ZWISCHEN DEN CLIPPERTON- UND GALÂPAGOS-VERWERFUNGSZONEN
Sie wurden in Vierergruppen von Esperanza aus in die Tiefe abgeseilt. Fünf Winden reckten sich wie die Kanonen schwerer Kriegsschiffe über den Rand der Klippe und wickelten mit dröhnenden Motoren ihre großen Kabeltrommeln ab. Menschen und Ausrüstung wurden auf Plattformen und in Netzen 1300 Meter nach unten bugsiert. Es gab nur ziemlich mitgenommene Seile, ölige Ketten und Bodenschrauben, mit denen Kisten und Maschinen gesichert wurden. Die lebende Fracht musste selbst für sich sorgen.
Die gewaltigen Arme der Winden ächzten und knirschten. Ali schaffte es, ihren Rucksack hinter sich zu schieben und machte sich an der unteren Reling mit Karabinerhaken und einem Knoten fest. Shoat kam mit einem Klemmbrett vorbei.
»Guten Morgen«, schrie sie in den Lärm und den Qualm der Abgase.
Wie er vorausgesagt hatte, waren über Nacht einige Teilnehmer ausgestiegen. Bis jetzt fünf oder sechs, aber angesichts des Verhaltens, das Shoat und Helios an den Tag gelegt hatten, hatte Ali mit mehr Abbrechern gerechnet. Shoat offenbar auch - nach seinem zufriedenen Grinsen zu urteilen. Sie hatte noch nie persönlich mit ihm gesprochen. Alle anderen Ängste durchzuckte die plötzliche Angst, er könne sie von der Expedition ausschließen.
»Sie sind die Nonne«, sagte er. Niemand würde auf die Idee kommen, sein verkniffenes Gesicht und die gierigen Augen entwaffnend zu nennen, doch er wirkte nicht gänzlich unsympathisch. Er streckte ihr die Hand entgegen, die im Vergleich zu seinem geschwollenen Bizeps und den kräftigen Schenkeln erstaunlich schmal war.
»Ich bin als Linguistin und Spezialistin für Inschriften mitgekommen.«
»Brauchen wir so jemanden überhaupt? Sie sind sozusagen aus dem Nichts aufgetaucht«, sagte er.
»Ich habe erst sehr spät von dieser Gelegenheit erfahren.«
Er musterte sie. »Letzte Möglichkeit.«
Ali sah sich um und erblickte einige von denen, die zurückblieben. Sie sahen grimmig und auch ein wenig elend aus. Sie hatten eine Nacht des Zorns und der Tränen hinter sich, einige hatten gedroht, mit einer Gruppenklage gegen Helios vorzugehen. Sogar eine Schlägerei hatte stattgefunden.
»Ich bin mit mir im Reinen«, versicherte ihm Ali.
»So kann man es auch ausdrücken.« Shoat hakte ihren Namen auf der Liste ab.
Die Seile über ihnen spannten sich. Die Plattform hob ab. Shoat gab ihr einen kräftigen Stoß und ging davon, während sie in die Tiefe schaukelten. Jemand rief der Gruppe der zurückbleibenden Wissenschaftler einen Abschiedsgruß zu.
Das Geräusch der Motorwinden über ihnen erstarb rasch. Es war, als hätte jemand die Lichter von Esperanza ausgeknipst. Nur an einem Drahtseil hängend, sanken sie, sich langsam drehend, in die pechschwarze Tiefe. Manchmal war die Felswand so weit weg, dass die Strahlen ihrer Taschenlampen kaum zu ihr hinüberreichten.
»Wie lebende Würmer an einem Haken«, sagte irgendwann einer ihrer Nachbarn.
Das war alles. Auf dem ganzen Weg nach unten sagte keiner mehr ein Wort. Ali hatte noch nie eine so gewaltige Leere erlebt.
Stunden später näherten sie sich dem Boden. Chemikalien und menschliche Abfälle vermengten sich am Fuße der Felswand zu einem fauligen Matsch. Der Gestank drang sogar durch Alis Staubmaske. Sie hielt die Luft an und atmete den widerlichen Geruch voller Ekel ein. Als sie näher kamen, begann ihre Haut vom Säuregehalt der Luft zu brennen. Mit einem dumpfen Schlag setzte die Winde sie am Rand der Gifthalde ab. Eine fleischige Hand, der zwei Finger fehlten, ergriff die Reling vor Ali.
»Raus, schnell«, bellte der Mann. Von seinem Kopf hingen Lumpen, die entweder seinen Schweiß aufsaugten oder ihn vor den Lichtern schützten.
Ali hakte sich los und stieg hinunter. Der Kerl warf ihr ihren Rucksack hinterher. Kaum war der Letzte ihrer Mitreisenden abgesprungen, machte sich die Plattform wieder auf den Weg nach oben.
Ali sah sich die Leute an. Sie waren fünfzehn oder zwanzig, die da glitzernd im Licht der Taschenlampen beisammen standen. Einer der Männer hatte eine große Pistole gezogen und zielte damit irgendwohin in die Ferne.
»Kein guter Platz. Sie gehen besser ein Stück weiter weg, sonst fällt Ihnen noch was auf den Kopf«, sagte eine Stimme. Sie drehte sich zu einer Felsnische um. Darin saß ein Mann, das Sturmgewehr griffbereit neben sich. Er trug eine Nachtsichtbrille. »Immer dem Trampelpfad nach«, nickte er und zeigte mit dem Finger in eine Richtung. »Sie marschieren ungefähr eine Stunde. Die anderen haben Sie bestimmt bald eingeholt. Und Sie da, der Revolverheld. Stecken Sie das Ding weg, bevor jemand erschossen wird.«
Mit schaukelnden Lampen folgten sie dem Pfad, der sich in weiten Kurven um den Fuß der Felswand wand. Verlaufen konnte man sich nicht. Es war der einzige Weg. Über dem Boden schwebte ein trüber Nebel. Gasfetzen trieben ihnen gegen die Knie. Kleine giftige Wolken wirbelten auf Kopfhöhe und blitzten blendend weiß auf, wenn man sie anleuchtete. Hier und dort sprangen winzige Flämmchen wie Elmsfeuer auf und verloschen wieder.
Es war ein tödlicher, stiller Sumpf. Tiere waren zu Zehntausenden hierher gekommen. Angezogen vom Müll, den unbekannten Nährstoffen oder vom Fleisch anderer tierischer Besucher, hatten sie hier gefressen. Nun lagen ihre Knochen und andere Überreste kilometerweit zwischen den Felsen verstreut.
Ali sah mindestens ein Dutzend Skelette unterschiedlicher Größen und Formen. Ein Knochenfund hatte die Ausmaße einer kurzen Schlange mit einem großen Kopf.
Eine andere Kreatur musste sich einmal auf zwei Beinen fortbewegt haben. Wieder ein anderes Tier hätte einmal ein kleiner Frosch mit Flügeln gewesen sein können. Nichts davon rührte sich mehr.
Schon bald kam sie ins Schwitzen. Sie wusste, dass es ein wenig dauerte, sich zu akklimatisieren, Beinmuskulatur aufzubauen und sich an einen neuen Tag-NachtRhythmus zu gewöhnen. Der Gestank der Tierknochen und der Bergwerkskloake war dabei keine große Hilfe. Obendrein erschwerte dieser Hindernisparcours aus verrosteten Kabeln, verbogenen Schienen, unvermutet auftauchenden Leitern und Treppenstufen das Vorankommen.
Ali erreichte eine Lichtung. Eine Gruppe Wissenschaftler ruhte sich auf einer Steinbank aus. Das Mauerwerk wirkte sehr alt, durch einige neuere Zusätze ergänzt. Ali sah sich nach eingeritzten Schriftzeichen oder anderen Anzeichen der Hadal-Kultur um, konnte jedoch nichts entdecken.
»Das müssen die Letzten von uns auf dem Weg in die Tiefe sein«, sagte einer der Wanderer.
Alis Blick folgte seinem ausgestreckten Finger. Wie winzige Kometen sanken in der Ferne drei Lichtpunkte langsam und an silbrigen Fäden in die Dunkelheit herab. Viel weiter oben, am Rande des Felsvorsprungs, klebte die Stadt Esperanza in der schwarzen Nacht wie eine trübe Glühbirne. Einen Augenblick lang sah sie die bunten Klippen der Goldgräberstadt. Die hellblaue Farbe glitzerte wie ein Glücksstern im Giftnebel.
Nach der Verschnaufpause veränderte sich der Weg. Der Sumpf wich zurück, der Gestank des Todes verflüchtigte sich. Der Weg stieg mit angenehmem Gefälle bis zu einem flachen Plateau an.
»Noch mehr Tiere«, sagte jemand und deutete auf ein paar Schatten in der Ferne.
»Das sind keine Tiere. Das müssen unsere Träger sein«, sagte Ali. Ihrer Schätzung nach waren es an die hundert oder sogar noch mehr. Zigarettenrauch vermischte sich mit stechendem Körpergeruch. Dutzende blauer Plastiktonnen, die auf einer Seite so geformt waren, dass sie sich dem menschlichen Rücken anpassten, bestätigten ihre Vermutung.
Sie hatten den verabredeten Ort erreicht. Von hier aus nahm die Expedition ihren Anfang. Da sie nicht wussten, was als Nächstes geschehen würde, warteten die Wissenschaftler wie ungebetene Gäste am Rand des mit Fackeln erleuchteten Lagers. Die Träger blieben einfach liegen, reichten untereinander Zigaretten und Tassen mit heißen Getränken herum oder schliefen auf dem blanken Boden.
»Sie sehen aus wie ... Bitte sagt mir, dass sie keine Hadal angeheuert haben«, flüsterte eine Frau.
»Wie sollen sie denn Hadal anheuern?«, fragte jemand. »Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt noch welche gibt.«
Die Hornansätze der Träger über den buschigen Augenbrauen, dazu die Körperbemalung, all das war auf eine befremdliche Weise Mitleid erregend. Ihre Kleidung war eine wilde Mischung aus Ghetto und Dschungel. Einige trugen weite, bunte Shorts und Raiders-Kappen, andere Hip-Hop-Jacken zu Lendentüchern. Die meisten waren mit Messern ausgerüstet. Ali sah auch Macheten. Die Klingen dienten der Verteidigung: gegen die Tiere, womöglich auch gegen umherstreunende Feinde, aber vor allem als Sicherheitsmaßnahme untereinander.
Um die Hälse trugen sie brandneue weiße Plastikringe. Ali hatte schon von Gefangenenarbeit und Kettensträflingen im Subplaneten gehört; vielleicht handelte es sich bei den Ringen um eine Art elektronischer Fessel. Doch diese Männer sahen einander zu ähnlich, als dass man sie für eine zusammengewürfelte Truppe von Gefangenen halten konnte. Es waren Indios, auch wenn Ali nicht näher bestimmen konnte, aus welcher Region sie kamen. Ihre Wangenknochen waren unglaublich breit und wuchtig, ihre schwarzen Augen beinahe orientalisch.
Neben ihnen tauchte ein riesiger schwarzer Soldat auf. »Wenn Sie bitte mit mir kommen würden«, sagte er. »Der Colonel hält frischen Kaffee für Sie bereit. Gerade eben kam über Funk die Nachricht, dass der Rest Ihrer Gruppe unten angekommen ist. Sie werden ebenfalls bald hier eintreffen.«
An der Kette seiner Hundemarke war ein kleines stählernes Malteserkreuz befestigt, das offizielle Emblem der Tempelritter. Nach der Wiederbelebung durch die großzügige Unterstützung eines Sportschuhherstellers hatte sich der militärisch organisierte Orden durch die Rekrutierung ehemaliger Hochschulsportler mit geringen Zukunftsaussichten hervorgetan. Die Anwerbungen hatten bei Kundgebungen der Promise Keepers begonnen und sich nach raschen Erfolgen in einer gut ausgebildeten, straff disziplinierten Söldnerarmee niedergeschlagen, die von großen Handelsgesellschaften und Regierungen angefordert werden konnte.
Als sie an einer Gruppe Indios vorbeikam, bemerkte Ali, wie einer den Kopf hob. Es war Ike. Sein Blick ruhte kaum eine Sekunde auf ihr. Sie wollte ihm immer noch für die Orange im Fahrstuhl von Nazca danken, doch er widmete seine Aufmerksamkeit gleich wieder den Trägern. Ali sah, dass zwischen ihnen Linien und Bögen auf den Steinboden gemalt waren, und dass Ike Kieselsteine und Knochenstücke von einer Stelle zur anderen verschob. Erst dachte sie an ein Spiel, doch dann erkannte sie, dass er sich bei den Indios nach dem Weg erkundigte und andere Informationen einholte. Noch etwas anderes fiel ihr auf. Neben dem einen Fuß hatte Ike einen sorgfältig aufgestapelten Blätterhaufen liegen, eindeutig ein Kauf in letzter Minute. Sie kannte diese Blätter. Er war also ein Kokablattkauer.
Ali ging weiter bis zu dem Bereich, in dem sich die Soldaten niedergelassen hatten. Hier war alles in Bewegung: Männer in Tarnuniformen liefen geschäftig hin und her oder überprüften ihre Waffen. Es waren mindestens dreißig Mann, und sie waren noch verschwiegener als die Indios. Wahrscheinlich entsprach die Legende über das Schweigegelübde der Tempelritter doch der Wahrheit, dachte sie. Mit Ausnahme von Gebeten oder der allernotwendigsten Verständigung betrachteten sie jedes Wort untereinander als unnötige Ausschweifung.
Vom Kaffeeduft angelockt tappten die Wissenschaftler auf einen über mehreren Steinen aufgebauten Herd zu und bedienten sich.
Dann fingen sie an, in den penibel aufgestellten Kisten und Plastiktonnen herumzukramen und ihre Ausrüstung zu suchen.
»Dort haben Sie nichts zu suchen«, sagte der schwarze Soldat. »Bitte verlassen Sie das Depot.« Er wollte sich ihnen in den Weg stellen, doch sie ignorierten ihn einfach.
»Meine Damen und Herren«, bat eine Stimme um ihre Aufmerksamkeit. Ali hörte sie kaum durch das Stimmengewirr der Forscher und das Poltern der Ausrüstung. Niemand schenkte ihr Beachtung.
Ein Schuss zerriss die Luft. Die Kugel war aus dem Lager hinausgefeuert worden, schräg nach unten. Dort, wo sie in ungefähr zwanzig Metern Entfernung auf den Fels traf, flammte das Geschoss in einem Schauer splitterigen Lichts auf. Alle erstarrten.
»Was war das?«, fragte ein Wissenschaftler.
»Das«, klärte sie der Schütze auf, »war eine Remington Lucifer.«
Er war ein großer Mann, glatt rasiert und gertenschlank wie die Offiziere in Propagandafilmen. Er trug einen Brustriemen mit Schulterhalfter für seine relativ bescheiden aussehende Pistole. Aus seinen Stiefeln quoll eine schwarz-graue Tarnhose. Sein schwarzes T-Shirt sah sauber aus. Um den Hals baumelte ein Nachtfeldstecher. »Dabei handelt es sich um speziell für den Einsatz im Subplaneten entwickelte Munition, Kaliber 25, aus gehärtetem Plastik mit Uraniumspitze. Sie kann eine verheerende Wunde reißen, in einen Haufen pfeil scharfe Splitter zerplatzen oder aber den Gegner blenden. Diese Expedition ist zugleich das offizielle Debüt für die Lucifer und verschiedene andere technische Neuerungen.« Sein Akzent ließ auf alten Tennessee-Adel schließen.
Spurner eilte mit aufgeplustertem Backenbart und wild gestikulierend auf den Soldaten zu. Er hatte sich selbst zum Sprecher der Wissenschaftler ernannt. »Sie müssen Colonel Walker sein!«
Walker ignorierte Spurners ausgestreckte Hand. »Wir haben zwei Probleme, Leute. Erstens: Das Gepäck, das Sie gerade geplündert haben, wurde nach Gewicht und Tragfähigkeit verpackt. Der Inhalt ist sorgfältig inventarisiert worden. Ich habe eine Liste, auf der jedes Stück in jeder Kiste vermerkt ist. Jedes einzelne Gepäckstück ist nummeriert. Sie haben unseren Aufbruch soeben um eine halbe Stunde verzögert, in der alles wieder entsprechend verpackt werden muss. Problem Nummer zwei: Einer meiner Männer hat Ihnen eine Anweisung gegeben. Sie haben ihn einfach ignoriert.« Er blickte ihnen der Reihe nach in die Augen. »In Zukunft betrachten Sie diese Anweisungen bitte als strikte Befehle. Von mir.« Mit einem Knacken verschloss er sein Schulterhalfter.
»Geplündert?«, protestierte ein Wissenschaftler. »Das ist unsere Ausrüstung. Wir können uns doch nicht selbst ausplündern! Und wer hat hier eigentlich das Sagen?«
In diesem Augenblick traf Shoat ein, den Rucksack noch auf dem Rücken. »Wie ich sehe, haben Sie sich bereits miteinander bekannt gemacht«, sagte er und wandte sich an die Wissenschaftler.
»Wie Sie wissen, ist Colonel Walker unser Sicherheitschef. Von jetzt an ist er für unsere Verteidigung und für unsere Logistik verantwortlich.«
»Müssen wir ihn etwa um Erlaubnis für unsere Forschungen bitten?«, beklagte sich jemand.
»Wir befinden uns auf einer Expedition, nicht in Ihrem Büro zu Hause«, erwiderte Shoat. »Die Antwort ist: Ja. Von jetzt an müssen Sie Ihre Anliegen einem Vertreter des Colonel vortragen, der Ihnen dann den Weg zum entsprechenden Gepäckstück weist.«
»Wir sind eine Gruppe«, sagte Walker. Mit seiner Uniform, dem militärischen Putz und der schlanken, hoch gewachsenen Statur strahlte er Autorität aus. In einer Hand trug er eine ebenfalls in Tarnfarben eingeschlagene Bibel. »Die Gruppe hat allerhöchste Priorität. Melden Sie Ihre individuellen Bedürfnisse einfach rechtzeitig an, dann wird Ihnen mein Quartiermeister behilflich sein. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten, äußern Sie Ihre Wünsche jeweils am Ende des Tages. Nicht morgens, wenn wir zusammenpacken müssen, und auch nicht unterwegs, wenn wir vorankommen müssen.«
»Ich muss um Erlaubnis fragen, um an meine eigene Ausrüstung heranzukommen?«
»Sozusagen«, seufzte Shoat. »Colonel, möchten Sie bei dieser Gelegenheit noch etwas hinzufügen?«
Walker setzte sich gelassen auf einen Felsvorsprung. »Meine Aufgabe besteht darin, diesem Unternehmen Geleitschutz zu geben.« Er faltete ein mehrseitiges Papier auf. »Mein Vertrag mit Helios«, sagte er und überflog ihn scheinbar. »Er enthält einige ziemlich einzigartige Punkte.«
»Colonel«, raunte Shoat warnend. Walker ignorierte ihn.
»Hier zum Beispiel findet sich eine Liste von Bonuszahlungen, die ich für jeden von Ihnen erhalte, der diese Reise überlebt.«
Der Colonel konnte sich nun ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein. Shoat wagte nicht mehr, ihn zu unterbrechen.
»Das erinnert mich sehr an ein Prämiensystem«, fuhr Walker fort. »Diesem Vertrag zufolge bekomme ich soundso viel für jede Hand, jeden Fuß, jedes Gliedmaß, Ohr oder Auge, das ich intakt und gesund zurückbringe.« Er hatte die Stelle gefunden. »Wie heißt es hier ... Bei dreihundert Dollar pro Auge macht das sechshundert für das Paar. Aber sie bieten nur fünfhundert für unversehrte geistige Gesundheit.«
Ein Aufschrei wurde laut: »Das ist ungeheuerlich!«
Walker wedelte den Vertrag wie eine weiße Fahne hin und her.
»Sie sollten noch etwas anderes wissen«, dröhnte er. Sie beruhigten sich einigermaßen. »Ich habe mein Soll hier unten bereits abgeleistet, und jetzt wäre es, wenn Sie so wollen, an der Zeit, sich auf den Lorbeeren auszuruhen.
Vielleicht ein bisschen Politik machen. Einen Beratungsposten übernehmen. Zeit mit meiner Frau und meinen Kindern zu verbringen. Genau in diesem Moment sind Sie aufgetaucht.«
Sie wurden mucksmäuschenstill.
»Mein Ziel ist es«, sagte Walker, »an Ihnen unverschämt viel Geld zu verdienen. Ich habe vor, jeden einzelnen Penny dieser Bonusliste einzuheimsen. Jeden Augapfel, jede Zehe. Haben Sie sich schon jemals gefragt, wem Sie wirklich trauen können?« Walker faltete seinen Vertrag wieder zusammen. »Lassen Sie sich sagen, dass die einzige Sache, auf die Sie in dieser Welt bauen können, der Eigennutz ist. Jetzt wissen Sie jedenfalls, worauf meiner abzielt.«
Shoat hörte ihm gequält zu. Der Colonel hatte gerade eben die Eintracht der Expedition aufs Spiel gesetzt - und gewonnen. Aber warum nur, fragte sich Ali. Was führte Walker im Schilde?
Er schlug sich mit der Bibel gegen den Oberschenkel. »Wir stehen am Anfang einer großartigen Reise ins Unbekannte. Von nun an operiert diese Expedition nach meinen Vorgaben und unter dem Schutz meiner Gerichtsbarkeit. Der beste Schutz, den wir uns verschaffen können, sind einige allgemein verbindliche Regeln. Ein Gesetz. Und dieses Gesetz, Leute, ist mein Gesetz. Von heute an finden die Grundsätze der militärischen Rechtsprechung Anwendung. Als Gegenleistung werde ich Sie zu Ihren Familien zurückbringen.«
Shoat ließ seinen Hals wie eine Schildkröte ein kleines Stück ausfahren. Sein Glücksritter hatte sich soeben zur höchsten rechtlichen Instanz über die Helios-Expedition für das kommende Jahr ernannt. Ali hatte noch nie etwas derart Unverfrorenes erlebt. Sie wartete darauf, dass die Wissenschaftler sich mit lautem Protest Luft verschafften.
Aber alles blieb still. Nicht ein einziger Widerspruch. Dann begriff Ali. Der Söldner hatte ihnen gerade ihr Leben versprochen.
Wie bei jeder Expedition gewöhnten sich die Teilnehmer nach und nach aneinander. Eine gewisse Routine stellte sich ein.
Um acht Uhr morgens wurde das Lager abgebaut. Walker las seiner Truppe eine Predigt vor, meistens etwas Markiges aus der Offenbarung, aus Hiob, oder am allerliebsten aus Paulus’ Korintherbrief: »Die Nacht ist weit vorangeschritten, der Tag naht: Wohlan, lasset uns der Dunkelheit Werk abstreifen und die Rüstung des Lichts anlegen«. Dann schickte er ein halbes Dutzend Söldner als Spähtrupp voraus. Die Nachhut wurde von den Trägern gebildet, die wiederum vom Rest der schweigsamen Soldaten Rückendeckung erhielten - oder, wie sich bald herausstellte, angetrieben wurden. Die Arbeitsaufteilung war klar, die Grenzen unüberbrückbar.
Die Träger sprachen Quechua, die ehemalige Sprache der Inkas. Keiner der Amerikaner verstand sie, und alle ihre Versuche, auf Spanisch mit ihnen Kontakt aufzunehmen, wurden zurückgewiesen. Auch Ali versuchte es einmal, doch die Indios waren nicht interessiert. Nachts patrouillierten die Söldner in drei Schichten um das Lager, das sie weniger vor den Hadal, sondern vor der Flucht der Träger schützten.
In jenen ersten Wochen sahen sie ihren Kundschafter so gut wie nie. Ike war im Dunkel des Tunnellabyrinths verschwunden und hielt sich stets ein oder zwei Tagesmärsche vor ihnen auf. Seine Abwesenheit rief bei den Wissenschaftlern eine merkwürdige Sehnsucht nach ihm hervor. Immer wenn sie sich nach seinem Verbleib erkundigten, reagierte Walker ausweichend. Der Mann weiß, was er tut, lautete seine Standardantwort.
Ursprünglich hatte Ali geglaubt, der Kundschafter gehörte zu Walkers paramilitärischer Truppe, musste sich jedoch eines Besseren belehren lassen. Andererseits handelte er nicht nach eigenen Entscheidungen. Shoat hatte ihn anscheinend von der U.S. Army losgekauft. Also war er eigentlich so etwas wie bewegliches Eigentum, nicht viel anders als bei seinem Aufenthalt bei den Hadal. Ein Großteil seines Geheimnisses bestand darin, wie Ali vermutete, dass die Leute ihre Phantasien auf ihn übertragen konnten. Sie drängte ihr eigenes Verlangen zurück, ihn über die Ethnographie der Hadal zu interviewen und womöglich ein grundsätzliches Wörterbuch anzulegen. Auch die Orange wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen.
Inzwischen tat Ike das, was Walker mit »seiner Pflicht« bezeichnete. Er fand den richtigen Weg für sie. Er führte sie in die Dunkelheit. Jeder von ihnen kannte seine Markierungen, ein knapp einen halben Meter großes Kreuz, mit hellblauer Farbe an die Wand gesprüht.
Shoat klärte sie darüber auf, dass sich die Farbe nach etwa einer Woche wieder abbaute, auch das ein Bestandteil seiner Geschäftsgeheimnisse. Helios war fest entschlossen, sämtliche Spuren vor möglichen Mitbewerbern zu verwischen. Wie einer der Wissenschaftler bemerkte, verwischten sie auf diese Weise auch für sich selbst sämtliche Spuren. Es war unmöglich, den eigenen Weg zurückzuverfolgen.
Shoat versuchte sie zu beruhigen, indem er ein paar kleine Kapseln hochhielt, die er als Mini-Radiosender bezeichnete und in regelmäßigen Abständen zurückließ. Sie würden so lange untätig bleiben, bis er sie mit seiner Fernbedienung zum Leben erweckte. Shoat verglich sie mit Hansel und Gretels Brotkrumen, bis ihn jemand darauf hinwies, dass diese Krumen von den Vögeln aufgefressen worden waren.
»Warum immer so negativ«, fauchte er.
Das gesamte Team bewegte sich im Zwölf-StundenTurnus, machte dann Pause und zog wieder los. Die Männer ließen sich Bärte stehen, und bei den Frauen wuchsen die Haaransätze heraus, Eyeliner und Lippenstift wurden vom täglichen Programm gestrichen. Dr. Scholl’s Wundpflaster für Füße entwickelte sich zur beliebtesten Währung, wertvoller noch als M&M-Tütchen.
In den ersten paar Tagen waren die Gelenke und Muskeln der untrainierten Teilnehmer überstrapaziert. Selbst die abgehärteten Sportler unter ihnen stöhnten im Schlaf und litten unter Beinkrämpfen. Ein kleiner Kult bildete sich um Ibuprofen, eine entzündungshemmende Schmerztablette. Doch jeden Tag wurden ihre Rucksäcke ein bisschen leichter, nachdem sie ihren Proviant verzehrt und Bücher, die ihnen nicht mehr notwendig erschienen, weggeworfen hatten.
Eines Morgens wachte Ali mit dem Kopf auf einem Stein auf und fühlte sich gut erholt. Ihre Bräune, ein Abschiedsgeschenk aus der Oberwelt, war dahin. Ihre Füße waren wie gehärtet, und sie gewöhnte sich immer mehr daran, auch bei Viertelbeleuchtung oder noch weniger etwas zu sehen. Am Abend genoss es Ali, in ihrem eigenen Schweißgeruch zu liegen.
Die Chemiker von Helios hatten ihre Proteinriegel mit Extraportionen Vitamin D versehen, als Ausgleich für das fehlende Sonnenlicht. Außerdem strotzten die Riegel von weiteren Zusätzen, von denen Ali noch nie etwas gehört hatte. Unter anderem verbesserte sich ihr Nachtsichtvermögen beinahe stündlich. Sie fühlte sich kräftiger.
Jemand fragte sich laut, ob die Nahrungsriegel etwa auch Steroide enthielten, womit er eine närrische Gruppe wissenschaftlicher Angeber dazu brachte, einander ihre imaginären neuen Muskeln vorzuführen.
Ali mochte die Wissenschaftler. Sie verstand sie auf eine Weise, die Shoat und Walker immer fremd bleiben würde. Sie waren hier, weil sie einem inneren Ruf gefolgt waren. Sie sahen sich aus Gründen dazu gezwungen, die außerhalb ihrer selbst lagen: Wissensdurst, Selbstbeschränkung, Einfachheit. In einem gewissen Sinne taten sie es für ihren persönlichen Gott.
Natürlich dauerte es nicht lange, bis jemand einen Spitznamen für ihre Expedition in Umlauf brachte. Es stellte sich heraus, dass dieser Haufen sich am ehesten in Jules Vernes Romanen wieder fand, und so kam es, dass sie sich »Jules Verne Society« nannten, was bald darauf zu J.V. verkürzt wurde. Vor allem gefiel der J.V., dass Verne für seine Reise zum Mittelpunkt der Erde keine verwegenen Krieger oder Dichter zu seinen Helden erkoren hatte, sondern eben zwei Naturwissenschaftler. Und Vernes kleine Reisegruppe war am Ende auf wundersame Weise unversehrt wieder aus der Erde herausgekommen.
Die Tunnel waren geräumig. Jemand hatte, offensichtlich schon vor sehr langer Zeit, lockere Steine weggeräumt und hervorstehende Simse so bearbeitet, dass entlang des Wegs Mauern und Sitzbänke zur Verfügung standen. Einer stellte die Hypothese auf, dass diese Arbeit vor vielen Jahrhunderten von Sklaven aus den Anden verrichtet worden sei, denn die Fugen und der wuchtige Gesamteindruck der Gebilde waren mit den Maurerarbeiten von Macchu Picchu und Cuzco identisch. Jedenfalls wussten ihre Träger genau, wozu diese Sitze dienten, wenn sie schräg nach hinten gelehnt ihre schwere Last beim Ausruhen auf den alten Vorsprüngen abstützten.
Eines Nachts kampierten sie neben einem fast durchsichtigen Wald aus Quarz. Ali hörte kleine Unterweltgeschöpfe rascheln und das Geräusch von tropfendem Wasser in tiefer gelegenen Ritzen und Spalten. Es war der erste direkte Kontakt mit einheimischen Tieren, die sich allerdings vor den Lichtern der Expedition verborgen hielten. Einer der Biologen stellte jedoch ein Aufnahmegerät auf und spielte ihnen am Morgen die Rhythmen von zwei- oder dreikammrigen Herzen vor: unterirdische Fische, Amphibien und Reptilien.
Die nächtlichen Geräusche machten bald einige nervös, riefen Schreckgespenster wie raubtierhafte Hadal oder auch hochgiftige Insekten oder Schlangen hervor. Auf Ali wirkte die Nähe von Leben wie Balsam. Schließlich hatte sie die Suche nach Leben hierhergeführt, die Suche nach hadalischem Leben.
Im Großen und Ganzen waren die Arbeitsgebiete der Wissenschaftler so unterschiedlich, dass die Gefahr wissenschaftlicher Eifersüchteleien nicht erst aufkam. Das wiederum bedeutete, dass sie einander mehr halfen als sich befehdeten. Sie lauschten den Hypothesen des anderen mit himmlischer Geduld. Am Abend führten sie kleine Parodien und Satiren auf. Ein Mundharmonikaspieler gab John Mayall zum Besten. Die Geologen fanden sich zu einem Chor, den »Tectonics« zusammen. Die Hölle stellte sich als der reinste Spaß heraus.
Alis Schätzung nach legten sie pro Tag zu Fuß rund dreizehn Kilometer zurück. Bei Kilometer 100 hielten sie eine kleine Feier ab. Ali tanzte Twist und Two-Stepp. Ein Paläobiologe überredete sie zu einem komplizierten Tango, und die ganze Party erinnerte an ein trunkenes Vollmondfest.
Ali war den anderen ein Rätsel. Sie war Gelehrte, und dann war da noch diese andere Sache, die Nonne. Sie tratschte nicht und nahm auch nicht an den Plauder stunden teil, die die Mädels abhielten, wenn es mal nicht so gut lief. Die anderen wussten nichts über ihre Vergangenheit, vermuteten jedoch, dass es zumindest ein paar Lover gegeben haben musste. Sie erklärten ihre Absicht, mehr über sie herauszufinden. Ihr stellt mich ja hin wie eine Gesellschaftskrankheit, lachte Ali. Nur keine Angst, sagten sie, dich kriegen wir schon wieder hin.
Hemmungen verflüchtigten sich. Die Kleidungsordnung wurde lockerer gehandhabt. Hochzeitsringe verschwanden. Liebesaffären entfalteten sich vor aller Augen, manchmal sogar auch der Sex. Man unternahm ein paar Versuche, eine gewisse Privatsphäre zu wahren. Erwachsene Menschen tauschten heimlich Zettel aus, hielten insgeheim Händchen oder gaben vor, wichtige Dinge zu diskutieren. Spät in der Nacht hörte Ali sie dann wie Kinder der Liebe zwischen den Steinen und aufgetürmten Rucksäcken stöhnen.
In der zweiten Woche trafen sie auf Höhlenkunst, die aus den frühsteinzeitlichen Fundstätten von Altamira hätten stammen können. Wunderbar ausgeformte Tiere, dazu geometrische Formen und Schnörkel, einige nicht viel größer als Briefmarken, bedeckten die Wände. Und sie leuchteten in den schönsten Farben. In Farbe! In einer Welt der ewigen Dunkelheit!
Es gab Grillen, Orchideen und Reptilien zu sehen, aber auch albtraumhafte Gestalten, die Hieronymus Bosch gezeichnet haben könnte, Untiere, halb Fisch halb Salamander, teils Vogel, teils Mensch, teils Ziege. Einige der Abbildungen machten von natürlichen Erhebungen im Gestein Gebrauch, um Augenstiele und Geschlechtsdrüsen zu betonen, nutzten Absplitterungen für Bauchhöhlen, mineralische Adern für Hörner oder Antennen.
»Schaltet mal die Lampen aus«, bat Ali ihre Gefährten. »So würde es im flackernden Fackellicht aussehen.«
Sie wischte mit der Hand durch den Strahl ihrer Stirnlampe, und die Tiere schienen sich im zuckenden Licht zu bewegen.
»Einige dieser Spezies sind schon seit zehntausend Jahren ausgestorben«, sagte ein Paläobiologe. »Einige haben niemals existiert.«
»Wer, glaubt ihr, waren diese Künstler?«, fragte jemand.
»Jedenfalls keine Hadal«, antwortete Gitner, dessen Spezialgebiet Petrologie war, die Geschichte und Klassifizierung von Steinen. Seit er vor einigen Jahren einen Bruder bei der Nationalgarde verloren hatte, hasste er die Hadal. »Die sind nichts als Ungeziefer, das sich in der Erde verkrochen hat. Es liegt in ihrer Natur, wie bei Schlangen oder Insekten.«
Eine der Vulkanexpertinnen meldete sich zu Wort. Mit dem geschorenen Kopf und ihren langen Beinen war Molly eine Gestalt, die sowohl die Träger als auch die Soldaten mit heiliger Ehrfurcht betrachteten. »Vielleicht gibt es aber auch eine andere Erklärung dafür«, sagte sie. »Seht euch das an.«
Sie versammelten sich unter einem breiten Abschnitt der Decke, den sie sich genauer angeschaut hatte.
»Na schön«, sagte Gitner, »ein Haufen Strichmännchen. Na und?«
Auf den ersten Blick schien es wirklich nicht mehr herzugeben. Drohend gereckte Speere und Bogen, Krieger, die einander todesmutig bekämpften. Einige von ihnen hatten Rüssel und Köpfe aus doppelten Dreiecken. Andere bestanden nur aus Strichen. In eine Ecke gedrängt standen mehrere Dutzend mit riesigen Brüsten und ausladenden Hinterteilen ausgestattete Venusfiguren.
»Die hier sehen wie Gefangene aus.« Molly zeigte auf eine Gruppe zusammengeschnürter Strichmännchen.
Ali zeigte auf eine Figur, die ihre Hand auf die Brust einer anderen legte. »Soll das ein Schamane sein, der Leute heilt?«
»Menschenopfer«, murmelte Molly. »Betrachte mal seine andere Hand.« Die Figur hielt etwas Rotes in der ausgestreckten Hand. Ihre andere Hand lag nicht auf der Brust der anderen Gestalt, sondern versank darin. Sie stellte ein Herz zur Schau.
Am Abend übertrug Ali einige ihrer Skizzen der Höhlenkunst auf ihre tägliche Karte. Eigentlich hatte sie die Karten als privates Tagebuch anlegen wollen, doch kaum waren die anderen darauf aufmerksam geworden, wurden sie zum Eigentum der Expedition erklärt, eine Art fester Bezugspunkt für alle.
Bei der Arbeit auf Ausgrabungsstellen in der Nähe von Haifa und in Island hatte Ali die Kartenführung gelernt. Sie hatte sich selbst beigebracht, mit Gitternetzen, Konturen und Maßstäben umzugehen und ging nirgendwo ohne die Ledertrommel mit ihren Papierrollen hin. Bei Bedarf konnte sie auch einen Winkelmesser führen und ohne Vorgabe eine Legende auf das Blatt werfen. Dabei handelte es sich in diesem Falle weniger um Karten als um eine Zeittafel mit Ortsangaben, eine Chronographie. Hier unten, jenseits der Reichweite von GPS-Satelliten, waren Längengrade, Breitengrade und Richtungsangaben außer Kraft gesetzt. Wegen der elektromagnetischen Störungen waren ihre Kompasse nutzlos. Also machte sie die Tage des Monats zu ihrem eigentlichen Kompass. Sie betraten Gebiete, denen Menschen keinen Namen gegeben hatten, kamen an Orten vorüber, von deren Existenz niemand wusste. Während sie immer weiter gingen, fing sie an, das Unbeschreibliche zu beschreiben, das Unbenannte zu benennen.
Tagsüber machte sie sich Notizen. Am Abend, wenn das Lager aufgebaut wurde, öffnete Ali die Ledertrommel, holte ihr Papier heraus und breitete ihre Stifte und Wasserfarben aus. Sie legte zwei Arten von Karten an: eine Überblickskarte, sozusagen eine Blaupause der Hölle, die der von Helios erstellten Computerprojektion ihrer Reiseroute entsprach. Sie war mit Angaben über die entsprechenden Höhenmaße und die ungefähre Lage unterhalb bestimmter Landschaftsformationen auf der Erdoberfläche oder dem Meeresboden versehen.
Ihr ganzer Stolz waren jedoch ihre Tageskarten, auf denen die Besonderheiten eines jeden Tages festgehalten waren. Eines Tages würden auch die Fotos von der Expedition entwickelt werden, doch bis dahin bildeten ihre kleinen Aquarelle, Strichzeichnungen und festgehaltenen Randbemerkungen das Gedächtnis der Gruppe. Sie zeichnete und malte alles, was ihr auffiel, wie etwa die Höhlenmalerei oder die versteinerten, von kirschroten Mineralien geäderten Seerosenblätter aus grünem Kalkspat, die auf stillen Teichen trieben. Manchmal versuchte sie sich vorzustellen, sie reisten durch das Innere eines lebenden Organismus, durch die Gelenke und Blutbahnen der Erde, mit einer Leber aus weichem Travertin oder Fließstein und den Synapsen ähnelnden Hehctiten, die sich auf der Suche nach einer Verbindung nach oben fädelten. Sie empfand es als wunderschön. Ganz bestimmt hatte sich Gott einen Ort wie diesen nicht ausgedacht, um ihn als spirituellen GULAG zu missbrauchen.
Sogar die Söldner und Träger warfen gerne einen Blick auf Alis Karten. Sie erfreuten sich daran, wenn sie ihre Reise unter ihren Stiften und Pinseln zum Leben erweckt sahen. Ihre Karten spendeten ihnen Trost. Sie sahen sich selbst im Detail. Das Betrachten der Bilder vermittelte ihnen das Gefühl einer gewissen Kontrolle über diese unerforschte Welt.
Am 22. Juni vermerkte ihre Tageskarte eine große Aufregung.
»9.55 Uhr, 4506 Faden«, stand dort. »Funksignale.«
Sie hatten das Lager an jenem Morgen noch nicht ganz abgebrochen, als Walkers Funkspezialist die Signale auffing. Die gesamte Expedition hatte gewartet, bis weitere Sensoren ausgelegt waren und die Langwellenübertragung endlich hereingeholt werden konnte. Es dauerte volle vier Stunden, um die ganze Nachricht zu empfangen, die, wenn man sie mit normaler Geschwindigkeit abspielte, kaum 45 Sekunden dauerte. Alle lauschten gebannt. Zu ihrer großen Enttäuschung war die Nachricht nicht an sie gerichtet.
Eine der Frauen sprach fließend Mandarin. Es handelte sich um das Notsignal eines rotchinesischen U-Boots. »Das Verrückte dabei ist«, sagte sie, »dass dieser Ruf vor neun Jahren ausgestrahlt wurde.«
Es wurde noch verrückter.
»25. Juni«, vermerkte Ali. »18.40 Uhr, 4618 Faden. Weitere Signale.«
Was sie diesmal nach der langen Warterei auffingen, in der sich die Wellen durch die Basalt- und Mineralienzonen filterten, war eine Nachricht, die sie selbst abgeschickt hatten, eine Nachricht, die in ihrem speziellen Expeditionscode digital verschlüsselt war. Nachdem sie sie übersetzt hatten, sprach die Nachricht von Hungertod und Verzweiflung. Das Schaurige daran war, dass diese Botschaft digital auf fünf Monate in der Zukunft datiert war.
Gitner trat vor und identifizierte die Stimme auf dem Band als seine eigene. Er war ein bodenständiger Kerl und verlangte empört eine Erklärung. Ein SciencefictionKenner zog in Betracht, durch die geomagnetischen Schwankungen habe sich womöglich eine Zeitschleife gebildet und meinte, die Nachricht sei so etwas wie eine Prophezeiung. Gitner wies ihn unwirsch zurecht. Aber wie auch immer sie entstanden sein mochte, man war sich darüber einig, dass der Vorfall eine erstklassige Gruselgeschichte abgab.
Am 29. Juni trafen sie auf einen versteinerten Krieger. Es handelte sich um einen Menschen, ungefähr aus dem siebzehnten Jahrhundert. Sein Körper hatte sich in Kalkstein verwandelt, die Rüstung war noch intakt. Sie nahmen an, dass er von Peru her gekommen war, ein Cortez oder Don Quichotte, der diese ewige Nacht im Namen der Kirche und auf der Suche nach Ruhm oder Gold durchstreift hatte. Diejenigen mit Camcordern und Fotokameras dokumentierten den verlorenen Krieger. Einer der Geologen versuchte, ein Stück von der steinernen Ummantelung, die den Körper umgab, loszuklopfen und brach im Endeffekt ein ganzes Bein ab.
Der unabsichtliche Vandalismus des Geologen wurde schon bald durch die bloße Anwesenheit der gesamten Gruppe übertroffen. Innerhalb von drei Stunden erzeugten die biochemischen Prozesse der Atmung aus so vielen Mündern ein weintraubengrünes Moos. Es war, als würde man zusehen, wie sich ein Feuer ausbreitete. Die von der Atemluft ihrer Lungen hervorgerufene Vegetation kolonisierte in atemberaubender Schnelle die Wände und überzog den Konquistador. Das Gewölbe wurde praktisch davon aufgefressen. Sie flohen entsetzt, als flüchteten sie vor sich selbst.
Ali fragte sich, ob Ike, als er an diesem verlorenen Ritter vorübergegangen war, sich in ihm erkannt hatte.
Allein die Natur hat weislich
die Augen der Liliputaner
auf alle Gegenstände
in ihrem Gesichtsfeld eingerichtet ...
JONATHAN SWIFT Gullivers Reisen