DIE JULI-TUNNEL
Der Sterbliche labte sich in einer abgeschiedenen Granitkammer.
Das Fleisch war noch warm. Es bedeutete mehr als Nahrung, es war fast schon ein Sakrament. Fleisch war ein Orientierungspunkt, wenn man den Geschmack einordnen konnte. Wer sich die Veränderungen von Geschmack und Geruch, die Besonderheiten von Haut, Muskelfasern und Blut einprägte, fand sich bald anhand einer auf rohem Fleisch basierenden Kartografie zurecht. Dabei erwies sich der Geschmack der Leber, manchmal auch der des Herzens, als besonders ausgeprägt.
Der Sterbliche kauerte in einer dunklen Nische und hielt dieses Wesen, dessen Brustkorb weit aufklaffte, zwischen den Schenkeln fest. Er wühlte darin herum, lernte die Lage und Anordnung der Organe, prägte sich ihre Größe und ihren Geruch ein. Er kostete verschiedene Stückchen, immer nur kleine Häppchen. Seine Handfläche strich über den Schädel, hob einzelne Glieder an und glitt weiter darüber hinweg. Noch nie zuvor war er einem Wesen wie diesem begegnet. Seine Einzigartigkeit deutete nicht notgedrungen auf einen neuen Stamm oder eine neue Spezies hin. Dieses Stück Wild würde sich kaum in seiner Sprache niederschlagen. Trotzdem würde er es jederzeit wieder erkennen, bis in die kleinsten Einzelheiten.
Mit lauschend erhobenem Kopf schob er die Hände unter die Haut des Tieres und ließ seiner Neugier freien Lauf. Er ging mit äußerstem Respekt vor. Er war ein Suchender, mehr nicht. Das Tier war sein Lehrer, er sein Schüler. Es ging nicht nur darum, sich bezüglich der Himmelsrichtung zurechtzufinden. Viel wichtiger war manchmal die Tiefe, und die Konsistenz von Fleisch konnte einem gelegentlich als eine Art Höhenmesser dienen. Auf dem Meeresboden etwa hausten Tiefseeungeheuer wie der Anglerfisch mit einer Stoffwechselrate von weniger als einem Prozent der Fische, die nahe der Oberfläche lebten. Ihr Körpergewebe war wässrig, fast völlig ohne Muskeln und Fett. So ähnlich war es auch in bestimmten Regionen des Subplaneten. In den Tiefen mancher Schächte fand man Reptilien, die kaum mehr waren als Gemüse mit Zähnen. Ihr Nahrungsgehalt entsprach dem von frischer Luft. Aber auch die hatte er gegessen. Schließlich gab es noch andere Gründe, Beute zu machen, als nur den, sich den Magen zu füllen. Mit einiger Sorgfalt konnte man einen Kurs ermitteln, ein bestimmtes Ziel finden, Wasser lokalisieren, Feinde verfolgen oder den Kontakt mit ihnen vermeiden. Beute machen verwandelte das nackte Überleben in eine Reise.
Der Körper sprach zu ihm. Er tastete nach Augen, fand Stiele, versuchte, die Lider mit dem Daumen aufzuschieben, doch sie waren fest verschlossen. Blind.
Die Krallen waren die eines Greifvogels, mit in Opposition stehenden Daumen. Er hatte es gefangen, als es sich im Luftzug des Tunnels treiben ließ, doch die Flügel waren zu klein, um damit wirklich fliegen zu können. Er fing noch einmal oben an. Die Schnauze. Milchzähne, aber nadelscharf. Die Art, in der sich die Glieder bewegten. Die Genitalien. Das hier war ein Männchen. Die Hüftknochen vom Streifen an den Felsen abgeschabt. Er drückte auf die Blase; ihre Flüssigkeit roch scharf. Er nahm einen Fuß, presste ihn in den weichen Boden und befühlte den Abdruck. Das alles geschah in völliger Dunkelheit.
Schließlich war Ike fertig. Er legte die Teile in die Körperhöhle zurück, faltete die Flügelarme und drückte den Körper in einen Spalt in der Wand.
Sie betraten eine Folge tiefer Gräben, die an Schluchten oben auf der Erde erinnerten, jedoch nicht von fließendem Wasser emgeschnitten worden waren. Es handelte sich vielmehr um die Überreste eines ausgedehnten, inzwischen versteinerten Meeresbodens. Sie hatten 650 Faden unter dem Boden des Pazifischen Ozeans einen knochentrockenen zweiten Meeresboden entdeckt.
In jener Nacht schlugen sie das Lager in der Nähe eines riesigen Korallenriffs auf, das sich nach links und rechts in der Dunkelheit verlor. Riesenhafte, eichenartige Äste reckten sich in grünen, blauen, rosafarbenen Pastelltönen und auch einigen kräftigen Rotschattierungen nach oben, Arme, die, ihrem Geobotanisten zufolge, von einem Vorfahren der gorgonenhaften Corallium nobile ausgeschieden worden waren. Unter ihren weltausladenden Tentakeln fanden sich auch verdorrte Meeresfarne, die so alt waren, dass ihre Farben bis zur Durchsichtigkeit ausgelaugt waren. Zu ihren Füßen lagen uralte, versteinerte Meerestiere.
Die Expedition war seit vier Wochen unterwegs. Shoat und Walker hatten der Bitte der Wissenschaftler um zwei Extratage Rast an diesem Ort nachgegeben. Doch bei ihrem Aufenthalt zwischen den Korallen fanden die Wissenschaftler eher noch weniger Schlaf als sonst. Sie wussten, dass sie nie wieder hierher kommen würden. Vielleicht kam nie wieder ein Mensch an diesen Ort. Also sammelten sie wie besessen die Spuren dieser alternativen Evolution. Da sie kaum etwas mitschleppen konnten, legten sie das Material zur digitalisierten Katalogisierung auf ihren Felsplatten ab. Die Videokameras surrten Tag und Nacht.
Walker brachte zwei geflügelte Tiere ins Lager. Sie lebten noch.
»Gefallene Engel«, verkündete er.
Sie lagen auf dem Bauch, waren mit einer Reißleine verschnürt und von einem Betäubungsmittel halb vergiftet. Ein Soldat war von einem dieser Viecher gebissen worden und lag röchelnd und würgend im Krankenzelt.
Natürlich handelte es sich nicht um gefallene Engel. Es waren Dämonen, ähnlich den geflügelten, Wasser speienden Scheusalen auf den Kathedralen.
»Hadal!«, sehne jemand. »Endlich!«
Die Wissenschaftler scharten sich um den Fang und starrten, vor Scheu und Ehrfurcht ganz stumm geworden, auf die schwächlichen Bestien. Die Tiere zuckten. Eines entließ einen bogenförmigen Urinstrahl. »Wie haben Sie das geschafft, Walker? Woher haben Sie die?«
»Ich habe ihre Beute von meinen Soldaten dopen lassen. Die beiden waren gerade dabei, einen ihrer Artgenossen aufzufressen. Wir brauchten nur zu warten, bis sie zurückkehrten und weiterfraßen und sie dann einzusammeln.«
»Gibt es dort noch mehr davon?« »Zwei oder drei Dutzend. Vielleicht sogar Hunderte. Einen ganzen Schwarm. Wie Fledermäuse.«
»Eine Brutkolonie«, sagte einer der Biologen.
»Ich habe meinen Männern befohlen, Abstand zu halten. Am Eingang des Seitentunnels haben wir eine Todeszone eingerichtet. Hier besteht keine Gefahr für uns.«
Shoat war offensichtlich dabei gewesen.
»Sie hätten ihren Dung mal riechen sollen«, sagte er.
Als ein paar Träger die Tiere erblickten, murmelten sie etwas vor sich hin und bekreuzigten sich. Walkers Soldaten verscheuchten sie schroff.
Lebende Exemplare einer unbekannten Spezies, schon gar warmblütiger Wirbeltiere, kamen nicht jeden Tag in das Lager eines Naturforschers spaziert. Die Wissenschaftler rückten mit Metermaßen, Kugelschreibern und Taschenlampen an.
Das längste Exemplar maß 53,4 Zentimeter und war eindeutig ein stillendes Weibchen. Die kräftige Färbung -ins Türkise und Beige sprenkelndes Purpur - war wieder einmal eines der vielen Paradoxe der Natur: Welchen Zweck hatte eine derartige Färbung in der Dunkelheit?
Als sie das Bewusstsem wiedererlangt hatten, ließ sie der Schock der Taschenlampen wieder in dumpfe Benommenheit zurücksinken.
»Auf keinen Fall losbinden, die Viecher beißen«, sagte Walker, als die seltsamen Wesen zu zittern und zu zerren anfingen, bevor sie wieder in ihren Dämmerzustand verfielen. Für Hadal waren sie jedenfalls viel zu klein. Wie sollten diese Wesen ganze Armeen abschlachten, Höhlenmalerei zu Stande bringen und die Menschheit seit Ewigkeiten in Angst und Schrecken versetzt haben?
»Die sind doch nicht King Kong«, sagte Ali. »Sehen Sie doch, die wiegen kaum mehr als 30 Pfund. Mit diesen Seilen bringen Sie sie um.«
»Warum haben Sie ihr bloß den Flügel gebrochen?«, sagte ein Biologe zu Walker. »Sie hat doch nur ihr Nest verteidigt.«
»Was soll das Gerede?«, fuhr Shoat dazwischen. »Ist das hier eine Konferenz für Tierschützer?«
»Eine Frage noch«, sagte Ali. »Wir wollen morgen früh aufbrechen. Was dann? Das hier sind keine Haustiere. Nehmen wir sie mit?«
Walkers selbstzufriedener Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Er hielt sie zweifellos für undankbar.
»Jedenfalls haben wir sie jetzt hier«, meinte ein Geologe achselzuckend. »Eine Gelegenheit wie die dürfen wir nicht ungenutzt lassen.«
Sie hatten weder Netze noch Käfige noch sonst etwas dabei, um die Tiere zu verwahren. Solange sie noch relativ bewegungsunfähig waren, fesselten sie die Biologen mit einer Schnur und banden jedes mit ausgestreckten Armen und Flügeln an ein Tragegestell. Ihre Flügel spannwei te war bescheiden, übertraf nicht einmal ihre Körpergröße.
»Können die denn richtig fliegen?«, fragte jemand. »Oder benutzen sie ihre Flügel nur, um sich von hohen Orten heruntergleiten zu lassen?«
»Seht euch nur dieses Gesicht an, beinahe menschlich, ähnlich wie ein Schrumpfkopf. Extreme Nachttiere«, sagte Spurner. »Und dann dieser Nasenspiegel. Feucht wie eine Hundeschnauze. Wahrscheinlich Halbaffen. Eine eher zufällige Koloniebildung. Die unterirdische Ökonische muss für sie weit offen gestanden haben. Sie haben sich rasch vermehrt, diversierende Spezies, Sie wissen schon. Man braucht nur ein trächtiges Weibchen, das woanders hinzieht ...« »Aber warum dann Flügel, heiliger Strohsack?«, wurde er gefragt.
Die Dämonen hatten wieder zu zappeln angefangen. Einer stieß einen Laut aus, etwas zwischen Bellen und Piepsen.
»Wovon sie sich wohl ernähren?«
»Insekten«, vermutete jemand.
»Sie könnten ebenso gut Fleischfresser sein. Bei den Schneidezähnen!«
»Wollen Sie den ganzen Tag quatschen, oder wollen Sie es herausfinden?« Das war Shoat. Ehe ihn jemand aufhalten konnte, zog er sein Kampfmesser mit der zweischneidigen Spitze heraus und schnitt dem kleineren Männchen mit einer raschen Bewegung den Kopf ab.
Sie standen wie betäubt.
Ali reagierte als Erste. Sie stieß Shoat zur Seite. Er erwiderte den Stoß mit der flachen Hand gegen ihre Schulter. Ali taumelte. Shoat streckte sofort theatralisch das Messer in die andere Richtung, als könne sie sich an der Klinge verletzen. Sie starrten einander an.
»Beruhigen Sie sich!«, sagte er.
Später würde Ali ein Reuegebet zum Himmel schicken, doch in diesem Augenblick war sie so wütend auf ihn, dass sie ihn am liebsten niedergeschlagen hätte. Es kostete sie einiges an Anstrengung, sich von ihm abzuwenden und zu dem enthaupteten Tier zu gehen. Erstaunlich wenig Blut kam aus dem Halsstumpf. Das andere Tier sträubte sich mit aller Macht gegen seine Fesseln und krallte die gebogenen Klauen ohnmächtig in die Luft.
Der Protest aus der Gruppe fiel eher schwach aus.
»Sie sind ein widerliches Ekel, Montgomery«, sagte jemand.
»Macht schon«, erwiderte Shoat. »Schneidet das Ding auf. Schiesst eure Bilder. Holt euch eure Antworten. Und dann wird gepackt.«
»Barbarisch«, murmelte jemand anderes.
»Ich bitte Sie!«, sagte Shoat und zeigte mit dem Messer auf Ali. »Unsere gute Samariterin hier hat es selbst gesagt: Das sind keine Haustiere. Wir können sie nicht mitnehmen.«
»Sie wissen genau, was ich meine«, sagte Ali zu Shoat. »Wir müssen sie freilassen. Jedenfalls den, der übrig ist.«
Die verbliebene Kreatur hatte zu zappeln aufgehört. Jetzt hob sie den Kopf, lauschte offensichtlich ihren Stimmen und hob witternd die Schnauze. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. Ali wartete darauf, dass ihr die Gruppe den Rücken stärkte. Doch keiner sagte etwas. Sie war ganz auf sich allein gestellt.
Sie kam sich idiotisch vor. Dann wurde es ihr klar. Sie betrachteten das alles nur als ihre, Alis, Angelegenheit. Die Angelegenheit einer Nonne. Wie selbstverständlich war sie für die Gnade zuständig.
Und was jetzt? fragte sie sich. Sich entschuldigen? Einfach weggehen? Ali zog ihr Schweizer Messer und versuchte, eine Klinge herauszuklappen.
»Was haben Sie vor?«, fragte eine Biologin.
Sie räusperte sich.
»Ich lasse sie frei«, sagte sie.
»Äh, Ali, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Das Tier hat einen Flügel gebrochen.«
»Wir hätten es überhaupt nicht einfangen dürfen«, erwiderte sie und zerrte immer noch an ihrem Messer. Aber die Klinge steckte fest. Ihr Fingernagel brach ab. Anscheinend hatte sich alles gegen sie verschworen. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und senkte den Kopf, damit sie wenigstens vor den Blicken der anderen verborgen blieben.
»Sie stehen mir im Weg«, ertönte eine Stimme hinter der Versammlung. Der Kreis öffnete sich abrupt. Ali staunte noch mehr als die anderen, als Ike hervortrat und sich neben sie stellte.
Sie hatten ihn schon seit über zwei Wochen nicht mehr gesehen. Er hatte sich verändert. Sein Haar war zottiger, und das weiße, langärmelige Hemd war verschwunden, ersetzt durch ein schmutziges, graues T-Shirt. Eine schlecht verheilte Wunde, ein hässlicher Riss, den er mit rotem Ocker verschmiert hatte, zierte einen Arm. Ali starrte auf diese von Narben und Markierungen bedeckten Arme. An der Innenseite seiner Unterarme war sogar gedruckter Text zu lesen, wie bei einem Spickzettel.
Seinen Rucksack hatte er verloren oder irgendwo versteckt, aber die Flinte und das Messer waren noch da, dazu eine Pistole mit aufge schraub tem Schalldämpfer. Er trug die insektenhafte Gletscherbrille und roch wie ein Jäger. Als er sie kurz mit der Schulter berührte, war seine Haut erstaunlich kalt. Dankbar und erleichtert lehnte sich Ali, wenn auch nur ganz leicht, an diesen Fels der Zuverlässigkeit.
»Wir haben uns schon gefragt, ob Sie sich wieder davongemacht haben«, sagte Colonel Walker.
Ike antwortete ihm nicht. Er nahm Ali das Taschenmesser aus der Hand und klappte die Klinge heraus.
»Sie hat Recht«, sagte er. Er beugte sich über das verbliebene Tier und murmelte etwas, das nur Ali hören konnte, etwas Beruhigendes, aber auch Feierliches. Fast schon ein Gebet. Das Tier beruhigte sich, und Ali zog an einem Strick, damit Ike ihn durchschneiden konnte.
»Jetzt werden wir ja sehen, ob diese Dinger richtig fliegen können«, sagte jemand.
Aber Ike schnitt nicht den Strick durch. Mit einer raschen Bewegung nahm er einen Einschnitt an der Halsschlagader des Tieres vor. Das kleine Maul in der Drahtschlinge schnappte nach Luft. Dann war das Wesen tot.
Ike richtete sich auf und wandte sich der Gruppe zu: »Keine lebende Beute.«
Ohne nachzudenken ballte Ali die Fäuste und trommelte ihm auf die Schulter, obwohl sie wusste, dass ihm das nicht viel ausmachte. Es war, als schlüge man ein Pferd. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Wie ein Fels stand Ike noch immer vor der versammelten Mannschaft und sagte: »Das war unnötig vergossenes Blut.«
»Verschonen Sie mich damit!«, sagte Walker.
Ike sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich dachte, Sie wüssten über das eine oder andere Bescheid.«
Walker lief rot an, und Ike wandte sich wieder an die anderen.
»Sie können hier nicht bleiben«, sagte er. »Wir müssen sofort aufbrechen.«
»Ike«, sagte Ali, während die Gruppe sich auflöste. Er drehte sich zu ihr um, und sie gab ihm eine Ohrfeige.
So muß der Teufel
den Herrn auf ewiglich nachäffen.
MARTIN LUTHER, Tischgespräche (1569)