FORT RILEY, KANSAS 1999
Auf diesen endlosen, vom Sommer versengten und vom Dezemberwind geknechteten Ebenen hatten sie einst aus Elias Branch einen Krieger gemacht. Hierher war er zurückgekehrt, tot und doch nicht tot, ein lebendes Rätsel. Vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen, verwandelte sich der Mann auf Station G in eine Legende.
Eine Jahreszeit ging in die andere über. Weihnachten nahte. Zwei Zentner schwere Rangers tranken im Offizierskasino auf die überirdische Zähigkeit des Majors. Nach und nach sickerte seine merkwürdige Geschichte nach draußen: Kannibalen mit Brüsten. Selbstverständlich glaubte niemand daran.
Eines Nachts stieg Branch um Mitternacht einfach aus dem Bett. Es gab keine Spiegel. Am nächsten Morgen konnten sie aus seinen blutigen Fußabdrücken schließen, dass er hinausgeschaut hatte, sie wussten, was er durch die Lamellen vor seinem Fenster gesehen hatte: jungfräulichen Schnee.
Pappelwälder leuchteten in sattem Grün. Sommerferien. Zehnjährige Kinder von Armeeangehörigen rannten zum Angeln oder Schwimmen am Hospital vorbei und zeigten auf den Zaun, der Station G umgab. Dort spielte sich eine Horrorgeschichte mit umgekehrten Vorzeichen ab: Das medizinische Personal versuchte nämlich, die Entwicklung eines Monsters rückgängig zu machen.
An Branchs Verunstaltungen konnte man nichts ändern. Die künstliche Haut hatte ihm zwar das Leben, nicht aber sein gutes Aussehen gerettet. Das Gewebe war dermaßen zerstört gewesen, dass nach dem Heilungsprozess nicht einmal er selbst die Schrapnellwunden zwischen all den Brandnarben entdecken konnte. Sogar sein eigener Körper hatte Probleme, die Regeneration zu verstehen. Die Knochen heilten so rasch, dass die Ärzte keine Chance hatten, sie korrekt auszurichten. Narbengewebe bildete sich mit derartiger Geschwindigkeit auf seinen Verbrennungen, dass man Nähte und Schläuche durch frische Haut bohren musste. Einzelne Bruchstücke aus Raketenmetall verschmolzen mit seinen Organen und seinem Skelett. Sein Körper bestand fast nur aus Narben und Wundgewebe.
Branchs Überlebenswille und seine Metamorphose brachten die Mediziner völlig durcheinander. Sie redeten offen vor ihm über seine Verwandlungen, als wäre er ein außer Kontrolle geratenes Laborexperiment. Seine Zellenüberproduktion ähnelte in manchen Aspekten Krebs, nur erklärte das in keiner Weise die Verdickung seiner Gelenke, die neue Muskelmasse, den Marmoreffekt in der Pigmentierung seiner Haut, die kleinen, mit Kalzium angereicherten Wülste um seine Fingernägel. Kalziumwucherungen überzogen auch seinen Schädel. Sein Schlafrhythmus war völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Sein Herz war vergrößert und er verfügte über doppelt so viele rote Blutkörperchen als normal.
Sonnenlicht und sogar Mondschein bereiteten ihm körperliche Qualen. In seinen Augen hatte sich Tapetum gebildet, eine reflektierende Schicht, die geringste Lichtquellen verstärkte. Bisher war der Wissenschaft nur ein höher entwickelter Primat bekannt gewesen, der als Nachttier durchging, nämlich der Aotus oder Nachtaffe. Branchs Nachtsehvermögen übertraf das des Aotus um ein Dreifaches. Das Verhältnis Kraft zu Körpergewicht schnellte bei ihm auf das Doppelte eines normalen Menschen herauf. Er war doppelt so belastbar wie halb so alte Rekruten und verfügte über die unglaublichen sensorischen Fähigkeiten sowie den Sauerstoffverbrauch eines Schimpansen. Irgendetwas hatte ihn in den Supersoldaten verwandelt, nach dem sie so lange gesucht hatten.
Die Weißkittel versuchten alles auf eine Kombination aus Steroiden, gepanschten Drogen und Geburtsfehlern zu schieben. Jemand stellte die Theorie auf, seine Mutationen könnten eine Spätwirkung von in vorangegangenen Einsätzen eingefangenen Nervengasen sein. Einer beschuldigte ihn sogar der Autosuggestion. In gewissem Sinne war er, da er der Zeuge unseliger Ereignisse geworden war, selbst zum Feind geworden. Seine Unerklärbarkeit machte ihn zu einer inneren Bedrohung. Er widersprach nicht nur ihrem Bedürfnis nach orthodoxem Denken. Seit jener Nacht in den bosnischen Wäldern war Branch ihr persönliches Chaos geworden.
Psychiater nahmen sich seiner an. Sie spotteten über seine Geschichte von Grauen erregenden Furien mit Frauenbrüsten, die sich zwischen den toten Bosniern erhoben hatten, und erläuterten geduldig, er habe durch den Raketenbeschuss eine extreme Traumatisierung durchlitten. Einer bezeichnete seine Geschichte als phantastische Vermengung nuklearer Kindheitsalbträume mit Sciencefictionfilmen und dem Morden, dessen Zeuge er geworden oder an dem er selbst teilgenommen hatte, eine Art großamerikanischer feuchter Traum. Ein anderer verwies auf ähnliche Erzählungen von »wilden Menschen« in den Waldlegenden aus dem mittelalterlichen Europa und vermutete, Branch plagiiere altbekannte Mythen.
Schließlich begriff er, dass sie nichts anderes wollten, als dass er widerriefe. Branch tat ihnen freudig diesen Gefallen. Jawohl, sagte er, das war alles nur Einbildung. Eine geistige Verwirrung. Zulu Vier hat sich nie ereignet. Aber sie nahmen ihm seinen Widerruf nicht ab.
Nicht alle widmeten sich seinen Hirngespinsten mit solcher Hingabe. Ein aufsässiger Arzt namens Watts bestand darauf, dass die Heilung absoluten Vorrang habe. Gegen den Wunsch der Forscher versuchte er, Branchs Kreislauf mit Sauerstoff zu fluten und bestrahlte ihn mit ultraviolettem Licht. Schließlich beruhigte sich Branchs Metamorphose. Die Kalziumauswüchse auf seinem Kopf bildeten sich zurück. Seine Wahrnehmung näherte sich wieder normalen Werten an. Er konnte wieder bei Sonnenschein sehen. Trotz allem war Branch nach wie vor missgestaltet. Hinsichtlich seiner Verbrennungsnarben und seiner Albträume konnten sie nicht viel tun. Aber es ging ihm besser.
Eines Morgens, elf Monate nach seiner Ankunft, wurde Branch, dem es in grellem Tageslicht und an der frischen Luft nicht besonders gut ging, mitgeteilt, er könne seine Sachen packen und gehen. Man hätte ihn wohl einfach entlassen, doch die Army hatte etwas gegen Freaks mit Kriegsmedaillen, die auf Amerikas Straßen herumlungerten. Also schickte man ihn kurzerhand nach Bosnien zurück. Da wusste man wenigstens, wo man ihn bei Bedarf finden würde.
Bosnien hatte sich verändert. Branchs Einheit war längst weitergezogen. Camp Molly war eine schwache Erinnerung auf einer Hügelkuppe. Unten im Basislager Eagle unweit von Tusla wusste man nicht, was man mit einem Hubschrauberpiloten anfangen sollte, der nicht mehr fliegen konnte, und so teilte man Branch ein paar Fußsoldaten zu, verbunden mit der Aufforderung, sich irgendwie nützlich zu machen. Selbstverwirklichung in Tarnkleidung: Es gab schlimmere Schicksale. Mit dem Persilschein eines Verbannten machte er sich mit seinem Zug sorgloser Schützen auf nach Zulu Vier.
Es waren allesamt Kids, die erst vor kurzem das Saufen und Gammeln, das Herumhängen in Gangs oder die Internet-Surferei aufgegeben hatten. Keiner von ihnen hatte echte Fronterfahrung. Als sich herumsprach, dass Branch vorhatte, bewaffnet unter die Erde zu gehen, prügelten sich diese acht Jungs förmlich darum dabei zu sein. Endlich Action.
Zulu Vier war so weit zur Normalität zurückgekehrt, wie man das vom Schauplatz eines Massakers behaupten kann. Das Gas hatte sich verzogen. Das Massengrab war platt gewalzt worden. Die Stelle war von einer Betontafel mit einem islamischen Halbmond und einem Stern gekennzeichnet. Man musste sehr genau suchen, um noch Bruchstücke von Branchs fliegendem Schlachtschiff zu finden.
Die Hänge und Täler der Umgebung waren von Kohlebergwerken förmlich perforiert. Branch suchte sich irgendeinen Schacht aus, und die Jungs folgten ihm hinein. In späteren Geschichtsbüchern wurde ihre spontane Erforschung als erste Sondierung durch nationale Militäreinheiten berühmt. Sie markierte den Beginn dessen, was schon bald nur noch »der Abstieg« genannt wurde.
Sie gingen so vorbereitet an ihre Aufgabe heran, wie es in jenen frühen Tagen eben üblich war: mit HandTaschenlampen und einer einzigen Seilrolle. Einem Pfad der Bergarbeiter folgend, gingen sie - sämtliche Sicherheitsvorkehrungen ignorierend - aufrecht durch enge, mit Holzpfeilern und Deckenstützen ausgekleideten Tunnels. Nach drei Stunden kamen sie an einen Riss in der Wand. Da überall Steinschutt auf dem Boden verstreut lag, sah es ganz so aus, als habe sich jemand aus dem Stein herausgegraben.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, führte sie Branch in diesen Nebentunnel. Entgegen aller Erwartungen verzweigte er sich zu einem immer weiter und tiefer reichenden Netzwerk. Diese Gänge hatte kein Bergarbeiter gegraben. Die Passage war kaum ausgebaut, aber uralt, ein natürlicher Spalt, der unablässig nach unten verlief. Weiter unten war der Weg hier und da ein wenig ausgebessert worden: Enge Durchgänge waren breiter gekratzt, instabile Decken mit übereinandergestapelten Felsbrocken gestützt worden. Einigen Steinarbeiten haftete so etwas wie eine römische Qualität an, einige der Bögen verfügten über grobe Schlusssteine. An anderen Stellen hatte tropfendes, mineralisches Wasser Kalksteinstangen geschaffen, die von der Decke bis auf den Boden reichten.
Wieder eine Stunde weiter fanden die GIs an einer Stelle Knochen. Jemand hatte Leichenteile bis hierher hereingeschleppt. Überall auf dem Weg lagen billiger Schmuck und noch billigere osteuropäische Armbanduhren verstreut. Die Grabräuber waren sehr nachlässig und in großer Eile gewesen. Die verstreuten makabren Überreste erinnerten Branch an die aufgerissene Halloween-Tüte eines Kindes.
Sie drangen immer weiter vor, leuchteten in Seitengänge und murrten über möglicherweise drohende Gefahren. Branch sagte, sie könnten jederzeit zurückgehen, aber sie blieben bei ihm. In tiefer gelegenen Tunneln fanden sie noch tiefere Tunnel. Am Ende dieser Tunnel entdeckten sie wieder weitere Tunnel.
Als sie endlich von einem weiteren Abstieg absahen, hatten sie keine Ahnung, wie weit sie bereits in die Tiefe vorgedrungen waren. Sie kamen sich vor wie im Bauch des Wals.
Die Geschichte menschlicher Expeditionen in die Unterwelt, die Überlieferungen vorsichtiger Forschungsunternehmungen waren ihnen nicht bekannt. Sie waren nicht aus Begeisterung für Höhlenwanderungen in diesen bosnischen Höllenschlund hinabgestiegen. Es handelte sich um ganz normale Männer in ziemlich normalen Zeiten, von denen keiner darauf versessen war, den höchsten Berg zu bezwingen oder den Ozean im Alleingang zu überqueren. Keiner von ihnen sah sich als neuer Columbus oder Balboa oder Magellan oder Cook oder Galilei, keiner hatte es darauf abgesehen, neue Kontinente, neue Handelswege oder neue Planeten zu entdecken. Sie wollten nicht einmal dorthin, wo sie eigentlich landeten. Und doch waren sie es, die dieses Tor zum Hades, das Höllentor aufstießen.
Nach zwei Tagen in dem eigenartigen, gewundenen Korridor, war Branchs Trupp an den Grenzen seiner Möglichkeiten angekommen. Die Männer bekamen es mit der Angst zu tun. Denn dort, wo sich die Tunnel zum aberhundertsten Male verzweigten und immer weiter in die Tiefe wanden, trafen sie auf eine Spur. Einen Fußabdruck, der nicht unbedingt menschlich zu nennen war. Jemand machte eine Polaroidaufnahme, und dann sahen sie zu, dass sie schleunigst wieder an die Oberfläche kamen.
Der Abdruck auf dem Polaroidfoto des GI löste eine Paranoia von dem Kaliber aus, wie sie sonst nur nuklearen Unfällen und anderen militärischen Ausrutschern vorbehalten war. Er wurde zur Geheimsache erklärt. Der Nationale Sicherheitsrat trat zusammen. Am folgenden Morgen trafen die Kommandeure der NATO in Brüssel zusammen. Unter allerhöchster Geheimhaltung kamen die Streitkräfte von zehn Staaten überein, auch den Rest von Branchs Albtraum zu erforschen.
Branch stand vor dem versammelten General stab. »Ich weiß nicht, was das für Wesen waren«, sagte er bei einer erneuten Beschreibung seiner Absturznacht damals in Bosnien. »Aber sie ernährten sich von den Toten, und sie waren nicht wie wir.«
Die Generäle ließen das Foto mit der Tierfährte herumgehen. Es zeigte einen bloßen Fuß, breit und flach, und mit einer seitlich wie ein Daumen abstehenden großen Zehe.
»Wachsen Ihnen da Hörner am Kopf, Major?«, fragte einer von ihnen.
»Die Ärzte nennen sie Osteophyten«, antwortete Branch und betastete seinen Schädel. Er hätte gut und gerne das Ergebnis einer Artenmischung sein können, eines Unfalls zwischen zwei Spezies.
»Sie fingen bei unserem Abstieg wieder an zu wachsen.«
Die Generäle kamen letztendlich zu dem Schluss, dass es mit diesem Kohlenschacht irgendwo auf dem Balkan mehr auf sich hatte. Branch kam sich plötzlich nicht mehr wie angeschlagenes Stückgut vor, sondern wie ein Prophet wider Willen. Wie durch ein Wunder wurde er wieder in sein altes Kommando eingesetzt und durfte nach eigenem Ermessen schalten und walten. Aus seinen acht Soldaten wurden achthundert. Schon bald schlossen sich ihnen andere Armeen an. Aus den achthundert Mann wurden achttausend und bald darauf noch mehr.
Ausgehend von den Kohlebergwerken nahe Zulu Vier, drangen die Aufklärungspatrouillen der NATO immer tiefer und weiter in das Tunnelsystem vor und trugen nach und nach das Bild eines gigantischen Netzwerks Tausende von Metern unterhalb Europas zusammen, wobei jeder Pfad des Systems mit den anderen in Verbindung stand. Man konnte in Italien hinabsteigen und in Tschechien, Spanien, Mazedonien oder Südfrankreich wieder herauskommen. Hinsichtlich der generellen Ausrichtung dieses Wegenetzes jedoch bestand schon bald kein Zweifel mehr: die Höhlen, Gänge und Schächte führten ausnahmslos nach unten.
Das alles wurde streng geheim gehalten. Natürlich gab es Verletzungen, auch einige Todesfälle. Doch die Verluste ließen sich allesamt auf eingebrochene Decken, gerissene Seile oder irgendwo in tiefe Löcher gestürzte Soldaten zurückführen: Betriebsunfälle und menschliches Versagen. Alles hatte eben seinen Preis.
Das Geheimnis konnte selbst dann noch gewahrt werden, als ein Zivilist, ein Höhlentaucher namens Harrigan in eine Kalksteindoline namens Jacob’s Well in Süd-Texas hinabstieg, die angeblich die Edwards Aquifer durchschnitt. Er behauptete, in einer Tiefe von 1600 Metern eine ganze Reihe von Nebengängen gefunden zu haben, die immer noch tiefer hinabführten. Außerdem schwor er, an den Wänden Malereien aus der Zeit der Maya und Azteken gesehen zu haben. In gut anderthalb Kilometern Tiefe! Die Medien sprangen zunächst darauf an, sahen sich ein bisschen um und verwarfen die Sache prompt als entweder absichtliche Falschmeldung oder durch Drogen hervorgerufene Wahnvorstellung. Am Tag, nachdem sich der Texaner öffentlich zum Narren gemacht hatte, verschwand er. Die Leute aus der Gegend vermuteten, er habe die peinliche Situation nicht ausgehalten und sich aus dem Staub gemacht. Tatsächlich war Harrigan von den SEALS gekidnappt worden. Dann hatte man ihm ein saftiges Beratergehalt angeboten, einen Eid auf die nationale Sicherheit schwören lassen und ihn dann darauf angesetzt, das unterirdische Amerika zu enträtseln.
Die Jagd war eröffnet. Nachdem die psychologische Barriere von »Minus Fünf« gefallen war - die magischen fünftausend Fuß oder sechzehnhundert Meter -, die den Höhlenkletterern so viel Respekt einflößte, wie einst der Himalaya mit seinen 8000 Meter hohen Bergriesen die Bergsteiger mit Ehrfurcht erfüllt hatte, gab es kein Halten mehr. Einer von Branchs Spähtrupps stieß eine Woche nach Harrigans Coup bis zu einer Tiefe von Minus Sieben vor. Im fünften Monat verzeichneten die Militärs einen Rekord von Minus Fünfzehn. Die Unterwelt war allgegenwärtig und erstaunlich zugänglich. Unter jedem Kontinent taten sich weit verzweigte Tunnelsysteme auf. Unter jeder Stadt.
Die Armeen schwärmten immer tiefer aus und lernten die ausgedehnte und komplexe Subgeographie unter den Eisenbergwerken von West Cumberland in Südwales, dem Hölloch in der Schweiz und der Kluft von Epos in Griechenland, den Picos Mountains im Baskenland, den Kohlengruben in Kentucky, den Cenotes von Yucatan, den Diamantenminen von Südafrika und unter Dutzenden anderer Orte kennen. Die Nordhalbkugel der Erde war besonders reich an Kalkstein, der in tieferen Schichten in wärmeren Marmor und schließlich, viel tiefer, in Basalt überging. Dieses Fundament war so dick und widerstandsfähig, dass es die gesamte Erdoberfläche stützte. Da der Mensch diese Schicht nur selten - anlässlich einiger Probebohrungen nach Erdöl und des schon längst abgebrochenen Moho-Projekts - angebohrt hatte, hatten die Geologen den Basalt stets als feste, komprimierte Masse angesehen. Jetzt hingegen entdeckte man dort ein planetenumspannendes Labyrinth. Geologische Kapillaren erstreckten sich über Tausende von Kilometern, und man munkelte sogar, sie reichten bis weit unter die Ozeane.
Neun Monate vergingen. Tag für Tag trieben die Armeen ihr kollektives Wissen ein kleines Stück weiter, ein kleines Stück tiefer. Die Budgets der Armee- und Marinepioniere explodierten förmlich. Sie wurden zur Ausschalung von Tunnels, zur Konstruktion neuer Transportsysteme, zum Bohren von Versorgungsschächten, zum Bau von Aufzügen, zum Drillen von Kanälen und zur Einrichtung ganzer unterirdischer Lager eingesetzt. Sie pflasterten sogar Parkplätze, tausend Meter unterhalb der Erdoberfläche. Straßen führten durch Höhleneingänge tiefer in die Berge hinein, dienten als Zufahrten für Panzer, Humvees und Anderthalbtonner, die pausenlos Geschütze, Truppen und Nachschub ins Erdinnere transportierten.
Über ein halbes Jahr lang ergossen sich internationale Patrouillen zu Hunderten in die geheimen Winkel und Nischen der Erde. In den Ausbildungslagern wurde das Programm von Grund auf umgestellt. Alte Hasen saßen in Lehrfilmen für Bergarbeiter über Grundtechniken der Verstrebung und des Umgangs mit einer Karbidlampe. Ausbildungsleiter fingen an, ihre Rekruten zu mitternächtlicher Stunde zu den Schießständen zu treiben, um dort mit ihnen im Dunkeln Schießen und Abseilen mit verbundenen Augen zu üben. Assistenzärzte und Sanitäter wurden angehalten, ihre Studien der Histoplasmose zu widmen, eine durch Fledermaus-Guano ausgelöste Pilzinfektion, bei der die Lungen in sich zusammenfielen, außerdem Mulu-Fuß, eine tropische Höhlenkrankheit. Keinem von ihnen wurde mitgeteilt, welchen praktischen Nutzen das letztendlich haben sollte - bis sie eines Tages in den Schoß der Erde einfuhren.
Woche für Woche steigerte sich das Ausmaß dreidimensionaler, vierfarbiger Wurmfortsätze horizontal und vertikal unter der Landkarte Europas und Asiens. Ältere Unteroffiziere wollten ihrem glücklichen Schicksal kaum glauben: Vietnam ohne Vietnamesen! Der Feind stellte sich als Hirngespinst eines einzelgängerischen, entstellten Majors heraus. Niemand außer Branch konnte für sich in Anspruch nehmen, Dämonen mit fischweißer Haut gesehen zu haben.
Nicht, dass es keine »Feinde« gegeben hätte. Die Hinweise auf eine Besiedlung waren verblüffend, manchmal sogar schauerlich. Selbst in dieser Tiefe wiesen Spuren auf eine erstaunliche Vielfalt von Lebensformen hin, angefangen bei Tausendfüßlern über Fische bis hin zu einem etwa menschengroßen Zweibeiner. Ein Fetzen eines ledrigen Flügels ließ Spekulationen über unterirdische Flugwesen aufkommen und die Visionen des Heiligen Hieronymus von fledermausartigen dunklen Engeln aufleben.
In Ermangelung eines handfesten Exemplars hatten die Wissenschaftler den Feind auf den Namen Homo hadalis getauft, obwohl sie die Ersten waren, die zugaben, dass niemand sagen konnte, ob er überhaupt hominid war. Allgemein sprach man schon bald nur noch von den Hadal. Abfallhaufen bezeugten, dass diese affenartigen Kreaturen halbnomadische Gemeinschaftswesen sein mussten. Das Bild eines rauen, mühevollen Daseins entstand, das das entbehrungsreiche Leben der mittelalterlichen Landbevölkerung vergleichsweise angenehm erscheinen ließ.
Aber wer auch immer dort unten lebte - und die Beweise für eine primitive Besiedlung waren in den unteren Schichten unleugbar -, war verscheucht worden. Man traf auf keinerlei Widerstand, nicht der geringste Kontakt kam zu Stande. Kein einziges lebendes Wesen wurde gesichtet. Nur jede Menge Höhlenmenschen-Souvenirs: behauene Keile aus Feuerstein, zurechtgeschnitzte Tierknochen, Höhlenmalereien und stapelweise von der Oberfläche gestohlener Plunder wie zerbrochene Bleistifte, leere Cola-Dosen und Bierflaschen, Münzen, Glühbirnen und ausgebrannte Zündkerzen. Die Feigheit des Feindes wurde offiziell mit seiner Aversion gegen das Licht entschuldigt. Die Soldaten konnten es kaum erwarten, endlich zuzuschlagen.
Die militärische Inbesitznahme dehnte sich immer tiefer und weiter in der atemberaubenden Stille unter der Erde aus. Geheimdienste erfreuten sich an Nachrichtensperren für die Post nach Hause sowie Ausgangssperren für die Einheiten und einem Medien-Embargo.
Die Militärexpedition ging in ihren zehnten Monat. Es hatte den Anschein, als sei diese neue Welt am Ende doch leer, und die Nationalstaaten müssten es sich einfach nur in ihren Kellergeschossen bequem machen, ihren Besitzstand katalogisieren und Feinabstimmungen hinsichtlich der neuen unterirdischen Grenzen vornehmen. Die Eroberung entpuppte sich als Kinderspaziergang. Branch mahnte immer wieder zur Vorsicht, doch die Soldaten hielten es schon bald nicht mehr für nötig, Waffen zu tragen. Patrouillen nahmen den Charakter von Picknickausflügen oder einer fröhlichen Suche nach Pfeilspitzen an. Es gab ein paar Knochenbrüche, den einen oder anderen Fledermausbiss. Hin und wieder brach eine Decke herunter, oder jemand verschwand in einem abgrundtiefen Nebenschacht. Insgesamt gesehen war es um die Sicherheit sogar besser als sonst bestellt. Bleibt auf der Hut, predigte Branch seinen Rangers, doch mittlerweile hörte er sich schon wie ein Gewohnheitsnörgler an, selbst in den eigenen Ohren.
Und dann passierte es. Am 24. November kehrten Soldaten aus dem ganzen Bereich des Subplaneten nicht mehr zu ihren Höhlencamps zurück. Suchtrupps wurden losgeschickt. Nur wenige kamen zurück. Sorgfältig installierte Verbindungsleitungen verstummten. Ganze Tunnel brachen ein.
Es war, als hätte der gesamte Subplanet die Klospülung betätigt. Von Norwegen bis Bolivien, von Australien bis Labrador, von weit vorgeschobenen Posten bis zu kaum zehn Meter vom hellen Sonnenlicht entfernten Lagern verschwanden ganze Armeen spurlos. Später sprach man von Dezimierung, was genau genommen den Tod eines jeden zehnten Soldaten bedeutete. Was am 24. November - und danach immer wieder - geschah, war jedoch das genaue Gegenteil: am Ende kam im Schnitt weniger als einer von zehn Soldaten mit dem Leben davon. Es war der älteste Trick in der Geschichte der Kriegsführung. Man wiegt den Feind in Sorglosigkeit. Man lockt ihn immer tiefer aufs eigene Terrain. Dann schneidet man ihm den Kopf ab. Buchstäblich.
Unterhalb Polens fand man auf Minus Sechs einen Tunnel mit den Schädeln von dreitausend russischen, deutschen und britischen NATO-Soldaten. Dreihundert Meter unter Kreta wurden acht Teams von LRRPS und Navy SEALS in einer Höhle gekreuzigt aufgefunden. Sie waren an weit voneinander entfernten Orten lebendig gefangen genommen, zusammengetrieben und dann zu Tode gefoltert worden.
Wahlloses Morden war eine Sache, doch das hier schien auf etwas völlig anderes abzuzielen. Hier war eindeutig eine höhere Intelligenz am Werk. Die Untaten waren genau geplant, aufeinander abgestimmt und auf Kommando exakt durchgeführt worden. Jemand - oder eine bestimmte Gruppe - hatte auf einem Gebiet von dreißigtausend Quadratkilometern eine groß angelegte Schlächterei choreographiert. Es war, als wäre eine Rasse Aliens an den Gestaden der Menschheit gelandet.
Branch lebte, aber nur, weil er auf Grund einer immer wieder ausbrechenden Malaria krankgeschrieben war. Während sich seine Leute weiter in die Tiefe vorankämpften, lag er unter einem Berg Eisbeutel in der Krankenstation und halluzinierte. Als er die schrecklichen Nachrichten auf CNN hörte, glaubte er zunächst an eine weitere Ausgeburt seines Deliriums.
Halb im Fieberwahn verfolgte Branch am 2. Dezember die Ansprache seines Präsidenten an die Nation, zur besten Sendezeit. Diesmal erschien er ohne Make-up. Er hatte geweint.
»Liebe amerikanische Mitbürger«, verkündete er. »Es ist meine schmerzliche Pflicht ...« In düsteren Tönen gab das Staatsoberhaupt die Verluste bekannt, die das amerikanische Militär in der vergangenen Woche erlitten hatte: alles in allem 29 543 Vermisste. Man befürchtete das Schlimmste. Im Lauf von drei schrecklichen Tagen hatten die Vereinigten Staaten halb so viele Tote zu beklagen wie im ganzen Vietnamkrieg. Der Präsident ging mit keiner Silbe auf die weltweiten Verluste ein, die sich auf die unglaubliche Zahl von einer Viertelmillion Soldaten beliefen. Er hielt inne. Er räusperte sich unbehaglich, raschelte mit seinen Unterlagen, schob sie zur Seite.
»Die Hölle existiert.« Er hob das Kinn. »Es gibt sie wirklich, es ist ein geologischer, historischer Ort direkt unter unseren Füßen. Und sie ist bewohnt. Von grausamen Kreaturen.« Seine Lippen wurden ganz schmal. »Den grausamsten überhaupt«, fügte er hinzu, und einen Augenblick war sein unbändiger Zorn sichtbar.
»Das ganze vergangene Jahr über führten die Vereinigten Staaten, in Absprache und in Allianz mit anderen Staaten, die systematische Untersuchung der Ränder dieses gewaltigen unterirdischen Territoriums durch. Auf meinen Befehl machten sich 43 000 amerikanische Soldaten an seine Erforschung und Durchsuchung. Unsere Erkundungen ergaben, dass das Gebiet jenseits dieser Grenzen von unbekannten Lebensformen bewohnt ist. Daran ist nichts Übersinnliches. Im Laufe der kommenden Tage und Wochen werden Sie sich wahrscheinlich fragen, wie es möglich ist, dass wir diese Wesen noch nie zuvor bemerkt, keines von ihnen je zu Gesicht bekommen haben. Die Antwort lautet: Wir haben sie gesehen. Seit Anbeginn der Menschheit haben wir ihre Anwesenheit mitten unter uns vermutet. Wir haben sie gefürchtet. Gedichte über sie geschrieben, Religionen gegen sie errichtet. Bis vor kurzem wussten wir nicht, wie viel wir tatsächlich wissen. Bis vor wenigen Tagen galten diese Kreaturen entweder als längst ausgestorben oder aber man ging davon aus, dass sie sich vor unseren militärischen Stoßtrupps zurückzogen. Jetzt wissen wir es besser.«
Der Präsident verstummte. Der Kameramann zog das Bild auf und wollte gerade ausblenden, als der Präsident noch einmal die Stimme erhob: »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte er. »Wir werden dieses Reich der Finsternis niederzwingen. Wir werden diesen Erzfeind besiegen. Wir werden unser schreckliches Schwert auf die Mächte der Dunkelheit niederfahren lassen. Und wir werden gewinnen. Im Namen Gottes und der Freiheit! Wir werden siegen!«
Das Bild wechselte sofort zum Presseraum eine Etage tiefer. Der Sprecher des Weißen Hauses und ein PentagonBulle standen vor den sich dort drängenden Journalisten. Selbst im Fieber erkannte Branch General Sandwell, vier Sterne und eine Brust wie ein Fass.
»Elender Drecksack«, murmelte er dem Fernseher zu.
Eine Dame von der L. A. Times erhob sich, sichtlich erschüttert:
»Befinden wir uns im Krieg?«
»Bislang hat niemand einen Krieg erklärt«, antwortete der Sprecher.
»Krieg gegen die Hölle?«, fragte der Miami Herald.
»Kein Krieg.«
»Aber gegen die Hölle?«
»Wir sprechen von einer oberen lithosphärischen Umgebung. Einer abyssalen, von Löchern durchzogenen Region.«
General Sandwell drängte den Sprecher zur Seite. »Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glauben«, sagte er ins Mikrofon. »Es ist einfach nur ein Ort. Aber ohne Licht. Ohne Himmel. Ohne Mond. Die Zeit läuft ganz anders dort unten.« Sandy hat schon immer großen Unterhaltungswert gehabt, dachte Branch.
»Haben Sie Verstärkung losgeschickt?«
»Momentan verhalten wir uns abwartend und halten die Augen offen. Niemand wird runtergeschickt.«
»Müssen wir eine Invasion befürchten, Herr General?«
»Negativ.« Er blieb hart. »Jeder Eingang ist streng bewacht.«
»Aber . Kreaturen, Herr General?« Der Reporter von der New York Times schien beleidigt zu sein. »Sprechen wir hier von Teufeln und Dämonen mit Mistgabeln und Zangen? Haben unsere Widersacher Hufe und Schwänze und Hörner auf dem Kopf? Haben sie Flügel? Wie würden Sie diese Monster beschreiben, General?«
»Das ist noch geheim«, antwortete Sandwell. Aber die Bezeichnung »Monster« schien ihm sehr zu gefallen. Die Medien fingen bereits an, den Feind zu dämonisieren. »Letzte Frage.«
»Glauben Sie an den Satan, Herr General?«
»Ich glaube nur an den Sieg.« Der General schob das Mikro zur Seite und verließ den Raum mit energischen Schritten.
Branch fiel in ständig neue Fieberträume. Ein junger Kerl mit einem gebrochenen Bein im Nachbarbett schaltete pausenlos durch die Kanäle. Die ganze Nacht über, jedes Mal, wenn Branch die Augen öffnete, zeigte das Fernsehbild ein anderes Stadium der Surrealität. Der Tag brach an. Die örtlichen Nachrichtensprecher waren gut vorbereitet worden. Sie verbannten jegliche Hysterie aus der Stimme und hielten sich strikt an den vorgefassten Text. Momentan haben wir nur sehr wenige Informationen. Bleiben Sie dran, wir geben jede neue Meldung sofort weiter. Bitte verhalten Sie sich ruhig. Am unteren Rand des Bildschirms lief pausenlos eine Textzeile durch, auf der für die Öffentlichkeit zugängliche Kirchen und Synagogen angezeigt waren. Zur Beratung der Angehörigen der vermissten Soldaten wurde von Seiten der Regierung eine Webseite eingerichtet. Die Börsenkurse stürzten radikal ab. Eine unselige Mixtur aus Kummer, Angst und Ausgelassenheit machte sich breit.
Nach und nach tauchten die ersten Überlebenden an der Oberfläche auf. Militärhospitäler nahmen blutbefleckte Soldaten auf, die wie kleine Kinder von Untieren, Vampiren, Zombies und Scheusalen plapperten. Aus Mangel an Worten für die finsteren Ungeheuerlichkeiten tief unten in der Erde, behalfen sie sich mit Bibelgeschichten, Horrorfilmen und Phantasien aus der Kindheit. Chinesische Soldaten sahen Drachen, buddhistische Dämonen. Jungs aus Arkansas sahen Beelzebub und Außerirdische.
Die Schwerkraft trug den Sieg über menschliche Zeremonien davon. In den Tagen, die auf die große Dezimierung folgten, sah man ein, dass man einfach nicht über die Möglichkeiten verfügte, alle Leichen an die Oberfläche zu transportieren, nur um sie anschließend wieder zwei Meter tief in der Erde zu vergraben. Es war nicht einmal genug Zeit, um in den Höhlen Massengräber auszuheben. Stattdessen wurden die Leichen in Seitentunnels aufgeschichtet und die Eingänge mit Plastiksprengstoff versiegelt. Bei den wenigen Beerdigungen mit richtigen Leichen blieben die Särge verschlossen, die Deckel unter dem Sternenbanner waren fest angeschraubt. »Keine Besichtigung.«
Die Aufklärung der Zivilbevölkerung wurde der Bundesnotstandsbehörde übertragen. Aus Mangel an handhabbaren Informationen holte man bei der BNB die antiquierten Broschüren mit den Verhaltensmaßregeln für Atomangriffe aus den siebziger Jahren aus der Mottenkiste und verteilte sie an Gouverneure, Bürgermeister und Stadträte. Lassen Sie Ihr Radio angeschaltet. Legen Sie sich Lebensmittelvorräte an. Sorgen Sie für ausreichend Wasser. Halten Sie sich von den Fenstern fern. Bleiben Sie im Keller. Beten Sie.
Diese Ratschläge hatten als böses Omen leer gekaufte Lebensmittelläden und Waffengeschäfte zur Folge. Bald begleiteten Kamerateams Nationalgardisten, die sich entlang der Schnellstraßen aufstellten und Ghettos einkreisten. Umleitungen führten zu Straßensperren, an denen Kraftfahrer durchsucht und um Waffen und Alkohol erleichtert wurden. Die Dämmerung senkte sich herab. Polizei- und Armeehubschrauber patrouillierten über den Himmel und tauchten potenzielle Krisengebiete in grelles Scheinwerferlicht.
Zuerst brach es eines Nachts in South Central Los Angeles los, was niemanden sonderlich überraschte. Dann kam Atlanta an die Reihe. Feuersbrünste und Plünderungen. Schießereien. Vergewaltigungen. Bandenkriminalität. Die ganze Palette. Es folgten Detroit und Houston. Miami. Baltimore. Die Garde sah dem Treiben aufmerksam zu, gemäß ihres Befehls, den tobenden Pöbel in seinen eigenen Stadtvierteln zu belassen und sich nicht einzumischen.
Dann gingen die Vorstädte in Flammen auf, und darauf war niemand vorbereitet gewesen. Von Silicon Valley bis Highlands Ranch und Silver Springs ließen die Pendler aus den Schlafstädten mal so richtig die Sau raus. Jetzt wurden die Gewehre ausgepackt, und mit ihnen der ganze unterschwellige Hass und Neid. Die so genannte Mittelschicht brach auseinander. Es begann mit Terroranrufen von Haus zu Haus, und der ungläubige Schrecken verwandelte sich rasch in die Gewissheit, dass der Tod direkt unter den Rasensprengern lauerte. Wie sich herausstellte, hatte sich auch in den besseren Wohnsiedlungen so einiges angestaut, was jetzt herauswollte. Die Brandstiftungen und Gewalttaten in den Vororten stellten sogar die Ghettos in den Schatten. Im Nachhinein blieb den Befehlshabern der Garde nichts anderes zu berichten, als dass sie gerade von den Leuten, die einen sauber gemähten Vorgarten ihr Eigen nannten, ein derartig unzivilisiertes Benehmen nicht erwartet hätten.
Auf Branchs Fernseher sah das alles aus wie die letzte Nacht auf Erden. Was es für viele Menschen auch war. Als die Sonne am folgenden Morgen aufging, beschien sie ein Szenario, das die USA seit den Tagen der Angst vor der Bombe befürchtet hatten. Sechsspurige Autobahnen waren von den zerfetzten, ausgebrannten Autos und LKWs derjenigen verstopft, die dem Chaos zu entrinnen versucht hatten. Es hatten sich erbitterte Kämpfe abgespielt. Banden hatten die Staus durchkämmt und ganze Familien erschossen und erstochen. Überlebende wankten im Schockzustand auf der Suche nach Wasser umher. Schmutziger Rauch wälzte sich über den Himmel urbaner Ansiedlungen. Es war der Tag der Sirenen. Wetterhubschrauber und ausschwärmende Sendewagen streiften an den Rändern zerstörter Innenstädte entlang. Auf allen Kanälen gab es nichts als Verwüstung zu sehen.
Im amerikanischen Abgeordnetenhaus verlangte der Mehrheitsführer C. C. Cooper, ein Selfmade-Milliardär mit Ambitionen in Richtung Weißes Haus, lauthals nach dem Kriegsrecht. Er hielt neunzig Tage für einen angemessenen Zeitraum, um wieder zur Besinnung zu kommen. Ihm widersprach als Einzige eine schwarze Frau, die Ehrfurcht einflößende Rebecca January. Branch hörte zu, wie sie seinen Antrag mit ihren behäbigen texanischen Vokalen auseinander pflückte.
»Nur neunzig Tage, mehr nicht?«, donnerte sie vom Podium herab. »Auf keinen Fall, mein Herr, nicht mit mir. Das Kriegsrecht ist eine Schlange, Herr Senator. Der Same der Tyrannei. Ich fordere meine verehrten Kollegen mit allem Nachdruck auf, gegen diese Maßnahme zu stimmen ...« Der Antrag wurde mit 99 zu 1 angenommen. Der Präsident, eingefallen und übernächtigt, griff mit beiden Händen nach dem politischen Schutzmäntelchen und rief das Kriegsrecht aus.
Um 13 Uhr EST setzten die Generäle Amerika unter Arrest. Die Ausgangssperre war von Freitag ab Sonnenuntergang bis Montag Sonnenaufgang angesetzt. Es war reiner Zufall, doch die Beruhigungsperiode fiel genau auf den kirchlichen Ruhetag. Seit den Tagen der Puritaner hatte das Alte Testament keine derartige Gewalt mehr über Amerika ausgeübt: Ehre den Sabbat, oder du wirst ohne Vorwarnung erschossen!
Es funktionierte. Die erste große Woge des Schreckens verebbte.
Eigenartigerweise war Amerika den Generälen dankbar. Die Autobahnen wurden freigeräumt, Plünderer niedergeschossen. Am Montag durften die ersten Supermärkte wieder eröffnen. Am Mittwoch gingen die Kinder wieder zur Schule. Fabriken öffneten ihre Tore. Der Gedanke war der, möglichst schnell zur Normalität zurückzukehren, wieder gelbe Schulbusse auf den Straßen fahren zu sehen, das Geld in Umlauf zu bringen, dem Land das Bewusstsein zu vermitteln, zu sich selbst zurückgekehrt zu sein.
Misstrauisch traten die Leute vor ihre Häuser und klaubten die Überreste der Krawalle aus ihren Vorgärten. In den Vorstädten halfen Nachbarn, die kurz zuvor einander an die Kehle gegangen waren, sich gegenseitig beim Wegrechen der Glasscherben und beim Auffegen der Asche. Prozessionen von Müllwagen zogen durch die Straßen. Das Wetter war prächtig für Anfang Dezember. In den Nachrichtensendungen sah Amerika wieder aus wie zuvor.
Quasi über Nacht blickte der Mensch nicht mehr zu den Sternen empor. Die Astronomen fielen in Ungnade. Es war an der Zeit, nach innen zu blicken. Diesen gesamten ersten Winter hindurch wurden große, eilig mit Veteranen, Polizisten, Sicherheitsdienstlern und sogar Söldnern aufgefüllte Armeen an den weit verstreuten Eingängen zur Unterwelt stationiert, wo sie ihre Gewehrläufe in die Dunkelheit richteten und abwarteten, dass die Regierungen und die Industrie weitere Rekruten und Waffen zusammenkratzten, um eine überwältigende Streitmacht aufzustellen.
Einen ganzen Monat lang ging niemand mehr hinunter. Das CEOS, Verwaltungsräte und religiöse Einrichtungen setzten den Generälen und Politikern zu, die Wiedereroberung und ihre Forschungsexpeditionen wieder aufzunehmen. Doch inzwischen belief sich der Blutzoll auf über eine Million Menschen, darunter fast die gesamte afghanische Taliban-Armee, die auf der Jagd nach ihrem islamischen Satan komplett in den Abgrund gegangen war.
Die Generäle verwahrten sich dagegen, weitere Truppen hinunterzuschicken. Eine kleine Roboterlegion aus dem Marsprojekt der NASA wurde abkommandiert und in den Dienst der Untersuchung des neuen Planeten innerhalb des eigenen Planeten gestellt. Die Maschinen krochen auf metallenen Spinnenbeinen durch die Gänge und waren mit einer ganzen Phalanx an Sensoren und Videogeräten ausgerüstet, die es mit den unwirtlichsten Bedingungen auf weit entfernten Planeten aufnehmen konnten. Es gab dreizehn Roboter, jeder war an die fünf Millionen Dollar wert - und die Marsforscher wollten sie alle intakt zurückbekommen.
Die Roboter wurden von sieben verschiedenen Stellen aus immer paarweise losgeschickt - bis auf den verbleibenden Einzelkämpfer. Heerscharen von Wissenschaftlern kontrollierten jeden Einzelnen von ihnen rund um die Uhr. Die »Spinnen« hielten sich recht gut. Als sie tiefer in die Erde vordrangen, wurde die Verbindung immer schlechter. Ihre elektronischen Signale, die von den alluvialen Ebenen und den Polen des Mars einwandfrei empfangen werden konnten, wurden von den dicken Steinschichten gestört. Die Signale mussten computerverstärkt, interpretiert und zusammengesetzt werden. Manchmal dauerte es viele Stunden, bis eine Übertragung zur Oberfläche durchdrang, dazu mehrere Stunden oder gar Tage, um das elektronische Häcksel zu entwirren. Immer weniger Übertragungsdaten gelangten nach oben.
Was jedoch ankam, zeigte ein derartig phantastisches Erdinneres, dass die Planetologen und Geologen sich weigerten, ihren Instrumenten zu glauben. Die elektronischen Spinnen brauchten eine Woche, bis sie die ersten Bilder von Menschen sendeten. Tief in der Kalksteinwildnis von Terbil Tem unter Papua-Neuguinea waren Knochen als ultraviolette Stäbe auf den Computerschirmen zu sehen. Schätzungen reichten von fünf bis zwölf Skeletten in einer Tiefe von viertausend Metern. Einen Tag darauf fanden sie viele Kilometer im Inneren der vulkanischen Bienenwaben rings um den Akiyoshi-dai in Japan Belege dafür, dass man ganze Menschengruppen in zuvor unerforschte Tiefen getrieben und dort niedergemetzelt hatte. Andere Roboter fanden tief unter dem algerischen Djurdjura-Massiv, unter der Tiefebene des Nanxu in der chinesischen Provinz Kwangsi, weit unterhalb der Höhlen des Mt. Carmel und tief unter Jerusalem die Überreste von Kampfhandlungen in engen Kammern, Kriechgängen und gewaltigen Höhlen.
»Schlimm, sehr schlimm«, keuchten auch die abgebrühtesten Betrachter. Die Soldaten waren entkleidet und verstümmelt worden. Meistens fehlten die Köpfe ganz oder waren wie Bowlingkugeln zu Haufen aufgeschichtet. Schlimmer noch: Ihre Waffen waren verschwunden. Überall waren lediglich nackte Leichen zu sehen, die sich, unkenntlich gemacht, allmählich in bloße Knochenhaufen verwandelten. Man konnte nicht mehr erkennen, wer diese Männer und Frauen einmal gewesen waren.
Eine Spinne nach der anderen stellte ihre Übertragungen ein. Eigentlich hätten ihre Batterien noch viel länger halten müssen, und nicht alle waren bis zur Grenze ihrer Reichweite vorgedrungen.
»Die killen unsere Roboter«, vermuteten die Wissenschaftler. Ende Dezember war nur noch einer übrig, ein einsamer Satellit, der in Tiefen herumkroch, in denen eigentlich nichts mehr leben konnte.
Tief unter Kopenhagen fing das Roboterauge ein merkwürdiges Detail ein: die Nahaufnahme eines Fischernetzes. Die Computercowboys klackerten an ihren Geräten herum und versuchten, das Bild besser aufzulösen, doch es gab nicht viel mehr her als überdimensionierte Verknüpfungen von Schnüren oder dünnen Seilen. Sie befahlen der Spinne, ein Stück weit zurückzugehen, um einen größeren Winkel einzufangen. Es verging fast ein ganzer Tag, bis die Spinne zurückfunkte, und was sie zeigte, war so dramatisch wie damals, als das erste Bild von der Rückseite des Mondes empfangen wurde. Was zuerst wie Fäden oder Seile ausgesehen hatte, entpuppte sich als miteinander verbundene Eisenringe. Bei dem Netz handelte es sich um ein Kettenhemd, die Rüstung eines frühen skandinavischen Kriegers. Das Wikingerskelett darin war schon längst zu Staub zerfallen. Dort, wo ein verzweifelter dunkler Kampf stattgefunden hatte, war die Rüstung selbst mit einem Eisenspeer an die Wand gespießt.
»So ein Schwachsinn!«, sagte jemand.
Doch als sich die Spinne auf Befehl im Kreis drehte, sahen sie, dass die gesamte Höhle mit Waffen und zerbrochenen Helmen aus der Eisenzeit angefüllt war.
Also waren die NATO-Truppen, die afghanischen Taliban und die Soldaten eines Dutzend anderer moderner Armeen keinesfalls die Ersten, die in diese Höllenwelt vorgedrungen waren und die Waffen gegen die Dämonen der Menschen erhoben hatten.
»Was geht dort unten bloß vor sich?«, fragte der Einsatzleiter.
Nach einer weiteren Woche zeigten die sporadischen Übertragungen nur noch verwaschene Geräusche und elektromagnetische Impulse zufälliger Beben. Dann hörte die Spinne ganz zu senden auf. Man wartete noch drei Tage, dann wurde Befehl zur Auflösung der Station gegeben - als plötzlich doch noch ein »Piep« durchkam. Eilig wurden die Monitore wieder eingestöpselt.
Und endlich kriegten die Wissenschaftler ihr Gesicht.
Das statische Rauschen löste sich auf. Etwas bewegte sich über den Schirm, und im nächsten Augenblick wurde der Schirm schwarz. Sie spielten das Band in Zeitlupe ab und rangen ihm kleinste elektronische Teilchen eines Bildes ab. Das Wesen hatte allem Anschein nach mehrere Hörner oder ein Geweih und einen Schwanzstummel sowie je nach Kamerafilter rote oder grüne Augen. Dazu einen Mund, der vor Wut oder Entsetzen - oder aus mütterlichem Schutzinstinkt? - laut schreiend aufgerissen war, als sich die Kreatur auf den Roboter stürzte.
Es war Branch, der der Fassungslosigkeit ein Ende setzte. Sein Fieber ließ nach, und er übernahm wieder das Kommando über das, was inzwischen zu einem Geisterbataillon geworden war. Er beugte sich über die Karten und versuchte herauszufinden, wo sich seine Einsatzgruppen an jenem fatalen Tag aufgehalten haben mochten.
»Ich muss meine Leute finden«, funkte er seinen Vorgesetzten, aber sie wollten nichts davon hören.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, lautete ihr Befehl.
»Das ist nicht richtig«, sagte Branch, setzte sich aber nicht weiter mit ihnen auseinander. Er wandte sich vom Funkgerät ab, schulterte sein Sturmgepäck und schnappte sich sein Gewehr. Er marschierte an der Reihe deutscher Panzerfahrzeuge vorbei, die rings um den Eingang der Höhlen in den Leoganger Steinbergen in den Bayerischen Alpen geparkt waren, und achtete nicht auf die Offiziere, die lauthals »Halt!« brüllten. Die letzten seiner Ranger, insgesamt zwölf Mann, folgten ihm wie schwarze Gespenster, und die Besatzungen auf den LeopardPanzern bekreuzigten sich.
Vier Tage lang waren die Tunnel geisterhaft verlassen, nicht der geringste Hinweis auf Gewaltanwendung, kein Hauch von Kordit, keine einzige Kugelschramme an der Wand. Sogar die Glühbirnen an den Wänden und Decken funktionierten. Doch dann, in einer Tiefe von minus 4150 Metern, brannten die Lichter nicht mehr. Die Soldaten schalteten ihre Stirnlampen an. Ab jetzt ging es langsamer voran.
Schließlich, sieben Camps weiter unten, enträtselten sie das Geheimnis von Kompanie A. Der Tunnel weitete sich zu einer großen Kammer mit hoher Decke. Sie bogen nach links ab und erreichten ein ausgedehntes Schlachtfeld. Es sah aus wie ein abgelassener See voller ertrunkener Schwimmer. Die Toten lagen einer über dem anderen und waren in diesem wirren Knäuel vertrocknet. Hier und da waren Leichen aufrecht gesetzt worden, damit sie ihren Kampf im Jenseits weiterführen konnten. Branch führte seine Leute weiter, ohne den Toten große Beachtung zu schenken. Sie fanden 7,62mm-Munition für M16-Sturmgewehre, ein paar Gasmasken, einige zerschlagene Stahlhelme. Außerdem jede Menge primitiver Kultgegenstände.
Einige der toten Kämpfer waren wie am Knochen gedörrt und ihre zu engen Hautsäcke hatten sie verzerrt. Die verbogenen Wirbelsäulen, die aufgerissenen Münder und die Verstümmelungen schienen die zwischen ihnen hindurchmarschierenden Gaffer anzukläffen und anzuheulen. Es war die Hölle, wie man sie Branch früher in der Schule beschrieben hatte. Goya und Blake hatten anscheinend ihre Hausaufgaben ausgezeichnet gemacht.
Der Trupp bewegte sich mit hin und her schwankenden Lichtstrahlen durch die grässliche Szenerie. »Major«, flüsterte der Maschinengewehrschütze. »Die Augen.«
»Schon gesehen«, erwiderte Branch und ließ den Blick über die sich aufbäumenden und umgestürzten Leichname wandern. Bei jedem Gesicht waren die Augen ausgestochen worden. Er hatte begriffen. »Nach dem Gefecht am Little Big Horn«, sagte er, »kamen die Frauen der Sioux und durchstachen die Ohren der Soldaten. Man hatte die Soldaten davor gewarnt, die Stämme zu verfolgen, deshalb öffneten die Frauen ihnen die Ohren, damit sie beim nächsten Mal besser zuhörten.«
»Aber ich sehe hier keine Überlebenden«, stöhnte ein junger Bursche.
»Ich sehe auch keinen Haddie«, sagte ein anderer. Haddie war ihr neuester Spitzname für die Hadal - ein schwächlicher Versuch, den Schrecken zu bannen.
»Haltet die Augen auf«, brummte Branch. »Und wenn ihr schon dabei seid, sammelt die Hundemarken. Zumindest können wir ihre Namen mit nach oben nehmen.«
Manche Toten waren von Unmengen durchsichtiger Käfer und Albinofliegen bedeckt. Bei anderen hatten sich rasch vermehrende Pilzsporen nur noch die Knochen übrig gelassen. In einer Mulde waren die toten Soldaten in einer mineralischen Flüssigkeit glasiert und verwandelten sich bereits in einen Teil des Bodens. Die Erde selbst zehrte sie auf.
»Major«, sagte eine Stimme. »Das müssen Sie sich ansehen.«
Branch folgte dem Mann zu einem steilen Vorsprung. Die Toten waren säuberlich in einer langen Reihe einer neben den anderen gelegt worden. Im Licht von einem Dutzend Lampen sah der Trupp, dass die Leichen mit einem hellroten, pudrigen Ockerstaub bedeckt und dann mit leuchtend weißem Konfetti überstreut worden waren. Es sah direkt schön aus.
»Haddie?«, keuchte der Soldat.
Unter der Ockerschicht lagen tatsächlich Leichen ihrer Feinde. Branch kletterte zu dem Vorsprung hinüber. Aus der Nähe erkannte er, dass es sich bei dem weißen Konfetti um Zähne handelte. Es mussten Hunderte, ja Tausende sein - und es waren Menschenzähne. Er hob einen auf, einen Eckzahn, und sah, dass er an einigen Stellen abgeplatzt war. Dort musste er mit einem Stein aus dem Mund eines GI ausgeschlagen worden sein. Vorsichtig legte er ihn wieder zurück.
Die Köpfe der Hadalkrieger waren auf menschliche Schädel gebettet. Zu ihren Füßen lagen Opfergaben.
»Mäuse?«, fragte Sergeant Dornan verwundert. »Vertrocknete Mäuse?« Es gab jede Menge davon.
»Nein«, erwiderte Branch. »Genitalien.«
Die Leichname waren unterschiedlich groß. Einige waren größer als die Soldaten und hatten Schultern wie Massai-Krieger. Neben ihren säbelbeinigen Kameraden nahmen sie sich merkwürdig aus. Einige von ihnen hatten seltsam geformte Klauen anstelle von Finger- und Zehennägeln. Abgesehen davon, was sie mit ihren Zähnen angestellt hatten, und von den aus Knochen geschnitzten Penishüllen, sahen sie beinahe menschlich aus.
Zwischen den toten Hadal verstreut lagen außerdem fünf schlankere Gestalten, grazil, feingliedrig, feminin, aber doch eindeutig männlich. Auf den ersten Blick hatte Branch sie für Jugendliche gehalten, doch die Gesichter unter dem roten Ocker waren genauso gealtert wie die der anderen. Alle fünf hatten verformte Schädel und abgeflachte Hinterköpfe, die durch enge Fesseln in der Kindheit hervorgerufen wurden. Bei diesen kleinsten Hadal waren die übergroßen Eckzähne auch am deutlichsten ausgeprägt; manche so lang wie bei ausgewachsenen Pavianen.
»Wir müssen ein paar dieser Kadaver mit nach oben nehmen«, sagte Branch.
»Warum das denn, Major?«, fragte ein junger Kerl. »Das sind doch die Bösen.«
»Genau. Und sie sind tot«, meinte sein Kumpel.
»Sie sind ein positiver Beweis dafür, dass es sie überhaupt gibt. Und sie werden uns dabei helfen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen«, erwiderte Branch. »Bislang kämpfen wir gegen etwas, das wir noch nie richtig gesehen haben. Wir kämpfen gegen unsere eigenen Albträume.« Die US-Army hatte bisher noch kein einziges Exemplar in die Hände bekommen. Die Hisbollah im Südlibanon behauptete, einen von ihnen lebendig gefangen zu haben, aber das glaubte niemand.
»Ich rühre diese Dinger nicht an. Nein, das sind Teufel, seht doch nur hin!«
Sie sahen wirklich eher wie Teufel als Menschen aus. Wie von Karzinomen überzogene Tiere. Wie ich, dachte Branch. Es fiel ihm schwer, ihre Menschengestalt mit den korallenartigen Hörnern in Verbindung zu bringen, die ihnen aus der Stirn wucherten. Nicht wenige sahen aus, als könnten sie jederzeit die Krallen ausstrecken und wieder lebendig werden. Er machte seinen Leuten aus ihrem Aberglauben keinen Vorwurf.
Sie hörten alle das Funkgerät gleichzeitig. Ein kratzendes Geräusch, das mitten in einem Haufen Trophäen ertönte. Branch wühlte sich vorsichtig durch Fotos, Armbanduhren und Eheringe, bevor er das Walkie-Talkie herauszog. Er drückte dreimal auf die Sendetaste. Es klickte dreimal zur Antwort.
»Da unten ist jemand«, sagte ein Ranger.
»Genau. Bloß wer?« Sie überlegten. Menschenzähne knackten unter ihren Stiefeln.
»Identifizieren Sie sich. Over«, sprach Branch ins Funkgerät.
Sie warteten. Die Stimme, die antwortete, sprach Amerikanisch.
»Es ist so dunkel hier drin«, stöhnte sie. »Lasst uns hier nicht zurück, Leute.«
Branch legte das Funkgerät auf den Boden und wich entsetzt zurück.
»Moment mal«, sagte der Schütze. »Das war doch die Stimme von Scoop D.! Den kenne ich! Aber er hat seinen Standort nicht durchgegeben, Major.«
»Still«, flüsterte Branch seinen Leuten zu. »Sie wissen, dass wir hier sind.«
Sie flohen.
Wie Arbeiterameisen, die jede ein großes weißes Ei vor sich hertrugen, eilten die Soldaten durch die dunkle Vene im Gestein. Nur dass es sich dabei nicht um Eier handelte, sondern um Lichtkugeln, die jeder Soldat aus seiner Stirnlampe vor sich hertrieb. Von den dreizehn Mann am Vortag waren nur noch acht übrig. Wie ausgelöschte Seelen waren die anderen mitsamt ihren Lichtern entschwunden, ihre Waffen dem Feind in die Hände gefallen. Einer der Verbliebenen, Sergeant Dornan, hatte mehrere gebrochene Rippen zu beklagen.
Seit fünfzig Stunden schon hielten sie immer nur ganz kurz an, um in der pechschwarzen Dunkelheit hinter ihnen Feuer zu legen. Jetzt ertönte Branchs geflüsterter Befehl von der tiefsten Stelle:
»Bildet hier die erste Reihe.«
Die Worte wurden vom stärksten Glied der Kette zum angeschlagensten weitergegeben. An einer Gabelung blieben die Ranger stehen. Diese Stelle hatten sie schon einmal passiert. Die drei orangenen Streifen Sprühfarbe auf den neolithischen Wandmalereien waren ein willkommener Anblick. Es waren die Leuchtmarkierungen ihrer eigenen Einheit; die drei Streifen zeigten ihr drittes Lager auf dem Weg nach unten an. Der Ausgang befand sich jetzt nur noch drei Tage weiter oben.
Sergeant Dornans leiser Seufzer der Erleichterung hallte in der Kalksteinstille wider. Der Verwundete setzte sich auf, bettete seine Waffe zwischen Armbeuge und Oberkörper und lehnte den Kopf an den Fels. Die anderen machten sich daran, ihre letzte Verteidigungsstellung einzurichten.
Ein Hinterhalt war ihre letzte Hoffnung. Wenn sie hier versagten, würde keiner von ihnen das Tageslicht jemals wieder sehen, das für sie inzwischen sämtliche Bedeutungen gewonnen hatte, die sie aus der Bibel kannten. Die Herrlichkeit der Erleuchtung.
Zwei Tote, drei Vermisste, und Dornans gebrochene Rippen. Und ihr Maschinengewehr, um Himmels willen! Das Meisterstück von General Electric mitsamt der Munition, einfach spurlos aus ihrer Mitte geklaut. So eine Waffe verlor man nicht einfach. Nicht nur, dass ihre Truppe jetzt ohne massiven Feuerschutz auskommen musste, hinzu kam, dass eines schönen Tages Draufgänger wie sie in eine solide Wand aus Maschinengewehrsalven bester amerikanischer Qualität laufen würden.
Inzwischen war ihnen eine große Gruppe Verfolger immer näher gerückt. Die Mikrofone, die sie bei ihrem Rückzug versteckt hatten, kündigten ihre Anwesenheit über die Funkgeräte unzweifelhaft an. Selbst bei hochgedrehter Lautstärke bewegte sich der Feind leise, mit schlangenhafter Leichtigkeit, dabei unglaublich rasch. Hin und wieder streifte einer die Felswand. Wenn sich ihre Verfolger verständigten, dann in einer Sprache, die keiner dieser Infanteristen verstand.
Ein neunzehnjähriger Funkspezialist klammerte sich mit zitternden Fingern an seinen Rucksack. Branch ging zu ihm. »Hör nicht hin, Washington«, sagte er. »Versuch es gar nicht erst zu verstehen.«
Der verängstigte Junge sah auf. Und erblickte Frankenstein. Ihren Frankenstein. Branch kannte diesen Blick.
»Sie sind ganz nahe!«
»Nur keine Panik«, sagte Branch.
»Nein, Sir.«
»Wir drehen den Spieß einfach um. Jetzt bestimmen wir, was geschieht.«
»Jawohl, Sir.«
»Die Claymores, mein Junge. Wie viele hast du in deinem Rucksack?«
»Drei. Mehr sind’s nicht mehr, Major.«
»Mehr brauchen wir wohl auch nicht, was? Ich würde sagen, eine hierhin, eine dorthin. Da liegen sie richtig gut.«
»Jawohl, Sir.«
»Wir halten sie genau hier auf.« Branch hob die Stimme nur so weit an, dass ihn auch die anderen Ranger verstehen konnten.
»Hier ist die Grenze. Bis hierher und nicht weiter. Dann können wir nach Hause. Wir sind so gut wie draußen, Jungs. Ihr könnt schon mal die Sonnencreme auspacken.«
Auf solche Witze standen sie. Bis auf den Major waren sie alle schwarz.
Er ging die Verteidigungslinie Mann für Mann ab, ließ sie die Claymore-Minen optimal verteilen, wies jedem sein Schussfeld zu, bastelte sich seinen Hinterhalt so gut es eben ging. Der Kampfplatz dort unten war gespenstisch, selbst wenn man die hier und dort schimmernden Höhlenmalereien, die eigenartig geschnitzten Formen, die jäh abfallenden Felswände, die mineralisierten Skelette und die Minen einmal beiseite ließ. Der Ort selbst war der reinste Horror. Die Tunnelwände komprimierten das ganze Universum zu einer winzigen Kugel. Die Dunkelheit schleuderte es in freiem Fall weit von sich. Mit geschlossenen Augen konnte einen diese Mischung zum Wahnsinn treiben.
Branch sah seinen Leuten die Erschöpfung an. Sie waren schon seit zwei Wochen ohne Funkverbindung zur Außenwelt. Aber selbst wenn, hätten sie weder Artillerie noch Verstärkung noch Bergungskommandos anfordern können. Sie steckten tief unter der Erde, waren allein und wurden von Spukgestalten verfolgt, von denen nicht alle nur in ihrer Einbildung existierten.
Branch blieb neben einem prähistorischen Bison stehen, der an die Wand gemalt war. Aus der Schulter des Tieres ragten lange Speere heraus, in wilder Flucht zertrampelte es die eigenen Eingeweide. Es war tödlich getroffen, ebenso wie der Jäger, der es zur Strecke gebracht hatte. Von den langen Hörnern aufgespießt, kippte das Strichmännchen nach hinten um. Jäger und Beute, im Geiste vereint. Branch pflanzte die letzte seiner Claymores zu Füßen des Bisons auf ihr kleines Stativ.
»Sie kommen näher, Major.«
Branch sah sich um. Es war der Funker, mit aufgesetzten Kopfhörern. Ein letztes Mal kontrollierte er seinen Hinterhalt, malte sich aus, wie die Minen hochgingen, wo sich die Sprengkraft ungebremst entfalten, wo sie mit verhängnisvoller Wucht abprallen würde, und welche Nischen dem Inferno aus Licht und Metall womöglich entgingen. »Alles hört auf mein Kommando«, sagte er. »Vorher geschieht nichts.«
»Ich weiß«, antworteten sie im Chor. Drei Wochen mit Branch an der Front reichten aus, um seinen Regeln bedingungslos zu folgen.
Der Funker schaltete sein Licht aus. Jenseits der Gabelung löschten auch die anderen Soldaten ihre Stirnlampen. Branch spürte, wie schwarze Dunkelheit sie überflutete.
Sie hatten ihre Gewehre voreingestellt. Branch wusste, dass in der schrecklichen Finsternis jeder Soldat im Geiste den gleichen Feuerstoß von links nach rechts probte. Ohne Licht waren sie blind, und später würden sie vom Licht geblendet sein. Ihr Mündungsfeuer machte ihre Fähigkeit, bei schwachen Lichtverhältnissen zu sehen, gleich wieder zunichte. Am besten war es, so zu tun, als könne man sehen und der Vorstellungskraft das Zielen zu überlassen.
Die Augen schließen. Erst aufwachen, wenn alles vorbei war.
»Näher«, flüsterte der Funker.
»Ich kann sie hören«, sagte Branch. Er hörte, wie der Funker sein Gerät vorsichtig ausschaltete, den Kopfhörer beiseite legte und seine Waffe schulterte.
Die Meute kam im Gänsemarsch auf sie zu. Die Weggabelung bestand aus zwei etwa mannsbreiten Röhren. Eine der Gestalten ging am Bison vorbei, dann eine Zweite. Branch verfolgte sie im Geiste. Sie trugen keine Schuhe, und der Zweite trottete sofort langsamer, als der Erste einhielt.
Können Sie uns wittern? Branch war besorgt, hielt den Befehl aber immer noch zurück. Es war reine Nervensache. Erst wenn alle drin waren, konnten sie die Tür zumachen. Dabei war er jederzeit bereit, die Claymores zu zünden, falls einer seiner Soldaten durchdrehte und das Feuer eröffnete.
Die Wesen stanken nach Körperfett, Mineralien, tierischer Wärme und verkrusteten Fäkalien. Etwas Knochiges schabte an einer Wand entlang. Branch spürte, wie sich die Kreuzung füllte. Sein Eindruck hatte weniger mit den Geräuschen als mit einem Gespür für die Luft zu tun. Der Luftzug hatte sich verändert, wenn auch kaum wahrnehmbar. Das vielköpfige Atmen sowie die Bewegung der Körper riefen kleine Luftwirbel im Raum hervor. Ungefähr zwanzig, schätzte Branch. Vielleicht dreißig. Möglicherweise Kinder Gottes. Aber jetzt gehören sie mir.
»Jetzt!«, stieß er hervor und drehte den Zünder um.
Die Claymores blitzten in einer einzigen farblosen Kaskade auf. Splitter spritzten gegen den Fels, ein tödlicher Schwarm winziger Geschosse. Acht Gewehre stimmten in den Hagel der Vernichtung ein und ließen ihre Garben in dem Dämonenrudel hin und her wandern. Die Mündungsblitze zuckten durch Branchs Finger, die er vor seine Brille hielt, und selbst als er die Augen nach oben verrollte, um sich nicht zu blenden, drang das Automatikfeuer immer noch durch. Nicht völlig blind, aber trotzdem ohne etwas zu sehen, zielte er mit stakkatoartigen Salven in den Feind.
Der Gestank des Pulverdampfs, der sich in den niedrigen Gängen sammelte, kratzte in ihren Lungen. Branchs Herz hämmerte wie wild. Eine der vielen schreienden Stimmen erkannte er als seine eigene. Gott steh mir bei, betete er mit der Wange am Gewehrkolben. In dem ohrenbetäubenden Getöse musste sich Branch in Erinnerung rufen, dass sein Gewehr erst dann leer geschossen war, wenn es nicht mehr gegen die Schulter zuckte. Zweimal wechselte er das Magazin. Beim dritten Wechsel legte er eine Pause ein, um den Stand des Gemetzels abzuschätzen.
Rechts und links von ihm feuerten seine Leute unablässig aus vollen Rohren in die Dunkelheit. Er wollte den Feind um Gnade winseln hören. Oder auch heulen. Doch was er stattdessen hörte, war Gelächter. Gelächter?
»Feuer einstellen!«, brüllte er.
Sie hörten nicht auf ihn. Im Blutrausch ballerten sie unvermindert drauflos, luden nach und ballerten weiter.
Er brüllte seinen Befehl noch einmal. Langsam kam einer nach dem anderen zu sich und hielt inne. Die Echos verhallten in den ferneren Gängen. Sofort breitete sich der beißende Geruch von Blut und frisch abgeplatztem Gestein aus, so intensiv, dass man ihn quasi ausspucken konnte. Das merkwürdig unschuldig klingende Gelächter hielt an.
»Licht an!«, befahl Branch, der versuchte, die Oberhand zu behalten. »Nachladen. Bereithalten. Erst schießen, später nachsehen. Absolute Kontrolle, Jungs!«
Die Stirnlampen gingen an. Weißer Rauch hing im ganzen Tunnel. Frisches Blut klebte auf den Höhlenmalereien. Aus der Nähe betrachtet, war das Blutbad perfekt gelungen. Verzerrte Körper lagen in einer nebligen unkenntlichen Masse übereinander. Das warme Blut dampfte auf den Körpern und erhöhte die Luftfeuchtigkeit noch.
»Tot. Tot. Tot«, sagte ein Soldat. Jemand kicherte. Entweder das, oder er schluchzte. Sie hatten das angerichtet. Das hier war ihr ganz persönliches Massaker.
Mit nach links und rechts sichernden Gewehrläufen näherten sich die Ranger fasziniert ihrem dampfenden Wild. Am letzten Tag, dachte Branch, erblicket die Augen toter Engel. Er schob ein Reservemagazin nach, hielt im oberen Tunnel nach verborgenen Eindringlingen Ausschau und erhob sich dann. Mit größter Vorsicht schritt er den Raum in einer Kreisbewegung ab, leuchtete zuerst in den linken, dann in den rechten Tunnel hinein. Leer. Leer. Sie hatten das ganze Kontingent ausgeschaltet. Nirgendwo waren Versprengte zu sehen, keine verräterischen Blutspuren, die irgendwo hinführten. Abrechnung Hundert Pro.
Sie versammelten sich nicht weit von den Toten entfernt im Halbkreis. Dort, bei den übereinander liegenden Gefallenen, blieben seine Männer wie erstarrt stehen und hielten ihre Strahler zu einem gemeinsamen Lichtkreis nach unten. Branch drängte sich zwischen sie. Und genau wie sie erstarrte er.
»Verdammte Scheiße«, murmelte einer der Soldaten finster.
Auch sein Nachbar wollte nicht glauben, was er da sah.
»Was machen die denn hier? Was haben die denn verdammt noch mal hier verloren?«
Jetzt wurde Branch klar, warum sich sein Feind so demütig hatte abschlachten lassen.
»Herrje«, keuchte er. Auf dem Boden lagen mindestens zwei Dutzend Leichen. Sie waren nackt und sahen erbärmlich aus. Und menschlich. Es waren Zivilisten. Unbewaffnet. Obwohl sie von Gewehrsalven und Schrapnellsplittern durchsiebt waren, ließ sich noch erkennen, wie ausgemergelt sie waren. Ihre verzierte Haut spannte sich straff über die hageren Brustkörbe. Die Gesichter waren eine Studie des Hungers: eingefallene Wangen, tief in den Höhlen liegende Augen. Füße und Beine waren von Geschwüren übersät, die Lenden in alte Wollabfälle gehüllt. Es gab nur eine Erklärung für ihre Existenz.
»Gefangene«, sagte Washington.
»Gefangene? Wir haben doch keine Gefangenen gekillt!«
»Klar doch«, meinte Washington. »Das waren Gefangene.«
»Nein«, sagte Branch. »Sklaven.«
Stille.
»Sklaven? So was gibt’s doch gar nicht mehr, Major.«
Er zeigte ihnen die Brandzeichen, die Farbstreifen, die Seile, die von einem Hals zum anderen führten.
»Seht ihr diese offenen Stellen auf Schultern und Rücken?«
»Na und?«
»Abschürfungen. Sie haben schwere Lasten getragen. Gefangenenarbeit - Sklaven.«
Jetzt sahen sie es auch. Auf einen Wink Branchs hin schwärmten sie aus.
Entgeistert und mit vorsichtigen Schritten stelzten die Soldaten zwischen den Gliedmaßen herum. Die meisten der Gefangenen waren Männer. Abgesehen von den Stricken, die sie am Hals aneinander fesselten, waren viele mit Lederriemen an den Knöcheln gefesselt. Bei den meisten war eine Art Klammer durch die Ohren getrieben worden, oder die Ohren waren aufgeschlitzt oder ausgefranst, so wie Cowboys ihr Vieh markierten.
»Na schön, es sind Sklaven. Wo sind dann ihre Besitzer?«
Alle waren sich einig. »Einen Aufseher muss es doch geben. So eine Truppe braucht einen Aufseher.«
Sie durchsuchten den Leichenberg weiter, machten sich mit der Ungeheuerlichkeit vertraut und wiesen den Gedanken von sich, dass Sklaven womöglich selbst Sklaven hielten. Doch nachdem alle Leichen gesichtet waren, hatten sie immer noch keinen Sklavenaufseher gefunden.
»Kapier ich nicht. Kein Essen, kein Wasser ... Wie haben die überlebt?«
»Wir sind an einem Rinnsal vorbeigekommen.«
»Damit hätten wir Wasser. Aber ich hab keine Fische gesehen.«
»Da haben wir’s. Seht mal her. Dörrfleisch.« Einer der Ranger hielt ein etwa dreißig Zentimeter langes Stück Trockenfleisch hoch. Es sah eher wie ein vertrockneter Stock oder verschrumpeltes Leder aus. Sie fanden noch mehr solcher Stücke, die meisten hinter die Fesseln geschoben oder von den toten Händen umklammert.
Branch untersuchte ein Stück, bog es, roch an dem Fleisch.
»Ich weiß nicht, was das sein könnte«, sagte er. Aber er wusste es. Es war Menschenfleisch.
Man kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Karawane gehandelt hatte, und zwar eine ohne Fracht. Niemand konnte sich vorstellen, was die Gefangenen geschleppt hatten, aber geschleppt hatten sie etwas, und zwar erst kürzlich und über weite Strecken. Wie Branch sogleich aufgefallen war, wiesen die ausgezehrten Körper frische Scheuerwunden auf Schultern und Rücken auf, Wunden, die jeder Soldat kannte, der schon viel zu lange mit viel zu schwerem Gepäck marschiert war.
Die Ranger gingen mit ernsten und zornigen Mienen zwischen den Toten herum. Auf den ersten Blick sahen die meisten dieser Leute aus, als stammten sie aus Zentralasien. Das erklärte die fremdartige Sprache. Afghanen, vermutete Branch der blauen Augen wegen. Für seine Leute waren es Brüder und Schwestern. Daran hatten sie mächtig zu kauen.
Also benutzte der Feind sie als Lasttiere? Die ganze Strecke von Afghanistan bis hierher? Sie befanden sich tief unterhalb von Bayern. Im einundzwanzigsten Jahrhundert. Die Folgerungen waren Schwindel erregend. Wenn der Feind dazu in der Lage war, ganze Kolonnen von Gefangenen über derartige Entfernungen zu treiben, dann konnte er auch seine Armeen so weit . Und das alles direkt unter den Füßen der zivilisierten Menschheit. Wenn sie hier unten wirklich über derartige Möglichkeiten verfügten, dann saßen die Menschen oben auf dem Präsentierteller wie Blinde, die nur darauf warteten, ausgeraubt zu werden. Der Feind konnte überall auftauchen, jederzeit, wie Präriehunde oder Feuerameisen.
Was war so überraschend daran? Waren die Kinder der Hölle nicht von Anfang an immer wieder inmitten der Menschen aufgetaucht? Hatten sich Sklaven geholt und Seelen gestohlen? Waren über den Garten des Lichts hergefallen? Diese Idee war zu folgenschwer, als dass Branch sie so einfach hätte akzeptieren können.
»Hier ist er. Ich habe ihn gefunden«, rief Washington vom anderen Ende des Leichenhaufens. Er stand knietief in den zerrissenen Leibern und zielte mit dem Gewehrlauf und seiner Lampe auf etwas auf dem Boden. »Klar, der muss es sein! Das ist ihr Boss. Ich hab den verdammten Saukerl.«
Branch und die anderen gingen eilig zu ihm und stellten sich vor dem Ding auf. Stocherten und traten eine Weile hinein.
»Es ist einwandfrei tot«, sagte der Sanitäter und wischte sich, nachdem er den Puls gesucht hatte, die Finger ab. Das beruhigte sie ein wenig. Sie rückten näher heran.
»Er ist größer als die anderen.«
»Der König der Affen.«
Zwei Arme, zwei Beine. Der Körper, der dort verdreht zwischen den anderen Leichen lag, sah lang gestreckt und durchtrainiert aus. Er war mit geronnenem Blut überzogen, das, seinen Wunden nach zu schließen, zumindest teilweise von ihm stammte.
»Ist das so eine Art Helm?«
»Er hat da Schlangen ... Dem wachsen Schlangen aus dem Kopf.«
»Ach was, schau doch hin. Das sind Rastalocken, verschmiert mit Dreck oder so.«
Das Haar war tatsächlich verfilzt und schmutzig, das reinste Medusen-Nest. Schwer zu sagen, ob einige dieser verkrusteten Haarschwänze auf seinem Kopf aus Knochen bestanden oder nicht, aber er wirkte eindeutig dämonisch. Und etwas in seinem Aussehen - die Tätowierungen, der eiserne Ring um den Hals ... Er war größer als diese Furien, die Branch damals in Bosnien gesehen hatte, und er wirkte viel kräftiger als die anderen Toten. Trotzdem war er nicht unbedingt das, was Branch erwartet hatte.
»Packt ihn ein«, sagte Branch. »Dann nichts wie weg hier.«
Washington war nervös wie ein Rennpferd. »Besser, ich erschieß ihn noch mal.«
»Wozu soll denn das gut sein?«
»Ist besser so. Er hat die anderen getrieben. Er muss böse sein.«
»Er hat genug«, erwiderte Branch.
Murrend versetzte Washington der Kreatur einen kräftigen Tritt in die Herzgegend und wandte sich ab. Als erwachte ein Tier zum Leben, saugte der große Brustkorb einen großen Zug Luft ein, dann noch einen. Washington hörte die Atemgeräusche und warf sich mit einem Hechtsprung zwischen die Leichen.
»Er lebt! Er wird wieder lebendig!«, schrie er noch im Abrollen.
»Immer langsam«, schrie Branch. »Nicht auf ihn schießen!«
»Aber die sterben nicht, Major, schauen Sie doch hin!«
Das Wesen zwischen den Leichen rührte sich.
»Nicht durchdrehen!«, rief Branch. »Lasst uns die Sache vernünftig angehen, ein Schritt nach dem anderen. Mal sehen, was da los ist. Ich will ihn lebend.« Sie waren nicht mehr allzu weit von der Oberfläche entfernt. Wenn sie Glück hatten, konnten sie ein lebendes Exemplar mit nach oben bringen. Falls es unterwegs Schwierigkeiten gab, konnten sie ihren Gefangenen immer noch ausknipsen und weiterlaufen. Branch musterte das Ding im Licht ihrer Stirnlampen.
Irgendwie hatte es dieser eine geschafft, ihrem Feuerzauber zu entgehen. So wie Branch die Claymores gesetzt hatte, hätte eigentlich jeder in der Kolonne eine Ladung abkriegen müssen. Dieser hier musste etwas gehört haben, was den Sklaven entgangen war, und sich rechtzeitig unter den tödlichen Explosionen weggeduckt haben. Mit derartig hoch entwickelten Instinkten hatten sich die Hadal dem Zugriff der Menschen im Laufe der Geschichte immer wieder entziehen können.
»Sicher, der ist ganz klar der Boss«, sagte jemand. »Der muss es sein. Wer denn sonst?«
»Vielleicht«, meinte Branch. Ihr Verlangen nach Vergeltung war kaum zu bändigen.
»Sieht man doch. Sehen Sie ihn bloß an!«
»Erschießen Sie ihn, Major«, verlangte Washington. »Der stirbt sowieso.«
Es bedurfte nur seines Wortes. Noch einfacher: Es bedurfte nur seines Schweigens. Branch müsste sich lediglich wegdrehen, und die Sache wäre erledigt.
»Sterben?«, sagte das Ding, öffnete die Augen und sah sie an. Branch war der einzige, der keinen Sprung zurück machte.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte es zu ihm.
Die Lippen zogen sich zurück und entblößten weiße Zähne. Es war das Grinsen eines Mannes, dem nichts mehr als eben jenes Grinsen geblieben war.
Und dann fing er an zu lachen, dieses Lachen, das sie schon früher vernommen hatten. Die Heiterkeit war ungespielt. Er lachte über sie. Über sich. Über seine Qual. Seine verzweifelte Lage. Über das Universum. Es war die größte Unverfrorenheit, die Branch jemals untergekommen war.
»Macht das Ding kalt«, sagte Sergeant Dornan.
»Nein!«, fuhr Branch dazwischen.
»Ah, na los schon«, sagte das Wesen. Der Akzent war eindeutig amerikanischer Westen. Wyoming oder Montana.
»Macht schon«, sagte er. Und hörte auf zu lachen.
In die Stille hinein lud jemand durch.
»Nein«, sagte Branch. Er kniete nieder. Monster neben Monster. Nahm den Medusen-Kopf in beide Hände.
»Wer bist du?«, fragte er. »Wie heißt du?« Als nähme er jemandem die Beichte ab.
»Ist das ein Mensch? Ist das einer von uns?«, murmelte ein Soldat ungläubig.
Branch beugte sich näher heran und sah ein jüngeres Gesicht, als er erwartet hätte. Erst jetzt fiel ihnen etwas an ihm auf, das man keinem der anderen Gefangenen zugefügt hatte. Dort, wo der Hals auf den Schultern saß, stand ein Eisenring heraus, den man in seiner Wirbelsäule befestigt hatte. Ein kurzer Ruck an diesem Ring, und der Bursche verwandelte sich in einen Kopf auf einem toten Körper. Der Gedanke jagte ihnen einen heiligen Schrecken ein. Was für eine Willenskraft, wenn sie durch solch drastische Mittel gebändigt werden musste.
»Wer bist du?«, fragte Branch.
Aus einem Auge des Wesens rollte eine Träne. Der Mann erinnerte sich. Er offenbarte seinen Namen, als überreichte er seinem Bezwinger sein Schwert. Er sprach so leise, dass Branch sich zu seinem Mund hinunterneigen musste.
»Ike.«
Stelle dir vor zum ersten,
daß unten die Erde überall
ist mit Höhlen durchsetzt,
die von Winden durchweht sind,
daß sie sodann auch Seen
und zahlreiche Wasserbehälter heget
in ihrem Schoße und schroffes Geklippe,
daß auch viele verborgene Ströme
die Fluten und Steine unter dem Rücken der Erde
mit Macht fortwälzen, ist unglaublich.
LUKREZ;
Über die Natur der Dinge (55 v. Chr.)