicht vorbereitet. Es sah aus wie bei einer Folterung. Hände und Füße waren provisorisch mit Handtüchern, Gummi schläuchen und Klebeband festgebunden.

»Nachdem einer der Kriminalbeamten die Fingerabdrücke auf dem Körper des toten Wachmannes untersucht und verglichen hatte, wussten wir, wer der Übeltäter war«, sagte Mary Kay. »Yammie hat es getan.«

»Was hat sie getan?«, murmelte Vera.

»Wollen Sie damit sagen«, fragte Rau ungläubig, »dass Dr. Yamamoto ihn getötet hat?«

»Genau. Unter ihren Fingernägeln fand sich Gewebe von seinem Hals.«

»Diese Frau?« Parsifal schnaubte verächtlich. »Aber die Maschinen hier wiegen doch mindestens eine Tonne!«

»Warum hätte sie so etwas tun sollen?«, fragte Rau.

»Wir stehen vor einem Rätsel. Es könnte in Zusammenhang mit einer Familienkrankheit stehen, aber ihr Ehemann hat uns versichert, dass es in ihrer Familie keine Fälle von Epilepsie gibt. Es könnte sich auch um eine bisher unbekannte Form von psychotischer Raserei handeln. Der einzige Bildschirm, den sie nicht kurz und klein geschlagen hat, zeigt, wie sie erst bewusstlos zusammenbricht, dann aufsteht und sämtliche Maschinen vernichtet, die zum Zerschneiden des Gewebes eingesetzt waren. Diese Maschinen waren eindeutig das Ziel ihrer Wut, als wollte sie sich für ein erlittenes Unrecht rächen.«

»Aber der tote Wachmann?«

»Darüber wissen wir nichts. Der Mord geschah außerhalb des Kamerabereichs. Dem Bericht des Wachmanns zufolge hielt sie das hier fest umklammert.« Mary Kay zeigte auf einen Schreibtisch.

»Großer Gott!«, sagte Vera.

Parsifal ging näher an den Schreibtisch heran. Das also war die Ursache des üblen Geruchs. Das, was vom Kopf des Hadal-Weibchens übrig war, hatte jemand neben die Gelben Seiten des Telefonbuchs von Denver gelegt. Das blaue Gel war größtenteils weggetaut. Die Flüssigkeit rann über die Tischplatte und tropfte in die Schreibtischschubladen. Die untere Hälfte von Gesicht und Hinterkopf war von der Maschine so sauber abrasiert, dass die Kreatur direkt aus der Schreibtischplatte zu wachsen schien. Ihr schwarzes Haar klebte am missgestalteten Schädel fest. Aus einem Dutzend kleiner Bohrlöcher sprossen die Drähte der Elektrodenanschlüsse. Nachdem das Gewebe monatelang luftdicht abgeschlossen war, befand es sich jetzt im Stadium rascher Verwesung.

Beunruhigender als die Zersetzung und der fehlende Kiefer waren die Augen. Die Lider waren offen. Die Augen standen deutlich hervor, die Pupillen schienen wütend auf etwas fixiert zu sein.

»Das Ding sieht stocksauer aus«, bemerkte Parsifal.

»Wie kann jemand nur so ein Ding in die Arme nehmen?«, fragte Vera.

»Genau das haben wir uns auch gefragt. Hatte sich Yammie unbewusst nach und nach mit ihrem Untersuchungsgegenstand identifiziert? Hat sich ihre Persönlichkeit verändert? Wir haben alle Möglichkeiten durchgespielt. Aber Yammie war immer so ausgeglichen.« Mary Kay steckte die Decke um Yamamotos Hals fest, strich ihr das Haar aus der Stirn. Über ihren Augenbrauen wurde eine lange Schramme sichtbar. Die Frau musste sich in ihrem Wahn gegen Maschinen und Wände geworfen haben.

»Dann kehrten die Anfälle zurück. Wir schlossen sie an ein EEG an. So etwas haben wir noch nie gesehen. Das reinste neurologische Gewitter. Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt.«

»Gut«, sagte Vera.

»Es wirkte aber nicht. Wir registrierten weiterhin lebhafte Aktivität. Etwas scheint sich durch das Gehirn zu fressen und unterwegs Gewebe kurzzuschließen. Als beobachtete man einen Blitz in Zeitlupe. Der große Unterschied besteht darin, dass die elektrische Aktivität nicht übergreifender Natur ist. Eigentlich müsste man annehmen, dass eine elektrische Überlastung das gesamte Gehirn erfasst. Hier jedoch geht alles vom Hippocampus aus, beinahe selektiv.«

»Was bitte ist ein Hippocampus?«, erkundigte sich Rau.

»Das Erinnerungszentrum«, antwortete Mary Kay.

»Erinnerung«, wiederholte Rau leise. »War denn der Hippocampus der Hadalfrau bereits von Ihrer Maschine zerschnitten worden?«

Alle blickten Rau an. »Nein«, sagte Mary Kay. »Genauer gesagt, stand die Klinge kurz davor. Warum fragen Sie?«

»Einfach so.« Rau ließ den Blick durch das Zimmer schweifen.

»Halten Sie hier im Labor Versuchstiere?«

»Mit Sicherheit nicht.«

»Das dachte ich mir.«

»Was haben denn Tiere damit zu tun?«, fragte Parsifal.

Doch Rau war mit seinen Fragen noch nicht am Ende: »Dr. Koenig, was ist eigentlich Erinnerung?«

»Nun«, sagte Mary Kay, »kurz gesagt besteht das Erinnerungsvermögen aus elektrischen Ladungen, die entlang des synaptischen Netzwerks biochemische Reaktionen hervorrufen.«

»Elektrische Vernetzung«, fasste Rau zusammen. »Darauf reduziert sich unsere Vergangenheit?«

»Es ist schon etwas komplizierter.« »Aber grundsätzlich richtig?«

»Ja.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Rau. Sie warteten auf seine Schlussfolgerung, doch nach einigen Sekunden wurde deutlich, dass er in tiefes Nachdenken versunken war.

»Noch etwas«, fuhr Mary Kay fort. »Zuerst sah es aus wie ein wildes Durcheinander von Gehirnaktivitäten. Aber wir sind dabei, es zu sortieren. Und es sieht ganz danach aus, als hätten wir es hier mit zwei unterschiedlichen kognitiven Mustern zu tun.«

»Was?«, entfuhr es Vera. »Das ist unmöglich.«

»Ich kann nicht ganz folgen«, schaltete sich Parsifal wieder ein.

Mary Kays Stimme wurde ganz leise.

»Yammie ist nicht allein dort drin«, sagte sie.

»Bitte noch einmal«, bat Parsifal.

»Sie verstehen sicherlich«, sagte Mary Kay, »dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringen darf.«

»Sie haben unser Wort darauf«, sagte Thomas.

Sie streichelte Yamamotos Arm. »Wir wurden aus den beiden kognitiven Mustern nicht so recht schlau. Aber vor wenigen Stunden geschah etwas. Die Anfälle setzten aus. Restlos. Und Yammie fing zu sprechen an. Sie war nicht bei Bewusstsein, aber sie fing an zu sprechen.«

»Sehr schön«, sagte Parsifal.

»Aber nicht auf Englisch. Keiner von uns hat diese Sprache jemals zuvor gehört.«

»Was?«

»Aber ein Assistenzarzt hat als Sanitäter in Sub-Mexiko gedient. Angeblich stellt das Militär in weit entfernten Gängen und Nischen Mikrofone auf. Er hatte einige dieser Aufnahmen gehört und glaubt sich an den Klang zu erinnern.«

»Bitte nicht Hadalisch!«, sagte Parsifal. Verwirrung machte ihn immer wütend.

»Doch.«

»Unsinn!« Parsifals Gesicht lief rot an.

»Wir haben uns aus der Bibliothek des Verteidigungsministeriums ein Band mit Hadal-Stimmen kommen lassen, alles natürlich supergeheim. Wir verglichen es mit Yammies Sprache. Augenscheinlich sind die menschlichen Stimmbänder erst nach langer Übung in der Lage, die Konsonanten, Triller und Schnalzer zu artikulieren -aber Yammie sprach eindeutig diese Sprache.«

»Wo kann sie das gelernt haben?«

»Genau das ist die Frage«, sagte Mary Kay. »Was die Menschen anbetrifft, gibt es nicht mehr als eine Hand voll Befreite auf der ganzen Welt, die Hadal sprechen. Und Yammie. Wir haben den Beweis dafür auf Band.«

»Also muss sie irgendwie mit Befreiten in Kontakt gekommen sein«, sagte Parsifal.

»Es ist aber mehr als einfaches Nachahmen. Sehen Sie die Wand dort drüben?«

»Ist das Dreck?«

»Fäkalien. Ihre eigenen. Yammie hat damit diese Symbole gemalt.«

Alle Anwesenden erkannten die hadalischen Symbole wieder.

»Wir haben keine Ahnung, was sie bedeuten«, sagte Mary Kay.

»Mir wurde gesagt, dass jemand bei einer wissenschaftlichen Expedition unter dem Pazifik dabei ist, den Code zu knacken. Ein Archäologe. Die Expedition ist supergeheim. Trotzdem ist etwas aus einer der Bergwerkskolonien an die Oberfläche durchgedrungen. Allerdings ist die ganze Expedition inzwischen verschwunden.«

»Es handelt sich nicht zufällig um eine Frau?«, erkundigte sich Vera. »Von Schade? Ali?«

»Doch. Der Name könnte richtig sein. Kennen Sie Ihre Arbeit?«

»Nicht gut genug«, erwiderte Vera.

»Sie ist eine Freundin von uns«, erklärte Thomas. »Wir sind sehr besorgt um sie.«

»Trotzdem verstehe ich immer noch nicht«, mischte sich Parsifal wieder ein, »wie es dieser jungen Frau möglich sein sollte, ein Alphabet nachzuahmen, von dessen Existenz die Menschheit erst seit kurzer Zeit weiß. Wie kann sie eine Sprache nachäffen, die kein Mensch spricht?«

»Es handelt sich weder um nachahmen noch um nachäffen.«

»Was denn?«

»Es sieht ganz so aus«, sagte Mary Kay langsam, »als sei Yammie eine Hadal geworden. Genauer gesagt: Dawn hat sich in sie verwandelt.«

Parsifal klappte der Unterkiefer herunter. »Nur damit ich nichts missverstehe«, sagte er und zeigte auf den verwesenden Schädel.

»Die Seele von diesem Ding soll in diese junge Frau übergewechselt sein?«

»Glauben Sie mir«, beschwichtigte ihn Mary Kay, »auch von uns möchte das keiner glauben. Aber mit ihr ist etwas Furchtbares geschehen. Kurz bevor Yammie bewusstlos wurde, haben die Nadeln heftig ausgeschlagen. Wir haben uns die Videoaufzeichnung immer wieder angeschaut.

Man sieht, wie Yammie die EEG-Kabel hält, und dann bricht sie zusammen. Vielleicht hat sie einen elektrischen Strom durch ihre Hände aufgenommen. Oder der Kopf hat ihn in sie umgeleitet. Ich weiß auch, dass sich das Ganze phantastisch anhört.«

»Phantastisch? Eher völlig durchgedreht!«, schnaubte Parsifal. »Ich habe jedenfalls die Nase voll davon!« Auf dem Weg nach draußen blieb er vor dem zerschnittenen Kopf stehen. »Sie sollten diese Nekropolis mal aufräumen«, verkündete er. »Kein Wunder, dass hier solch mittelalterlicher Mist ausgebrütet wird.« Er schlug eine Zeitschrift auf, breitete sie über den Hadalkopf und marschierte hinaus.

Parsifals polternder Auftritt hatte Mary Kay völlig eingeschüchtert. Sie zitterte am ganzen Leib.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte Thomas zu ihr. »Wir sind an seine dramatischen Auftritte schon gewöhnt. Leider vergisst er sich manchmal in der Öffentlichkeit.«

»Ich finde, wir sind jetzt alle reif für eine Tasse Kaffee«, beschloss Vera. »Gibt es hier irgendwo einen Ort, an dem wir unsere Gedanken wieder sammeln können?«

Mary Kay zeigte ihnen den Weg zu einem kleinen Konferenzraum mit einer Kaffeemaschine. An der Wand hing ein Monitor, der das gesamte Labor zeigte. Das Kaffeearoma war eine willkommene Erlösung von dem Gestank der Chemikalien und der Verwesung.

»Eigentlich«, meldete sich Rau leise zu Wort, »dürften wir nicht allzu überrascht sein.«

»Und weshalb nicht?«, wollte Thomas wissen.

»Wir sprechen hier von der guten alten Reinkarnation. Wenn man weit genug in die Vergangenheit geht, findet man fast überall Spielarten dieser Theorie. Die Ureinwohner Australiens können seit zwanzigtausend Jahren die Kette ihrer Vorfahren in ihren Kindern lückenlos zurückverfolgen. Man findet die Vorstellung von Wiedergeburt überall, bei vielen Völkern, von den Indonesiern über die Bantus bis zu den Druiden. Große Denker wie Platon, Empedokles und Pythagoras versuchten sie zu beschreiben. Die orphischen Mysterien und die jüdische Kabbala haben sich daran versucht. Selbst unsere modernen Wissenschaften haben sich damit beschäftigt. Dort, wo ich herkomme, wird sie allgemein als ganz natürliches Phänomen akzeptiert.«

»Aber ich kann einfach nicht daran glauben, dass in einem solchen Labor die Seele eines Hadal in eine andere Person überwechselt.«

»Seele?«, fragte Rau. »Im Buddhismus gibt es so etwas nicht. Dort redet man von einem undifferenzierten Strom des Seins, der von einer Existenz zur anderen wechselt, das so genannte Samsara.«

Teilweise von Thomas’ Skepsis dazu verleitet, widersprach auch Vera. »Seit wann gehören epileptische Anfälle, Mord und Kannibalismus zur Wiedergeburt? Ist das etwa auch ein ganz natürliches Phänomen?«

»Ich kann nur sagen, dass eine Geburt ein hochkomplexer Vorgang ist«, erwiderte Rau. »Warum sollte es bei einer Wiedergeburt anders sein? Und was die Raserei betrifft« - er wies auf den Bildschirm, auf dem das Ausmaß der Zerstörung noch zu sehen war -, »das hat womöglich mit der begrenzten Kapazität des Menschen für Erinnerung zu tun. Vielleicht ist die Erinnerung, wie es Dr. Koenig beschrieben hat, ein Fall von elektrischer Vernetzung. Aber die Erinnerung ist auch ein Labyrinth. Ein Abgrund. Wer weiß, wohin sie führt?«

»Was sollte deine Frage nach Labortieren, Rau?«

»Ich wollte nur andere Möglichkeiten ausschließen«, antwortete er. »Auf die klassische Weise erfolgt der Transfer zwischen einem sterbenden Erwachsenen und einem Kind. Oder einem Tier. Aber in diesem Fall stand dem Samsara des Hadal nur Dr. Yamamoto zur Verfügung, also sozusagen ein bereits besetztes Haus. Und jetzt ist es dabei, Dr. Yamamotos Erinnerung auszuschalten, um sich selbst genügend Platz zu verschaffen.«

»Aber warum jetzt?«, fragte Mary Kay. »Warum ausgerechnet jetzt, und warum auf diese schreckliche Weise?«

»Ich kann nur spekulieren«, erwiderte Rau. »Sie haben gesagt, die mechanische Klinge sei kurz davor gewesen, den Hippocampus zu zerschneiden. Vielleicht war es lediglich eine Art Selbstverteidigung der Erinnerung des Hadal, die Übernahme eines neuen Territoriums.«

»Übernahme eines Territoriums? Das klingt ja wie ein Eroberungsfeldzug.«

»Das ist es auch. Ihr Abendländer verwechselt Reinkarnation immer wieder mit einem freundschaftlichen sozialen Akt. Dabei ist sie eine Sache von Herrschaft. Kolonisation, wenn Sie so wollen. Als würde sich ein Land das Territorium eines anderen aneignen und darauf seine eigenen Menschen mit ihrer eigenen Sprache und ihrer eigenen Regierung ansiedeln. Über kurz oder lang sprechen die Azteken spanisch, die Mohawk englisch. Und schon fangen sie an zu vergessen, wer sie einmal gewesen sind.«

»Sie ersetzen den gesunden Menschenverstand durch Metaphern«, sagte Thomas. »Das bringt uns nicht weiter.«

»Denkt trotzdem einmal darüber nach!«, antwortete Rau. »Ein Strom kontinuierlicher Erinnerung. Ein ungebrochenes Band des Bewusstseins, das sich über Äonen erstreckt. Das könnte dazu beitragen, seine Langlebigkeit zu erklären. Aus der begrenzten Perspektive des Menschen betrachtet, erscheint er als ewig.«

»Von wem sprechen Sie überhaupt?«, fragte Mary Kay.

»Von jemandem, nach dem wir suchen«, antwortete Thomas rasch. »Von niemandem.«

»Entschuldigung, ich wollte meine Nase nicht in Ihre Angelegenheiten stecken.« Nach allem, was sie ihnen mitgeteilt hatte, war ihr die Verstimmung nur allzu deutlich anzumerken.

»Es ist nur eins unserer Spielchen«, beschwichtigte sie Vera. »Sonst nichts.«

Der Videoschirm an der Wand hinter ihnen war stumm, sonst hätten sie das plötzliche Treiben im Labor sofort bemerkt. Mary Kays Piepser sprang an, sie warf einen Blick darauf und wirbelte plötzlich in ihrem Stuhl herum, um auf den Bildschirm zu schauen.

»Yammie«, stöhnte sie.

Leute rannten im Labor hin und her. Jemand schrie etwas in den Monitor, ein tonloser Schrei.

»Was ist denn?«, fragte Vera.

»Code Blau.« Mary Kay war schon aus der Tür. Eine halbe Minute später erschien sie auf dem Monitor.

»Was spielt sich da ab?«, fragte Rau.

Vera drehte ihren Rollstuhl, um den Bildschirm besser im Blick zu haben. »Sie verlieren das arme Mädchen. Herzstillstand. Da kommt schon der Notfallwagen!«

Thomas war aufgesprungen und starrte aufmerksam auf den Schirm. Rau stellte sich neben ihn.

»Was geschieht jetzt?«, fragte er.

»Das ist ein Defibrilator«, sagte Vera. »Um ihr Herz wieder anzukurbeln.« »Soll das heißen, sie ist tot?«

»Man unterscheidet zwischen biologischem und klinischem Tod. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«

Unter Mary Kays Anleitung schoben mehrere Leute Tische und zerschlagene Maschinen zur Seite, um dem schweren Notfallwagen Platz zu machen. Mary Kay packte die Handgriffe des Defibrilators und hielt sie hoch.

»Aber das dürfen sie nicht tun!«, rief Rau.

»Sie müssen es wenigstens versuchen«, sagte Vera.

»Hat denn niemand begriffen, wovon ich vorhin gesprochen habe?«

»Wo wollen Sie hin, Rau?«, fuhr ihn Thomas an. Doch Rau war bereits zur Tür hinaus.

»Da ist er«, sagte Vera und zeigte auf den Bildschirm.

»Was hat er bloß vor?«, wunderte sich Thomas.

Rau, immer noch mit dem Cowboyhut auf dem Kopf, drängte sich an einem stämmigen Polizisten vorbei und sprang über einen umgestürzten Stuhl. Sie sahen, wie die Leute von dem blanken Stahltisch zurückwichen und auch Yamamoto für die Kamera sichtbar wurde. Die zarte junge Frau war immer noch auf dem Tisch festgebunden und rührte sich nicht. Als Rau angestürmt kam, stellte sich ihm nur noch Mary Kay auf der anderen Seite des Tisches entgegen. Die beiden stritten miteinander.

»Ach, Rau!«, rief Vera verzweifelt. »Thomas, wir müssen ihn dort herausholen. Es handelt sich um einen medizinischen Notfall.«

Mary Kay sagte etwas zu einer Schwester, die versuchte, Rau am Arm wegzuziehen. Doch Rau schüttelte sie ab. Ein Labortechniker packte ihn an der Hüfte, und Rau klammerte sich hartnäckig an der Tischkante fest. Mary Kay beugte sich vor, um die Griffe des Defibrilators aufzusetzen. Das Letzte, was Vera auf dem Monitor sah, war sein sich aufbäumender Körper.

Thomas schob den Rollstuhl eilig in Richtung Labor vor sich her, vorbei an Polizisten, Feuerwehrleuten und Laborpersonal. Als sie das Labor endlich erreichten, war das Drama offensichtlich schon beendet. Mehrere Leute verließen den Raum. Eine Frau stand neben der Tür, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

Drinnen sahen Vera und Thomas, dass ein Mann halb über dem Tisch hing. Er hatte den Kopf neben Yamamoto gelegt und schluchzte. Ihr Ehemann, vermutete Vera. Mary Kay stand daneben, die Griffe immer noch in der Hand. Ein Kollege redete auf sie ein. Da sie nicht reagierte, nahm er ihr die Griffe aus der Hand. Ein anderer klopfte ihr mitfühlend auf die Schulter, doch sie rührte sich immer noch nicht.

»Mein Gott«, flüsterte Vera, »hat Rau etwa Recht gehabt?« Sie bahnten sich ihren Weg durch die Trümmer. Yamamotos Leichnam wurde zugedeckt und auf eine Trage gehoben. Der Ehemann folgte den Trägern nach draußen.

»Dr. Koenig?«, sagte Thomas. Auf dem schimmernden Tisch lagen die Kabel wirr durcheinander.

Beim Klang seiner Stimme zuckte sie leicht zusammen und richtete den Blick auf ihn.

»Pater?«, sagte sie benommen.

Vera und Thomas wechselten einen besorgten Blick.

»Mary Kay?«, sagte Vera. »Ist alles in Ordnung?«

»Pater Thomas? Vera?«, antwortete Mary Kay. »Ist Yammie jetzt auch tot? Was haben wir denn falsch gemacht?«

Vera atmete erleichtert aus.

»Du hast mir ganz schön Angst eingejagt«, sagte sie. »Komm her, mein Kind. Komm her.« Mary Kay kniete neben dem Rollstuhl nieder und barg das Gesicht an Veras Schulter.

»Rau?«, fragte Thomas und schaute sich suchend um. »Wo ist er denn jetzt schon wieder hin?«

Völlig unerwartet brach Rau aus seinem Versteck unter einem Haufen von Papierausdrucken und Kabelsalat hervor. Er bewegte sich so schnell, dass sie ihn kaum erkannten. Als er an Veras Rollstuhl vorbeirannte, beschrieb seine Hand einen großen Bogen.

Mary Kay stöhnte auf und bäumte sich vor Schmerz nach hinten. Ihr Laborkittel klaffte von einer Schulter zur anderen auf und färbte sich rasch rot. Rau hatte ein Skalpell in der Hand.

Thomas schrie Rau an. Es klang wie ein Kommando. Vera sprach kein Hindi, falls es das war, außerdem war sie viel zu schockiert, um sich darum zu kümmern.

Rau blieb stehen und blickte Thomas mit von Seelenqual und Verwirrung verzerrtem Gesicht an.

»Thomas!«, schrie Vera und stürzte mit der verwundeten Mary Kay im Arm aus dem Rollstuhl.

In dem kurzen Augenblick, in dem Thomas den Blick von Rau abwandte, verschwand dieser durch die Tür.

Am gleichen Abend wurde der Selbstmord landesweit im Fernsehen gezeigt. Rau hätte sich keinen besseren Zeitpunkt dafür aussuchen können, da die Medien wegen der Pressekonferenz bereits auf der Straße versammelt waren. Die Leute mussten nichts anderes tun, als ihre Kameras zum acht Stockwerke hohen Dach hochschwenken.

Mit einem lodernden Sonnenuntergang als Hintergrund schoben sich die Polizisten mit schussbereiten Pistolen näher an Raus schwankende Gestalt heran. Die Tonleute der Kamerateams richteten ihre Mikrofone genau aus und fingen jedes Wort auf. Teleobjektive holten das verzerrte Gesicht heran und verfolgten seinen Sprung. Einige besonders gewitzte Kameraleute machten den kleinen Hüpfer am Boden mit, um den Aufprall stilecht nachzuempfinden.

Es bestand kein Zweifel daran, dass der ehemalige indische Parlamentsvorsitzende Rau verrückt geworden war. Der Hadal-Kopf, den er mit beiden Armen fest an sich presste, war der letzte Beweis dafür. Der Hadal-Kopf - und der Cowboyhut.



Bruder, dein Schwanz baumelt hinter dir.

RUDYARD KIPLING,

Das Dschungelbuch


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