ZENTRUM FÜR GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN, UNIVERSITÄT COLORADO, DENVER
»Man hat sie in einem Pflegeheim nahe Bartlesville, Oklahoma, entdeckt«, erklärte ihnen Dr. Yamamoto. Thomas, Vera Wallach, die kampferprobte neuseeländische Ärztin, und Foley, der Industrielle, folgten der Ärztin aus ihrem Büro. Als Letzter ging Branch, der die Augen mit einer dunklen Skibrille abgeschirmt und die Ärmel an den Manschetten zugeknöpft hatte, um seine Verbrennungsnarben zu verbergen.
»Es ist eins von diesen Heimen, die größeren Kindern Albträume bescheren«, fuhr Dr. Yamamoto fort. Sie konnte nicht viel älter als siebenundzwanzig sein. Sie strahlt Vitalität und Lebensfreude aus, dachte Branch. Der Ehering an ihrem Finger sah aus, als sei er erst wenige Wochen alt.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Ein durch Blindenschrift ergänztes Schild wies auf die in den jeweiligen Stockwerken untergebrachten Abteilungen hin. Sie stiegen im obersten, nicht eigens ausgewiesenen Stockwerk aus und gingen abermals einen Korridor entlang.
»Ein echter Prachtkerl. Seine so genannte Einrichtung ist angeblich auf Alzheimerpatienten spezialisiert, doch hinter den Kulissen hält er die Leute gerade so weit am Leben, dass die Schecks vom Sozialamt und den Krankenkassen ungehindert auf seinen Tisch flattern können. Bettenarrest und so weiter, absolut grauenhafte Verhältnisse! Von ärztlichem Personal keine Spur. Offensichtlich ist es unserem Eindringling hier gelungen, sich über einen Monat dort zu verstecken.«
Die junge Ärztin blieb vor einer Tür mit einem Tastenfeld stehen.
»Da wären wir«, sagte sie und gab die Zahlenfolge ein. Lange Finger. Sanfter, aber bestimmter Druck.
»Sie spielen Geige«, riet Thomas.
Sie war entzückt. »Gitarre«, gestand sie. »Bass. Ich habe eine Band namens Girl Talk. Alles Jungs - und ich.«
Sie hielt ihnen die Tür auf. Thomas registrierte sofort die Veränderung der Beleuchtung und der Akustik. Hier drinnen gab es keine Fenster, keine hereinflutenden Sonnenstrahlen. Das leise Pfeifen des Windes an den Außenwänden war nicht mehr zu hören. Die Wände hier waren zu dick. Yamamotos Stimme passte sich der Stille an. »Wir können von Glück sagen, dass der Hausmeister etwas bemerkt hat«, fuhr sie fort. »Der Verwalter und seine Gaunerbande hätten nie und nimmer die Polizei gerufen. Um es kurz zu machen: Als die Polizei eintraf, waren die Beamten entsprechend entsetzt. Zuerst waren sie davon überzeugt, es handele sich um Tiere. Also stellte einer der Polizisten ein paar alte Fangeisen auf.«
Sie standen jetzt vor einer Doppeltür. Wieder ein Tastenfeld. Andere Zahlen, registrierte Thomas. Der Zugang erfolgte über mehrere Stufen: Zuerst ein schläfriger Wachmann, dann ein Waschraum, in dem Yamamoto ihnen beim Anlegen grüner Kittel, Gesichtsmasken und doppelter Latexhandschuhe behilflich war, dann ein Hauptraum mit geschäftig über Reagenzgläser und Tastaturen gebeugten Biotechnikern. Die Tür glitt zur Seite und Yamamoto fuhr mit ihrem Bericht fort.
»In jener Nacht kam sie zurück, wollte sich noch mehr holen. Eine der Fallen erwischte sie am Bein. Die Polizisten kamen sofort hereingestürmt und waren völlig baff. Auf so etwas waren sie natürlich nicht vorbereitet gewesen. Obwohl sie kaum einen Meter dreißig groß war und obendrein Schien- und Wadenbein gebrochen hatte, hielt sie fünf erwachsene Männer in Schach. Beinahe wäre sie entkommen, doch dann erwischten sie sie doch noch. Natürlich wäre uns ein lebendes Exemplar lieber gewesen.«
Drinnen war es nicht so kalt wie Branch erwartet hatte. Ein Wandthermometer zeigte zwei Grad Celsius an, eine Temperatur, bei der man ohne weiteres ein oder zwei Stunden arbeiten konnte. In dem Raum hielt sich allerdings niemand auf. Die ganze Arbeit wurde vollautomatisch erledigt.
Maschinen summten in gleichmäßigem, einlullendem Rhythmus. Mmschsch. Mmschsch. Mmschsch. Als sollte ein Kind in den Schlaf gewiegt werden. Bei jedem Summen blinkten mehrere Lichter auf.
»Sie haben sie also getötet?«, fragte Vera.
»Ganz so war es nicht«, antwortete Yamamoto. »Sie lebte noch, nachdem man sie mit einem Netz und Seilen eingefangen und gefesselt hatte. Aber die Falle war verrostet. Die Wunde entzündete sich. Blutvergiftung. Bevor wir eintrafen, war sie tot. Ich brachte sie in einer Kiste mit Trockeneis hierher.«
In dem Raum befanden sich vier stählerne Autopsietische. Auf jedem lag ein Klumpen blaues Gel, und jeder Klumpen lag dicht an einer Maschine. Jede Maschine blitzte alle fünf Sekunden einmal auf.
»Wir haben sie Dawn getauft«, sagte Yamamoto.
Sie blickten in das blaue Gel. Da lag sie, ihr tiefgefrorener Kadaver, in Gel gebettet und in vier Teile zerschnitten.
»Wir hatten unsere digitale Eva ungefähr zur Hälfte computerisiert, als uns dieses Exemplar in die Hände fiel.« Yamamoto zeigte auf ein Dutzend Gefrierschrankschubladen an der Wand. »Wir haben Eva wieder eingelagert und machten uns sofort bei Dawn an die Arbeit. Wie Sie sehen, haben wir ihren Körper geviertelt und die vier Teile in Gelatine gebettet. Diese Maschinen nennt man Kryomakrotome. Im Prinzip sind es bessere Fleischmesser. Alle paar Sekunden schneiden sie einen halben Millimeter vom Boden jedes Gelatineblocks ab, und eine Kamera fotografiert synchron die neue Schicht.«
»Wie lange liegt es schon hier?«, erkundigte sich Foley.
Es, nicht sie, fiel Branch sofort auf. Foley beließ die Dinge lieber auf einer unpersönlichen Ebene. Branch für seinen Teil verspürte sofort eine Art Mitgefühl. Die kleine Hand besaß vier Finger und einen Daumen.
»Zwei Wochen. Seitdem sind die Messer und die Kameras am Werk. In vier Wochen werden wir über eine Datenbank mit über 12 000 Aufnahmen verfügen. Mit Hilfe einer Maus kann man dann durch ein dreidimensionales Abbild ihres Innenlebens reisen.«
»Welchen Zweck verfolgen Sie damit?«
»Die Physiologie der Hadal«, antwortete Dr. Yamamoto. »Wir möchten wissen, inwiefern sich ihr Körper von dem des Menschen unterscheidet.«
»Gibt es eine Möglichkeit, Ihre Untersuchung zu beschleunigen?«, fragte Thomas.
»Wir wissen nicht, wonach wir eigentlich suchen, oder welche Fragen wir zu stellen haben. Eigentlich wollen wir auf Nummer sicher gehen. Man kann nie wissen, was sich hinter einem noch so kleinen Detail verbirgt.«
Sie trennten sich und traten an die verschiedenen Tische. Durch das trübe Gel erkannte Branch ein Paar Unterschenkel mit Füßen. Da war die Stelle, an der die Falle die Knochen zerschmettert hatte. Die Haut war weiß wie bei einem Fisch.
Er suchte den Teil mit dem Kopf und den Schultern. Wie eine Alabasterbüste. Die Augenlider waren halb geschlossen, sodass man die blassblauen Regenbogenhäute sehen konnte. Der Mund stand leicht offen. Das computergesteuerte Pendel, das sich vom Halsansatz nach oben arbeitete, befand sich immer noch auf der Höhe der Kehle.
»Sie haben wahrscheinlich schon viele wie Dawn gesehen«, meldete sich Dr. Yamamoto mit ernster Stimme neben ihm zu Wort.
Branch legte den Kopf ein wenig schief und schaute genauer hin, beinahe zärtlich. »Sie sehen alle verschieden aus«, sagte er. »Ungefähr so wie wir.«
Er spürte, dass sie von ihm einen eher groben Kommentar erwartet hatte. Die Stimme der Ärztin wurde weich. »Ihren Zähnen und dem noch nicht völlig ausgebildeten Beckengürtel nach zu urteilen«, sagte sie, »muss Dawn etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein. Natürlich können wir mit dieser Schätzung ziemlich danebenliegen. Ohne Vergleichsmöglichkeit können wir nur raten, und bislang kam man nur sehr schwer an Exemplare heran. Dabei müsste man eigentlich annehmen, dass wir nach so viel Kontakten und so vielen Toten mehr als genug Leichen hätten.«
»Wirklich merkwürdig«, sagte Vera. »Zersetzen sie sich denn schneller als normale Säugetiere?«
»Das hängt davon ab, wie stark sie dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt sind. Aber der Mangel an brauchbaren Exemplaren hängt eher damit zusammen, wie die Kadaver zugerichtet werden.«
Branch fiel auf, dass sie ihn nicht ansah.
»Meinen Sie damit Verstümmelungen?«
»Mehr als das.«
»Dann also Leichenschändung«, sagte Thomas. »Ein heftiger Vorwurf.«
Yamamoto ging zu der Schubladenwand und zog eine lange Bahre auf Rollen heraus. »Mag schon sein. Aber wie würden Sie das hier nennen?« Auf der Metallfläche lag ein scheußliches Wesen, schwarz verbrannt, mit gebleckten Zähnen, zerstückelt und verstümmelt. Es hätte ebenso gut achttausend Jahre alt sein können.
»Vor einer Woche gefangen und verbrannt worden«, sagte die Ärztin.
»Soldaten?«, fragte Vera.
»Nein. Das hier kam aus Orlando, Florida. Ganz normales Wohngebiet. Die Leute haben Angst. Vielleicht ist es eine Art rassische Katharsis. Überall herrschen Abscheu, Wut und Terror. Die Leute scheinen das Bedürfnis zu haben, diese Dinger zu vernichten, selbst wenn sie schon tot sind. Vielleicht glauben sie, damit das Böse auszurotten.«
»Glauben Sie das auch?«, fragte Thomas.
Ihre Mandelaugen sahen traurig aus. Dann diszipliniert. Nein, sie glaubte nicht daran, weder als Privatperson noch als Wissenschaftlerin.
»Wir haben eine Belohnung auf unbeschädigte Exemplare ausgesetzt«, erzählte sie weiter. »Aber wir bekommen einfach nichts Besseres als das hier. Dieser Bursche beispielsweise wurde von einer Gruppe Buchhalter und Software-Entwickler lebend auf einem vor städtischen Fußballplatz gefangen. Als sie von ihm abließen, war er nur noch ein Häufchen Holzkohle.«
Branch hatte schon weitaus Schlimmeres gesehen.
»Im ganzen Land und überall auf der Welt geht das so«, sagte die Ärztin. »Wir wissen, dass sie zu uns heraufkommen. In den Städten und auf dem Land werden allein in Nordamerika stündlich mehrere von ihnen gesehen und getötet. Aber versuchen Sie mal, einen unversehrten Kadaver am Stück ins Labor zu bekommen. Es ist wirklich ein großes Problem und verlangsamt unsere Forschung ungemein.«
»Weshalb kommen sie Ihrer Meinung nach herauf, Doktor? Jeder scheint eine andere Theorie zu vertreten.«
»Von uns hier hat keiner auch nur einen Schimmer davon«, sagte Yamamoto. »Offen gesagt, bin ich nicht einmal davon überzeugt, dass die Hadal in größerer Anzahl als früher heraufkommen. Mit Sicherheit kann man jedoch sagen, dass die Menschen heutzutage für die Anwesenheit der Hadal sensibilisiert sind. Aber der größte Teil der gemeldeten Sichtungen erweist sich als falsch, das gleiche Phänomen wie bei den UFOs. Manchmal sind es bloß Zweige, die am Fenster kratzen, keine Hadal.«
»Ach«, entfuhr es Vera, »dann spielt uns nur unsere Phantasie einen Streich?«
»Keinesfalls. Die Hadal sind unbestreitbar hier, verstecken sich auf Müllkippen, in den Kellern unserer Vorstädte, in Zoos, Lagerhäusern und Nationalparks. Aber nicht annähernd in der Anzahl, wie es uns Politiker und Medien weismachen wollen. Und was die Behauptung angeht, sie fielen über uns her - ich bitte Sie, wer überfällt denn hier wen? Wir sind diejenigen, die Schächte bohren und Höhlensysteme kolonisieren.«
»Gefährliche Worte«, sagte Foley.
»Ab einem gewissen Punkt verändert uns der eigene Hass und unsere Angst«, redete die junge Frau trotzig weiter. »In was für einer Welt wollen wir unsere Kinder großziehen? Auch das ist wichtig.«
»Dann wissen wir also so gut wie nichts über die Gründe für ihr Auftauchen?«, fragte Thomas.
»Von wissenschaftlicher Seite aus gesehen nicht. Noch nicht. Aber manchmal lassen wir - die anderen Mitarbeiter und ich - uns dazu verleiten, Lebensgeschichten für sie zu erfinden.« Die junge Ärztin zeigte auf ihr stählernes Mausoleum. »Wir geben ihnen Namen und eine Vergangenheit. Wir versuchen zu begreifen, wie es gewesen sein muss, so zu sein wie sie.« Sie legte die Hand auf den Rand des Sektionstisches mit dem Kopf des weiblichen Hadal.
»Dawn ist mit Abstand der Liebling unserer Gruppe.«
»Das hier?«, fragte Vera erstaunt, war jedoch zugleich von der Humanität der Mitarbeiter angerührt.
»Es liegt wahrscheinlich an ihrem jungen Lebensalter. Und an dem entbehrungsreichen Leben, das sie geführt hat.«
»Erzählen Sie uns ihre Geschichte, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, forderte sie Thomas auf. Branch warf dem Jesuiten einen Blick zu. Ebenso wie bei Branch verleitete sein grobes Äußeres die Leute oft dazu, ihn falsch einzuschätzen. Doch Thomas hatte eine Affinität für diese Wesen entwickelt, die momentan nicht unbedingt opportun war.
Die junge Frau sah peinlich berührt aus. »Das steht mir eigentlich nicht zu«, sagte sie. »Die Spezialisten haben noch nicht sämtliche Daten gesichtet, und alles, was wir uns ausgedacht haben, ist reine Mutmaßung.«
»Trotzdem würden wir es gern hören«, bat Vera.
»Na schön. Dawn muss von sehr weit unten gekommen sein. Dem relativ kleinen Brustkorb nach zu schließen aus einer sauerstoffreichen Atmosphäre. Ihre DNA weist einen relevanten Unterschied zu den Proben auf, die uns aus anderen Regionen der Welt zugeschickt wurden. Inzwischen besteht Konsens darüber, dass diese Hadal vom Homo erectus abstammen, der auch unser Vorfahr ist. Andererseits kann man das Gleiche von uns und den Orang-Utan sagen, oder den Lemuren, oder, wenn man will, von den Fröschen. An einem gewissen Punkt der Vergangenheit haben wir alle den gleichen Ursprung. Noch erstaunlicher ist daher die Tatsache, wie ähnlich uns die Hadal letztendlich sind. Haben Sie jemals von Donald Spurner gehört?«
»Dem Primatologen?«, fragte Thomas zurück. »War er hier?«
»Jetzt ist es mir noch peinlicher«, sagte Yamamoto. »Ich hatte nie zuvor von ihm gehört, aber hinterher musste ich mir sagen lassen, dass er weltberühmt ist. Wie auch immer, eines Nachmittags kam er vorbei, um sich unser kleines Mädchen hier anzusehen, und bei dieser Gelegenheit hielt er gleich ein Stegreifseminar für uns ab. Er erzählte, dass der Homo erectus weitaus mehr Ableger und Varianten bildete, als jede andere menschenähnliche Gruppe. Wir sind nur eine davon. Die Hadal eine andere. Erectus ist offensichtlich vor Hunderttausenden von Jahren von Afrika nach Asien gewandert, und womöglich haben sich die Splittergruppen auf der ganzen Welt zu verschiedenen Formen weiterentwickelt, bevor eine davon unter die Erde ging. Aber wie gesagt, ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet.«
Auf Branch wirkte Yamamotos Bescheidenheit sehr gewinnend, aber auch ablenkend. Sie waren heute geschäftlich hier, um sämtliche Informationen zu bekommen, die diesem Hadal-Leichnam zu entnehmen waren.
»Sie haben in groben Zügen unser Anliegen bestätigt, nämlich genauer zu verstehen, weshalb wir uns auf diese und keine andere Weise entwickelt haben«, sagte Thomas. »Was können Sie uns noch mitteilen?«
»In ihrem Gewebe findet sich eine hohe Konzentration von Radioisotopen, was jedoch bei einem Lebewesen aus dem Subplaneten, einer steinernen Höhle, die von allen Seiten von mineralischer Strahlung bombardiert wird, nicht weiter verwunderlich ist. Meine persönliche Vermutung geht dahin, dass die Strahlung eine Erklärung für die Mutationen in ihrer Bevölkerung sein könnte. Aber nageln sie mich nicht darauf fest.«
Yamamoto fuhr mit der Hand über den blauen Gelblock, als streichelte sie das ungestalte Gesicht. »In unseren Augen sieht Dawn primitiv aus. Einige unserer Besucher meinten, es handele sich um einen grotesken Rückschritt. Tatsächlich ist sie in jeder Hinsicht so weit entwickelt wie wir, nur eben in eine andere Richtung.«
Das war auch für Branch eine Überraschung. Von der breiten Masse erwartete man nichts anderes als dumpfen Rassismus und Voreingenommenheit. Wie sich herausgestellt hatte, waren auch die Wissenschaften keinesfalls dagegen gefeit. Genau genommen hatten wissenschaftliche Borniertheit und akademische Arroganz sogar dazu beigetragen, dass die Tiefe so lange unentdeckt geblieben war.
»Dawns Zahnformel ist mit Ihrer und meiner identisch.« Yamamoto drehte sich zu einem anderen Tisch um. »Die unteren Gliedmaßen sind den unseren vergleichbar, wenn auch die Gelenke der Hadal mehr Knochenschwamm aufweisen, was die Vermutung nahe legt, dass Dawn zum Laufen wahrscheinlich sogar besser geeignet war als wir. Es ist durch das Gel hur schwer zu erkennen, aber sie hat auf ihren Füßen jede Menge Kilometer zurückgelegt. Die Schwielen sind dicker als mein Daumennagel. Sie hat Senkfüße. Jemand hat sie gemessen: Größe 44.«
Die Ärztin ging zum nächsten Tisch, auf dem Brustkorb und Oberarme lagen. »Auch hier haben wir bislang wenig Überraschendes festgestellt. Das Herz-Kreislauf-System ist robust, wenn nicht sogar vorbildlich gesund. Das Herz ist vergrößert, vermutlich ist sie sehr schnell aus einer Tiefe von sechs oder sieben Kilometern nach oben gekommen. Ihre Lungen weisen chemische Vernarbungen auf, die wahrscheinlich vom Einatmen schädlicher Gase aus noch tieferen Erdregionen herrühren. Und das dort ist eine alte Bisswunde.«
Yamamoto kam zum letzten Tisch, zu Unterleib und Unterarmen. Eine Hand war geballt, die andere lag entspannt offen. »Auch hier fällt eine genaue Beurteilung nicht leicht. Aber die Fingerknochen verfügen über eine signifikante Krümmung, ungefähr zwischen Mensch und Menschenaffe. Das erklärt die Geschichten, in denen Hadal an Wänden hinaufklettern und sich durch unterirdische Nischen und Spalten hangeln.«
Yamamoto wies auf den Block mit dem Unterleib. Die Klinge hatte oben angefangen und arbeitete sich scheibchenweise zur Beckengegend vor. Das Schambein wies eine spärliche schwarze Behaarung auf.
»Einen Teil ihrer kurzen Geschichte können wir beweisen. Bevor wir sie in Gel gossen und mit dem Zerschneiden anfingen, erhielten wir die MR- und die Computertomographie-Bilder. Etwas schien mit dem Beckenboden nicht zu stimmen, also rief ich den Leiter der Gynäkologie herauf, damit er mal einen Blick darauf wirft. Er erkannte das Trauma sofort. Vergewaltigung. Massenvergewaltigung.«
»Meinen Sie das im Ernst?«, fragte Foley.
»Mit zwölf Jahren«, sagte Vera. »Kaum vorstellbar. Das erklärt jedenfalls, warum sie heraufkam.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Yamamoto wissen.
»Das arme Ding muss vor den Kreaturen geflohen sein, die ihr das angetan haben.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es Hadal waren. Wir haben das Sperma untersucht. Es war ausschließlich menschlicher Herkunft. Die Verletzungen waren noch nicht sehr alt. Wir nahmen Kontakt mit dem Sheriff in Bartlesville auf, der uns vorschlug, die Aufseher im Pflegeheim zu befragen. Die Pfleger stritten alles ab. Wir könnten Proben von ihnen verlangen oder von den Polizisten, aber das ändert nichts. Ein derartiger Vorfall gilt nicht als Verbrechen. Die eine oder andere Gruppe hat sie vergewaltigt. Vielleicht sogar, nachdem sie schon tot war. Sie hatten sie immerhin einige Tage in einem Kühlfach verwahrt.«
Auch in dieser Hinsicht hatte Branch schon Schlimmeres gesehen.
»Was für eine bemerkenswerte Einbildung die Zivilisation doch ist«, sagte Thomas. Sein Gesichtsausdruck wirkte weder wütend noch traurig, eher abgeklärt. »Die Leiden dieses Kindes sind zu Ende. Doch während wir uns hier unterhalten, spielen sich an Hunderten verschiedener Orte ähnliche Gräuel ab, und zwar von beiden Seiten. Solange wir keine Ordnung errichtet haben, bleibt dem Bösen auch weiterhin Tür und Tor geöffnet.« Er sprach zum Leichnam des Kindes, aber auch, wie es schien, um sich die Sachlage selbst in Erinnerung zu rufen.
»Was noch?«, murmelte Yamamoto fast ein wenig verwirrt vor sich hin und sah sich zwischen den Körperteilen um. Sie standen noch immer vor dem Viertel mit dem Unterleib. »Ihr Stuhl«, setzte Yamamoto erneut an, »war hart und dunkel und roch sehr scharf. Die typischen Exkremente eines Fleischfressers.«
»Und wovon hat sie sich ernährt?«
»In den letzten Monaten vor ihrem Tod?«
»Ich vermute, Weizenkleiebrötchen und Fruchtsäfte. Was man so in der Küche eines Altenheimes organisieren kann«, schlug Vera vor.
»Nicht bei unserem Mädchen. Sie war eindeutig Fleischfresserin. Der Polizeibericht ließ keinen Zweifel offen, und die Stuhlprobe bestätigte die Aussage. Fleisch, und sonst nichts.«
»Aber woher ...«
»Hauptsächlich von Füßen und Waden, deshalb blieb sie so lange unentdeckt. Das Personal hatte Ratten oder eine Wildkatze in Verdacht und behalf sich lediglich mit Salben und Verbänden. Dawn kehrte in der Nacht zurück und fraß weiter.«
Vera war verstummt. Dr. Yamamotos kleines Mädchen eignete sich nur bedingt zum Liebhaben.
»Keine schöne Geschichte, ich weiß«, fuhr die Ärztin fort. »Andererseits hatte sie auch nicht gerade ein schönes Leben.«
Die Klinge zischte auf, und der Klumpen bewegte sich kaum merklich.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich will dieses Raubtierverhalten nicht verteidigen. Ich verdamme es nur nicht. Für manche Menschen ist das Kannibalismus. Aber wenn wir darauf bestehen, dass die Hadal keine Homo sapiens sind, dann besteht kein Unterschied zu dem, was ein Berglöwe anstellt. Aber solche Zwischenfälle sind der Grund dafür, warum die Leute so viel Angst haben. Und deshalb ist es so schwierig, gute, unversehrte Exemplare zu bekommen.
Man hat uns gewisse Fristen gesetzt. Und wir haben noch keine einzige davon eingehalten«, wechselte Dr. Yamamoto plötzlich das Thema.
»Wer setzt diese Fristen?«, erkundigte sich Vera.
»Das ist das große Geheimnis. Zuerst hatten wir das Militär in Verdacht. Wir erhielten regelmäßig ungefähre Computerentwürfe zur Entwicklung neuer Waffen, bei denen wir die freien Stellen ausfüllen sollten. Gewebedichte, genauer Sitz der Organe, solche Sachen. Hauptsächlich die Unterschiede zwischen ihrer Spezies und der unseren. Dann erhielten wir Mitteilungen von Firmen, aber stets von anderen. Inzwischen sind wir uns bei ihnen auch nicht mehr so ganz sicher. Aber letztendlich spielt das für unsere Zwecke keine große Rolle, solange die Stromrechnung bezahlt wird.«
»Eine Frage«, meldete sich Thomas zu Wort. »Sie scheinen einige Bedenken zu haben, Dawn und ihre Kameraden wirklich als völlig andere Spezies anzusehen. Was sagte Spurner dazu?«
»Er war felsenfest davon überzeugt, dass die Hadal einer anderen Spezies angehören. Taxonomie ist ein sensibles Geschäft. Momentan wird Dawn als Homo erectus hadalis klassifiziert. Als ich erwähnte, es sei vielleicht besser, den Namen zu Homo sapiens hadalis abzuändern, wurde er direkt wütend. Er sagte, der Taxon erectus sei Wissenschaft für den Mülleimer. Wie ich bereits sagte, dort draußen herrscht große Angst.«
»Angst wovor?«
»Es widerspricht der herrschenden Orthodoxie. Man läuft Gefahr, seine Gelder gestrichen zu bekommen. Seinen Ruf zu verlieren. Weder angestellt zu werden noch publizieren zu können. Momentan halten sich alle sehr bedeckt.«
»Und Sie?«, fragte Thomas. »Sie hatten mit diesem Mädchen zu tun, haben seine Sektion genau verfolgt. Welcher Ansicht sind Sie?«
»Das ist nicht fair«, wies Vera Thomas zurecht. »Sie hat doch gerade eben erklärt, wie gefährlich die Zeiten geworden sind.«
»Schon gut«, sagte Yamamoto zu Vera und blickte dann Thomas an. »Erectus oder sapiens? Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wenn es sich hier um ein lebendes Objekt handelte, würde ich an ihr keine Vivisektion durchführen.«
»Dann halten Sie sie also für einen Menschen?«, bohrte Foley nach.
»Nein. Ich sage nur, dass sie uns ähnlich genug ist, um vielleicht nicht einmal erectus zu sein.«
»Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich einen Advokaten des Teufels nennen«, sagte Foley, »aber mir kommt sie nicht sehr ähnlich vor.«
Yamamoto ging wieder zu ihrer Schubladenwand und zog eine Bahre weiter unten heraus. Darauf ruhte eine noch groteskere Leiche als die, die sie bereits gesehen hatten. Die Haut war völlig vernarbt, die Körperbehaarung wucherte ungezügelt. Das Gesicht war von einer kohlkopfähnlichen Schale fleischiger Kalziumablagerungen fast völlig überwuchert. Mitten aus der Stirn wuchs etwas, das an das Horn eines Widders erinnerte. Sie legte eine behandschuhte Hand auf den Brustkasten der seltsamen Kreatur.
»Wie ich bereits sagte, lag unser Hauptanliegen darin, Unterschiede zwischen unseren beiden Spezies herauszufinden. Diese hier fallen einem sofort ins Auge. Aber bis jetzt haben wir lediglich physiologische Ähnlichkeiten festgestellt.«
»Sie wollen also behaupten, dieses Ding hier sei uns ähnlich?«, fragte Foley.
»Genau das ist der springende Punkt. Dieses Exemplar hier hat uns der Laborchef geschickt. Eine Art Doppelblindtest, um zu sehen, was wir so alles herausfinden. Zehn von uns beschäftigten sich eine ganze Woche mit der Autopsie. Wir stellten eine Liste von fast vierzig Unterschieden zum durchschnittlichen Homo sapiens sapiens zusammen. Angefangen von Blutgasen über Knochenstruktur bis hin zu Deformationen und Nahrungsdiät. Wir fanden Spuren seltener Mineralien in seinem Magen. Er hatte Lehm und mehrere Fluoreszenzen gegessen. Seine Gedärme leuchteten im Dunkeln. Erst an dieser Stelle klärte uns der Laborchef auf. Es handelt sich hierbei um einen deutschen Soldaten der NATO-Streitkräfte.«
Branch hatte von Anfang an geahnt, dass es ein Mensch war, wollte aber Yamamoto nicht den Spaß verderben.
»Das kann nicht sein!« Vera fing an, chirurgische Einschnitte zu öffnen und auf den knochigen Helm zu drücken. »Und was ist damit?«, fragte sie. »Und damit?«
»Alles Überbleibsel seines letzten Einsatzes. Nebeneffekte der Drogen, die man ihm einzunehmen befohlen hat, oder der geochemischen Umgebung, in der er Dienst tat.«
Foley war sichtlich schockiert. »Ich habe ja von gewissen Veränderungen gehört, aber nicht von derartigen Entstellungen.«
Als ihm plötzlich Branch einfiel, verstummte er.
»Er sieht wirklich dämonisch aus«, kommentierte Branch.
»Jedenfalls war es für uns eine höchst lehrreiche Lektion in Anatomie«, sagte Yamamoto. »Sehr demütigend. Ich habe daraus eines gelernt: Es spielt keine Rolle, ob Dawn vom erectus oder vom sapiens abstammt. Wenn man weit genug zurückgeht, ist sapiens gleich erectus.«
»Bestehen denn sonst keinerlei Unterschiede?«, fragte Thomas.
»Viele. Aber nachdem wir gesehen haben, wie viele Nichtübereinstimmungen es von einem Menschen zum anderen geben kann, handelt es sich lediglich um eine epistemologische Frage: Woher wissen wir, was wir zu wissen glauben?« Mit dieser Frage schob sie die Schublade wieder in den Schrank.
»Sie klingen demoralisiert.«
»Nein. Eher beunruhigt. Aus der Spur geraten. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir in drei bis fünf Monaten echte Diskrepanzen feststellen werden.« »Ach?«, meinte Thomas.
Sie ging zu dem Tisch zurück, auf dem sich Dawns Oberkörper sehr langsam in das Pendel schob. »Nämlich dann, wenn wir in dieses Gehirn vordringen.«
Mache den Anfang mit dem Anfang ...
und fahre fort, bis du ans Ende kommst;
dort höre auf.
LEWIS CARROLL, Schildkrötensuppe