23 Das Meer


UNTER DEM MARIANENGRABEN, 6010 FADEN

Das Meer nahm kein Ende. Sie waren schon einundzwanzig Tage unterwegs. Ike bestimmte das Tempo, ließ sie alle halbe Stunde rasten, füllte ihre Wasserflaschen nach, gratulierte ihnen zu ihrer Ausdauer.

»Verdammt, warum bin ich damals nicht mit euch auf den Makalu gestiegen?«, sagte er immer wieder.

Neben Ike erwies sich Troy, der forensische Anthropologe, als der Zäheste. Er war ein junger Bursche, der wahrscheinlich noch zu Hause die Sesamstraße angesehen hatte, als Ike auf die Himalaya-Gipfel gestiegen war. Er versuchte, Ike nachzueifern, fürsorglich und immer hilfsbereit, und er machte seine Sache gut. Manchmal ließ Ike ihn vorne gehen. Es war eine vertrauensvolle Aufgabe, seine Art, dem Jüngeren Anerkennung zu zollen.

Ali fand, dass sie am meisten zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen konnte, wenn sie mit Twiggs marschierte, den alle anderen am liebsten gefesselt und geknebelt zurückgelassen hätten. Sobald er aufwachte, fing der Mikrobotaniker an, zu jammern und zu schimpfen. Außerdem war er der geborene Schnorrer. Nur Ali konnte mit ihm umgehen. Sie behandelte ihn wie eine von Akne geplagte Novizin. Wenn Pia oder Chelsea über ihre Geduld staunten, erklärte Ali ihnen, dass irgend jemand das schwächste Glied sein musste, wenn nicht Twiggs, dann ein anderer. Ihr war noch keine Gruppe ohne Sündenbock untergekommen.

Ihre Zelte waren längst vergessen. Sie schliefen auf dünnen Schlafmatten, eher eine Erinnerung an ihre frühere Expeditionskultur. Nur noch drei von ihnen besaßen Schlafsäcke, für die anderen waren die anderthalb Kilo Extragepäck zu schwer gewesen. Wenn es kühler wurde, drängten sie sich eng aneinander und breiteten die Schlafsäcke wie eine große Decke über allen aus. Ike schlief fast nie bei ihnen. Normalerweise nahm er sein Gewehr, schlenderte davon und kehrte erst am Morgen wieder zurück.

An einem jener Morgen wachte Ali auf, bevor Ike zurück war, und ging zum Strand hinunter, um sich das Gesicht zu waschen. Gerade als sie um einen großen Felsbrocken herumgehen wollte, hörte sie Stimmen. Sie hörten sich sehr fein und zerbrechlich an. Ali wusste sofort, dass es nicht Englisch, wahrscheinlich überhaupt keine Menschensprache war. Sie lauschte aufmerksamer, schob sich dann vorsichtig ein paar Schritte weiter bis dicht an die Flanke des Felsens und hielt sich versteckt.

Sie wagte kaum, Luft zu holen. Eine der Stimmen unterschied sich nur unwesentlich von den sanft am Ufer plätschernden Wellen. Die andere verband die Vokale weniger fließend miteinander und artikulierte die Pausen und Enden ihrer Wortreihen prägnanter. Beide klangen höflich und alt. Sie machte noch einen Schritt um den Felsen und sah sie.

Es waren nicht zwei, sondern drei. Einer war ein geflügelter Dämon von der Sorte, wie sie Shoat und Ike getötet hatten. Er schwebte direkt über dem Wasser, mit flach ausgestreckten Händen, während sich seine Flügel sanft auf und nieder bewegten. Die beiden anderen schienen Zwitterwesen zu sein, halb Mensch, halb Fisch. Eines lag auf die Seite gestützt im Sand mit den Füßen im Wasser, das andere ließ sich lässig vom Wasser tragen. Ihre glänzenden Köpfe und Augen erinnerten an Robben, aber sie hatten spitz gefeilte Zähne. Ihre Haut war weiß und glitschig, mit dünnem schwarzem Haarflaum auf den Rücken.

Erst hatte Ali Angst gehabt, die Wesen würden vor ihr die Flucht ergreifen. Plötzlich hatte sie Angst, dass sie genau das nicht tun würden.

Eines der Wasserwesen drehte sich gemächlich zu ihr um und verzog den Mund wie ein Pavian. Sein scharfes Gebiss sah nicht gerade einladend aus.

»Oh!«, sagte Ali törichterweise.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, allein hierher zu kommen?

Sie betrachteten sie mit der Gelassenheit entspannter Philosophen. Eines der Amphibienwesen beendete seinen Satz in der leise plätschernden Sprache, ohne den Blick von Ali zu wenden.

Ali überlegte, ob sie zur Gruppe zurücklaufen sollte. Sie setzte einen Fuß hinter sich, um sich umzudrehen und loszurennen. Der fliegende Dämon warf ihr einen Blick aus dem Augenwinkel zu.

»Nicht bewegen«, murmelte Ike. Er kauerte auf dem Steinbrocken links von ihr. Die Pistole lag in seiner Hand.

Die drei Gestalten unterhielten sich nicht mehr. Außer den am Strand leckenden Wellen war nichts zu hören. Nach einer Weile warf der fliegende Dämon abermals einen kurzen Blick in Alis Richtung, stieß sich von der Wasseroberfläche ab und flog dann mit trägem Flügelschlag davon, ohne sich mehr als ein paar Zentimeter über das Meer zu erheben. Die beiden Wasserwesen glitten unter die Wasseroberfläche, und es war, als hätte sie ein großer Mund verschluckt. Die Lippen des Meeres schlossen sich über ihnen.

»Ist das eben wirklich passiert?«, fragte Ali mit heiserer Stimme. Ihr Herz pochte wie wild. Sie machte ein paar Schritte nach vorne, um die Abdrücke auf dem Sand zu überprüfen.

»Geh nicht zu nah ans Wasser«, warnte sie Ike. »Sie warten auf dich.«

»Sind sie immer noch da?« Diese Gestalten aus einer Traumwelt sollten ihr auflauern? Sie waren ihr so friedlich vorgekommen.

»Geh jetzt lieber zurück. Du machst mich nervös.«

»Ike ... kannst du sie verstehen?«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus.

»Kein einziges Wort. Nicht diese hier.«

»Gibt es denn noch andere?«

»Ich habe euch doch schon oft gesagt, dass wir nicht allein sind.«

»Aber sie tatsächlich zu sehen .«

»Ali. Wir bewegen uns schon die ganze Zeit zwischen ihnen.«

»Zwischen solchen hier?«

»Und auch anderen, von deren Existenz du nichts wissen willst.«

»Aber sie sahen so friedlich aus. Wie drei Dichter.«

Ike schüttelte ungläubig den Kopf.

»Warum haben sie uns nicht angegriffen?«, fragte Ali leise.

»Ich weiß es nicht. Es kam mir beinahe vor, als hätten sie mich erkannt.« Er zögerte.

»Oder dich.«

Branch schaffte es einfach nicht, sie einzuholen. Er schnitt ihnen immer wieder den Weg ab, aber genauso oft verlor er ihre Spur wieder. Fieberanfälle schüttelten ihn, und er kämpfte gegen die Versuchung, sich einfach in eine Mulde zu legen und zu schlafen. Aber stehen zu bleiben hieß, kilometerweit die Jäger anzulocken. Wenn ihn einer aufspürte, während er schlief, war alles vorbei. Also hielt sich Branch weiter auf den Beinen.

Er kam am Skelett einer Frau vorbei. Ihr langes schwarzes Haar lag neben dem Schädel, was ungewöhnlich war, denn geflochten würde es eine durchaus brauchbare Schnur abgeben. Dass man es einfach liegen gelassen hatte, verriet ihm, dass es noch andere Menschen zur Auswahl gegeben hatte. Das war gut. Also konzentrierten sich die Jäger nicht auf ihn.

Dann stieß er auf einen schwabbeligen Haufen mit Rettungsanzügen, von denen mehrere durchbohrt oder zerstückelt waren. Einem Hadal mussten die Neoprenanzüge wie übernatürliche Häute oder sogar lebende Tiere vorkommen. Er durchwühlte den Haufen und streifte sich einen Anzug über, der noch fast unversehrt war.

Kurz darauf fand Branch die Papierrollen mit Alis Karten. Er ging sie eilig in chronologischer Folge durch.

Am Ende berichtete eine andere Handschrift von Walkers Verrat am Meer und von der Aufsplitterung der Gruppe. Jetzt wurde ihm klar, weshalb dieser Trupp hier sich verlaufen hatte und warum er Ike nirgendwo finden konnte. Branch wusste jetzt, wohin seine Reise ging: Zu dem unterirdischen Ozean. Dort würde er weitere Zeichen finden. Er nahm die Karten an sich und machte sich auf den Weg.

Einen Tag darauf bemerkte Branch, dass er verfolgt wurde. Er konnte sie förmlich im Luftstrom wittern, und das beunruhigte ihn. Da seine Nase nicht besonders sensibel war, mussten sie schon ziemlich nahe sein. Ike hätte sie viel früher wahrgenommen. Wieder einmal fühlte er sich alt. Jetzt blieb ihm die gleiche Wahl wie jedem anderen gejagten Tier: Kämpfen oder Flüchten. Branch wählte die zweite Möglichkeit.

Nach drei Stunden hatte er den Fluss erreicht. Er sah den Pfad, der am Ufer entlangführte, doch dafür war es zu spät. Er drehte sich um und sah sie. Vier Hadal, die blass wie Larven auf der Böschung über ihm ausschwärmten.

Ein schlanker Speer - Schilfrohr mit einer Spitze aus Obsidian - zersplitterte auf dem Felsen direkt neben ihm. Ein zweiter zischte ins Wasser. Branch hätte mit Leichtigkeit den jungen Burschen erschießen können, der sich von links näherte. Damit wären immer noch drei übrig geblieben, was an der Notwendigkeit dessen, was er ohnehin tun musste, nichts geändert hätte.

Sein Sprung war unbeholfen und das Gewehr und die wasserdichte Trommel mit den Landkarten behinderten ihn. Er hatte gleich bis ins Tiefe springen wollen, doch sein Fuß traf auf einen Stein. Mit einem schnalzenden Geräusch sprang sein rechtes Knie aus dem Gelenk. Er hielt sich am Gewehr fest, die Karten jedoch entglitten seinen Händen und blieben am Ufer zurück. Die Strömung riss ihn weiter und zog ihn sofort nach unten. Branch ergab sich dem Fluss, solange er den Atem anhalten konnte. Dann riss er an der Leine des Rettungsanzugs und spürte, wie sich die Kammern füllten. Wie ein Korken schoss er an die Wasseroberfläche.

Einer von den Hadal verfolgte ihn immer noch am Ufer. In dem Augenblick, in dem Branchs Kopf aus dem Wasser auftauchte, schleuderte sein Verfolger in vollem Lauf den Speer auf ihn. Die Waffe drang tief ein, und im gleichen Augenblick feuerte Branch sein Gewehr noch unter Wasser ab. Das Wasser peitschte wie eine lange Hahnenfeder auf. Der Hadal wirbelte herum und stürzte ins Wasser.

In den folgenden fünf Tagen leistete der tote Hadal dem treibenden Branch auf dem Weg zum Meer Gesellschaft. Der Fluss war wie eine Mutter, die ihren so unterschiedlichen Kindern die gleiche Fürsorge entgegenbrachte. Er trank ihr Wasser. Sein Fieber kühlte ab.

Schließlich löste sich der Speer aus ihm. Kleine, blasse Aale saugten zärtlich an ihm. Sie labten sich an seinem Blut, doch auf diese Weise blieb die Wunde sauber. Irgendwo unterwegs gelang es ihm auch, das Knie wieder einzurenken. Bei den vielen Schmerzen war es kein Wunder, dass er auf seiner Reise zum Meer so viel träumte.

Am Ufer des Flusses hob ein tätowiertes und mit Narben überzogenes Wesen die Trommel mit den Karten auf. Es zog sie aus der wasserdichten Hülle und beschwerte die Ecken mit Steinen. Die anderen Hadal hatten kein Auge für solche Dinge, doch Isaak erkannte die Sorgfalt und Detailgenauigkeit, die der Kartograf angewandt hatte.

»Es besteht noch Hoffnung«, sagte er auf Hadal.

Seit Tagen schon war ihnen ein nebelhafter, milchiger Schimmer über dem fernen Horizont aufgefallen. Sie hielten ihn für eine Wolkenbank oder die Gischt eines Wasserfalls, vielleicht war es sogar ein Eisberg. Ali befürchtete, das Ganze sei eine kollektive, vom Hunger hervorgerufene Wahnvorstellung. Keiner von ihnen rechnete mit einer in das phosphoreszierende Gestein gehauenen Festung.

Die Wände waren fünf Stockwerke hoch und glatt wie ägyptischer Alabaster. Das gesamte Bauwerk war direkt aus dem massiven Stein herausgehauen worden, ein riesiger Komplex aus Kammern, Brustwehren und Statuen, dem weder ein Steinquader noch ein einziger Ziegel hinzugefügt worden war. Der Bau war dreimal so breit wie hoch, völlig leer und schon teilweise verfallen. Er richtete sich trotzig gegen das Meer, eindeutig ein Bollwerk, das zum Schutz eines verschwundenen Imperiums errichtet worden war. Einige Zentimeter unter Wasser konnte man noch immer sehen, was von den alten steinernen Kaimauern übrig war.

Trotz ihres Hungers waren sie wie verzaubert. Sie wanderten durch das Labyrinth der Kammern, blickten über das nächtliche Meer und in tiefe Abgründe auf der Rückseite der Festung. In die Felswände waren Tausende von Stufen gehauen, die in neue Tiefen hinabführten. An den Wänden fanden sich Spuren eingravierter Bilder sowie einzelne Glyphen, und Ali erklärte die Inschriften für noch älter als alles, was sie bisher gesehen hatten.

Tief in dem höhlenhaften Inneren, im Herzen des Gebäudekomplexes, erhob sich eine freistehende Säule zwanzig Meter hoch bis in eine große, gewölbte Kammer. Die Turmspitze wurde den Blicken der Reisenden durch eine weit oben angebrachte Plattform entzogen. Sie richteten ihre Scheinwerfer auf den oberen Teil des Turms. Weder Türen noch Treppen führten zu dieser Plattform hinauf.

»Die Säule könnte ein Königsgrab sein«, meinte Ali.

»Oder ein Bergfried«, sagte Troy.

»Oder ein gutes altes Phallussymbol«, gab Pia zu bedenken, die sich der Gruppe angeschlossen hatte, weil ihr Liebhaber, der Primatologe Spurner, Gitner noch weniger als Ike über den Weg getraut hatte. »Wie ein Schiwa-Stein oder ein Pharaonenobelisk.«

»Das müssen wir herausfinden«, sagte Ali. »Es könnte wichtig sein.« Wichtig für ihre Suche nach Satan, aber das sagte sie nicht.

»Was schlägst du vor?«, fragte Spurner. »Sollen wir uns Flügel wachsen lassen?«

Mit einem bleistiftdünnen Lichtstrahl verfolgte Ike mehrere kleine Haltegriffe, die in die obere Hälfte des kreisrunden Geländers der Plattform gemeißelt waren. Er öffnete seinen bleischweren Rucksack und breitete den Inhalt vor sich aus. Alle sahen ihm neugierig dabei zu.

»Du hast Seil dabei?«, staunte Ruiz. »Wie viele Rollen denn?«

»Seht doch, die vielen MRE-Riegel«, sagte Twiggs. »Die hast du die ganze Zeit vor uns versteckt.«

»Halt die Klappe, Twiggs«, sagte Pia. »Das ist seine eigene Ration.«

»Bitte sehr, ich habe sie extra aufgehoben«, sagte Ike und reichte die Päckchen herum. »Das sind die Letzten. Guten Appetit.«

Gierig fielen sie über das Essen her. Sie schlugen sich die zusammengeschrumpften Mägen voll, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Nahrung einzuteilen.

Ike rollte eines seiner Seile auf. Er lehnte das Essen höflich ab, nahm aber einige M&Ms an, aber nur die roten. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten, dass ihr kampferprobter Fährtenleser sich so viel aus den Süßigkeiten machte.

»Aber sie unterscheiden sich doch kein bisschen von den gelben und blauen«, sagte Chelsea.

»Klar«, erwiderte Ike. »Sie sind rot.«

Er band sich ein Seilende um die Hüfte. »Ich bringe das Seil nach oben. Falls es dort etwas zu sehen gibt, mache ich es fest, und ihr könnt nachkommen.«

Nur mit einer Stirnlampe und ihrer einzigen Pistole ausgerüstet, stellte sich Ike auf die Schultern von Spurner und Troy und machte einen kleinen Sprung bis an den untersten Griff. Von dort aus waren es nur noch sieben Meter bis nach oben. Er kroch wie eine Spinne hinauf, hielt sich am Rand der Plattform fest und wollte sich über das Geländer ziehen. Mitten in der Bewegung hielt er inne und rührte sich eine ganze Minute nicht vom Fleck.

»Stimmt was nicht?«, rief Ali hinauf.

Ike zog sich auf die Plattform und schaute zu ihnen herunter. »Das müsst ihr euch selbst ansehen.«

Er knotete Schlaufen in das Seil, um ihnen eine provisorische Leiter zu basteln. Einer nach dem anderen kletterten sie hinauf. Als sie sich über den Rand der Plattform hievten, wären sie vor Schreck fast wieder heruntergefallen.

Auf einer Breite von dreißig Metern stand ihnen eine Armee gegenüber. Leblos und doch lebendig.

Es waren aus glasiertem Terrakotta gefertigte Hadal-Krieger. Es mussten Hunderte von ihnen sein, in konzentrischen Kreisen um den Turm aufgestellt, den Blick in die Ferne auf etwaige Eindringlinge gerichtet. Jede Statue war mit Waffen und einem grimmigen Gesichtsausdruck ausgestattet. Einige trugen Rüstungen aus dünnen, mit Goldfäden aneinandergestickten Jadeplättchen. Bei den meisten hatte der Zahn der Zeit am Gold genagt, und die Plättchen lagen den nackten Figuren zu Füßen.

Es fiel schwer, nicht automatisch in Flüstern zu verfallen. Sie staunten voller Ehrfurcht, beinahe eingeschüchtert.

»Wo sind wir denn jetzt hineingeraten?«, fragte Pia.

Einige Statuen schwangen mit Obsidiansplittern besetzte, präaztekische Streitkolben. Es gab Steinkeulen mit Eisenketten und Griffen. Einige Waffen waren mit geometrischen Mustern versehen, die an die der Maoris erinnerten. Speere und Pfeile aus unterirdischem Schilfrohr waren nicht mit Vogelfedern, sondern mit Fischgräten gefiedert.

»Wie das Oin-Grabmal in China«, sagte Ali. »Nur kleiner.«

»Und siebenmal älter«, ergänzte Troy. »Und Hadalisch.«

»Diese Rinnen auf dem Boden sind mit Quecksilber ausgefüllt«, sagte Pia und zeigte auf ein in den Steinboden geritztes Netzwerk.

»Es bewegt sich, wie Blut. Welche Bedeutung wohl dahinter steckt?«

Den Details nach zu urteilen, waren die Statuen maßgerecht angefertigt worden. In diesem Fall hatten die Krieger über die ungewöhnliche Größe von einem Meter siebzig verfügt - und das vor annähernd fünfzehntausend Jahren. »Neben diesen Burschen hier hätte Conan der Barbar wie ein Zwerg ausgesehen«, witzelte Troy.

»Ich frage mich wirklich, warum die Hadal uns mit ihrer körperlichen und zivilisatorischen Überlegenheit nicht einfach platt gemacht haben.«

»Wer sagt denn, dass sie das nicht getan haben?«, fragte Ali und widmete sich wieder den Statuen. »Was mich erstaunt, ist die gewölbte Schädelbasis. Und dieser gerade Unterkiefer.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Troy. »Denkst du das Gleiche wie ich?«

»Reversibilität?«

Anscheinend hatten die Hadal bereits vor fünfzehn- oder zwanzigtausend Jahren einen geraden Unterkiefer entwickelt, wie man an diesen Statuen ablesen konnte, und anschließend wiederum einen vorstehenden Kiefer, der äußerst affenartig und primitiv wirkte. Aus welchem Grund auch immer, schien sich H. hadalis im Zustand der Reversibilität zu befinden.

»Wie kann sich eine Entwicklung so schnell wieder umkehren?«

Troy war verwirrt. »Lass es meinetwegen zwanzigtausend Jahre sein. Das ist auch zu kurz.«

Ike war ein Stück weiter mit Ruiz und Pia damit beschäftigt, einige Figuren zu untersuchen, die flammende Schwerter schwangen. Dabei sah er ihnen in die Gesichter, als suche er nach seiner eigenen Identität.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Ali.

»Sie sind nicht mehr so«, sagte Ike. »Es gibt Ähnlichkeiten, aber sie sind nicht mehr so.«

Ali und Troy blickten einander an.

»Wie meinst du das?« Ali dachte an die Schädelform und die veränderten Unterkiefer.

Ike breitete die Arme aus. »Seht euch doch um. Das ist ... das war wirkliche Größe. Glanz. Herrlichkeit. Solange ich bei ihnen war, habe ich nirgendwo auch nur eine Spur davon gesehen. Herrlichkeit? Niemals.«

Sie verbrachten noch den Rest des ersten Tages und den ganzen folgenden Tag damit, die Festung zu erforschen. Fließstein quoll aus Türöffnungen, hatte ganze Bereiche einstürzen lassen. Weiter im Inneren fanden sie Unmengen von Relikten. Dort lagen antike Münzen aus Stygien und Kreta, vermischt mit spanischen Dublonen. Sie fanden ein Steinschlossgewehr, eine komplette Samurai-Rüstung, einen Inka-Spiegel, Lehmtafeln und Knochenschnitzereien längst vergessener Zivilisationen. Zu ihren merkwürdigsten Entdeckungen gehörte eine Armillarsphäre, ein Anschauungsmodell aus der Renaissance aus ineinander geschobenen metallenen Kreisbändern, anhand derer man sich die Planetenlaufbahnen begreifbar machen konnte.

»Was in Gottes Namen wollen die Hadal denn damit anfangen?«, fragte Ruiz.

Immer wieder zog es sie auf die kreisrunde Plattform mit der Armee rings um den steinernen Turm. Wie unschätzbar die Kunstgegenstände, die überall in der Festung verstreut lagen, auch sein mochten, im Vergleich mit dem Ensemble aus Turm und Kriegern waren sie minderwertig. Am zweiten Morgen fand Ike mehrere versteckte kleine Wölbungen am Turm, die er benutzte, um ohne jede Absicherung zur Spitze der Säule hinaufzusteigen.

Sie beobachteten, wie er auf dem Turm balancierte. Er blieb sehr lange oben, dann rief er zu ihnen herab, sie sollten ihre Lichter ausmachen. Sie saßen eine halbe Stunde in der Dunkelheit auf dem nur schwach leuchtenden Boden.

Nachdem er sich wieder abgeseilt hatte, wirkte Ike zutiefst ergriffen. »Wir stehen auf ihrer Welt«, sagte er. »Diese ganze Plattform ist eine riesige Karte. Der Turm wurde als Aussichtspunkt gebaut.«

Sie blickten auf den Boden zu ihren Füßen, erkannten jedoch lediglich einige schlangenförmige Rillen auf einer flachen, unbemalten Oberfläche. Doch Ike nahm den ganzen Nachmittag über einen nach dem anderen am Seil mit hinauf, von wo aus sie es mit eigenen Augen sehen konnten. Als Ali an der Reihe war, hatte Ike den Weg bereits sechsmal zurückgelegt und war allmählich mit Teilen der Karte vertraut geworden. Die abgeflachte Spitze bot kaum einen Quadratmeter Platz. Offenbar hatte sich bis auf Ike keiner dort oben besonders wohl gefühlt, denn er hatte ein Paar Schlingen angebracht, in die man sich einhängen konnte, ohne ganz oben balancieren zu müssen. Jetzt hing Ali neben Ike zwanzig Meter über dem Boden und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

»Es ist wie ein riesiges Sandmandala, nur ohne Sand«, sagte Ike.

»Es ist merkwürdig, dass ich hier unten immer wieder auf Mandalas oder Teile von Mandalas stoße. Damit meine ich Orte unterhalb von Gibraltar oder dem Iran. Ich dachte immer, die Hadal hätten einen Haufen Mönche gekidnappt und sie alles verzieren lassen. Jetzt erst verstehe ich das alles.«

Ihr ging es ebenso. Die Plattform unter ihr fing an, in einem riesigen Kreis rings um sie her geisterhafte Farben auszustrahlen.

»Es ist eine Art in den Felsen eingearbeitetes Pigment«, sagte Ike. »Vielleicht war es früher einmal auch vom Boden aus sichtbar. Obwohl mir die Idee einer unsichtbaren Landkarte auch sehr gut gefällt. Vielleicht hatten gewöhnliche Sterbliche wie du und ich gar keinen Zutritt zu diesem Wissen, und nur der Elite war erlaubt, hier heraufzukommen.«

Je länger sie wartete, desto besser gewöhnten sich ihre Augen daran. Einzelheiten wurden deutlich. Die kleinen Quecksilberkanäle wurden zu winzigen Flüssen, die sich wie Adern über die Oberfläche zogen. Andere türkis-farbene, rote und grüne Linien kreuzten und verzweigten sich in wilden Mustern: Tunnel.

»Ich glaube, dieser große Fleck ist unser Meer«, sagte Ike.

Die schwarze Form befand sich ziemlich dicht am Fuß des Turms. Viele von weither kommende Pfade trafen sich hier.

»Was geschieht jetzt?«, fragte Ali. »Es wird lebendig!«

»Nein, deine Augen sind nur noch dabei, sich daran zu gewöhnen«, sagte Ike. »Gedulde dich. Es ist dreidimensional.«

Mit einem Mal bauschte sich die Fläche zu Konturen und Tiefen auf. Die Farblinien liefen nicht mehr nur übereinander, sondern wiesen selbst unterschiedliche Ebenen auf, die sich zwischen anderen Linien hinabsenkten und aufstiegen.

»Oh«, murmelte Ali, »ich glaube, ich falle.«

»Ich weiß. Es öffnet sich immer weiter. Das liegt an der künstlerischen Gestaltung. Die Kulturen des Himalaya müssen sie vor langer Zeit irgendwie abgekupfert haben. Heute benutzen sie die Buddhisten, um Pläne von Dharam-Palästen anzufertigen. Wenn man lange genug meditiert, verwandeln sich die geometrischen Linien in die optische Illusion eines Gebäudes. Unser Bild hier vermittelt uns eine Karte der gesamten inneren Erde.«

Diese Karte unterschied sich von der Methode, mit der sie ihre eigenen Karten gezeichnet hatte. Da sie auf keine Kompassangaben zurückgreifen konnte, spiegelten die Karten, die sie nach wie vor anfertigte, auch immer ihren Wunsch, immer weiter nach Westen zu gelangen, wenn auch notgedrungen als generell gerade Linie mit vielen Umwegen. Die Linien hier waren zugleich unbestimmter und genauer. Die unterirdische Welt war praktisch unendlich und glich in dieser Hinsicht eher dem Himmel als der Erde.

Der Ozean hatte den Umriss einer in die Länge gezogenen Birne. Vergeblich versuchte Ali auf der Route nach rechts, die Walker eingeschlagen hatte, besondere Merkmale auszumachen. Bis auf die Tatsache, dass mehrere Flüsse seinen Weg kreuzten, ließ sich nichts über die Gefahren auf seiner Route aussagen.

»Der Turm hier, diese Festung, muss das Zentrum der Karte darstellen«, sagte Ali. »Das X, an dem wir uns gerade befinden. Aber er grenzt nicht direkt ans Meer. Es ist ein ganzes Stück entfernt.«

»Das hat mich auch stutzig gemacht«, erwiderte Ike. »Aber hast du gesehen, wie sämtliche Linien hier, an diesem Turm, zusammenlaufen? Wir alle haben uns draußen umgesehen, doch dort ließ sich das nicht feststellen. Der Weg, auf dem wir gekommen sind, läuft stur weiter an der Küste entlang. Und von der Rückseite der Festung führt nur ein einziger Pfad nach unten. Inzwischen glaube ich, dass wir nur ein Punkt auf einer von vielen Straßen sind.« Er zeigte auf eine Stelle, an der eine einzelne grüne Linie vom Meer weglief. »Dieser Punkt auf der Straße dort drüben.«

Wenn Ike Recht hatte und die Proportionen der Karte stimmten, dann hatte ihre Gruppe weniger als ein Fünftel der Meeresküste abgelaufen.

»Was repräsentiert dann aber dieser Turm?«, fragte Ali.

»Ich habe darüber nachgedacht. Du kennst doch das Sprichwort: >Alle Wege führen .. <« Er ließ sie den Satz beenden.

»Nach Rom?«, hauchte sie.

»Warum nicht?«, sagte er.

»Ins Zentrum der Hölle unserer Vorzeit?«

»Kannst du dich ein paar Minuten da oben halten?«, fragte Ike.

»Ich halte deine Beine fest.«

Ali stützte sich mit den Knien auf den kaum meterbreiten Gipfel und stellte sich dann auf die Füße. Aus dieser größeren Höhe sah sie, wie alle Linien auf ihre Füße zuliefen, und mit einem Mal überkam sie ein Gefühl gewaltiger Macht. Es war, als verschmelze die ganze Welt mit ihr. Das Zentrum war hier. Das einzige Zentrum. Jetzt verstand sie, warum Ike so erschüttert herabgestiegen war.

»Erzähl mir, ob du die Karte von dort oben anders siehst.« Ikes Finger spannten sich fest um ihre Beine.

»Die Linien sind noch deutlicher«, sagte sie. Jetzt, da sie sich nirgendwo mehr festhalten konnte, vor und hinter ihr absolut nichts mehr war, brandete das Panorama förmlich auf sie ein. Das gewaltige Gewebe schien heraufzusteigen. Mit einem Mal war ihr so, als schaute sie nicht nach unten, sondern nach oben.

»Mein Gott«, sagte sie.

Der Turm war zur Grube geworden. Sie sah die Welt von ganz tief innen.

In ihrem Kopf fing sich alles zu drehen an. »Lass mich runter«, flehte sie, »sonst falle ich.«

In der Nacht kam Ike zu ihr. »Ich muss dir etwas zeigen«, sagte er.

»Hat das nicht bis morgen Zeit?«, fragte sie müde. Ihr schwindelte noch der Kopf von der optischen Täuschung der Landkarte. Außerdem hatte sie Hunger.

»Eigentlich nicht«, antwortete er.

Sie hatten ihr Lager in dem Säulengang hinter dem Tor aufgeschlagen, wo ein Strahl reines Wasser aus einem verwitterten Speirohr sprudelte. Der Hunger hatte sie fest im Griff. Sie lagen auf dem Boden, die meisten um ihre leeren Mägen gekrümmt. Pia hielt Spurner umschlungen, der an einem Migräneanfall litt. Troy hielt mit Ikes Pistole im Schoß Wache, sein Kopf war zur Seite gekippt, und er döste. Alle waren am Ende ihrer Kräfte, und es ging immer weiter bergab.

Ali überlegte es sich anders.

»Also los«, sagte sie.

Sie nahm Ikes Hand und zog sich daran hoch. Er führte sie tiefer in die Festung hinein, zu einem Geheimgang mit einer aus dem Stein geschnittenen Treppe.

»Nicht so schnell«, sagte er. »Es kommen noch mehr Treppen.«

Sie erreichten einen Turm, der hoch über der Festung aufragte, und mussten durch einen weiteren versteckten Gang zu einer anderen Treppe schleichen. Als sie die letzten Stufen erklommen, sah sie oben ein kräftiges, buttergelbes Leuchten.

Ike hatte in einem Zimmer hoch über dem Meer Hunderte von Öllampen angezündet. Es handelte sich um kleine Tonschälchen in Blattform, die das an ihrer Spitze brennende Flämmchen über eine kleine Rinne speisten.

»Woher hast du die?«, fragte sie. »Und woher kommt das Öl?«

In einer Ecke standen drei große irdene Amphoren, die ohne weiteres aus dem Wrack eines antiken griechischen Schiffes hätten stammen können.

»Alles in Vorratskammern unter dem Boden verstaut. Dort unten stehen mindestens noch fünfzig von diesen Krügen«, sagte er.

»Das hier muss so eine Art Leuchtturm gewesen sein. Vielleicht gab es noch mehr davon an der Küste, ein ganzes System von Signalstationen.«

Eine einzige Lampe hätte kaum ausgereicht, sie ihre Fingerspitzen erkennen zu lassen. Die vielen Lampen jedoch verwandelten den Raum in Gold. Sie versuchte sich vorzustellen, welcher Anblick sich wohl den vor zwanzigtausend Jahren auf dem dunklen Meer kreuzenden Hadal-Schiffen geboten haben mochte.

Ali blickte verstohlen zu Ike hinüber. Er hatte das alles für sie getan. Das Licht tat ihm ein wenig in den Augen weh, aber er versteckte sie nicht vor ihr hinter seiner Gletscherbrille.

»Wir können nicht hier bleiben«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Ich möchte, dass du mit mir kommst.« Er versuchte, nicht zu blinzeln. Was für sie wunderschön war, war für ihn schmerzhaft. Sie war versucht, einige Lampen auszublasen, um sein Unbehagen zu lindern, wusste aber nicht, ob sie ihn damit beleidigen würde.

»Es gibt keinen Ausweg«, erwiderte sie. »Wir können nicht mehr weiter.«

»Doch.« Er wies auf das endlose Meer. »Es ist nicht hoffnungslos. Die Wege führen weiter.«

»Und was ist mit den anderen?«

»Sie können auch mitkommen. Aber sie haben aufgegeben. Bitte, Ali«, sagte er inbrünstig, »gib nicht auf. Komm mit mir.«

Wie schon das Licht, war diese Aufforderung für sie allein gedacht.

»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Du bist anders. Ich bin immer noch wie sie. Ich bin müde. Ich möchte hier bleiben.«

Er wandte das Gesicht zur Seite.

»Ich weiß, du denkst jetzt, ich bin feige«, sagte sie.

»Wir müssen nicht sterben«, gab Ike ungerührt zurück. »Was auch mit den anderen geschieht, wir jedenfalls müssen nicht hier sterben.« Er war unerbittlich. Es entging ihr nicht, dass er von »wir« sprach.

»Ike«, sagte sie, verstummte jedoch gleich wieder. Sie hatte auch Erfahrungen mit langem Fasten und wusste, dass es zu früh war, sich von Euphorie hinreißen zu lassen. Doch ihr Glücksgefühl war eindeutig und unmissverständlich.

»Wir können hier herauskommen«, drängte er.

»Du hast uns so weit gebracht, wie wir gehen konnten«, sagte sie. »Du hast dafür gesorgt, dass wir unsere Aufgabe erfüllen konnten. Wir haben Entdeckungen gemacht. Wir wissen, dass hier unten einst ein großartiges Imperium existierte. Jetzt ist es vorbei.«

»Komm mit mir, Ali.«

»Wir haben nichts mehr zu essen.«

Sein Blick veränderte sich für den Bruchteil einer Sekunde, nicht länger. Er sagte nichts, aber etwas in seinem Schweigen widersprach ihr. Wusste er etwa, wo es etwas zu essen gab? Die Vorstellung verletzte sie.

Seine Augen wichen ihr wie wilde Tiere aus. Ich bin nicht du, sagten sie. Dann kam sein Blick zurück, und er war wieder ein Mensch wie sie.

»Ich bin dir sehr dankbar für alles, was du für uns getan hast«, fuhr sie fort. »Jetzt wollen wir einfach nur noch unseren Frieden machen mit dem, was wir aus unserem Leben gemacht haben. Für dich gibt es keinen Grund mehr, länger hier zu bleiben. Du solltest gehen.«

Da haben wir’s, dachte sie. Alle edlen Gedanken in einem Becher dargeboten. Jetzt war er an der Reihe. Er würde ritterlich widerstehen. Er war Ike.

»Das werde ich auch tun«, sagte er.

Ein Runzeln huschte über ihre Stirn.

»Du verlässt uns?« Sie konnte die Enttäuschung nicht zurückhalten. Wollte er die Gruppe tatsächlich verlassen? Wollte er sie, Ali, verlassen?

»Ich habe daran gedacht zu bleiben«, sagte er. »Ein romantischer Gedanke. Ich habe mir vorgestellt, wie man uns in zehn Jahren findet. Dich. Und mich.«

Ali blinzelte. Sie hatte sich genau die gleiche Szene ausgemalt.

»Man würde dich eng umschlungen in meinen Armen finden«, fuhr er fort. »Denn das würde ich tun, nachdem du gestorben bist, Ali. Ich würde dich für alle Zeiten im Arm halten.«

»Ike«, sagte sie und verstummte abermals. Mit einem Mal war sie nur noch in der Lage, einsilbige Wörter auszusprechen.

»Ich glaube, das wäre durchaus legal. Wenn du tot bist, bist du auch keine Braut Christi mehr, oder? Er könnte deine Seele haben. Ich darf das behalten, was übrig ist.«

Der Gedanke war zwar ein wenig morbide, trotz allem jedoch wahr.

»Falls du mich um Erlaubnis fragen willst«, sagte sie, »die Antwort lautet Ja.« Ja, er durfte sie in den Armen halten. In ihrer Vorstellung war es umgekehrt gewesen. Er war zuerst gestorben, und sie hatte ihn in ihre Arme gebettet. Die Grundidee war die gleiche.

»Das Problem besteht darin«, fuhr er jetzt fort, »dass ich noch ein wenig genauer darüber nachgedacht habe. Und, um es offen zu sagen, ich kam zu dem Schluss, dass es für mich ein ziemlich schlechtes Geschäft wäre.«

Sie ließ den Blick langsam durch den schimmernden Raum wandern.

»Ich würde dich zwar bekommen«, sagte er, »aber zu spät.«

Leb wohl, Ike, dachte sie. Die Worte mussten jetzt nur noch ausgesprochen werden.

»Es fällt mir nicht leicht«, sagte er.

»Ich weiß.« Vaya, con Dios.

»Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass du das weißt.«

»Schon gut.«

»Nein. Ist es nicht. Es würde mir das Herz brechen. Es würde mich umbringen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann wagte er den Sprung. »Dass ich mit dir viel zu lange gewartet habe.«

Ihre Augen hefteten sich auf sein Gesicht.

Ihre Überraschung erschreckte ihn. »Wenn ich schon hier bleibe, sollte ich das auch sagen können«, verteidigte er sich. »Darf ich es denn nicht einmal sagen?«

»Was willst du sagen, Ike?« Ihre Stimme kam ihr wie von sehr weit entfernt vor.

»Ich habe genug gesagt.«

»Es ist gegenseitig, weißt du?« Gegenseitig? Brachte sie nicht mehr zustande?

»Ich weiß«, sagte er. »Du liebst mich auch. Und alle Geschöpfe Gottes mit mir.« Er bekreuzigte sich spöttisch.

»Hör auf damit!«, sagte sie.

»Schon gut«, sagte er, und die Augen in dem zerstörten Gesicht schlossen sich.

Jetzt lag es an ihr, einen Ausweg zu finden. Keine Geister mehr. Keine Phantasien. Keine weiteren toten Geliebten: ihr Christus, seine Kora.

Als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, kam es ihr vor, als betrachte sie sich aus großer Entfernung. Es hätten ebenso gut die Finger einer anderen sein können, bis auf die Tatsache, dass es ihre waren. Sie berührte seinen Kopf.

Ike wich der Berührung aus. Ali erkannte sofort, dass er glaubte, sie wolle ihn trösten, weil er ihr Leid tat. Früher einmal, mit einem makellosen und jungen Gesicht, hätte er so etwas wahrscheinlich nie in Betracht gezogen. Doch er war vorsichtig und überzeugt davon, andere abzustoßen. Selbstverständlich misstraute er jeder Berührung.

Ali kam es vor, als habe sie so etwas seit einer Ewigkeit nicht mehr getan. Hätte sie es geplant, vorher auch nur flüchtig daran gedacht, sie hätte es nicht fertig gebracht. Trotzdem zitterten ihre Hände, als sie die Knöpfe öffnete und ihre Schultern entblößte. Dann ließ sie die Kleider von ihrem Körper gleiten. Alle.

Sie spürte die Wärme der Lampen auf der nackten Haut. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das zwanzigtausend Jahre alte Licht sie in Gold verwandelte.

Als ihre Körper eins wurden, wusste sie, dass zumindest ein Hunger jetzt nicht mehr an ihr nagen würde.

Sie schmachteten weiterhin in der Festung dahin, kaum zu mehr in der Lage, als zum Pinkeln nach draußen zu schlurfen. Sie rutschten auf ihren Schlafmatten herum. Es war nicht besonders bequem, auf den eigenen Knochen zu liegen.

Das also bedeutet Verhungern, dachte Ali. Ein langes Warten, bis endgültig alles verschwindet. Sie war immer stolz auf ihre Fähigkeit gewesen, über den Augenblick hinauszudenken. Man gab seine weltlichen Verbindungen auf, aber stets in dem Wissen, dass man zu ihnen zurückkehren würde. Beim Verhungern gab es so etwas nicht.

Bevor ihre Kraft noch mehr abnahm, verbrachten Ali und Ike noch zwei Nächte in dem Turmzimmer mit den goldenen Lampen. Am 30. November stiegen sie mit dem Wissen, dass es das letzte Mal gewesen war, vom Turm herab und kehrten zu dem provisorischen Lager zurück. Ab jetzt konnte sie keine Treppen mehr steigen, ihr wurde zu schwindlig.

Das langsame Verhungern machte sie alle sehr alt und sehr jung. Besonders Twiggs sah mit seinen eingefallenen Wangen und den lose herabhängenden Backen wie ein Greis aus. Trotzdem ähnelten sie kleinen Kindern. Sie rollten sich um ihre Mägen zusammen und schliefen jeden Tag mehr. Mit Ausnahme von Ike dehnten sie ihre Schlafpausen auf zwanzig Stunden aus.

Ali versuchte, sich zum Arbeiten zu zwingen, ihre Gebete aufzusagen und auch weiterhin ihre Landkarten zu zeichnen. Es ging ihr darum, Ordnung in Gottes tägliches Chaos zu bringen.

Am Morgen des 2. Dezember hörten sie Geräusche vom Strand her. Diejenigen, die noch dazu in der Lage waren, setzten sich auf. Ihre schlimmsten Ängste wurden Wirklichkeit. Die Hadal kamen, um sie zu holen.

Es hörte sich an wie ein Rudel Wölfe, das sich strategisch verteilte. Man hörte Bruchstücke geflüsterter Worte. Troy wankte davon, um Ike zu suchen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Er musste sich wieder setzen.

»Hätten sie nicht warten können?«, stöhnte Twiggs leise. »Ich wollte einfach nur im Schlaf sterben.«

»Halt die Klappe, Twiggs«, zischte Ruiz, einer der Geologen.

»Und mach das Licht aus. Vielleicht wissen sie nicht, dass wir hier sind.« Er rappelte sich hoch. Im übernatürlichen Schimmer des Steins schauten sie zu, wie er zur Tür wankte und den Kopf durch die Öffnung steckte. Sofort fiel er in den Sand.

»Was hast du gesehen?«, flüsterte Spurner.

Der Geologe blieb stumm.

»He, Ruiz!« Schließlich kroch Spurner zu ihm hinüber. »Oh Gott! Sein Hinterkopf ist weg!«

In diesem Augenblick brach der Angriff los.

Riesenhafte Gestalten drängten herein, monströse Silhouetten zeichneten sich von dem schimmernden Stein ab.

»Verdammte Scheiße!«, schrie Twiggs.

Ohne seinen Fluch wären sie von Kugeln zerfetzt worden.

»Feuer einstellen«, befahl stattdessen eine Stimme. »Wer spricht da Englisch?«

»Ich«, winselte Twiggs. »Davis Twiggs.«

»Das ist unmöglich«, sagte die Stimme.

»Nein, wir sind es wirklich«, sagte Spurner und leuchtete sich mit der Taschenlampe ins Gesicht.

Überall im Raum flammten Scheinwerfer auf.

Verwahrloste Söldner sicherten mit ihren Gewehren nach links und rechts, blieben jedoch nach wie vor schussbereit auf dem Boden knien. Es war nicht leicht zu sagen, wer überraschter war, die entkräfteten Wissenschaftler oder der zerlumpte Rest von Walkers Truppe.

»Keiner rührt sich! Keine Bewegung!«, brüllten die Soldaten. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Ihre Gewehrläufe zuckten wie Kolibris hin und her und suchten den Feind.

»Holt den Colonel«, sagte ein Mann.

Walker, der auf einem von zwei Mann getragenen Gewehr saß, wurde hereingebracht. Ali dachte zuerst, er sei ebenfalls vom Hunger ausgezehrt, bis sie das Blut sah. Aus den aufgeschnittenen Hosenbeinen ragten Dutzende von Obsidiansplittern heraus, die sich tief in sein Fleisch gegraben haben mussten. Es war der Schmerz, der sein Gesicht hatte einfallen lassen. Seine geistigen Fähigkeiten waren aber anscheinend unbeeinträchtigt. Mit dem Blick eines gefährlichen Raubtiers erkundete er die neue Umgebung.

»Seid ihr krank?«, fragte Walker.

Ali sah, was er sah: ausgemergelte Männer und Frauen, die kaum mehr sitzen konnten. Sie sahen aus wie Vogelscheuchen.

»Nur sehr hungrig«, sagte Spurner. »Habt ihr was zu essen?«

Walker schaute in die Runde. »Wo sind die anderen?«, fragte er. »Ihr wart doch mehr als neun.«

»Sie sind nach Hause gegangen«, antwortete Chelsea, die neben ihrem Schachbrett auf dem Bauch lag. Sie blickte auf Ruiz’ Leiche. Jetzt konnte sie erkennen, dass den Geologen die Kugel eines Scharfschützen ins Auge getroffen hatte.

»Sie wollten auf dem Weg zurück, den wir gekommen sind«, erläuterte Spurner.

»Die Ärzte auch?«, fragte Walker. Einen Augenblick flammte Hoffnung in ihm auf.

»Nur wir sind noch übrig«, sagte Pia. »Und ihr.«

Walker sah sich um. »Was ist das hier? Ein Heiligtum?«

»Eine Festung«, sagte Pia. Ali hoffte, sie würde nicht mehr verraten. Sie wollte nicht, dass Walker etwas von der kreisförmigen Karte erfuhr, und auch nichts von den Soldaten aus Keramik.

»Wir haben sie vor zwei Wochen entdeckt«, bot sich Twiggs an.

»Und warum seid ihr immer noch hier?«

»Wir haben nichts mehr zu essen.«

»Sieht aus, als ließe sich das Ding hier verteidigen«, sagte Walker zu einem Lieutenant mit angesengter Uniform. »Stellung sichern. Boote ans Ufer bringen. Die Ausrüstung und unseren Gast hier herein. Und schafft den Toten weg.«

Sie setzten Walker vor einer Wand ab. Sie gingen sehr vorsichtig mit ihm um, doch man sah, dass es ihm große Schmerzen bereitete, die Beine auszustrecken.

Jetzt tauchten immer mehr mit Nahrung und anderen Helios-Versorgungsgütern schwer beladene Söldner vom Strand auf. Ihre Uniformen hingen in Fetzen an ihnen herunter, einige gingen ohne Stiefel. Manche hatten Kopfverletzungen, andere Wunden an den Beinen. Der Lack von Walkers Elitetruppe war ab. Übrig geblieben waren müde, verängstigte Revolverhelden.

»Wie viele Leute habt ihr unterwegs verloren?«, wollte Walker wissen.

»Keinen«, sagte Pia. »Bis jetzt.«

Der Colonel suchte nicht einmal nach einer Erklärung, als der Geologe Ruiz an den Fersen aus dem Raum gezogen wurde. »Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Ihr habt es geschafft, euch ohne Verluste hunderte von Kilometern durch die Wildnis zu schlagen. Und das unbewaffnet.«

»Ike weiß, was er tut«, sagte Pia.

»Crockett ist hier?«

»Er ist auf Erkundungstour«, warf Troy rasch ein. »Manchmal ist er tagelang weg. Er sucht das nächste Proviantlager.«

»Er vergeudet seine Zeit.« Walker drehte den Kopf zu dem schwarzen Lieutenant. »Nimm dir fünf Mann. Finde unseren Freund Crockett. Wir können keine Überraschungen mehr gebrauchen.«

»Wir sollten diesen Mann besser nicht jagen, Sir«, sagte der Soldat. »Unsere Leute haben im letzten Monat mehr als genug durchgemacht.«

»Ich will aber nicht, dass er hier irgendwo herumschleicht.«

»Warum tun Sie das?«, fragte Ali. »Was hat er Ihnen getan?«

»Das Problem besteht eher darin, was ich ihm getan habe. Crockett ist nicht der Typ, der vergibt und vergisst. Er hockt irgendwo da draußen und beobachtet uns.«

»Er ist bestimmt schon weg. Hier gibt es nichts mehr für ihn zu tun. Er hat gesagt, wir hätten ohnehin aufgegeben.«

»Und warum weinen Sie dann?« Walker wurde energisch. »Keine Gefangenen, Lieutenant, verstanden? Crocketts erstes Gebot!«

»Jawohl, Sir«, murmelte der Lieutenant. Er suchte sich fünf Männer aus und machte sich mit ihnen auf den Weg.

Nachdem der Suchtrupp gegangen war, schloss Walker die Augen. Ein Soldat zog ein Messer aus seiner Stiefelscheide, schnitt eine Kiste mit Proteinriegeln auf und zeigte auf die Wissenschaftler. Er überließ es Troy, die Päckchen an seine Kameraden zu verteilen. Twiggs küsste seine Ration und riss sie dann mit den Zähnen auf.

Ali nahm nur kleine Happen und nippte ein wenig Wasser dazu. Twiggs übergab sich. Und aß gierig weiter.

Allmählich füllte sich der Raum. Mehr Verwundete wurden hereingebracht. Zwei Mann bauten am Fenster ein Maschinengewehr auf. Insgesamt zählte Ali mit sich und ihren Gefährten weniger als fünfundzwanzig Leute. Mehr waren offensichtlich von den ursprünglichen 150 Expeditionsteilnehmern nicht mehr übrig.

Walker öffnete die blutunterlaufenen Augen. »Bringt alles rein«, befahl er. »Auch die Boote. Wir graben uns hier ein paar Tage ein. Das hier ist die Antwort auf unsere Gebete. Eine feste Burg an diesem verdammten Ozean.«

Die Schweinsäuglein des Soldaten waren anderer Meinung. Er salutierte. Aber Walker entglitt sein Kommando.

»Wie habt ihr uns gefunden?«, fragte Pia.

»Wir haben euer Licht gesehen«, sagte Walker.

»Unser Licht?«

Ikes Öllampen, dachte Ali. Sie waren ihr kleines Geheimnis gewesen. Ein Leuchtturm für alle anderen.

»Habt ihr das fünfte Proviantlager gefunden?«, wollte Spurner wissen.

»Die Hadal hatten sich schon die Hälfte geschnappt«, erwiderte Walker.

»Nennen wir es einfach den Anteil des Teufels«, ertönte eine Stimme, und Montgomery Shoat betrat den Raum.

»Sie? Sie sind immer noch am Leben?« Ali konnte ihren Abscheu nicht verbergen. Von den Soldaten im Stich gelassen zu werden, war eine Sache, aber Shoat war wie die Wissenschaftler Zivilist, und er hatte von Walkers hinterhältigem Plan gewusst. Sein Verrat wog doppelt schwer.

»Es war ein abenteuerlicher Ausflug«, sagte Shoat. Er hatte ein blaues Auge und einen gelben Bluterguss an der Wange. »Haddie hat uns wochenlang ziemlich gerupft. Und die Jungs haben schwer daran gearbeitet, mich unterzukriegen. Inzwischen glaube ich beinahe, dass wir unsere Bildungsreise unter dem Pazifik nicht ganz zu Ende bringen werden.«

Walker ignorierte ihn einfach. »Ist diese Küste hier besiedelt?«

»Ich habe unterwegs nur drei Hadal gesehen«, sagte Ali.

»Mehr nicht? Keine Siedlungen?« Walkers schwarzer Bart teilte sich zu einem Grinsen. »Dann haben wir sie abgehängt, Gott sei Dank. Über das offene Wasser können sie unsere Spur nicht aufnehmen. Wir haben noch Nahrung für zwei Monate. Und wir haben Shoats Peilgerät.«

Shoat wedelte mit erhobenem Zeigefinger in Richtung des Colonel. »Ah-ah«, sagte er. »Noch nicht. Noch drei Tage nach Westen. So ist es abgemacht. Dann können wir uns über den Heimweg unterhalten.«

»Wo ist das Mädchen?«, fragte Ali.

»Ich habe sie falsch eingeschätzt«, krächzte Walker. Er brauchte Morphium.

»Sie haben sie getötet«, sagte Ali.

»Ich hätte es tun sollen. Sie hat mir nur Ärger eingebracht.« Er winkte mit der Hand. Zwei Soldaten zerrten das wilde Mädchen herein und fesselten es mit einer Drahtschlinge um den Hals an die Wand. Ihr Mund war mit Klebeband umwickelt. Sie roch stechend nach Kot und Schweiß. Auf dem Klebeband trockneten Streifen aus Blut und Rotz.

»Was haben Sie diesem Kind angetan?«

»Sie war für meine Männer eine gottlose Versuchung«, antwortete Walker.

»Sie haben Ihren Männern erlaubt ...«

Walker blickte sie verwundert an. »So moralisch? Dabei sind Sie selbst nicht besser, Schwester. Jeder will etwas von dieser Kreatur. Bitte schön, bedienen Sie sich, holen Sie sich das Wörterbuch von ihr. Aber verlassen Sie diesen Raum nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis.«

Troy erhob sich und legte dem Mädchen seine Jacke über die Schultern. Das Mädchen wich zurück.

»In die würde ich mich nicht verlieben, mein Junge«, lachte Walker. »Die ist von Natur aus wild.«

Ali und Troy machten sich daran, das Mädchen zu füttern.

»Was habt ihr vor?«, wollte ein Soldat wissen.

»Wir nehmen das Klebeband ab«, antwortete Ali. »Wie soll sie sonst essen?«

Der Soldat riss brutal am Band und zog sofort die Hand weg. Das Mädchen schnappte so wütend nach ihm, dass es sich beinahe an dem Draht erdrosselt hätte. Ali zuckte erschrocken zurück. Überall im Raum wurde Gelächter laut. »Viel Spaß«, sagte der Soldat.

Als es fertig gegessen hatte, schloss das Mädchen die Augen. Zwischen Nahrungsaufnahme und Schlaf gab es so gut wie keinen Übergang. Sie nahm, was sie kriegen konnte.

Zwei Tage vergingen. Ike zeigte sich noch immer nicht. Ali spürte, dass er irgendwo in der Nähe war, aber die Suchtrupps kamen mit leeren Händen zurück.

Dann passierte es. Die Soldaten prügelten Shoat bei dem Versuch, ihm den Code für den Peilsender zu entreißen, fast bewusstlos. Seine Sturheit trieb sie zur Weißglut, und sie hörten erst auf, als Ali sich schützend über ihn warf.

»Wenn ihr ihn tötet, werdet ihr den Code nie erfahren«, sagte sie. Sie nahm die Pflege Shoats in ihre täglichen Pflichten auf, obwohl sie sich bereits um Walker und mehrere alte Soldaten kümmerte. Jemand musste es schließlich tun. Auch sie waren noch immer Geschöpfe Gottes.

Walker versank immer wieder im Fieber und fluchte im Schlaf in verschiedenen Sprachen. Die Soldaten tauschten finstere Blicke aus. Ihre Absichten waren deutlich, und Ali machte sich immer größere Sorgen. Die einzige gute Nachricht war die, dass Ike immer noch nicht aufgespürt worden war.

In der zweiten Nacht versuchte Troy, einen Soldaten davon abzuhalten, das Mädchen zu seinen draußen wartenden Kameraden mitzunehmen. Die Soldaten prügelten mit ihren Pistolen auf ihn ein, bis das Mädchen schrill zu lachen begann, worauf sie das Interesse daran verloren, weiter auf Troy einzuschlagen. Viel später wurde sie wieder hereingezerrt, verschwitzt, den Mund wieder zugeklebt. Obwohl er selbst noch blutete, half Troy Ali dabei, das Mädchen mit einer Flasche Wasser zu waschen.

»Sie hat schon Kinder gehabt«, stellte Troy mit leiser Stimme fest. »Hast du das gesehen?«

»Du täuschst dich«, gab Ali zurück.

Doch zwischen den tätowierten Stammesmarkierungen verbargen sich tatsächlich Schwangerschaftsstreifen. Ihre Brustwarzenhöfe waren dunkel. Ali hatte die Zeichen übersehen.

In der dritten Nacht holten die Söldner das Mädchen wieder ab. Stunden später wurde es halb bewusstlos zurückgebracht. Während sie und Troy das Mädchen wuschen, summte Ali leise eine Melodie. Sie war sich dessen nicht einmal bewusst, als Troy plötzlich sagte: »Ali, sieh nur!«

Ali hob den Blick von den blaugelben Flecken rings um das Becken des Mädchens. Das Mädchen sah sie an. Tränen rannen über ihr Gesicht. Ali gab dem Summen Worte. »To many dangers, toils and snares, I have already come«, sang sie leise. »Tis Grace that brought me safe thus far, and Grace will lead me home.«

Das Mädchen begann zu schluchzen. Ali machte den Fehler, sie in den Arm nehmen zu wollen. Die freundliche Geste löste ein Gewitter heftig tretender Beine und um sich schlagender Arme aus.

Der Vorfall war auf grausige Art erhellend, denn jetzt wusste Ali, dass das Mädchen einst eine Mutter gehabt hatte, die ihm dieses Lied vorgesungen hatte.

Ali verbrachte die ganze Nacht bei der Gefangenen und beobachtete sie. Dieses Mädchen war verheiratet, zumindest mit einem Mann zusammen gewesen. Sie schien ein Kind zur Welt gebracht zu haben. Und bislang schien sie trotz der brutalen Massenvergewaltigungen ihre geistige Gesundheit bewahrt zu haben. Diese innere Kraft war erstaunlich.

Am nächsten Morgen musste Twiggs zum ersten Mal seit der unfreiwilligen Hungerkur austreten gehen. Natürlich dachte jemand wie Twiggs nicht daran, die Erlaubnis der Soldaten einzuholen. Einer der Söldner erschoss ihn.

Damit war das Ende des Rests an Freiheit besiegelt, den man ihnen zugestanden hatte. Walker befahl, die Wissenschaftler zu fesseln und in einem weiter hinten gelegenen Raum mit Drahtschlingen festzubinden. Ali war nicht überrascht. Sie war sich bereits seit einiger Zeit darüber im Klaren, dass ihre Exekution nur eine Frage der Zeit war.



Und es war finster auf der Tiefe


GENESIS 1:2

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