16 Schwarze Seide

AM WESTLICHEN ÄQUATOR

Der Paladin eilte die Pfade am Flussufer entlang und legte in kurzer Zeit gewaltige Entfernungen zurück. Er hatte von einer noch größeren Invasion erfahren, die sich diesmal sogar auf dem uralten Weg direkt auf ihre letzte Zuflucht zubewegte. Deshalb hatte er sich dazu entschlossen, sich diese Eindringlinge näher anzusehen und zu vernichten. Er kämpfte gegen sämtliche Erinnerungen an. Erlitt Demütigungen. Entledigte sich seines Verlangens. Streifte allen Kummer ab. Zum Wohle seines Volkes lief der Paladin immer weiter und versuchte, alle Gedanken an seine große Liebe auszulöschen.

Die Frau hatte ihm ein Kind geboren, hatte ihren Platz eingenommen und die ihr zugewiesenen Pflichten erfüllt. Sie hatte sich zähmen lassen. Die Gefangenschaft hatte ihren Geist und ihren Willen gebrochen, hatte eine reine Fläche geschaffen. So wie er hatte sie sich von den Einführungsritualen erholt. Er hatte mitgeholfen, sie zu formen, und sich nach und nach in seine Schöpfung verliebt. Jetzt war Kora tot.

Getrennt von seinem Clan und ohne seine Frau war er wurzellos, die Welt war weit und leer. Es gab so viele neue Gebiete und Lebensformen zu untersuchen, so viele Ziele, die ihn lockten. Er hätte sich von den Stämmen der Hadal lossagen und tiefer in den Planeten eindringen, vielleicht sogar an die Oberfläche zurückkehren können. Doch er hatte seinen Weg schon vor langer Zeit gewählt.

Nach vielen Stunden wurde der Paladin müde. Es war Zeit, sich auszuruhen. Laufend verließ er den Pfad. Seine Hand berührte die Felswand. Seine Fingerspitzen fanden zufällige Haltepunkte. Ein Teil seines Gehirns schlug eine andere Richtung ein, und nun zog er sich mit den Händen nach oben. Er kroch diagonal über die sanft gewölbte Seitenwand hinauf bis zu einer Vertiefung direkt über dem Fluss. Er witterte an der Höhlenöffnung. Beruhigt setzte er sich dann in die Steinmulde, zog seine Gliedmaßen an, verkeilte sich mit dem Rücken und sagte sein Nachtgebet. Einige der Worte entstammten einer Sprache, die seine Eltern und deren Eltern und deren Eltern gesprochen hatten. Worte, die Kora ihrer Tochter beigebracht hatte: Geheiligt werde Dein Name.

Der Paladin machte die Augen nicht zu. Doch die ganze Zeit über verlangsamte er seinen Herzschlag. Seine Atmung hörte fast auf. Er wurde ruhig. Und vergib uns unsere Schuld. Der Fluss eilte unter ihm dahin. Er schlief ein.

Stimmen weckten ihn, Stimmen, die sich auf der Oberfläche des Flusses brachen. Menschenstimmen.

Die Erkenntnis stellte sich nur langsam ein. In den vergangenen Jahren hatte er sich bemüht, diesen Klang zu vergessen. Es war ein schriller Missklang. Seine Aggressivität drang bis ins Mark, breitete sich flirrend aus, genau wie Sonnenlicht. Es war kein Wunder, dass sogar stärkere Tiere vor ihnen davonliefen. Er schämte sich dafür, einmal selbst zu ihrer Rasse gehört zu haben, auch wenn das schon über ein halbes Jahrhundert zurücklag.

Hörte man den Menschen zu, lag es auf der Hand, dass allein ihre Sprache den Ort entweihte. Der offene Raum hatte sie hirnlos gemacht. Ohne etwas über sich, ohne den Fels, der die Welt bedeckte, flogen ihre Gedanken davon, in eine Leere, die schrecklicher war als jeder Abgrund. Kein Wunder, dass sie ohne jede Vorkehrungen einfach so hereinspaziert kamen. Die Menschen hatten ihren Verstand an den Himmel verloren.

Sie kamen in Booten. Ohne Vorhut, ohne Disziplin, ohne Sicherheitsmaßnahmen, ohne Schutz für ihre Frauen. Sie glitten unter seiner Höhle vorbei, ohne auch nur einmal aufzusehen. Nicht einer von ihnen! Sie waren so selbstsicher. Dabei hing er für jeden sichtbar an der Decke über ihnen.

Ihre Flöße drängten sich in einem lang gezogenen, zufällig arrangierten Pulk durch den Tunnel. Er hörte auf, sie zu zählen und konzentrierte sich stattdessen auf die Schwachen und Nachzügler. Im Lauf der folgenden Stunde beobachtete er immer wieder Einzelne, die die Sicherheit der Gruppe gefährdeten, indem sie die Seitenwände streiften oder Essensreste einfach ins Wasser warfen. Die Hinweise, die sie möglichen Verfolgern hinterließen, waren mehr als einladend. Sie hinterließen sogar ihren Geschmack. Jedes Mal, wenn einer von ihnen mit dem Kopf gegen den Stein stieß, schmierte er Menschenfett an die Wand. Ihr Urin strömte einen weithin wahrnehmbaren Geruch aus. Außer sich die Schlagadern aufzuschlitzen und sich abwartend auf den Boden zu legen, hätten sie nicht viel mehr tun können, um sich zum Schlachten anzubieten.

Unglaublich, wie viele Frauen sie mit sich führten. Schnatternd und ahnungslos. Reife Frauen. Unbewacht. In diesem Zustand war auch Kora vor langer Zeit zu ihm in die Dunkelheit gekommen.

Nachdem sie mit der Strömung des Flusses verschwunden waren, wartete er noch eine Stunde, bis sich seine Augen von dem Licht erholt hatten. Dann löste er sich, einen Muskel nach dem anderen, aus der Vertiefung, ließ sich an einem Arm von dem schmalen Vorsprung herunterhängen und lauschte. Dann ließ er los und landete auf dem Pfad.

In der Dunkelheit untersuchte er ihren Abfall, leckte an einem Schokoladenpapier, schnüffelte an einem Stein, an dem sich ihre Körper im Vorbeifahren gerieben hatten. Dann verfolgte er sie wieder, lief auf alten, in das Gestein des Flussufers eingegrabenen Pfaden und holte sie bei ihrem nächsten Rastplatz ein. Er beobachtete sie. Nur selten sah er den Einen, der anders war als sie, der zu ihm gehörte.

Viele von ihnen unterhielten sich oder sangen vor sich hin, was ihm vorkam, als lauschte er ihren geheimsten Gedanken. Manchmal hatte auch Kora so gesungen, besonders für ihre Tochter.

Immer wieder entfernten sich Einzelne vom Lager und begaben sich in seine Reichweite. Er fragte sich, ob sie seine Anwesenheit spürten und versuchten, sich ihm als Opfer darzubieten. Einmal, in der Nacht, als sie schliefen, schlich er durch ihr Lager. Ihre Körper leuchteten in der Dunkelheit. Eine einzelne Frau zuckte zusammen, als er vorüberging, und sah ihn direkt an. Sein Anblick schien sie zu erschrecken. Er machte sich davon, sie verlor sein Bild aus dem Sinn und sank wieder in den Schlaf. Er war nicht mehr als ein flüchtiger Albtraum gewesen.

Die Zeit war noch nicht gekommen, einen von ihnen zu schnappen. Es hatte keinen Sinn, sie schon in diesem frühen Stadium zu beunruhigen. Sie drangen von ganz allein immer weiter in Richtung der Zufluchtsstätte vor, und er wusste bislang noch nicht, was sie eigentlich hierher führte. Also aß er Käfer und achtete darauf, dass er sie, damit sie nicht knackten, mit der Zunge zerquetschte.

Der Fluss wurde zu ihrer alltäglichen Besessenheit.

Sie bildeten eine Flottille aus zweiundzwanzig teilweise miteinander vertäuten Flößen. Andere trieben mit großem Abstand hinterher, weil ihre Passagiere allein sein wollten, wissenschaftliche Experimente durchführten oder ihre Liebschaften pflegten. Die großen Pontonkähne hatten eine Kapazität von zehn Mann plus 650 Kilo Fracht. Mit den kleineren Booten transportierten sie tagsüber Passagiere von einer Polyurethan-Insel zur anderen oder setzten sie als schwimmende Krankenhausbetten ein. Ike hatte man den einzigen Kajak überlassen.

Eigentlich hätte es hier unten keine Klimaveränderungen geben dürfen. Wind, Regen und Jahreszeiten waren wissenschaftlich unmöglich. Man hatte ihnen erzählt, der Subplanet sei hermetisch abgeriegelt, nahezu ein Vakuum, dessen Thermostat bei 30 Grad Celsius feststeckte und in dessen Atmosphäre sich nicht das Geringste änderte. Keine Wasserfälle, keine Dinosaurier und kein Licht.

Trotzdem gab es das alles. Sie kamen an einem Gletscher vorüber, der kleine blaue Eisberge in den Fluss kalbte. Von der Decke regnete es manchmal mit der Wucht eines Monsuns. Einer der Söldner war von einem gepanzerten Fisch gebissen worden, der sich offensichtlich seit dem Zeitalter der Trilobiten nicht mehr verändert hatte.

In immer geringeren Abständen durchführen sie Höhlen, die von einer steinfressenden Flechtenart erleuchtet waren. Allem Anschein nach streckten die Flechten in ihrer Reproduktionsphase einen fleischigen Stängel mit sowohl positiver als auch negativer elektrischer Ladung aus. Das Ergebnis war Licht, das wiederum Millionen von Plattwürmern anlockte. Diese wurden von Mollusken gefressen, die zu neuen, unbeleuchteten Regionen weiterzogen. Die Mollusken schieden Flechtensporen aus. Die Sporen reiften und fraßen sich an dem neuen Gestein fest. Zentimeter um Zentimeter breitete sich das Licht in der Dunkelheit aus.

In der dritten Augustwoche passierten sie die Ausläufer eines namenlosen Meeresberges, eines Vulkans auf dem Meeresboden. Die unterseeische Erhebung selbst saß anderthalb Kilometer über ihnen auf dem Meeresgrund und wurde von diesen Ganglien, die tief in die Erdkruste hineinreichten, mit frischem, flüssigem Magma versorgt. Die Felswände links und rechts des Flusses wurden warm. Gesichter wurden rot, Lippen sprangen auf. Ike, der einen karierten Baumwollschal um den Kopf geschlungen hatte, riet ihnen, alle Kleider anzubehalten. Doch die Feuchtigkeit in den Anzügen wurde unerträglich. Es dauerte nicht lange, und alle hatten sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, sogar Ike in seinem Kajak. Blinddarmnarben, Leberflecken und Muttermale wurden preisgegeben und sorgten später für neue Spitznamen.

Ali hatte noch nie einen solchen Durst verspürt. An einer Stelle wurden die Tunnelwände so heiß, dass sie dunkelrot glühten. Durch einen Spalt, der sich in der Wand öffnete, sahen sie glühendes Magma, das wie Gold und Blut brodelte und wallte und sich in der Gebärmutter des Planeten wälzte. Ali wagte nur einen Blick, wandte das Gesicht aber sofort wieder ab und paddelte weiter. Das Rauschen war wie ein gewaltiges geologisches Wiegenlied.

Der Fluss schlängelte sich durch das kochende Wurzelsystem des Vulkans. Wie immer gab es jede Menge Weggabelungen und falsche Abzweigungen. Ike wusste, woher auch immer, welchen Weg sie einschlagen mussten. Ali fuhr fast am Ende der Karawane. Der Tunnel wurde schmaler. Plötzlich ertönten von ganz hinten Schreie. O Gott, jetzt greifen sie uns an, dachte sie.

Dann tauchte Ike auf und schoss mit seinem Kajak flussaufwärts an Alis Floß vorbei. Plötzlich hielt er an. Vor ihm waren die Wände wie Plastik geschmolzen und beulten sich weit in den Tunnel hinein. Die schmale Fahrbahn war fast verschlossen und das allerletzte Floß hing auf der anderen Seite fest. Männerstimmen schrien nach Hilfe.

»Wer ist da drüben?«, fragte Ike Ali und ihre Mitfahrer.

»Walkers Leute«, antwortete jemand. »Es sind zwei.«

Der zusammengequetschte Fels gab wieder ein Geräusch von sich, als würde ein hölzerner Schiffsrumpf eingedrückt. Ein Stück der Außenwand des Tunnels sprang ab und schleuderte scharfkantige Brocken durch die Luft.

Walker und seine Leute kamen von weiter flussabwärts angepaddelt. Der Colonel schätzte die Situation ab.

»Zurücklassen«, sagte er.

»Aber es sind Ihre Männer«, erwiderte Ike.

»Wir können nichts für sie tun. Es ist jetzt schon zu schmal, um ihr Floß durchzukriegen. Die beiden wissen, dass sie umkehren und zurückgehen müssen, wenn sie abgeschnitten werden.« Die Soldaten in Walkers Booten waren starr vor Entsetzen. Von ihren Handrücken bis zu den Schultern zeichneten sich ihre Adern ab.

»Nein«, sagte Ike und paddelte flussaufwärts.

»Kehren Sie sofort um!«, rief ihm Walker nach.

Ike lenkte sein Kajak durch den sich verengenden Tunnel. Die Wände verformten sich unablässig, sie schmolzen und erstarrten wie Wachs. Ein Stück seines karierten Schals berührte die Wand und fing sofort Feuer. Die Haare auf seinem Kopf rauchten. Doch er drückte sich mit höchster Geschwindigkeit durch die Öffnung. Hinter ihm blähte sich der Stein auf. Auf einer Länge von drei Metern schloss sich der Schlund mit einem Schmatzen. Nur noch unter der Decke blieb ein Stück offen, aber dort kochte das Wasser in der Hitze, es war unmöglich, dass jemand hindurchkletterte.

»Ike?«, rief Ali.

Die neue Wand erdrosselte den Fluss sehr rasch. Die Boote sanken mit dem Wasserspiegel, nach und nach wurde der Flussgrund sichtbar. Der Tunnel füllte sich mit Dampf. Sie würden sich beeilen müssen, um mit dem letzten Wasser von hier verschwinden zu können.

»Hier können wir nicht bleiben«, sagte jemand.

»Wir warten!«, befahl Ali und fügte sogleich hinzu: »Bitte!«

Sie wartete, und der Wasserspiegel senkte sich immer mehr. In wenigen Minuten würde ihr Floß auf dem nackten Gestein festsitzen.

Alis aufgesprungene Lippen teilten sich. Gott im Himmel, betete sie. Lass diesen Mann zurückkommen. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Gebete waren kein Tauschhandel. Mit Gott machte man keine Geschäfte. Damals, als Kind, hatte sie für die Rückkehr ihrer Eltern gebetet. Seither hatte Ali beschlossen, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren. Dein Wille geschehe.

»Lass ihn leben«, murmelte sie.

Der Fels teilte sich nicht. Das hier war keine Märchenwelt.

»Gehen wir«, sagte Ali.

Dann hörten sie ein anderes Geräusch. Der auf der anderen Seite aufgestaute Fluss war entsprechend gestiegen. Mit einem Mal schoss ein Wasserstrahl durch die Öffnung unter der Decke.

»Seht doch!«

Wie Jonas, der aus dem Bauch des Wals ausgespien wurde, kamen zuerst ein Mann und dann ein zweiter durch das Loch geschossen. Das kalte Wasser schützte sie vor dem sengend heißen Stein und schleuderte sie in den tiefer gelegenen Fluss auf der anderen Seite. Die beiden Soldaten torkelten durch das hüfthohe Wasser, ohne Waffen, verbrannt und nackt. Aber sie waren am Leben. Das Floß mit den Wissenschaftlern kehrte um und die Besatzung zog die beiden unter Schock stehenden Männer an Bord.

»Wo ist Ike?«, schrie Ali sie an, aber ihre Kehlen waren so geschwollen, dass sie keinen Ton herausbrachten.

Sie drehten sich zu dem Wasserstrahl um, und jetzt schoss eine Gestalt durch die Düse. Sie war lang und schwarz und grau gesprenkelt ... Ikes leerer Kajak. Als Nächstes kam das Paddel und dann Ike selber. Sobald er im flachen Wasser gelandet war, goss er das Wasser aus dem Kajak, schwang sich hinein und paddelte zu ihnen flussabwärts. Er war angesengt, aber unversehrt, sogar sein Gewehr hatte er noch umgehängt.

Es war empfindlich knapp gewesen, und das wusste er auch. Er holte tief Luft, schüttelte das Wasser aus dem Haar und bemühte sich, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Dann blickte er ihnen der Reihe nach in die Augen, Ali zuletzt.

»Worauf warten wir?«, fragte er.

Die Expedition beendete ihren Marathonlauf unter dem unterseeischen Vulkan hindurch erst vier Stunden später, als die Boote auf eine Klippe in kühler Luft gezogen wurden. Auch ein kleines Rinnsal mit klarem Wasser gab es dort.

Walker erhielt seine beiden nackten Soldaten zurück. Es war nicht zu übersehen, wie dankbar sie Ike waren. Die Schande des Colonels, der sie einfach hatte im Stich lassen wollen, schwebte wie eine giftige Wolke über dem Lager.

Dann wurde zwanzig Stunden geschlafen. Als sie erwachten, hatte Ike mit Steinen einen kleinen Damm errichtet, um das Rinnsal als Trinkwasserbecken aufzustauen. Ali hatte ihn noch nie so glücklich gesehen.

»Du hast ihnen befohlen zu warten«, sagte er zu ihr. Vor aller Augen küsste er sie auf den Mund. Vielleicht hielt er das für die sicherste Art und Weise. Obwohl ihr die Röte ins Gesicht schoss, sträubte sie sich nicht.

Inzwischen sah Ali den Erzengel unter Ikes vernarbter und tätowierter Schale. Er strahlte einen Hauch von Unsterblichkeit aus. Sie sah, dass jede Herausforderung, jedes Risiko diesen Überlebenswillen verstärkte, und dass ihn letztendlich vielleicht nur ein Judaskuss vernichten konnte.

Natürlich tauften sie den Fluss auf den Namen Styx. Die langsame Strömung trug sie mit sich. An manchen Tagen tauchten sie kaum ein Paddel ein und ließen sich einfach treiben. Über Hunderte von Kilometern zog sich das Ufer mit elastischer Monotonie dahin. Den auffälligsten Orientierungspunkten gaben sie Namen, und Ali hielt die Namen jeden Abend auf ihren Karten fest.

Nach einem Monat der Akklimatisierung hatte sich ihr Wach- und Schlafrhythmus endlich an die unterirdische Nacht angepasst. Der Schlaf ähnelte einer Überwinterung, tiefen Stürzen in Träume und REMs, die sie förmlich durchschüttelten. Zuerst verlegte sich die Gruppe auf Schlaf spannen von zehn, später auf zwölf Stunden. Jedes Mal, wenn sie die Augen schlossen, kam es ihnen vor, als schliefen sie länger. Letztendlich pendelten sich ihre Körper auf eine allgemeine Norm ein: fünfzehn Stunden. Nach einem solchen Schlaf waren sie normalerweise fit für einen »Tag« von dreißig Stunden.

Ike musste ihnen erst beibringen, wie man sich einen dermaßen langen Wachzyklus einteilte, sonst hätten sie sich womöglich selbst ruiniert. Man brauchte kräftigere Muskeln und dickere Schwielen, man musste ständig auf Atmung und Nahrungsaufnahme achten, um sich vierundzwanzig Stunden oder länger am Stück bewegen zu können.

Ike versuchte, sie auch mit einem neuen Bewusstsein auszurüsten. Die Formen der Steine, der Geschmack der Mineralien, die schweigenden Löcher einer Höhle: Prägt euch alles ein, sagte er. Sie zogen ihn damit auf. Er kannte sich mit all dem Kram aus, und damit waren sie entlastet. Es war seine Aufgabe, nicht ihre. Er versuchte es trotzdem. Eines schönen Tages habt ihr eure Instrumente und eure Karten vielleicht nicht mehr. Oder mich. Ihr müsst mit Hilfe eurer Fingerspitzen herausfinden, wo ihr seid, ihr müsst Echos bestimmen. Einige versuchten, von ihm zu lernen. Mittlerweile genoss er großen Respekt bei den Wissenschaftlern. Es gefiel ihnen, wie er Walkers finstere Pistolenhelden einschüchterte.

Noch bevor die andern morgens wach wurden, sah Ali ihn oft im schwarzen Wasser davongleiten, ohne die geringste Spur einer Kielwelle. Wenn sie ihn wie einen Mönch in die Wildnis entschwinden sah, musste sie unwillkürlich an die einfache Kraft eines reinen Gebetes denken.

Ike markierte die Wände einfach mit einem Paar Leuchtstäbe und zog weiter. Später trieben sie dann an seinen blauen Kreuzen vorüber, die wie eine Neonschrift über dem Wasser glommen und den Erlöser zu verkünden schienen. Sie folgten ihm durch Öffnungen und Kanäle. Für gewöhnlich wartete er auf einer Böschung aus grünem Granat, auf einem Vorsprung aus Eisenerz, oder er saß in seinem nachtfarbenen Kajak und hielt sich an einer Felsnase fest. Ali gefiel er besonders gut in diesem friedlichen, ruhigen Zustand.

Eines Tages kamen sie um eine Biegung und hörten ein seltsames Geräusch, eine Mischung aus Pfeifen und Windgeheul. Ike hatte ein primitives Musikinstrument gefunden, das ein Hadal zurückgelassen hatte. Es war aus Tierknochen gefertigt und verfügte über drei Löcher an der Oberseite und drei an der Unterseite. Die Flöße legten an, und einige Flötenspieler versuchten sich der Reihe nach an dem Instrument, wobei einer ihm ein paar Töne Bach, ein anderer eine Melodie von Jethro Tull entlockte.

Als sie Ike die Flöte zurückgaben, spielte er das, wozu sie einst gemacht worden war. Es war ein Lied der Hadal, eine fremdartige, langsame Melodie. Die nie gehörten Klänge schlugen alle in ihren Bann, sogar die Soldaten. Solche Töne brachten die Hadal hervor? Synkopen, Triller, plötzliche Grunzlaute, schließlich ein gedämpfter Ruf: Es war ein Lied der Erde, voll von Tier- und Wassergeräuschen und dem Grollen der Erdbeben.

Ali war begeistert und abgestoßen zugleich. Die Knochenflöte verriet noch mehr über Ikes Gefangenschaft als seine Tätowierungen und Narben. Nicht nur, dass er sich an das Lied erinnerte und seine Melodie spielen konnte - er war offensichtlich ganz versunken darin. Diese fremdartige Musik ging ihm zu Herzen.

Als Ike zu Ende gespielt hatte, betrachtete er die Knochenflöte, als hätte er noch nie im Leben ein solches Instrument gesehen. Dann schleuderte er sie in den Fluss. Nachdem die anderen weg waren, tastete Ali auf dem Grund herum und zog sie wieder heraus.

Zu Fuß hatten sie im Schnitt weniger als sechzehn Kilometer am Tag geschafft. Aber in den vergangenen zwei Wochen auf dem Wasser waren sie über 2000 Kilometer weit getrieben. Wenn der Fluss sie noch weiter begleitete, würden sie schon in drei Monaten im Bauch Asiens herauskommen.

Das dunkle Wasser war nicht völlig dunkel. Es hatte einen leichten pastellfarbenen Phosphorschimmer. Wenn sie ihre Scheinwerfer ausgeschaltet ließen, hob sich der Fluss wie eine bleichgrüne Geisterschlange von der Dunkelheit ringsum ab. Mit Unterstützung des gedämpft glimmenden Flusses waren die Geduldigen unter ihnen schon bald in der Lage, in der dunklen Umgebung ausreichend zu sehen. Das einst so unentbehrliche Licht schmerzte nun in ihren Augen. Trotzdem bestand Walker auf hellen Scheinwerfern als Flankenschutz, auch wenn dadurch viele Experimente und Beobachtungen der Wissenschaftler zunichte gemacht wurden. Das wiederum veranlasste die Wissenschaftler, ihre Flöße in möglichst großer Entfernung von denen der Soldaten zu halten. Keiner von ihnen dachte sich etwas dabei - bis zu dem Abend, als sie das Mandala fanden.

Es war ein kurzer Tag gewesen, achtzehn leichte, von nur wenig Abwechslung unterbrochene Stunden. Die kleine Armada umrundete eine Flussbiegung, als ein Scheinwerfer in der Ferne eine blasse, einsame Gestalt auf dem Ufer erfasste. Es konnte eigentlich nur Ike sein, der an der Stelle wartete, die er für sie als Lagerplatz ausgesucht hatte; doch er reagierte nicht auf ihre Rufe. Als sie näher kamen, sahen sie, dass er in der klassischen Lotusposition dasaß und die Felswand anstarrte.

»Was soll dieser Quatsch?«, meckerte Shoat. »He, Buddha! Wir bitten untertänigst um Landeerlaubnis!«

Sie vertäuten die Flöße und suchten sich flache Stellen für die Schlafmatten. Ike schien fürs Erste vergessen. Erst nachdem das Lager eingerichtet war, widmeten sie ihm wieder ihre Aufmerksamkeit. Ali gesellte sich zu der rasch wachsenden Gruppe Neugieriger. Ikes Rücken war ihnen zugekehrt. Er war nackt und hatte sich noch keinen Zentimeter bewegt.

»Ike?«, sagte Ali. »Ist alles in Ordnung?«

Sein Brustkorb hob und senkte sich. Die Finger einer Hand berührten den Boden. Er war viel dünner, als Ali sich vorgestellt hatte. Seine Schlüsselbeine erinnerten eher an einen Bettelmönch als an einen Krieger, aber ihr Staunen rührte nicht allein von seiner Nacktheit her. Er war gefoltert worden: Lange, schmale Streifen aus Narbengewebe fassten seine Wirbelsäule ein und umrankten die Stelle, an der die Ärzte seinen berühmten Rückenmarksring entfernt hatten. Zusätzlich war diese ganze Leinwand des Schmerzes mit Tinte verziert, besser gesagt: verunstaltet. Im zitternden Licht der Lampen schienen die geometrischen Muster, Tierbilder, Glyphen und Texte auf seiner Haut lebendig zu werden.

»Um Gottes Willen«, stöhnte eine Frau und verzog das Gesicht.

»Wie lange sitzt er schon so da?«, fragte jemand. »Was macht er da eigentlich?«

Niemand antwortete. Diesen Außenseiter umgab etwas ungemein Machtvolles. Er hatte Gefangenschaft, Armut und Erniedrigung in einem Ausmaß durchlitten, das sie sich nicht einmal vorstellen konnten. Trotzdem war diese Wirbelsäule gerade wie ein Schilfrohr, richtete dieser Geist sich auf etwas, das all seine Qualen transzendierte. Ike war eindeutig im Gebet versunken.

Erst jetzt sahen sie, dass die Wand, vor der er saß, eine Ansammlung von gemalten Kreisen aufwies. Die Strahlen ihrer Taschenlampen ließen die Umrisse nahezu verblassen.

»Hadal-Gekritzel«, schnaubte einer der Soldaten verächtlich.

Ali ging näher heran. Die Kreise waren mit schwach gezeichneten Linien und Schnörkeln ausgefüllt, eine Art Mandala. Sie vermutete, dass es im Dunkeln leuchtete. Im Licht so vieler Lampen ließ sich hingegen fast nichts erkennen.

»Crockett«, blaffte Walker, »jetzt reißen Sie sich mal zusammen.« Ikes Fremdartigkeit erschreckte manche Leute, und Ali vermutete, dass der Colonel von Ikes stummem Leiden peinlich berührt war, als entzöge es ihm noch mehr von seiner eigenen Autorität. Als Ike sich nicht rührte, sagte Walker nur: »Hängt dem Mann etwas über.«

Einer seiner Männer machte sich daran, Ike notdürftig mit seinen um ihn herum liegenden Kleidern zuzudecken. »Colonel«, sagte der Soldat, »vielleicht ist er ja tot. Fühlen Sie mal, wie kalt er ist.«

Innerhalb der folgenden hektischen Minuten stellten die Ärzte aus dem Team fest, dass Ike seinen Metabolismus fast bis zum Stillstand verlangsamt hatte. Sein Puls betrug kaum mehr als zwanzig, seine Atmung weniger als drei Zyklen pro Minute. »Ich habe schon von Mönchen gehört, die so was praktizieren«, sagte jemand. »Eine Art Meditationstechnik.«

Die Gruppe löste sich auf und ging wieder zum Lager, um zu essen und zu schlafen. Viel später kehrte Ali noch einmal zurück, um nach Ike zu sehen. Es geschah aus reiner Fürsorge, redete sie sich selbst ein. Er saß immer noch mit geradem Rücken und auf dem Boden ruhenden Fingerspitzen vor dem Mandala. Sie ließ ihre Lampe aus und kroch näher, um ihm sein Hemd, das heruntergerutscht war, wieder um die Schultern zu legen. Erst jetzt sah sie das Blut, mit dem sein Rücken überzogen war. Außer ihr musste noch jemand Ike einen Besuch abgestattet und ihm eine Messerklinge quer über die Schulter gezogen haben.

Ali war außer sich.

»Wer hat das getan?«, fragte sie gepresst. Es hätte ein Soldat sein können. Oder Shoat. Oder Walker.

Mit einem Mal füllten sich seine Lungen. Sie hörte, wie die Luft langsam aus seiner Nase entwich. Wie im Traum hörte sie ihn sagen: »Es läuft alles aufs Gleiche hinaus.«

Als die Frau sich von der Gruppe trennte und einen vom Fluss abzweigenden Seitengang heraufschlich, dachte er, sie wollte sich nur erleichtern. Es war eine perverse Eigenart dieser Rasse, dass die Menschen zu diesem Zweck immer allein irgendwohin gingen. Ausgerechnet im Moment ihrer größten Hilflosigkeit, mit geöffneten Därmen, von der Kleidung gefesselten Fußknöcheln und Wolken von Eigengeruch um sich herum, ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie den Schutz ihrer Gefährten am dringlichsten benötigten, bestanden sie auf ihrer Einsamkeit.

Zu seiner Verwunderung entleerte das Weibchen seine Därme nicht. Es nahm stattdessen ein Bad. Zuerst zog sie ihre Kleider aus. Im Licht der Stirnlampe seifte sie ihren Schamhügel ein, verteilte den Schaum mit den Handflächen auch auf Hüften und Oberschenkel und schrubbte dann mit den Händen an den Beinen auf und ab. Sie ähnelte keinesfalls den fetten Venusgöttinnen, die gewisse Stämme, die er beobachtet hatte, über alles schätzten. Aber sie war auch nicht knochig. Sowohl Hinterteil als auch Oberschenkel waren durchaus muskulös. Der Beckengürtel leuchtete in der Dunkelheit, ein solides Gefäß, bestens geeignet zum Austragen von Kindern. Sie goss den Inhalt einer Flasche über ihren Schultern aus, und das Wasser rann über ihre rundlichen Konturen. In diesem Augenblick beschloss er, sie zu schwängern.

Vielleicht, überlegte er, war Kora nur gestorben, um Platz für diese Frau zu machen. Oder sie war ein vom Schicksal gesandter Trost für Koras Tod. Es war sogar möglich, dass sie Kora war, von einem Gefäß ins nächste übergewechselt. Wer wusste das schon? Wie es hieß, ließen sich die Seelen auf der Suche nach einer neuen Wohnstatt im Fels nieder und suchten sich ihren Weg durch die Spalten.

Sie hatte die makellose Haut eines Neugeborenen. Ihre Statur und ihre langen Glieder waren viel versprechend. Das tägliche Leben würde wohl anstrengend für sie werden, aber insbesondere die Beine zeugten von Ausdauer. Er stellte sich ihren Körper mit den Ringen, Farben und Narben vor, die er anbringen würde, sobald er über ihn verfügte. Falls sie die Initiationszeit überlebte, würde er ihr einen Hadal-Namen geben, der gefühlt und gesehen, jedoch niemals ausgesprochen werden konnte, so wie er schon vielen Namen gegeben hatte. So wie auch er seinen Namen erhalten hatte.

Die Eroberung konnte auf mehreren Wegen erfolgen. Er konnte sie locken. Er konnte sie einfach packen. Er konnte ihr einfach ein Bein ausrenken und sie wegtragen. Schlug all das fehl, gab sie immer noch mehrere leckere Portionen Fleisch ab.

Seine Erfahrung lehrte ihn, dass Versuchung die verlockendste Methode war. In dieser Hinsicht war er sehr geschickt, beinahe artistisch, wie sich auch an seinem Status unter den Hadal ablesen ließ. Schon mehrere Male war es ihm nahe der Oberfläche gelungen, kleine Gruppen in seine Gewalt zu bekommen. Hatte man erst eine - oder einen - geschnappt, konnte man mit diesem Fang leicht auch die anderen anlocken. Handelte es sich um eine Frau, folgte ihr oft ihr Mann. Ein Kind garantierte zumindest einen Elternteil.

Er sprach sie an. Er flüsterte in ihre Richtung. Auf Englisch.

»Hallo?« Er tat nichts, um sein Verlangen zu verbergen.

Sie hatte sich gerade nach einer zweiten Wasserflasche umgedreht und hielt beim Klang seiner Stimme inne. Ihr Kopf wandte sich nach links und rechts. Der Laut war von hinten gekommen, aber sie beurteilte mehr als nur seine Richtung. Diese Aufgewecktheit gefiel ihm, ihre Fähigkeit, die Gelegenheiten ebenso wie die Gefahren blitzschnell abzuwägen.

»Was tust du hier draußen?«, fragte die Frau. Sie war sich ihrer selbst so sicher, dass sie keinen Versuch unternahm, ihre Blöße zu bedecken.

»Beobachten«, antwortete er. »Ich habe dich beobachtet.«

»Und was willst du?«

»Was ich will?« Er fühlte sich an Kora erinnert. »Die Welt«, sagte er. »Ein Leben. Dich.«

Sie überlegte kurz. »Du bist einer der Soldaten.«

»Richtig«, sagte er. Er log sie nicht an. »Ich war einmal Soldat.«

»Willst du dich mir denn nicht zeigen?«, fragte sie, und er wusste, dass das nicht unbedingt ihren Wünschen entsprach.

»Nein«, sagte er. »Noch nicht. Vielleicht würdest du mich verraten.«

»Und wenn schon?«

Er roch ihr verändertes Verhalten. Der kräftige Duft ihres Geschlechts breitete sich in der kleinen Höhle aus.

»Sie würden mich deswegen töten«, erwiderte er.

Sie schaltete das Licht aus.

Ali wusste, dass die Hölle sie einholen würde.

Mollys Verfassung war Ali zum ersten Mal bei einem nachmittäglichen Pokerspiel aufgefallen. Sie saßen allein in einem kleinen Floß. Molly deckte ein Pärchen Asse auf, als Ali ihre Hände sah.

»Du blutest ja«, sagte sie.

Molly lächelte unsicher. »Ist nicht so schlimm. Das kommt und geht.«

»Seit wann?«

»Weiß nicht.« Sie wich aus. »Seit einem Monat oder so.«

»Was ist passiert? Das sieht ja schrecklich aus.«

Mitten in ihre Handfläche war ein Loch gekratzt, das darunter liegende Fleisch sah wie ausgepult aus. Es war kein Schnitt, aber es war auch kein Geschwür. Es sah aus wie von Säure verätzt, nur hätte Säure die Wunde ausgebrannt.

»Blasen«, sagte Molly. Unter ihren Augen hatten sich tiefe dunkle Ringe eingegraben. Sie rasierte sich den Schädel aus Gewohnheit ganz kahl, doch seit einiger Zeit machte sie nicht mehr den Eindruck strotzender Gesundheit.

»Das sollte sich vielleicht mal einer unserer Ärzte ansehen«, meinte Ali.

Molly schloss die Fäuste. »Mir fehlt nichts.«

»Ich mache mir nur Sorgen«, erwiderte Ali. »Wir müssen ja nicht darüber reden.«

Eines Abends tropfte Blut aus Mollys Augen. Um kein Risiko einzugehen, steckten die Ärzte sie auf einem Boot in Quarantäne, das hundert Meter hinter den anderen hergezogen wurde. Ali entschloss sich, bei ihr zu bleiben.

Die Aussicht auf eine exotische Krankheit versetzte die Expedition in Angst und Schrecken. Ali hatte Verständnis dafür, aber was ihr nicht gefiel, waren Walkers Soldaten, die sie und Molly durch die Fernrohre ihrer Gewehre beobachteten. Man hatte ihnen kein Walkie-Talkie mitgegeben, weil Shoat gemeint hatte, sie würden es doch nur benutzen, um die anderen zu beschwatzen, sie zurückzuholen.

Am Morgen des vierten Tages löste sich ein Schlauchboot von der Flottille und machte sich auf den Weg zu ihnen. Zeit für den Hausbesuch. Die Ärzte trugen Mundschutz, Einmalkittel und Gummihandschuhe. Einer richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf Molly. Ihre schönen Lippen waren aufgesprungen, ihr üppiger Körper siechte dahin. Die Geschwüre hatten sich über den gesamten Körper ausgebreitet. Sie drehte den Kopf vom Licht weg.

Einer der Mediziner stieg in Alis Boot. Sie kletterte in das andere Boot, und der zweite Arzt paddelte ein Stück weg, um sich mit ihr zu unterhalten. »Wir können uns keinen Reim darauf machen«, sagte er mit vom Mundschutz gedämpfter Stimme. »Wir haben noch einen Bluttest gemacht. Es könnte sich immer noch als Insektengift oder allergische Reaktion herausstellen. Aber was es auch ist, Sie haben es nicht. Sie müssen nicht hier draußen bei ihr sein.«

Ali hielt der Versuchung stand. Von den anderen würde sich niemand freiwillig melden, so verängstigt wie sie waren. Und Molly durfte nicht allein gelassen werden. »Noch eine Transfusion«, sagte Ali. »Sie braucht mehr Blut.«

»Wir haben ihr schon zwei Liter gegeben. Sie ist das reinste Sieb. Ebenso gut könnten wir es ins Wasser gießen.«

»Haben Sie aufgegeben?«

»Natürlich nicht«, erwiderte der Arzt. »Wir versuchen alles, um ihr zu helfen.«

Ali fühlte sich kalt und hölzern. Und sehr, sehr müde. Molly würde sterben.

Fieber setzte ein. Ali spürte seine Hitze, wenn sie sich über Molly beugte. Eine Art ranziges Fett trat aus ihren Poren. Sie wurde auf Antibiotika gesetzt, aber es half nichts.

Irgendwann später schlug Ali die Augen auf, und Ike saß in seinem grau-schwarzen Kajak längs des Quarantänefloßes und schaukelte auf der trägen Strömung. Er trug weder den vorgeschriebenen Kittel noch einen Mundschutz. Seine Missachtung der Befehle war für Ali wie ein kleines Wunder. Er machte sein Kajak fest und wechselte ins Floß über.

»Ich wollte dich besuchen«, sagte er. Molly lag schlafend in Alis Schoß.

Ike schob eine Hand unter Mollys geschorenen Kopf, hob ihn vorsichtig an und beugte sich zu ihr hinab. Ali dachte schon, er wollte sie küssen, doch er roch an ihrem offenen Mund. Ihre Zähne waren rot verschmiert. »Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte er, als handelte es sich dabei um eine Gnade. »Du solltest für sie beten.«

»Ach, Ike«, seufzte Ali. Mit einem Mal wollte sie in den Arm genommen werden, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, ihn darum zu bitten. »Sie ist noch viel zu jung. Und hier ist nicht der richtige Ort. Sie hat mich gefragt, was mit ihrem Körper geschehen wird.«

»Ich weiß, was zu tun ist«, beruhigte er sie, ließ sich aber nicht näher aus. »Hat sie dir erzählt, wie es passiert ist?«

»Das weiß keiner«, sagte Ali.

»Sie schon.«

Später beichtete Molly es ihr. Zuerst hörte es sich an wie ein Witz.

»He, Al«, fing sie an. »Willste mal was ‘ne richtig tolle Story hören?«

»Nur wenn sie gut ist«, scherzte Ali. Mit Molly musste man so umgehen. Sie hielten sich an den Händen.

»Na schön«, sagte Molly, und ihr schmales Grinsen flackerte auf und verschwand wieder. »Vor ungefähr einem Monat war es, als ich mit dieser Sache anfing. Ich hielt ihn für einen Soldaten. Damals, beim ersten Mal.«

Ali wartete, bis Molly die ganze Geschichte parat hatte. Sünde war Begräbnis. Erlösung war Ausgrabung. Wenn Molly Hilfe beim Buddeln brauchte, würde ihr Ali jederzeit beistehen.

»Er war irgendwo im Dunkeln«, sagte Molly. »Du kennst ja die Regeln des Colonel. Die Soldaten dürfen nicht mit uns Ungläubigen fraternisieren. Ich weiß auch nicht, was mich damals überkam. Vermutlich Mitleid. Also gewährte ich ihm die Dunkelheit, ließ ihm seine Anonymität. Er durfte mich haben.«

Ali war nicht im Geringsten schockiert.

»Ihr habt miteinander geschlafen«, sagte sie.

»Wir haben gefickt«, stellte Molly klar.

Ali wartete. Wo lag die Schuld?

»Es war nicht das einzige Mal«, fuhr Molly fort. »Abend für Abend schlich ich mich in die Dunkelheit, und er war immer da, wartete dort auf mich.«

»Verstehe«, sagte Ali, doch sie verstand nicht allzu viel. Sie konnte dann nichts Verwerfliches erkennen.

»Am Schluss war es wohl die Neugier, die mich nicht ruhen ließ. Eine Frau will doch wissen, wer ihr Märchenprinz ist, stimmt’s?«

Molly hielt inne. »Also machte ich eines Nachts meine Lampe an.«

»Und?«

»Das hätte ich besser nicht tun sollen.«

Ali runzelte die Stirn.

»Es war keiner von Walkers Soldaten.«

»Also einer der Wissenschaftler«, nickte Ali.

»Auch nicht.«

»Ach?« Wer war da noch übrig?

Mollys Unterkiefer versteifte sich in einem Fieberanfall. Sie fing an zu zittern. Nach einigen Sekunden machte sie die Augen wieder auf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen.« »Du weißt, dass das unmöglich ist. Nach vier Monaten gibt es keine Fremden in unserer Gruppe.«

»Ich weiß. Aber genau so ist es.«

Ali sah, dass sie es ernst meinte und erschrak zutiefst. »Beschreib ihn mir. Bevor du das Licht angemacht hast.«

»Er roch irgendwie anders. Seine Haut. Als er in meinem Mund war, schmeckte er auch anders. Kennst du das? Jeder Mann hat seinen eigenen Geschmack, aber etwas ist immer gleich. Ob schwarz, weiß oder braun, das spielt keine Rolle. Schweiß, Sperma, sogar der Atem, sie haben alle das gleiche Aroma.«

Ali hörte aufmerksam zu.

»Er nicht. Mein Mitternachtsmann. Das heißt nicht, dass er nach nichts schmeckte, aber es war anders. Als hätte er mehr Erde in seinem Blut. Mehr Dunkelheit. Ich weiß auch nicht.«

Das brachte sie nicht viel weiter. »Was ist mit seinem Körper? Gab es irgendetwas, was dir besonders auffiel? Körperbehaarung? Muskeln?«

»Doch. Ich spürte seine Narben. Wie durch den Wolf gedreht. Alte Wunden. Gebrochene Knochen. Und ... jemand hat Muster in seinen Rücken und seine Arme geschnitten.«

Es gab nur einen, auf den Mollys Beschreibung passte. Erst jetzt erkannte Ali, dass Molly vielleicht versuchte, seine Identität vor ihr geheim zu halten. »Und als du das Licht anmachtest .«

»Mein erster Gedanke war: Ein wildes Tier! Er hatte Streifen und Flecken. Aber auch Bilder und Buchstaben.«

»Tätowierungen«, sagte Ali. Warum die Sache unnötig in die Länge ziehen? Aber es war schließlich Mollys Beichte.

Molly nickte zustimmend. »Es geschah alles ganz rasch. Er schlug mir die Lampe aus der Hand. Dann war er weg.«

»Fürchtete er sich vor deiner Lampe?«

»Das glaubte ich jedenfalls. Später fiel mir noch etwas anderes ein. In diesem ersten Moment schrie ich laut einen Namen. Jetzt glaube ich, es war dieser Name, der ihn davonlaufen ließ. Aber er hatte keine Angst.«

»Welchen Namen, Molly?«

»Es war falsch, Ali. Es war der falsche Name. Sie sahen sich nur ähnlich.«

»Ike«, murmelte Ali. »Du sagtest seinen Namen, weil er es war.«

»Nein.« Molly unterbrach sie.

»Natürlich war er es.«

»Nein, war er nicht. Ich wünschte, er wäre es gewesen. Verstehst du denn nicht?«

»Nein. Du glaubtest, er sei es gewesen. Du wolltest, dass er es war.«

»Ja«, flüsterte Molly. »Denn wenn er es nicht war ...?«

Ali zögerte.

»Genau das will ich doch sagen«, stöhnte Molly. »Was ich da zwischen meinen Beinen hatte ...« Die Erinnerung ließ sie zusammenzucken. »Da draußen ist jemand.«

Ali drehte den Kopf unwillkürlich nach hinten. »Ein Hadal! Aber warum hast du uns das nicht schon vorher gesagt?«

Molly lächelte. »Damit ihr es Ike sagt? Dann hätte er sich auf die Jagd gemacht.«

»Aber sieh doch«, sagte Ali und fuhr mit den Fingerspitzen über Mollys verwüsteten Körper. »Sieh doch nur, was er dir angetan hat.« »Du kapierst es immer noch nicht, meine Kleine.«

»Sag jetzt nicht, du hast dich verliebt.«

»Warum denn nicht? Du doch auch.« Molly schloss die Augen.

»Jedenfalls ist er jetzt weg. In Sicherheit. Vor uns. Und du darfst es niemandem verraten. Beichtgeheimnis, stimmt’s, Schwester?«

Ike war bei ihnen, als es zu Ende ging. Molly schnappte nach Luft wie ein kleines Vögelchen. Fett schwitzte aus ihren Poren. Ali wusch ihren Körper immer wieder mit Wasser, das sie mit einer Tasse aus dem Fluss schöpfte.

»Du solltest dich ein wenig ausruhen«, sagte Ike. »Du hast getan, was du konntest.«

»Ich will mich nicht ausruhen.«

Er nahm ihr die Tasse ab. »Leg dich hin«, sagte er. »Schlaf.«

Als sie Stunden später aufwachte, war Molly nicht mehr da. Ali fühlte sich vor Müdigkeit wie benommen. »Haben die Ärzte sie geholt?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Nein.«

»Was soll das heißen?«

»Sie ist nicht mehr bei uns, Ali. Tut mir Leid.«

Ali beruhigte sich. »Wo ist sie, Ike. Was hast du getan?«

»Ich habe sie dem Fluss übergeben.«

»Molly? Das ist nicht dein Ernst!«

»Ich weiß, was ich tue.«

Für einige Sekunden litt Ali unter schrecklicher Einsamkeit. Es hätte nicht auf diese Weise geschehen dürfen. Die arme Molly! Verdammt dazu, bis in alle Ewigkeit in dieser Welt umherzutreiben. Ohne Begräbnis!

Ohne dass andere auch nur die Chance erhielten, sich von ihr zu verabschieden?

»Wer hat dir das Recht gegeben?«, schrie sie.

»Ich wollte dir die Sache nicht noch schwerer machen.«

Ali spürte, wie der Zorn in ihr hochstieg. »Beantworte mir bitte eine Frage: War Molly tot, als du sie über Bord geworfen hast?«

Die Frage traf ihn wie ein Schlag. »Du glaubst doch nicht ... ich hätte sie ermordet?«

Sie konnte förmlich zusehen, wie Ike sich von ihr zurückzog. Etwas huschte über sein Gesicht, das Entsetzen einer Missgeburt, die in ihr eigenes Spiegelbild blickt.

»Ich habe es nicht so gemeint«, sagte sie.

»Du bist müde«, entgegnete er. »Du bist völlig fertig.«

Er stieg in seinen Kajak und verschwand in der Dunkelheit. Sie fragte sich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn man verrückt wurde.

»Lass mich bitte nicht allein«, murmelte sie.

Nach einer Minute spürte sie einen Ruck. Das Seil straffte sich. Das Floß bewegte sich. Ike zog sie in die Gesellschaft der Menschen zurück.



Die Azteken sagten, daß,

solange einer von ihnen übrig sei,

er bis zum Tode weiterkämpfen würde,

und daß wir nichts von ihnen bekommen würden,

weil sie alles entweder verbrennen

oder ins Wasser werfen würden.


HERNANDO CORTEZ,

Dritter Bericht an König Karl V. von Spanien

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