6 Pappbecher

UNTER ONTARIO DREI JAHRE SPÄTER

Der gepanzerte Eisenbahnwagen bremste auf dreißig Stundenkilometer herunter, als er aus dem Wurmkanal in die riesige unterirdische Grotte einfuhr, in der sich Camp Helena befand. Die Schienen folgten dem gewölbten Klippenrand und senkten sich dann auf den Boden der gewaltigen Höhle. Im Inneren des Wagens wanderte Ike rastlos und mit gezückter Flinte auf und ab, wobei er über erschöpfte Männer, Kampfausrüstungen und Blutlachen steigen musste. Durch die vordere Scheibe erblickte er die Lichter der Oberwelt. Im Rückfenster entfernte sich das scheußliche, schmutzige Loch, das in noch fernere Tiefen hinabführte. Es kam ihm vor, als würde sein Herz zwischen Zukunft und Vergangenheit entzweigerissen.

Sieben dunkle Wochen lang hatte seine Gruppe in einem der Tunnel Haddie gejagt. Vier Wochen davon hatten sie mit dem Finger am Abzug gelebt. Eigentlich sollten firmeneigene Söldner die tieferen Stellungen bewachen, aber irgendwie war nun doch wieder das Militär daran beteiligt. Und kriegte dabei ordentlich was ab. Jetzt saßen sie auf den brandneuen kirschroten Plastiksitzen, die verdreckte Ausrüstung zwischen den Beinen und einen sterbenden Soldaten auf dem Boden vor sich.

»Endlich zu Hause«, sagte einer der Ranger.

»Wie schön für Sie«, erwiderte Ike und fügte ein verspätetes »Lieutenant«, hinzu. Sie waren wieder in der Welt, doch es war nicht die seine.

»Hören Sie mal zu«, sagte Lieutenant Meadows mit gesenkter Stimme, »was da passiert ist ... vielleicht muss ich nicht alles in den Bericht schreiben. Eine einfache Entschuldigung vor den Männern hier .«

»Sie wollen mir verzeihen?«, schnaubte Ike verächtlich. Die müden Männer blickten auf. Meadows zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, und Ike nahm eine Gletscherbrille mit fast schwarzen Gläsern aus der Tasche. Er hakte sich die Bügel hinter die Ohren und legte das Plastik eng an die Tätowierung, die sich von der Stirn über die Wangen bis zum Kinn erstreckte.

Er wandte sich von dem Dummkopf ab und blickte aus den Fenstern hinaus auf die ausufernde Gefechtsstellung unter ihnen. Der Himmel über Camp Helena war ein Gewitter aus künstlichen Lichtern. Von diesem Zenit aus bildeten die hin- und herschwenkenden Laser einen rechteckigen Baldachin von ungefähr anderthalb Kilometern Seitenlänge. In der Ferne flammten Röhrenblitze auf. Seine auf Schulterlänge gestutzten Dreadlocks halfen Ike dabei, die Augen abzuschirmen, aber es reichte nicht. Ike, der in den finsteren Abgründen so energisch und kraftvoll war, schreckte vor dem Normalzustand zurück.

Auf Ike wirkten diese Siedlungen immer wie gestrandete Schiffe in der Arktis, kurz vor Einbruch des Winters, eine Erinnerung daran, dass eine Passage nur zeitlich begrenzt war. Jede Vertiefung, jeder Schacht, jedes Loch in den steil aufragenden Wänden des Gewölbes war von Licht durchflutet, und trotzdem konnte man immer noch geflügelte Tiere in dem domartigen »Himmel« herumflattern sehen, der sich hundert Meter über dem Lager spannte.

Hin und wieder wurden die Tiere müde, schraubten sich zum Rasten oder zur Nahrungssuche herunter und wurden prompt beim ersten Kontakt mit dem Laserbaldachin gegrillt. Die Arbeitsstätten und Unterkünfte im Lager waren vor diesem Niederschlag aus Knochen und Kohle sowie vor gelegentlichem Steinschlag durch steile, fünfzig Meter hohe Dachfirste mit einem Außenrahmen aus Titaniumlegierung geschützt. Von Ikes Waggonfenster aus wirkte die Siedlung wie eine Stadt voller Kathedralen in einer gigantischen Höhle.

Gleichzeitig sah sie aus wie die Hölle. In den seitlichen Stollen verschwanden Förderbänder, Schornsteine ragten in großer Zahl und Form aus den Dächern und ein Leichentuch aus Petroleum bedeckte alles. Auf den Förderbändern bewegte sich ein unablässiger Strom von Lebensmitteln, Nachschub und Munition in die Stollen. Im Gegenzug kam Eisenerz in die Stadt gerattert.

Der Waggon hielt vor dem Haupttor. Die Ranger stiegen einer nach dem anderen aus. Angesichts von so viel Schutz und Sicherheit beinahe beschämt, zugleich jedoch versessen auf ein paar kalte Biere und ein warmes Bett, konnten sie es kaum erwarten, den Stacheldraht hinter sich zu lassen. Was Ike anging, wäre er mit einer ausgeruhten Mannschaft zufrieden gewesen. Er war schon wieder zum Abmarsch bereit.

Ein Sani-Team kam mit einer Trage herbeigeeilt, und als sie das Tor passierten, ließ sie ein Lichtstreifen von einer der Bogenlampen weiß wie Engel aussehen. Ike kniete sich neben seinen Verwundeten, einmal, weil sich das so gehörte, aber auch, weil er um seine Fassung rang. Die Bogenlampen waren so angebracht, dass sie alles und jeden, der sie passierte, in grelles Licht tauchten, und all das töteten, was sich dort unten mit Hilfe von Licht töten ließ.

»Wir übernehmen ihn«, sagten die Sanitäter, und Ike ließ die Hand des Jungen los. Er war der Letzte noch im Waggon Verbliebene. Die anderen Ranger waren einer nach dem anderen durch das Tor gegangen und hatten sich nacheinander in Explosionen gleißenden Lichts verwandelt.

Ike wandte sich dem Tor des Camps zu und kämpfte gegen den Impuls an, sofort die Flucht in die Dunkelheit anzutreten. Der Drang war so stark, dass er ihn schmerzte wie eine Wunde. Nur wenige Leute konnten das verstehen. Er hatte dieses radikale Stadium erreicht, bei dem es nur Dunkelheit oder Licht gab, und es hatte ganz den Anschein, als verfüge er über keinerlei Grautöne mehr. Mit einem leisen Aufschrei schützte er die Augen mit den Händen und sprang mit einem Satz hindurch. Das Licht bleichte ihn so fleckenlos rein wie eine zum Himmel emporsteigende Seele. Und so betrat er abermals das Lager. Die Prozedur kam ihm jedes Mal schwerer zu bewältigen vor.

Jenseits des mit scharfen Klingen versehenen Stacheldrahts und der Sandsäcke atmete Ike tief durch.

Vorschriftsgemäß zog er sein Magazin aus dem Gewehr und feuerte den Lauf in die Sandkiste neben dem Bunker leer. Anschließend zeigte er den in Kevlar-Schutzkleidung steckenden Wachtposten seine Marke.

CAMP HELENA, stand darauf. BLACKHORSE II. ARMORED CAV’ war ausgestrichen und durch WOLFHOUNDS, 27. INFANTRY ersetzt worden. Diese Beschriftung war wiederum von den Namen eines halben Dutzends weiterer hierher versetzter Einheiten übermalt worden. Der einzige Eintrag, der immer gleich blieb, war die Höhenangabe in der rechten oberen Ecke: Höhe: MINUS 5.410 M.

Unter seiner schweren Kampfausrüstung gebeugt, trottete Ike an Soldaten in Trainingsanzügen oder in FeldNinjas vorbei, schwarzen Tarnanzügen, die eigens für den Einsatz in der Tiefe entworfen worden waren. Doch egal, ob sie zum Training oder zum Kasino unterwegs waren, zum Basketballkäfig oder zur Kantine, um sich einen Sixpack Schokotrunk oder ein paar Kräutertees abzugreifen, sie trugen ausnahmslos Gewehr oder Pistole bei sich - in steter Erinnerung an das große Massaker vor zwei Jahren.

Ike warf unter seinen drahtigen Haarwürsten kurze Blicke auf die Zivilisten, die hier allmählich die Macht übernahmen. Die meisten waren Bergleute und Bauarbeiter, dazwischen einige Söldner und Missionare, die Vorhut der Kolonisation. Als er zwei Monate zuvor aufgebrochen war, hatte er hier gerade mal ein paar Dutzend von ihnen gesehen. Jetzt schienen sie den Soldaten zahlenmäßig bereits überlegen zu sein. Auf jeden Fall strahlten sie die Arroganz der Mehrheit aus.

Er hörte helles Lachen und staunte über den Anblick von drei Prostituierten, etwa Ende zwanzig. Eine von ihnen hatte die reinsten Volleybälle chirurgisch an ihrem Brustkorb befestigen lassen. Sie war beim Anblick von Ike sogar noch überraschter. Der Strohhalm ihres Getränks entfiel ihren erdbeerroten Lippen, und sie starrte ungläubig herüber. Ike wandte sich ab und ging rasch weiter.

Camp Helena wuchs und wuchs. Und zwar sehr schnell. Wie bei einer Vielzahl anderer Siedlungen auf der ganzen Welt ließ sich das durch die ständige Vermessung neuer Quadranten und immer neuer Siedler von der Oberfläche festmachen. Beton war das Geheimnis. Holz war Luxus hier unten, und die Produktion von Blech zog sich in die Länge, weil die erstrebte Kosteneffektivität von den richtigen Erzen abhing. Beton hingegen musste man nur aus dem Boden und den Wänden herausziehen. Billig und schnell aufzustellen und dabei äußerst widerstandsfähig, war Beton gleichbedeutend mit Bevölkerungszuwachs. Beton feuerte den Pioniergeist an.

Ike betrachtete einen neuen Quadranten, der noch vor zwei Monaten zum Areal der Ranger-Kompanie gehört hatte. Aber der Abseilturm, der Schießstand und die behelfsmäßige Aschenbahn waren erobert worden. Eine Horde illegaler Siedler hatte alles in Beschlag genommen. Ein Geschwür von Zelten, Schuppen und Verschlägen breitete sich immer weiter aus. Der Lärm der Stimmen sprang ihn wie ein übler Geruch an. Zwei mit Isolierband zusammengehaltene Bürowürfel waren alles, was vom Hauptquartier der Einheit übrig geblieben war. Ike lehnte seinen Rucksack an die Außenwand, nahm ihn dann aber nach einem misstrauischen Blick auf die überall herumlungernden Desperados lieber mit hinein. Er kam sich ein bisschen dämlich vor, wie er da an eine Papptür klopfte.

»Herein«, bellte eine Stimme.

Branch redete gerade mit einem tragbaren Computer, den Helm auf der einen Seite, das Gewehr auf der anderen griffbereit.

»Elias«, begrüßte ihn Ike.

Branch freute sich nicht sonderlich, ihn zu sehen. Seine Maske aus Narbengewebe und Zysten verzog sich zu einem wütenden Knurren. »Aha, unser verlorener Sohn«, sagte er. »Gerade reden wir von dir.«

Er drehte den Laptop so weit herum, dass Ike das Gesicht auf dem kleinen Bildschirm erkennen und die Computerkamera ihrerseits Ike erfassen konnte. Sie waren mit Jump Lincoln, einem von Branchs alten Fliegerkumpeln verbunden, zur Zeit Lieutenant Meadows’ befehlshabender Offizier.

»Haben Sie völlig den Verstand verloren?«, schrie Jumps Bildschirmgesicht Ike an. »Man hat mir gerade einen Einsatzbericht auf den Schreibtisch geknallt. Darin steht, dass Sie sich einem direkten Befehl widersetzt haben. Und das vor der versammelten Patrouille! Und dass Sie auf drohende Weise eine Waffe geschwenkt haben. Haben Sie etwas dazu zu sagen, Crockett?«

Ike stellte sich nicht dumm, aber er hatte auch nicht vor, klein beizugeben. »Der Lieutenant ist aber schnell mit seinem Bericht«, bemerkte er. »Wir sind erst vor zwanzig Minuten zurückgekommen.«

»Haben Sie einen Offizier bedroht?« Jumps Bellen hörte sich über den Computerlautsprecher eher blechern an.

»Einspruch.«

»Im Einsatz, vor seinen Leuten?«

Branch saß da und schüttelte in brüderlichem Ekel den Kopf.

»Dieser Lieutenant hat hier draußen nichts zu suchen«, erwiderte Ike. »Er hat einen der Jungs wegen eines falschen Signals in Stücke schießen lassen. Ich sah keinen Grund, das Verhalten des Lieutenants zu unterstützen. Ich habe ihn dazu gebracht, Vernunft anzunehmen.«

Jump kochte vor Wut. »Ich dachte, es handelte sich um einen abgesicherten Teilbereich«, sagte er schließlich. »Es sollte nur eine Testrunde für Meadows sein. Und Sie erzählen mir, Sie seien auf Hadal gestoßen?«

»Fallen«, sagte Ike. »Alt. Schon Jahrhunderte alt. Ich bezweifle, dass dort seit der letzten Eiszeit jemand durchgegangen ist.« Es machte ihm nichts aus, dass man ihn als Babysitter eines frisch gebackenen ROTC-Studenten losgeschickt hatte.

»Wo sind die bloß alle hin?«, fragte Jump. »Schon seit Monaten haben wir keinen direkten Kontakt mehr mit dem Feind.«

»Keine Sorge«, meinte Ike. »Die sind irgendwo dort unten.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Manchmal glaube ich wirklich, dass sie vor uns davonlaufen. Oder dass sie irgendeine Krankheit dahingerafft hat.«

Bei diesem Zwischenspiel klinkte sich Branch wieder ein: »Mir kommt die Geschichte wie ein echtes Patt vor«, sagte er zu Jump.

»Mein Clown sticht deinen aus. Ich glaube, wir sind quitt.«

Beide Majors wussten, dass Meadows eine Katastrophe war. Und es war klar, dass sie ihn nie wieder mit Ike zusammen hinausschicken würden.

»Ach, scheiß drauf«, sagte Jump. »Den Bericht verbrenne ich. Aber nur dieses eine Mal!«

Branch starrte Ike immer noch wütend an. »Ich weiß nicht, Jump«, sagte er. »Vielleicht sollten wir diesen Kerl hier nicht mehr so verhätscheln.«

»Ich weiß, dass er dir besonders am Herzen liegt, Elias«, erwiderte Jump. »Aber ich habe es dir schon einmal gesagt: Häng dich nicht zu sehr rein. Nicht ohne Grund behandeln wir die Pappbecher mit so viel Vorsicht. Das sind echte Schätzchen, lass es dir gesagt sein.«

»Vielen Dank für den kostenlosen Ratschlag. Ich stehe in deiner Schuld.« Branch drückte auf den Aus-Knopf des Computers und drehte sich zu Ike um. »Gute Arbeit«, sagte er. »Verrate mir nur eins: Hast du vor, dir selbst einen Strick zu drehen?«

Falls er auf Zerknirschung und Reue aus war, war er bei Ike an der falschen Adresse. Ike griff sich ein paar Kisten und baute sich daraus einen Sessel. »Pappbecher«, sagte er. »Das ist neu. Armee-Slang?«

»Nein, Geheimdienst, wenn du’s unbedingt wissen willst. Es bedeutet: einmal benutzen und dann wegwerfen. Früher hat der CIA seine einheimischen Guerilla-Agenten so genannt. Heute bezieht es sich auch auf Cowboys wie dich, die wir aus der Tiefe heraufziehen und als Kundschafter einsetzen.«

»Man gewöhnt sich irgendwie daran«, sagte Ike.

Branchs Laune besserte sich nicht. »Dein Gespür für den richtigen Zeitpunkt ist phänomenal. Der Kongress macht unser Lager hier dicht. Verkauft es. An das nächste Rudel gieriger Geschäftsleute. Ehe man sich umdrehen kann, hat die Regierung schon dem nächsten Kartell nachgegeben. Wir machen die Drecksarbeit, dann kommen die Multis mit ihren Kaufmilizen und Landentwicklern, und der Bergbau geht los. Wir müssen bluten, und sie streichen den Profit ein. Man hat mir nicht mehr als drei Wochen zugestanden, um die gesamte Einheit in ein provisorisches Lager zweitausend Fuß unterhalb von Camp Alison zu verlegen. Mir bleibt nicht viel Zeit, Ike. Ich habe mir den Arsch aufgerissen, um euch dort unten am Leben zu erhalten. Und jetzt kommst du und bedrohst einen Offizier im Einsatz?«

Ike hob zwei gespreizte Finger vor sich in die Luft: »Frieden, Daddy.«

Branch schnaubte hilflos und blickte sich verächtlich in seiner winzigen Bürobude um. Irgendwo in der Nähe dröhnte Countrymusik. »Sieh uns doch nur an«, sagte Branch. »Wie erbärmlich. Wir halten den Kopf hin. Die großen Firmen fahren den Profit ein. Wo bleibt dabei die Ehre?«

»Welche Ehre?«

»Komm jetzt bloß nicht damit. Ja, die Ehre! Nicht das Geld. Nicht die Macht. Nicht der Besitz. Sondern schlicht und einfach die Überzeugung, die Verpflichtung einem bestimmten Kodex gegenüber. Das hier!« Er zeigte auf sein Herz.

»Vielleicht glaubst du zu viel«, meinte Ike.

»Du vielleicht nicht?«

»Ich bin kein Berufssoldat. Aber du.«

»Du bist überhaupt nichts«, sagte Branch und ließ die Schultern sinken. »Sie haben oben mit deinem Prozess vor dem Kriegsgericht weitergemacht. In deiner Abwesenheit. Nicht zu fassen. Während du noch draußen an der Front warst. So was hätte sich nicht mal Kafka ausdenken können. Eine unerlaubte Entfernung von der Truppe wird plötzlich zu einer Anklage wegen Flucht vor dem Feind.«

Ike war nicht besonders niedergeschlagen. »Dann gehe ich eben in die Revision.«

»Das war bereits die Revision.«

Ike ließ sich nicht die geringste Sorge anmerken.

»Immerhin gibt es noch einen Funken Hoffnung, Ike.

Man hat dich zur Urteilsverkündung nach oben berufen. Ich habe mich mit der JAG in Verbindung gesetzt, und sie sind der Meinung, dass du dich der Gnade des Gerichts überlassen solltest. Ich habe dort oben für dich sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt. Ich habe ihnen gesagt, was du hinter den feindlichen Linien getan hast. Einige sehr wichtige Leute haben versprochen, ein gutes Wort für dich einzulegen. Es ist zwar nicht amtlich, aber es sieht ganz so aus, als ließe das Gericht Nachsicht walten. Was bei Gott auch angebracht wäre.«

»Das soll mein Hoffnungsfunken sein?«

Branch ging nicht näher darauf ein. »Du könntest wirklich schlechter dran sein.«

Sie hatten sich über diese Sache bereits bis zum Erbrechen gestritten. Ike hielt sich mit seiner Antwort zurück. Die Armee war für ihn weniger eine Familie als ein Pferch gewesen. Nicht die Armee hatte ihn aus der Sklaverei befreit, in die Arme der Menschheit zurückgeholt, ihn von seinen Fesseln befreit und dafür gesorgt, dass seine Wunden behandelt wurden. Das hatte Branch getan. Ike würde ihm das niemals vergessen.

»Du könntest es jedenfalls versuchen«, sagte Branch.

»Ich muss das nicht tun«, antwortete Ike leise. »Ich muss da nie wieder hinaufgehen.«

»Aber hier unten ist es gefährlich.«

»Nicht schlimmer als oben.«

»Du kannst allein nicht überleben.«

»Ich kann mich immer irgendeinem Trupp anschließen.«

»Was redest du da eigentlich? Hier geht es um unehrenhafte Entlassung, vielleicht sogar Knast. Du wirst ein Unberührbarer sein.«

»Es gibt auch noch anderes zu tun.« »Als Glücksritter?« Branch sah ihn angewidert an. »Du?«

Ike winkte ab.

Beide Männer verfielen in Schweigen. Schließlich rückte Branch damit heraus, ganz leise.

»Tu’s für mich«, schluckte er.

Wären ihm diese Worte nicht so schwer gefallen, hätte Ike sich geweigert. Er hätte sein Gewehr in die Ecke gestellt, seinen Rucksack ins Zimmer geschleudert, sich seine verdreckten Ninjas abgestreift und den Rangers und der gesamten Armee ein für alle Mal den Rücken zugedreht. Aber Branch hatte soeben etwas getan, was Branch normalerweise niemals tat. Und weil dieser Mann, der ihm das Leben gerettet, ihn wieder gesund gepflegt hatte und wie ein Vater zu ihm gewesen war, weil dieser Mann seinen Stolz vor Ikes Füßen in den Staub gelegt hatte, tat Ike das, was er sich geschworen hatte, nie wieder zu tun. Er fügte sich.

»Wo muss ich hin?«, fragte er.

Beide versuchten, Branchs Freude nicht zu beachten.

»Du wirst es nicht bereuen«, versprach Branch.

»Hört sich ganz nach Hinrichtung an«, scherzte Ike ohne das geringste Lächeln.

WASHINGTON D.C.

Auf halber Höhe der Rolltreppe, die so steil wie eine aztekische Treppe nach oben führte, konnte Ike nicht mehr. Es lag nicht nur an der unerträglichen Helligkeit. Seine Reise aus dem Bauch der Erde war grauenhaft zermürbend geworden. Alle seine Sinne waren völlig durcheinander geraten. Die Welt war wie auf den Kopf gestellt.

Als die stählerne Rolltreppe sich jetzt dem Erdgeschoss näherte und das Brausen und Hupen des Straßenverkehrs auf ihn herabstürzte, musste sich Ike am Laufband festklammern. Oben angekommen, spie ihn die Treppe auf einen Bürgersteig. Die Menge schob und drängelte ihn sogleich vom U-Bahn-Eingang weg. Ike wurde von Geräuschen und zufälligen Remplern in die Mitte der Independence Avenue getragen.

Er hatte schon so manches Mal mit Höhenangst zu tun gehabt, aber das hier war etwas völlig anderes. Der Himmel bauschte sich faserig über ihm. Der breite Boulevard ergoss sich nach allen Seiten. Wie seekrank torkelte er in das Blöken der Autohupen und wehrte sich gegen die beängstigenden Eindrücke dieser grenzenlosen Umgebung. Durch die winzige Öffnung seines Tunnelblicks kämpfte er sich auf eine in Sonnenlicht gebadete Mauer zu.

»Verpiss dich!«, kreischte jemand mit einem HindiAkzent. Dann erblickte der Ladeninhaber Ikes Gesicht und zog sich schleunigst zurück.

Ike lehnte die Wange an den Backstein.

»Ecke Achtzehnte und C-Street«, flehte er einen Passanten an. Es war eine Frau in hochhackigen Schuhen, deren Stakkato sofort einen weiten, eiligen Bogen um ihn herum machte. Ike zwang sich von der Wand weg. Auf der anderen Straßenseite angekommen, machte er sich daran, einen kleinen Hügel zu ersteigen, der von amerikanischen Fahnen umgeben war. Als er aufsah, erblickte er das Washington Monument, das sich steil in den strahlend blauen Himmel bohrte. Es war Kirschblütenzeit, so viel war klar. Ike konnte wegen der Pollen kaum atmen.

Gnädig trieb eine Herde Wolken herbei und verschwand kurz darauf wieder. Das Sonnenlicht war schrecklich. Mit brennender Haut ging er weiter. Grellbunt leuchtende Tulpen zersplitterten sein Gesichtsfeld wie Musketenfeuer. Die Sporttasche in seiner Hand, sein einziges Gepäck, wurde ihm schwer. Er rang keuchend nach Luft, und das stachelte seinen alten Stolz wieder an: ein Himalaya-Bergsteiger auf Meereshöhe in solch einem Zustand! Mit fest hinter der dunklen Gletscherbrille zusammengekniffenen Augen zog sich Ike in eine schattige Allee zurück.

Irgendwann ging endlich die Sonne unter. Sein Unwohlsein verflog. Er konnte die Brille abnehmen. Eilig wie ein Flüchtender durchstreifte er die dunkelsten Gegenden der Stadt. Es war seine erste Nacht draußen, seit er vor so langer Zeit in Tibet eingeschneit worden war. Keine Zeit, um etwas zu essen. Auch der Schlaf konnte warten. Erst musste er alles sehen. Wie ein Tourist mit der Ausdauer eines olympischen Sprinters warf er sich ausgehungert auf die Stadt. Da gab es heruntergekommene Straßenzüge und an Paris erinnernde Boulevards, hell erleuchtete Restaurantviertel und von majestätisch anmutenden Einfriedungen umgebene Botschaften. Letztere mied er vorsichtshalber und hielt sich an die verlasseneren Orte.

Die Nacht war herrlich. Trotz des Lichterscheins der Stadt waren die Sterne am Himmel zu sehen. Ike atmete die vom Meer heranwehende Salzluft. Die Bäume waren von Knospen übersät. Es war schließlich April. Trotzdem war es für Ike, als er so über das Gras und den Bürgersteig eilte, über Zäune sprang und Autos auswich, eher November in seinem Herzen. Ein Urteil würde über ihn gefällt werden. Er würde sich nicht lange in dieser Welt aufhalten können. Also prägte er sich den Mond und das Sumpfland und die verzweigten Eichen und das Muster der Wirbel auf dem träge dahinfließenden Potomac ein.

Ohne es zu wollen, stand er plötzlich auf einem grasbewachsenen Hügel vor der National Cathedral. Es war, als stürzte man ins finsterste Mittelalter zurück. Auf dem Gelände hatte sich eine bunt zusammengewürfelte Menge Gläubiger eingefunden, deren windschiefe Zeltstadt nur von Kerzen und Laternen beleuchtet war. Nach kurzem Zögern ging Ike weiter. Dann wurde ihm klar, dass offensichtlich Familien und ganze Kirchengemeinden hierher gekommen waren, um mit den Armen, Verwirrten, Kranken und Süchtigen zusammenzuleben.

Von hölzernen Masten wehten riesige, an Kreuzzüge erinnernde Banner mit roten Kreuzen herab, und die gotischen Zwillingstürme der Kathedrale zuckten im Widerschein lodernder Scheiterhaufen. Hausierer verhökerten Kruzifixe, New Age-Engel, Blaualgenpillen, Indianerschmuck, mit Weihwasser besprengte Munition und Charterflüge nach Jerusalem hin und zurück. Eine Bürgerwehr, die so genannten »Wehrfähigen Christen«, rekrutierte Freiwillige zur Durchführung des Krieges gegen die Hölle. Auf dem Musterungstisch stapelten sich Söldnermagazine, dahinter standen Angeber mit Sportstudiobizeps und schicken Modewaffen. Auf einem miserablen Ausbildungsvideo waren eine brennende Sonntagsschule und einige schlechte Schauspieler zu sehen, die als verdammte Seelen verkleidet um Hilfe flehten.

Rechts neben dem Fernseher stand eine Frau mit nacktem Oberkörper, der ein Arm und beide Brüste fehlten. Voller Stolz präsentierte sie ihre Narben und feuerte die Unentschlossenen an. Ihr Akzent klang sehr nach Täufersekte, wahrscheinlich Louisiana, und in einer Hand hielt sie eine Giftschlange. »Ich war eine Gefangene der Teufel«, bezeugte sie lauthals, »aber ich wurde gerettet. Aber nur ich, nicht meine armen Kinder, und auch nicht die anderen guten Christenmenschen. Alles gute Christenmenschen, die mit Recht nach Erlösung dürsten. Steigt hinunter, ihr Brüder mit den starken Armen. Bringt die Schwachen wieder herauf zu uns. Tragt das Licht des Herrn in diese Dunkelheit. Nehmt mit euch den Geist Christi, des Vaters und des Heiligen Geistes ...«

Ike wich zurück. Wie viel bekam diese Schlangenfrau wohl dafür, dass sie ihr nacktes Fleisch zur Schau stellte und diese leichtgläubigen Männer bekehrte? Ihre Wunden sahen verdächtig nach Operationsnarben aus, doch auch abgesehen davon redete sie nicht wie eine ehemalige Gefangene. Dafür war sie viel zu selbstbewusst.

Selbstverständlich hielten sich die Hadal gefangene Menschen. Aber diese Leute dürsteten nicht unbedingt nach Errettung. Diejenigen, die Ike gesehen hatte, diejenigen, die es geschafft hatten, zumindest eine gewisse Zeit bei den Hadal zu überleben, hatten eher wie die Quersumme von Null gewirkt. Denn wer erst einmal dort angekommen war, für den bedeutete die Vorhölle auch eine Art Zuflucht vor der eigenen Verantwortung. So etwas öffentlich zu sagen, schon gar inmitten fanatischer Patrioten wie diesen hier, wäre natürlich selbstmörderisch, doch Ike selbst hatte die verbotene Verzückung verspürt, mit der man sich voll und ganz der Autorität eines anderen Wesens unterwirft.

Ike stieg die vor Menschentümelei klebrigen Stufen weiter hinauf und betrat das mittelalterliche Querschiff. Auch das zwanzigste Jahrhundert hatte einige Spuren hinterlassen: In den Steinboden waren Staatswappen eingelegt, und auf einem bunten Glasfenster sah man die Astronauten auf dem Mond. Abgesehen davon hätte er ebenso gut durch den Höhepunkt einer Pest-Hysterie wandeln können. Die Luft war von Qualm und Weihrauch sowie dem Gestank ungewaschener Körper geschwängert. Von den nackten Steinwänden hallten Gebete wider. Ike hörte, wie das Confiteor in das Kaddisch überging. Gebete an Allah mischten sich mit Hymnen aus den Appalachen. Priester verkündigten die Wiederkehr Christi, beschworen das Zeitalter des Wassermanns, den einzig wahren Gott und sämtliche Engel.

Noch vor dem Morgengrauen kehrte er, wie er es Branch versprochen hatte, zur Ecke Achtzehnte und C-Street zurück, wo er sich melden sollte. Er ließ sich an einem Ende der Granitstufen nieder und wartete, bis es neun Uhr wurde. Trotz seiner Vorahnungen redete Ike sich ein, dass es kein Zurück gab. Mit seiner Ehre war es so weit gekommen, dass sie von der Gnade fremder Leute abhing.

Die Sonne ging nur langsam auf, schob sich wie ein Parademarsch durch die Schluchten zwischen den Bürohochhäusern. Ike sah zu, wie seine Fußabdrücke auf dem Raureif des Rasens schmolzen, und bei diesem Anblick wollte ihn der Mut verlassen. Eine überwältigende Traurigkeit befiel ihn, das Gefühl eines abgrundtiefen Verrats. Welches Recht hatte er überhaupt, in die Welt zurückzukehren? Welches Recht hatte die Welt, ihn zurückzubekommen? Mit einem Mal kam ihm die Vorstellung, hier zu sein und zu versuchen, seine innersten Beweggründe Fremden verständlich zu machen, wie eine schreckliche Taktlosigkeit vor. Warum sollte er sich opfern? Und wenn sie ihn dennoch schuldig sprachen?

Für einen kurzen Augenblick, der in seinen Gedanken eine kleine Ewigkeit dauerte, befand er sich wieder in Gefangenschaft. Das Gefühl hatte kein bestimmtes Bild. Da war das Gefühl eines zu Tode erschöpften Mannes in seinen Schultern. Der Duft von Mineralien. Und der Geruch von Ketten. Wie verwehte Musikfetzen, nie ganz im Takt, nie eine zusammenhängende Melodie. Würden sie ihm das antun? Noch einmal? Lauf weg, dachte er.

»Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie tatsächlich kommen«, sprach ihn eine Stimme an. »Ich dachte, man müsste Sie erst einfangen.«

Ike blickte auf. Ein sehr breit gebauter Mann von vielleicht fünfzig Jahren stand vor ihm auf dem Bürgersteig. Trotz der adretten Jeans und des Designerparkas verriet seine ganze Haltung den Soldaten. Ike blinzelte nach links und rechts, aber sie waren allein.

»Sind Sie der Anwalt?«, fragte er.

»Anwalt?«

Ike war verwirrt. Kannte ihn der Mann oder kannte er ihn nicht?

»Für die Verhandlung vor dem Kriegsgericht. Ich weiß nicht, wie man Sie nennt. Mein Advokat?«

Jetzt verstand ihn der Mann und nickte. »Richtig, doch, so können Sie mich nennen.«

Ike erhob sich.

»Dann bringen wir die Sache hinter uns«, sagte er. Er hatte große Angst, sah jedoch keine Alternative mehr zu dem Geschehen, das bereits ins Rollen gekommen war.

»Sind Ihnen die leeren Straßen nicht aufgefallen?«, fragte der Mann belustigt. »Hier ist niemand. Sämtliche Gebäude sind geschlossen. Heute ist Sonntag.«

»Was tun wir dann hier?«, fragte Ike.

»Wir kümmern uns um unsere Angelegenheiten.«

Ike wurde misstrauisch. Irgendetwas stimmte nicht. Branch hatte ihm gesagt, er solle sich zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort einfinden. »Sie sind nicht mein Anwalt.«

»Mein Name ist Sandwell.«

Die folgende Denkpause half Ike auch nicht weiter. Als dem Mann klar wurde, dass Ike noch nie von ihm gehört hatte, lächelte er beinahe mitleidig.

»Ich war eine Zeit lang der Vorgesetzte Ihres Freundes Branch«, fuhr er dann fort. »Damals, in Bosnien, vor seinem Unfall. Bevor er sich veränderte. Er war ein anständiger Mann.« Nach einer weiteren kleinen Pause fügte er hinzu: »Ich bezweifle, dass sich das geändert hat.«

Ike stimmte ihm zu. Manche Dinge ändern sich nie.

»Ich habe von Ihren Problemen erfahren«, sagte Sandwell. »Ich habe Ihre Akte gelesen. Sie haben uns im Lauf der vergangenen fünf Jahre gute Dienste geleistet. Alle loben Sie in den höchsten Tönen: Spürhund. Kundschafter. Killer. Nachdem Branch sie gebändigt hatte, haben wir großen Nutzen von Ihnen gehabt. Und Sie haben Ihren Nutzen von uns gehabt, stimmt’s? Sie haben sich von den Haddie das eine oder andere zurückgeholt.«

Ike wartete ab. Sandwells »-wir« ließ darauf schließen, dass er noch aktiv im Dienst war. Doch etwas anderes an ihm - und das waren nicht seine Designerklamotten - ließ vermuten, dass er noch andere Eisen im Feuer hatte.

Ikes Schweigen fing an, Sandwell zu verärgern. Ike hörte es aus der nächsten Frage heraus, die ihn aus der Reserve locken sollte:

»Als Branch Sie fand, trieben Sie Sklaven durch die Gänge. Stimmt doch, oder? Sie waren ein Kapo. Ein Aufseher. Einer von denen.«

»Wie auch immer Sie es nennen wollen«, erwiderte Ike. Dieser Idiot. Wollte er einen Stein ohrfeigen, um ihn für seine Vergangenheit anzuklagen?

»Ihre Antwort ist wichtig. Sie sind zu den Hadal übergewechselt oder nicht?«

Sandwell täuschte sich. Was Ike sagte, war unwichtig.

Seiner Erfahrung nach fällten die Leute ihre Urteile unabhängig von der Wahrheit. Sogar dann, wenn die Wahrheit deutlich vor ihnen lag.

»Genau aus diesem Grund können wir euch Befreiten ja nie mehr richtig vertrauen«, sagte Sandwell. »Ich habe jede Menge psychologische Evaluationen gelesen. Ihr seid wie die Tiere der Dämmerung. Ihr lebt zwischen den Welten, zwischen Licht und Dunkelheit. Weder richtig noch falsch. Bestenfalls leicht psychotisch. Unter normalen Umständen wäre es verrückt, wenn sich das Militär im Feld auf Leute wie Sie verließe.«

Ike kannte die Ängste und die Verachtung. Nur sehr wenige Menschen hatten aus der Gefangenschaft der Hadal befreit werden können, und die meisten waren schnurstracks in die Gummizelle gewandert. Ein paar Dutzend von ihnen waren wieder hergestellt worden und konnten wieder arbeiten, meistens als Blindenhunde für Bergleute oder religiöse Kolonien.

»Ehrlich gesagt, ich mag Sie nicht«, fuhr Sandwell fort. »Aber ich glaube nicht, dass Sie sich vor achtzehn Monaten unerlaubt von der Truppe entfernt haben. Ich habe Branchs Bericht über die Belagerung von Albuquerque IO durchgelesen. Ich glaube, dass Sie hinter die feindlichen Linien gegangen sind. Aber es war keine Heldentat, um Ihre Kameraden im Lager zu retten. Sie haben es getan, um diejenigen zu töten, die Ihnen das hier angetan haben.«

Sandwell wies auf die Narben und Male auf Ikes Gesicht und Händen. »Hass kann ich gut verstehen.«

Da Sandwell so von sich überzeugt wirkte, widersprach ihm Ike nicht. Sandwell ging automatisch davon aus, dass Ike die Soldaten aus Rache gegen seine früheren Unterdrücker ins Feld geführt hatte. Ike hatte aufgegeben zu erklären, dass für ihn auch die Armee ein Unterdrücker war. Hass kam in dieser Gleichung überhaupt nicht vor. Es war schlicht unmöglich, andernfalls hätte er sich schon längst umgebracht. Was ihn tatsächlich antrieb, war Neugier.

Ohne darauf zu achten, war Ike vor den über die Stufen wandernden Sonnenstrahlen immer weiter zur Seite ausgewichen. Als er Sandwells Blick bemerkte, hielt er inne.

»Sie gehören nicht nach hier oben«, grinste Sandwell. »Und ich glaube, Sie wissen das.«

Der Kerl war ein tolles Begrüßungskomitee. »Sobald es mir erlaubt ist, verschwinde ich wieder. Ich bin nur hergekommen, um meinen Namen rein zu waschen. Anschließend mache ich mich sofort wieder an die Arbeit.«

»Sie hören sich an wie ein Branch. Aber es ist nicht so einfach, Ike. Die sind hier mit der Todesstrafe rasch bei der Hand. Die Bedrohung durch die Hadal ist vorüber. Sie sind weg.«

»Seien Sie da mal nicht so sicher.«

»Alles eine Frage der Wahrnehmung. Die Leute wollen den Drachen besiegt und erschlagen sehen. Das wiederum bedeutet, dass wir keine Verwendung mehr für Außenseiter und Rebellen haben. Wir haben keinen Platz mehr für diese Probleme, Störungen und unangenehmen Erinnerungen. Sie, Ike, jagen uns Angst ein. Sie sehen aus wie der Feind. Wir wollen nicht mehr daran erinnert werden. Vor einem oder zwei Jahren hätte das Gericht sich auf Ihre Fähigkeiten und Ihren Nutzen draußen im Feld besonnen. Heute wollen sie klar Schiff machen. Kurz gesagt: Sie sind tot. Nehmen Sie es nicht persönlich. Sie stehen nicht als Einziger vor dem Kriegsgericht. Sämtliche Armeen sind dabei, ihre Reihen von Ungereimtheiten und Unannehmlichkeiten zu säubern. Mit eurer Sorte ist es aus und vorbei. Die Kundschafter und Guerillas müssen gehen. So etwas geschieht am Ende jedes Krieges. Frühjahrsputz.«

Pappbecher. Branchs Worte hallten in Ikes Schädel wider. Er musste vom bevorstehenden Großreinemachen gewusst, zumindest etwas geahnt haben. Es waren einfache Wahrheiten. Aber Ike war nicht bereit, sie zu schlucken. Er fühlte sich verletzt, und das war wie eine Offenbarung. Konnte er so etwas tatsächlich noch fühlen?

»Branch hat Sie dazu überredet, sich der Gnade des Gerichts zu überantworten«, konstatierte Sandwell.

»Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?« Ike fühlte sich schwerelos wie ein totes Blatt.

»Branch? Wir haben uns seit Bosnien nicht mehr gesprochen. Ich habe diese kleine Diskussion über einen meiner Adjutanten arrangiert. Branch glaubt, dass Sie einen Anwalt treffen, der ein Freund eines Freundes ist.«

Warum diese Doppelzüngigkeit? fragte sich Ike.

»Man braucht nicht besonders viel Phantasie dazu«, fuhr Sandwell fort. »Warum sollten Sie sich all dem aussetzen, wenn nicht um der Gnade willen? Aber wie ich bereits sagte, zieht diese Geschichte weitaus größere Kreise. Ihr Fall ist längst entschieden.«

Sandwells Ton - nicht spöttisch, nur unsentimental -bestätigte Ike, dass es keine Hoffnung gab. Er vergeudete keine Zeit mehr mit der Frage nach dem Urteil. Ihn interessierte nur noch das Strafmaß.

»Zwölf Jahre«, sagte Sandwell. »Zwölf Jahre Bau. Leavenworth.«

Ike spürte, wie der Himmel über ihm in kleine Stücke zerbarst. Nicht denken, rief er sich zur Ordnung. Nicht fühlen. Doch die Sonne stieg und strangulierte ihn mit seinem eigenen Schatten. Sein dunkler Doppelgänger lag zerbrochen unter ihm auf den Stufen.

Er war sich bewusst, dass Sandwell ihn aufmerksam beobachtete.

»Sind Sie hergekommen, um mich zusammenbrechen zu sehen?«, wagte er zu fragen.

»Ich bin gekommen, um Ihnen eine Chance zu geben.« Sandwell reichte ihm eine Visitenkarte. Auf ihr stand der Name Montgomery Shoat zu lesen. Weder Titel noch Adresse. »Rufen Sie diesen Mann an. Er hat Arbeit für Sie.«

»Welche Art von Arbeit?«

»Das wird Ihnen Mr. Shoat selbst sagen. Wichtig ist, dass sie Sie tiefer hinabführt, als der Arm des Gesetzes reicht. Es gibt Zonen, in denen Auslieferungsverträge nicht gelten. So weit unten wird man Sie nicht behelligen können. Aber Sie müssen sofort handeln.«

»Arbeiten Sie für ihn?«, wollte Ike wissen. Reg dich nicht auf, sagte er sich. Finde ihre Fußabdrücke, verfolge die Spur ein Stück zurück, suche dir einen Ausgangspunkt.

Aber Sandwell rückte mit nichts heraus. »Ich wurde gebeten, jemanden mit bestimmten Qualifikationen ausfindig zu machen. Es war reines Glück, Sie in einer derart prekären Situation anzutreffen.«

Das war auch eine Information. Sie verriet ihm, dass Sandwell und Shoat etwas Ungesetzliches vorhatten.

»Sie haben Branch belogen«, sagte Ike. Das gefiel ihm nicht. Es ging um ein Versprechen. Wenn er jetzt davonlief, hieß es, die Armee ein für alle Mal aus seinem Leben zu verbannen.

Sandwell suchte nicht nach einer Entschuldigung. »Sie müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er. »Wenn Sie sich für unsere Sache entscheiden, wird man eine Suchaktion nach Ihnen starten. Und die Ersten, die sie ausfragen, sind die Leute, die Ihnen am nächsten stehen. Deshalb mein Rat: Kompromittieren Sie niemanden. Rufen Sie Branch nicht an. Er hat auch so genug Probleme.«

»Soll ich einfach so verschwinden?«

Sandwell lächelte. »Sie haben ohnehin nie richtig existiert.«



Es gibt nichts, was einen mehr

in den Bann zieht, als die Verlockung

eines tiefen Abgrundes.


JULES VERNE, Reise zum Mittelpunkt der Erde.

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