MANHATTAN
Ali kam in Sandalen und einem Sommerkleid herein, als könnte sie damit den Winter wie mit einem Zauberstab in Schach halten. Der Wachmann strich ihren Namen auf einer Liste durch und bemängelte, dass sie zu früh und ohne ihre Gruppe gekommen war. Mit atemberaubender Geschwindigkeit ratterte er eine ganze Wegbeschreibung herunter und ließ sie passieren. Das ganze Metropolitan Museum of Art gehörte ihr.
Es war, als wäre sie der letzte Mensch auf der Welt. Ali blieb bei einem kleinen Picasso stehen, dann vor einem riesigen Gemälde vom Grand Canyon. Schließlich kam sie zu einem Transparent, das mit dem Schriftzug ERNTE AUS DER HÖLLE die Hauptausstellung ankündigte. Der Untertitel war: DOPPELT ERBEUTETE KUNST. Die meisten Exponate dieser Ausstellung, die sich Kunstgegenständen aus der Unterwelt widmete, waren von Soldaten und Bergleuten mit nach oben gebracht worden.
Die meisten waren den Menschen irgendwann gestohlen und in den Subplaneten verschleppt worden, daher doppelt erbeutet.
Ali war viel früher gekommen als sie mit January vereinbart hatte, teilweise, weil sie das Gebäude sehr mochte, in erster Linie jedoch, weil sie sehen wollte, wozu der Homo hadalis fähig war. Besser gesagt, wozu er nicht fähig war. Die Kernaussage dieser Ausstellung war folgende: Der Homo hadalis war nicht mehr als eine Beutelratte in menschlicher Größe. Die Kreaturen aus dem Subplaneten klauten schon seit Urzeiten die Erfindungen der Menschen. Von Töpferware aus dem Altertum bis zu Colaflaschen aus Plastik, von Voodoo-Fetischen über Keramiktiger aus der Han-Dynastie bis zu einer archimedischen Schraube oder einer Skulptur von Michelangelo, die man für längst zerstört gehalten hatte.
Neben den Exponaten, die von Menschen hergestellt waren, gab es auch mehrere, die aus Menschen angefertigt waren. Ali kam zu dem berüchtigten »Beachball« aus verschiedenfarbiger Menschenhaut. Niemand kannte seinen Zweck, aber dieses Ding - ursprünglich aufgeblasen, inzwischen in Form einer perfekten Kugel geschrumpft -war für die Besucher besonders beleidigend, weil sie auf so schnöde Weise die unterschiedlichen Rassen als bloße Gewebespielart darstellte.
Der bei weitem faszinierendste Gegenstand war ein aus einer Wand unter der Erde herausgerissener Steinbrocken. Er war mit mysteriösen Hieroglyphen bedeckt, die an Kalligrafie erinnerten. Da man ihn in diese Ausstellung aufgenommen hatte, hielten ihn die Kuratoren wohl für von Menschenhand geschaffene Graffiti, die irgendwann in den Abgrund verschleppt worden war. Doch als Ali vor der Steinplatte stand, kamen ihr Zweifel. Die Zeichen hatten keine Ähnlichkeit mit den vielen Schriften, die ihr bislang untergekommen waren.
»Da bist du ja, Kindchen.«
»Rebecca?«, sagte Ali und drehte sich um.
Die Frau, die ihr gegenüb erstand, kam ihr wie eine Fremde vor. January war immer unbesiegbar gewesen, eine Amazone mit ausgreifenden Umarmungen und straffer schwarzer Haut. Diese Person hingegen sah aus, als hätte man ihr die Luft abgelassen. Da eine Hand schwer auf einem Gehstock ruhte, konnte die Senatorin nur mit einem Arm ausholen. Ali beugte sich rasch nach vorne, um sie zu umarmen, und sie spürte dabei Januarys Rippen auf dem Rücken.
»Oh, mein Kindchen«, flüsterte January glücklich, und Ali drückte die Wange gegen ihr kurz geschorenes und inzwischen weißes Haar. Sie atmete Januarys Geruch ein.
»Das Wachpersonal hat uns erzählt, dass du schon seit einer Stunde hier bist«, sagte January und drehte sich dann zu dem großen Mann um, der ein Stück hinter ihr stand: »Hab ich’s nicht gesagt, Thomas? Immer muss sie schon vor der Kavallerie da sein, schon von Kindesbeinen an. Nicht ohne Grund hieß sie früher Mustang Ali, die Legende von Kerr County. Und siehst du, wie schön sie ist?«
»Rebecca«, rügte sie Ali. January war die bescheidenste Frau der Welt, und zugleich die schlimmste Aufschneiderin. Selbst kinderlos, hatte sie im Lauf der Jahre mehrere Kinder adoptiert, und sie alle hatten gelernt, diese Ausbrüche von Mutterstolz zu ertragen.
»Dabei weiß sie es nicht einmal, so wahr ich hier stehe«, fuhr January unbeirrt fort. »Sie schaut nicht einmal in den Spiegel. Es war ein schwarzer Tag, als sie ins Kloster eintrat. Bärenstarke Texaner haben geweint wie die Witwen unter dem Mond von Goliad und Alamo.« Und ebenso January, wenn sich Ali noch recht an den Tag erinnerte. Sie hatte die ganze Fahrt über geheult und sich dabei immer wieder dafür entschuldigt, dass sie Alis Berufung nicht verstand. Ali verstand sie inzwischen selbst nicht mehr.
Thomas hielt sich lieber heraus. Momentan ging es um das Wiedersehen der zwei Frauen, also blieb er im Hintergrund. Ali schenkte ihm nur einen kurzen Blick. Er war ein großer, schlanker Mann, Ende sechzig, mit den Augen eines gebildeten Menschen und einer zähen Statur. Ali kannte ihn nicht, und obwohl er keinen Kragen trug, war er eindeutig Jesuit: Sie hatte einen siebten Sinn für diese Leute. Vielleicht lag es an der ihnen allen gemeinsamen Kauzigkeit.
»Du musst mir verzeihen, Ali«, sagte January. »Ich habe dir gesagt, es sei ein Treffen unter vier Augen. Ich habe nun doch ein paar Freunde mitgebracht. Es ließ sich nicht vermeiden.«
Erst jetzt sah Ali am anderen Ende der Halle zwei Menschen durch die Ausstellung wandern, einen gebrechlichen Blinden, der von einem größeren und jüngeren Mann geführt wurde. Durch eine weiter entfernte Tür betraten noch mehr ältere Leute den Raum.
»Die Schuld liegt ganz bei mir.« Thomas streckte die Hand zur Begrüßung aus. Offensichtlich hatte das Treffen zwischen Ali und January sein Ende gefunden. Sie hatte geglaubt, January und sie hätten den ganzen Tag für sich, aber das Geschäftliche hatte sie wieder eingeholt. »Ich habe mich sehr darauf gefreut, Sie kennen zu lernen. Gerade jetzt, bevor Sie sich auf den Weg in die arabische Wüste machen.«
»Dein Sabbatjahr«, sagte die Senatorin. »Ich war der Meinung, es macht dir nichts aus, wenn ich ihm davon erzähle.«
»Saudi-Arabien«, fuhr Thomas fort. »Heutzutage nicht gerade der angenehmste Ort für eine junge Frau. Seit die Fundamentalisten die Königsfamilie niedergemetzelt und die Macht übernommen haben, ist die Scharia dort eisernes Gesetz. Ich beneide Sie nicht darum, den ganzen Tag in eine abaya gehüllt zu sein.«
»Ich bin auch nicht gerade davon begeistert, ständig wie eine Nonne verkleidet herumzulaufen«, erwiderte Ali.
January lachte. »Ich werde dich wohl nie verstehen«, sagte sie zu Ali. »Sie geben dir ein Jahr frei, und du hast nichts Besseres zu tun, als zurück in deine Wüste zu gehen.«
»Aber ich kenne das Gefühl«, schaltete sich Thomas wieder ein.
»Sie müssen darauf brennen, die Glyphen zu sehen.« Ali wurde aufmerksamer. Davon hatte sie January weder geschrieben noch etwas erzählt. An January gewandt, erklärte Thomas: »Die südlichen Regionen in der Nähe des Jemen sind besonders reich damit gesegnet. Proto-semitische Piktogramme aus dem ahl aljahiliya, dem so genannten Zeitalter des Unwissens.«
Ali zuckte die Achseln, als müsse das ohnehin allgemein bekannt sein, doch ihr Alarmsystem war angesprungen. Der Jesuit wusste einiges über sie. Was noch? War es möglich, dass er auch den anderen Grund dafür kannte, weshalb sie ein Jahr weg wollte, weshalb sie ihr letztes Gelübde noch einmal verschoben hatte? Der Orden nahm dieses Zögern sehr ernst, und die Wüste war ebenso Austragungsort ihrer Glaubenszweifel wie ihrer wissenschaftlichen Ambitionen. Sie fragte sich, ob die Mutter Oberin ihr diesen Mann gesandt hatte, damit er sie unmerklich beeinflusste, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Das würden sie nicht wagen. Sie allein musste diese Wahl treffen, nicht irgendein Jesuit.
Thomas schien ihr die Befürchtungen vom Gesicht abzulesen.
»Ich verfolge Ihre Karriere schon eine ganze Weile«, sagte er, »und ich dilettiere gelegentlich selbst in der anthropologischen Linguistik. Ihre Arbeiten über die neolithischen Inschriften und Muttersprachen sind, wie soll ich sagen, weitaus eleganter, als es Ihren jungen Jahren zustünde.«
Er war klug genug, ihr nicht zu sehr zu schmeicheln. Andererseits, dachte Ali, hatte ihn January mit ihrer Bemerkung hinsichtlich des Mondes über Goliad deutlich gewarnt. So leicht ließ sie sich keinen Honig ums Maul schmieren.
»Ich habe alles von Ihnen gelesen, was ich finden konnte«, sagte er. »Sehr gewagte Sachen sind das, insbesondere für eine Amerikanerin. Sonst beackern vor allem die russischen Juden in Israel das Feld der Ursprache. Exzentriker, denen keine andere Wahl bleibt. Sie aber sind jung, Ihnen stehen alle Möglichkeiten offen, und trotzdem entscheiden Sie sich für diesen radikalen Forschungszweig. Den Ursprung der Sprache.«
»Warum sollte diese Arbeit als so radikal angesehen werden?«, fragte Ali. »Indem wir uns zu den ersten Worten zurücktasten, versuchen wir, unseren eigenen Ursprung zu ergründen. Und das bringt uns der Stimme Gottes um vieles näher.«
Thomas schien mit ihrer Antwort überaus zufrieden zu sein. Wobei es ihr nicht unbedingt darauf ankam, ihn zufrieden zu stellen. »Verraten Sie mir doch«, bat er, »was Sie, als Fachkundige, von dieser Ausstellung halten.«
Man stellte sie auf die Probe, und January wusste Bescheid. Ali spielte fürs Erste mit, blieb jedoch auf der Lauer. »Zunächst einmal überrascht mich die Vorliebe für religiöse Gegenstände«, äußerte sie und zeigte auf die Gebetsperlenschnüre, die ursprünglich aus Tibet, China, Sierra Leone, Peru, Byzanz, dem Dänemark der Wikinger und Palästina stammten. Gleich daneben lag ein Schaukasten mit Kruzifixen, Handschriften und Abendmahlskelchen aus Gold und Silber. »Wer hätte gedacht, dass sie derartig auserlesene Stücke sammeln? Damit hätte ich nicht gerechnet.«
Sie ging an einer mongolischen Rüstung aus dem zwölften Jahrhundert vorbei. Sie war mehrfach durchbohrt und immer noch blutbefleckt. Andernorts waren Waffen, Rüstungen und Folterinstrumente zu sehen, die von brutalem Gebrauch zeugten, obwohl die Begleittexte den Betrachter immer wieder daran erinnerten, dass die Gegenstände eigentlich menschlichen Ursprungs waren.
Vor einer Vergrößerung der berühmten Aufnahme eines Hadal, der gerade dabei war, einen frühen Aufklärungsroboter mit einer Keule zu zerstören, blieben sie stehen. Es versinnbildlichte den ersten öffentlichen Kontakt der modernen Menschheit mit »ihnen«, eines jener Ereignisse, bei dem sich die Leute später stets daran erinnerten, wo sie gerade waren oder was sie gerade taten, als es passierte. Das Wesen sah dämonisch aus, mit hornartigen Auswüchsen auf dem Albinoschädel.
»Schade nur«, sagte Ali, »dass wir womöglich nie erfahren, wer die Hadal wirklich sind, bis es zu spät ist.«
»Es könnte schon jetzt zu spät sein«, meinte January.
»Das glaube ich nicht«, sagte Ali.
Thomas und January tauschten einen Blick. Er gab sich einen Ruck.
»Wir möchten gerne eine ganz bestimmte Angelegenheit mit Ihnen besprechen«, sagte er.
Ali wusste sofort, dass diese Angelegenheit der eigentliche Grund ihrer Reise nach New York war, die January arrangiert und bezahlt hatte.
»Wir gehören einer Gesellschaft an«, setzte January zu ihrer Erklärung an. »Thomas trommelt uns schon seit Jahren auf der ganzen Welt zusammen. Wir nennen uns den >Beowulf-Kreis<. Er ist ziemlich informell, unsere Treffen finden nur unregelmäßig statt. Wir versammeln uns an unterschiedlichen Orten, um unsere Erkenntnisse auszutauschen und ...«
Bevor sie noch mehr sagen konnte, bellte ein Museumswächter:
»Legen Sie das sofort hin!«
Sofort setzten sich mehrere Wächter eilig in Bewegung. Ziel ihrer Aufgeregtheit waren zwei der Leute, die nach Thomas und January hereingekommen waren, genauer gesagt, der jüngere Mann mit den langen Haaren. Er war gerade dabei, ein Eisenschwert aus einer der Vitrinen zu heben.
»Verzeihung, es ist meine Schuld«, sagte sein blinder Gefährte beschwichtigend und ließ sich das schwere Schwert auf die Handflächen legen. »Ich bat meinen Begleiter Santos ...«
»Das geht in Ordnung, meine Herren«, rief January den Wächtern zu. »Dr. de l’Orme ist ein anerkannter Spezialist.«
»Bernard de l’Orme?«, hauchte Ali. Der Mann hatte in ganz Asien auf der Suche nach Ausgrabungsstätten Flüsse bezwungen und Dschungel durchquert. Da sie bislang nur über ihn gelesen hatte, hatte sie ihn für einen körperlichen Riesen gehalten.
Unbeeindruckt vom Aufruhr fuhr de l’Orme fort, Klinge und lederumhüllten Griff des Schwertes aus der frühen Zeit der Angelsachsen zu betasten und es mit den Fingerspitzen zu betrachten. Er roch an dem Leder, leckte am Eisen.
»Wunderbar«, verkündete er.
»Was tun Sie da?«, fragte ihn January.
»Ich erinnere mich an eine Geschichte«, antwortete er. »Ein argentinischer Dichter erzählte einmal eine Geschichte von zwei Gauchos, die sich auf eine tödliche Messerstecherei einlassen, weil das Messer selbst sie dazu verleitet.«
Der blinde Mann hielt das Schwert in die Höhe, das sowohl von Menschen als auch von ihren Dämonen benutzt worden war.
»Ich habe gerade über das Gedächtnis von Eisen nachgedacht«, sagte er.
»Meine Freunde«, hieß Thomas seine Verschwörer willkommen, »lasst uns endlich anfangen.«
Ali sah die Angesprochenen wie aus dem Nichts zwischen den Reihen der dunklen Bibliothek auftauchen und kam sich plötzlich fast nackt vor. In dieser Umgebung unterstrich ihr Sommerkleid die Hinfälligkeit dieser alten Leute, die offensichtlich sogar hier drinnen froren. Einige trugen modische Anoraks, andere zitterten unter mehreren Schichten Wolle und Tweed.
Sie versammelten sich um einen Tisch, der schon vor der Zeit der großen Kathedralen aus englischer Eiche geschnitten und glatt poliert worden war. Er hatte Kriege und Schreckenszeiten überstanden, Könige, Päpste und Bürgertum, ja sogar mehrere Generationen von Forschern.
Die nautischen Karten an den Wänden ringsum waren gezeichnet worden, bevor man je das Wort Amerika gehört hatte.
Hier war der Satz schimmernder Instrumente, die Kapitän Bligh benutzt hatte, um seine Schiffbrüchigen sicher in die Zivilisation zurückzuführen. Auf einem Glasregal stand eine Karte aus Stöcken und Muscheln, wie sie die mikronesischen Fischer benutzten, um den Meeresströmungen zwischen den Inseln zu folgen. In der Ecke stand das komplizierte ptolemäische Astrolabium, das bei Galileos Ketzerverhandlung eine Rolle gespielt hatte. Ein Stück darüber hing Kolumbus’ ungenaue und sehr exotische Landkarte der Neuen Welt, auf Schafshaut gemalt und mit den Beinen nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet. Auch Bud Parsifals berühmter Schnappschuss, der die große blaue Murmel vom Mond aus gesehen im All schwebend zeigt, fehlte nicht. Der ehemalige Astronaut stellte sich unbescheiden direkt unter seine Aufnahme, und Ali erkannte ihn. January wich, hin und wieder Namen flüsternd, nicht von ihrer Seite, und Ali war ihr für ihre Anwesenheit dankbar.
Kaum hatten alle Platz genommen, ging die Tür auf und der letzte Nachzügler kam hereingehumpelt. Zuerst dachte Ali, es sei ein Hadal. Wie es schien, war sein Gesicht mit geschmolzenem Plastik überzogen. Eine dunkle Skibrille haftete an dem unförmigen Kopf. Der Anblick erschreckte sie. Sie hatte noch nie einen Hadal gesehen, weder tot noch lebendig, und zuckte unwillkürlich zusammen. Er suchte sich den Sessel direkt neben ihr aus, und sie hörte, dass er schwer atmete.
»Ich dachte nicht, dass Sie es noch schaffen«, sagte January an Ali vorbei zu ihm.
»Bisschen Ärger mit dem Magen«, erwiderte er. »Vielleicht das Wasser. Es dauert immer ein paar Wochen, bis ich mich daran gewöhnt habe.«
Erst jetzt erkannte Ali, dass es ein Mensch war. Seine Atembeschwerden waren ein Symptom, unter dem viele Veteranen litten, wenn sie von weit unten heraufkamen. Noch nie zuvor hatte sie jemanden gesehen, den die Tiefe so zugerichtet hatte.
»Ali, darf ich dir Major Branch vorstellen? Er ist so etwas wie ein Geheimnis. Er arbeitet für die Armee und ist für uns eine Art inoffizieller Verbindungsoffizier. Ein alter Freund. Ich habe ihn vor vielen Jahren in einem Armeehospital aufgespürt.«
»Manchmal denke ich, Sie hätten mich besser dort gelassen«, scherzte er und streckte Ali die Hand entgegen. »Nennen Sie mich Elias.« Er zog eine Grimasse, und erst dann erkannte sie, dass es wohl ein Lächeln sein sollte. Ein Lächeln ohne Lippen. Die Hand war wie Stein. Trotz der mehr als kräftigen Muskeln war es unmöglich, sein Alter zu schätzen. Flammen und Wunden hatten die üblichen Anhaltspunkte ausgelöscht.
Außer Thomas und January zählte Ali noch elf andere, darunter de l’Ormes Protegé Santos. Mit Ausnahme von ihr, Santos und dem Kerl neben ihr waren alle alt. Insgesamt verkörperten sie wohl fast siebenhundert Jahre Lebenserfahrung und Geist, ganz zu schweigen von einem hochtourig arbeitenden Archiv der gesamten aufgezeichneten Geschichte. Sie waren allesamt höchst ehrwürdig, wenn auch ein wenig vergessen. Die meisten hatten die Universitäten, Firmen oder Regierungen, in denen sie sich hervorgetan hatten, schon längst verlassen. Ihre Auszeichnungen und ihre Reputation waren nicht mehr von Nutzen. Ihre Knochen waren brüchig.
Der Beowulf-Kreis war ein merkwürdig verschworenes Grüppchen. Ali ließ den Blick über die fröstelnde Versammlung wandern, kramte Gesichter aus ihrem Gedächtnis hervor und erinnerte sich an Namen. Ohne nennenswerte Überschneidungen repräsentierten sie mehr Fachgebiete, als die meisten Universitäten aufzunehmen im Stande gewesen wären. Wiederum wünschte sie, sie hätte etwas anderes als dieses Sommerkleid angezogen. Ihr langes Haar kitzelte sie im Rücken. Sie spürte ihren Körper unter den Kleidern.
»Sie hätten uns etwas früher sagen sollen, dass Sie uns ausgerechnet jetzt aus unseren Familien wegholen«, grummelte ein Mann, dessen Gesicht Ali aus alten TimeHeften kannte. Desmond Lynch, Mediävist und Peacenik. Für seine Biografie von Duns Scotos, Philosoph aus dem dreizehnten Jahrhundert, hatte er 1952 den Nobelpreis erhalten. Den Nobel hatte er streitlustig als Kanzel benutzt, von der aus er gegen McCarthys Hexenjagd, die Atombombe und später gegen den Vietnamkrieg wetterte. Inzwischen war das alles Geschichte. »So weit weg von zu Hause«, sagte er. »Bei dem Wetter! Und das zu Weihnachten!«
»Ist es wirklich so schlimm?«, Thomas grinste ihn an.
Lynch setzte hinter seinem knotigen Gehstock eine finstere Miene auf und knurrte missmutig: »Haltet unsere Anwesenheit bloß nicht für selbstverständlich!«
»In dieser Hinsicht können Sie sich auf mich verlassen«, erwiderte Thomas jetzt ernsthaft. »Ich bin alt genug, um nicht den kleinsten Herzschlag für selbstverständlich zu halten.«
Sie hörten ihm zu. Alle. Thomas’ Blick wanderte von einem Gesicht zum nächsten. »Wäre die Lage nicht so kritisch«, sagte er, »hätte ich es nicht gewagt, Sie mit einer derartig gefährlichen Mission zu behelligen. Aber ich musste handeln. Und jetzt sind wir hier versammelt.«
»Aber ausgerechnet hier?«, fragte eine winzige Frau in einem Kinderrollstuhl. »An den Feiertagen? Es kommt mir so unchristlich von Ihnen vor, Vater.«
Ali erinnerte sich. Vera Wallach. Die Medizinerin aus Neuseeland. Sie allein hatte die Kirche und die Bananenrepublikaner in Nicaragua besiegt und dort während der sandinistischen Revolution die Geburtenkontrolle eingeführt. Sie hatte sich Bajonetten und Kreuzen entgegengestellt und es dabei geschafft, den Armen ihr Sakrament zu bringen: Kondome.
»Allerdings«, grummelte ein schmächtiger Mann. »Der Termin ist unter aller Kanone.« Es war Hoaks, der Mathematiker. Ali hatte ihn zuvor mit einer Karte spielen sehen, auf der die Kontinentalplatten umgedreht waren und eine Ansicht der Erdkruste vom Inneren des Globus gewährten.
»Aber so ist es doch immer«, konterte January. »Das ist Thomas’ Art, uns seine Mysterien anzudrehen.«
»Es könnte schlimmer sein«, formulierte Rau, der Unberührbare, auch er ein Nobelpreisträger. Obwohl er in Uttar Pradesh in der niedrigsten Kaste geboren ‘war, war es ihm gelungen, bis ins Unterhaus des Indischen Parlaments aufzusteigen, wo er seiner Partei lange Jahre als Sprecher gedient hatte. Erst später erfuhr Ali, dass Rau kurz davor gewesen war, der Welt zu entsagen, Kleidung und Namen abzustreifen und wie ein frommer Saddhu von einem Tag zum anderen zu leben.
Thomas gewährte ihnen noch ein paar Minuten, um einander zu begrüßen und ihn zu verwünschen. Flüsternd fuhr January fort, Ali die eine oder andere Persönlichkeit näher zu beschreiben. Dort saß Mustafah, der einer in Alexandria ansässigen Familie koptischer Christen angehörte, die sich mütterlicherseits bis zu Cäsars Familie zurückverfolgen ließ. Obwohl von Haus aus Christ, war er ein Experte für die Schana, das Gesetz des Islam, dazu einer der wenigen, der in der Lage war, es Leuten aus dem westlichen Kulturkreis zu erklären. Von Emphysemen gequält, konnte er jeweils nur kurze Sätze hervorbringen.
Ihm gegenüber saß ein Industrieller namens Foley, der mehr als ein Vermögen gemacht hatte, eins davon im Zweiten Weltkrieg mit Penicillin, ein anderes in der Blut-und Plasmaindustrie, bevor er angefangen hatte, sich nebenbei für die Bürgerrechte zu engagieren und für so manchen Märtyrer die Kaution übernommen hatte. Er unterhielt sich lebhaft mit Bud Parsifal, dem Astronauten. Jetzt fiel Ali auch dessen Geschichte wieder ein: Nach seiner Stippvisite auf dem Mond hatte sich Parsifal am Berge Ararat auf die Suche nach Noahs Arche gemacht, geologische Beweise für die Teilung des Roten Meeres gefunden und sich an einer Reihe anderer verrückter Rätsel versucht. Es stand außer Frage, dass es sich bei dem Beowulf-Kreis um eine Ansammlung von Außenseitern und Anarchisten handelte.
Schließlich ergriff Thomas offiziell das Wort. »Ich bin glücklich, solche Freunde zu haben.«
Ali staunte. Die anderen hörten zu, doch die Worte waren direkt an sie gerichtet. »Solche edlen Seelen. Über all die Jahre, auf meinen vielen Reisen, habe ich mich an ihrer Gesellschaft erfreut. Ein jeder von ihnen hat hart gearbeitet, die Menschheit von ihren zerstörerischen Impulsen abzubringen. Ihr Lohn«, an dieser Stelle setzte er ein schiefes Lächeln auf, »ist ihre Berufung in diesen erlauchten Kreis.«
Er benutzte das Wort »Berufung«, und es war nicht zufällig gewählt. Er musste irgendwie erfahren haben, dass diese Nonne schwer an ihrem Gelübde zweifelte.
»Wir leben lange genug, um zu wissen, dass das Böse existiert - und nicht zufällig«, fuhr Thomas fort. »Im Laufe der Jahre haben wir versucht, es zu benennen. Das haben wir getan, indem wir einander unterstützten und indem wir unsere verschiedenen Fähigkeiten und Beobachtungen zusammentrugen. So einfach ist das.«
Es hörte sich viel zu einfach an. Als ob diese alten Leute eben mal so in ihrer Freizeit gegen das Böse in der Welt kämpften.
»Seit jeher ist unsere stärkste Waffe unsere Gelehrsamkeit gewesen«, fügte Thomas hinzu.
»Dann sind Sie also eine akademische Gesellschaft«, bemerkte Ali.
»Ach, eher eine Tafelrunde edler Ritter«, erwiderte Thomas. Hier und da tauchte ein Lächeln auf. »Ich will Satan finden.«
Sein Blick traf den Alis, und sie sah, dass er es ernst meinte. Alle hier meinten es ernst. Ali konnte sich nicht beherrschen: »Den Teufel?«
Diese Gruppe Nobelpreisträger und Gelehrter gab dem Bösen den Charakter eines Katz-und-Maus-Spiels.
»Der Teufel«, schnaufte Mustafah, der Ägypter, angestrengt.
»Ein Altweibermärchen.«
»Satan«, korrigierte January, eindeutig an Ali gewandt.
Jetzt konzentrierten sich alle auf Ali. Keiner stellte ihre Anwesenheit in der Runde in Frage, was bedeutete, dass sie ihnen allen längst wohl bekannt war. Thomas’ Vortrag über ihre Pläne hinsichtlich Saudi-Arabiens, der präislamischen Glyphen und ihrer Suche nach der Ursprache erhielt noch mehr an Gewicht. Diese Leute hatten sie beobachtet. Man wollte sie rekrutieren. Was ging hier vor?
Warum hatte January sie da hineingezogen? »Satan?«, entfuhr es ihr.
»Genau«, bestätigte January. »Wir haben uns dieser Idee verschrieben. Der Realität dieser Idee.«
»Welche Realität denn?«, fragte Ali. »Die Spukgestalt aus Albträumen geplagter, unterernährter und an Schlafmangel leidender Mönche? Oder der heldenhafte Rebell, als den ihn Milton schildert?«
»Ich bitte dich, Ali!« January schüttelte den Kopf. »Wir sind zwar alt, aber nicht verblödet. Satan ist ein Oberbegriff. Es konkretisiert unsere Theorie von einer zentralisierten Führung alles Bösen. Nenne ihn wie du willst, Maximum Leader, Dschingis Khan oder Sitting Bull, der Rat weiser Männer oder Kriegsherr. Das Konzept ist nur folgerichtig. Logisch.«
Ali zog es vor zu schweigen.
»Es ist nicht mehr als ein Wort, ein Name«, sagte Thomas zu ihr.
»Der Begriff Satan bezeichnet eine historische Figur. Ein fehlendes Bindeglied zwischen unseren Märchen von der Hölle und ihrer geologischen Tatsache. Denken Sie mal darüber nach. Wenn es einen historischen Christus geben kann, warum dann nicht einen historischen Satan? Denken Sie an die Hölle. Die jüngste Geschichte lehrt uns, dass sich die Märchen getäuscht und trotzdem Recht haben. Die Unterwelt ist nicht voller toter Seelen und Dämonen, und doch gibt es dort gefangene Menschen und eine eingeborene Bevölkerung, die - bis vor kurzem - ihr Territorium hartnäckig verteidigte. Doch trotz der vielen tausend Jahre, in denen sie in den Sagen und Legenden der Menschen verdammt und dämonisiert wurden, scheinen die Hadal uns nicht unähnlich zu sein. Wussten Sie, dass sie über eine Schriftsprache verfügen?«, fragte er sie.
»Zumindest hat es irgendwann einmal eine Schrift gegeben. Diese Runen belegen, dass sie eine bemerkenswerte Zivilisation aufgebaut hatten. Womöglich haben sie sogar«, sagte er und holte tief Atem:
»Seelen.«
Ali konnte nicht glauben, dass ein Priester solche Dinge sagte. Menschenrechte waren eine Sache, aber die Fähigkeit, Gottes Gnade zu erlangen, eine völlig andere. Selbst wenn man den Hadal eine genetische Verbindung zum Menschen nachweisen konnte, war die Möglichkeit, dass sie eine Seele besaßen, theologisch unwahrscheinlich. Die Kirche sprach auch Tieren keine Seele zu, nicht einmal den höheren Primaten. Nur der Mensch war der Erlösung würdig. »Habe ich das richtig verstanden?« hakte sie nach. »Sie suchen nach einem Wesen namens Satan?«
Niemand widersprach ihr.
»Aber warum denn?«
»Frieden«, sagte Lynch. »Wenn er ein großer Anführer ist und wir ihn verstehen lernen, ist es uns vielleicht möglich, einen dauerhaften Frieden zu schmieden.«
»Erkenntnis«, sagte Rau. »Bedenken Sie nur, was wir womöglich erfahren werden, wohin er uns führen könnte.«
»Und wenn er nicht mehr als ein alter Kriegsverbrecher ist«, sagte der Soldat Elias, »sorgen wir für Gerechtigkeit. Für seine Bestrafung.«
»So oder so«, warf January ein, »wollen sie Licht ins Dunkel bringen. Oder die Dunkelheit ans Licht.«
Das klang alles so naiv. So jugendlich beschwingt. So verführerisch und hoffnungsfroh. Beinahe plausibel, dachte Ali, zumindest hypothetisch. Aber - ein Nürnberger Prozess gegen den Fürsten der Hölle?
Ali wurde zunehmend betrübt. Thomas hatte sie in die Welt zurückgeholt, gerade als sie sich von ihr verabschieden wollte.
»Und wie wollen Sie dieses Wesen, diese Kreatur, dieses Ding aufspüren?«, fragte sie. »Welche Chance haben Sie, auch nur einen Flüchtling zu finden, wenn sämtliche Armeen keinen einzigen Hadal mehr zu Gesicht bekommen? Ich höre immer wieder, dass sie vielleicht sogar ausgestorben sind.«
»Sie sind skeptisch«, nickte Vera anerkennend. »Sonst hätten wir Sie auch nicht gebrauchen können. Ihre Skepsis ist eine Grundvoraussetzung. Ohne sie wären Sie für uns nutzlos. Glauben Sie mir, als Thomas uns seine Ideen auftischte, haben wir anfangs auch nicht anders reagiert. Und doch kommen wir jetzt, Jahre später, immer wieder zusammen, wenn Thomas uns ruft.«
»Gelehrsamkeit«, mischte sich der Mathematiker Hoaks ein.
»Durch wiederholte Untersuchung von Ausgrabungsstätten und genauester Prüfung der Fundstücke haben wir ein ziemlich klares Bild entwerfen können. Eine Art Verhaltensprofil.«
»Ich nenne es >komprimierte Satanstheoriec«, sagte Foley. Sein Geschäftssinn war auf Strategie und Ergebnisse programmiert.
»Einige von uns besuchen Bibliotheken, archäologische Ausgrabungen oder Wissenschaftszentren auf der ganzen Welt. Andere führen Interviews, befragen Überlebende, folgen Hinweisen. Auf diese Art hofften wir, ein psychologisches Muster herauszubilden.«
»Es hört sich alles ... so abenteuerlich an«, sagte Ali. Sie wollte niemanden vor den Kopf stoßen.
Thomas meldete sich wieder zu Wort. Die Beleuchtung spielte Ali einen Streich. Mit einem Mal schien er tausend Jahre alt zu sein.
»Er ist dort unten«, sagte er. »Jahr für Jahr versuche ich vergeblich, ihn ausfindig zu machen. Aber das können wir uns nicht länger leisten.«
»Genau das ist das Dilemma«, sagte de l’Orme. »Das Leben ist zu kurz für Zweifel und zu lang für den Glauben.«
Ali erinnerte sich an seine Exkommunikation. Es musste damals grausam für ihn gewesen sein.
»Unser Problem besteht darin, dass sich Satan vor aller Augen versteckt«, sagte de l’Orme. »Wie er es seit jeher getan hat. Er verbirgt sich inmitten unserer Realität. Sogar in unserer visuellen Realität. Der Trick, den wir allmählich lernen, ist der, in die Illusion einzutreten. Auf diese Weise hoffen wir ihn ausfindig zu machen. Würdest du Mademoiselle bitte unser kleines Foto zeigen?«, bat er seinen Assistenten.
Santos breitete eine lange Rolle glänzenden Kodakpapiers aus. Darauf war das Bild einer alten Karte zu sehen. Ali musste aufstehen, um die Einzelheiten zu erkennen. Die anderen scharten sich um sie.
»Meine Kolleginnen und Kollegen hatten schon mehrere Wochen die Gelegenheit, sich dieses Foto anzusehen«, erläuterte ihr de l’Orme. »Es ist eine Straßenkarte, bekannt unter dem Namen >Peutingersche Tafele, im Original fast sieben Meter lang und gut dreißig Zentimeter hoch. Darauf ist sehr penibel ein Netz mittelalterlicher Straßen verzeichnet, insgesamt 120 000 Kilometer, und zwar von den Britischen Inseln bis nach Indien. Entlang der Strecken gab es Rastplätze, Mineralquellen, Brücken, Flüsse und Meere. Höhen- und Breitengrade waren irrelevant. Die Straße selbst war alles.«
Der Archäologe hielt kurz inne. »Ich habe Sie alle gebeten zu versuchen, auf dem Foto etwas Ungewöhnliches zu entdecken, insbesondere lenkte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den lateinischen Satz >Hier gibt es Drachenc, ziemlich genau in der Mitte der Karte. Ist jemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Es ist halb acht Uhr morgens«, sagte eine Stimme. »Klären Sie uns bitte auf, damit wir uns dem Frühstück widmen können.«
»Würdest du bitte ...«, sagte de l’Orme zu seinem Gehilfen. Santos hob eine Holzkiste auf den Tisch, aus der er eine dicke Schriftrolle zog, die er auch sogleich sorgsam aufrollte. »Das hier ist die Originaltafel«, sagte de l’Orme. »Sie wird hier im Museum aufbewahrt.«
»Deshalb mussten wir alle nach New York kommen?«, murrte Parsifal.
»Bitte sehr, vergleichen Sie selbst«, forderte de l’Orme sein Publikum auf. »Wie Sie unschwer erkennen können, gibt das Foto das Original eins zu eins wieder. Was ich hier demonstrieren will, ist die Tatsache, dass man etwas zwar sehen kann, aber nicht unbedingt daran glauben muss. Santos?«
Der junge Mann streifte ein Paar Latex-Handschuhe über, zog ein Skalpell hervor und beugte sich über das Original.
»Was haben Sie vor?«, kreischte ein ausgezehrter Mann entgeistert. Seine Name war Gault, und Ali erfuhr später, dass er ein Enzyklopädist der alten Diderotschen Schule war, die davon überzeugt war, dass man alles wissen und alphabetisch ordnen konnte, »Diese Karte ist unersetzlich«, protestierte er.
»Schon in Ordnung«, meinte de l’Orme. »Er enthüllt lediglich einen Einschnitt, den wir bereits vorgenommen haben.«
Die Aufregung, Zeugen eines Aktes von Vandalismus zu werden, machte alle hellwach. Man drängte sich dicht um den Tisch.
»Es handelt sich um ein Geheimnis, das der Kartograf in dieser Karte versteckt hat«, fuhr de l’Orme fort. »Ein wohl gehütetes Geheimnis, das wahrscheinlich niemals gelüftet worden wäre, wäre die Karte nicht einem Blinden unter die Fingerspitzen gekommen. Unsere Ehrfurcht vor Altertümern hat auch eine abträgliche Seite. Wir sind so weit, dass wir die Dinge selbst mit so viel Sorgfalt behandeln, dass sie ihre ursprüngliche Wahrheit verloren haben.«
»Aber was soll das jetzt?«, fragte jemand atemlos.
Santos schob sein Skalpell an der Stelle in das Pergament, an der der Kartograf ein kleines Wäldchen eingezeichnet hatte, aus dem ein Fluss entsprang. »Meine Blindheit erlaubt mir den einen oder anderen Regelverstoß«, sagte de l’Orme. »Ich fasse die meisten Dinge an, die andere Leute nicht anfassen dürfen. Vor mehreren Monaten spürte ich an dieser Stelle der Karte eine leichte Erhebung. Wir ließen das Pergament durchleuchten, und es zeigte sich, dass unter den Pigmenten ein Geisterbild aufzutauchen schien. Woraufhin wir einen chirurgischen Eingriff vornahmen.«
Santos öffnete ein winziges, verstecktes Türchen, und der Berg klappte an dünnen Fadenscharnieren auf. Darunter kam das vereinfachte, aber deutlich erkennbare Bildnis eines Drachen zum Vorschein, dessen Klauen den Buchstaben B umschlossen.
»Das B steht für Behar«, erklärte de l’Orme. »Lateinisch für wertlos. Ein anderer Name für Satan. Das war die Manifestation Satans zur Zeit der Entstehung der Peutingerschen Tafel. Im Evangelium des Bartholomäus, einem Traktat aus dem dreizehnten Jahrhundert, wird Behar aus dem Abgrund heraufgezerrt und einer Befragung unterworfen. Bartholomäus liefert uns die Autobiografie des gefallenen Engels.«
Die Gelehrten bewunderten die Findigkeit und die künstlerische Fertigkeit des Kartenmachers und beglückwünschten de l’Orme zum Erfolg seiner Detektivarbeit.
»Das ist belanglos. Unbedeutend. Der Berg über diesem Zugang liegt im Karstgebirge des ehemaligen Jugoslawien. Der Fluss, der an seinem Fuß entspringt, ist die Pivka, die aus einer Höhle in Slowenien namens Postojnska jama hervortritt.«
»Die Postojnska jama?«, platzte es aus Gault heraus. »Aber das war doch Dantes Höhle!«
»Genau«, sagte de l’Orme und überließ Gault die weitere Erläuterung.
»Es ist eine sehr große Höhle«, erklärte Gault. »Sie war bereits im 13. Jahrhundert eine berühmte Touristenattraktion. Adelige und Landbesitzer ließen sich von Einheimischen hinführen. Dante stattete ihr einen Besuch ab, als er gerade an der Recherche für ...«
»Mein Gott«, entfuhr es Mustafah. »Seit tausend Jahren war die Legende von Satan genau hier angesiedelt. Wie können Sie diese Erkenntnis trivial nennen?«
»Weil sie uns irgendwo hinführt, wo wir nicht ohnehin bereits gewesen sind«, antwortete de l’Orme. »Die Postojnska jama ist heute eines der größten Tore für Verkehr aller Art in den Abgrund. Der Fluss wurde weggesprengt. Eine Asphaltstraße führt in die Tiefe, der Drache ist geflohen. Eintausend Jahre lang hat uns diese Karte gesagt, wo er einst hauste, oder wo sich zumindest einer seiner Zugänge in die Unterwelt befand. Inzwischen hat sich Satan allerdings woanders hin verzogen.«
Jetzt übernahm Thomas wieder.
»Vor uns liegt ein weiterer Grund dafür, weshalb wir nicht in dem Glauben, die Wahrheit zu kennen, zu Hause sitzen bleiben dürfen. Wir müssen unsere Instinkte im gleichen Maße aufgeben, wie wir uns auf sie verlassen müssen. Wir müssen unsere Hände auf das Unberührbare legen. Auf seine Bewegung lauschen. Er ist irgendwo da draußen, in alten Büchern und Ruinen und Kunstgegenständen. Tief in unserer Sprache und unseren Träumen. Und trotzdem wollen wir den Beweisen keinen Glauben schenken. Wir müssen zu ihm hin, wo auch immer es sich aufhalten mag, sonst blicken wir lediglich in selbsterdachte Spiegel. Verstehen Sie mich? Wir müssen seine Sprache lernen. Wir müssen seine Träume kennen lernen. Und ihn vielleicht in die Familie der Menschen zurückholen.«
Thomas stützte sich auf die Tischplatte. Sie ächzte leise unter seinem Gewicht. Sein Blick fiel auf Ali. »Die Wahrheit ist die, dass wir hinaus in diese Welt gehen müssen. Wir müssen alles riskieren, und wir dürfen nicht mit leeren Händen zurückkehren.«
»Selbst wenn ich an euren historischen Satan glaube«, sagte Ali, »ist es noch lange nicht meine Angelegenheit, gegen ihn anzutreten.«
Das Treffen war vertagt worden. Stunden waren vergangen. Die Gelehrten des Zirkels waren weggegangen und hatten sie mit January und Thomas allein gelassen. Sie war müde und gleichzeitig elektrisiert, gab sich jedoch Mühe, dass man ihr weder das eine noch das andere anmerkte. Thomas war ihr ein Rätsel. Er machte sie für sich selbst zu einem Rätsel.
»Ich stimme Ihnen zu«, erwiderte Thomas. »Aber Ihre Leidenschaft für die Ursprache wäre eine große Hilfe bei unserem Kampf. An dieser Stelle kommen unsere Interessen zusammen.«
Sie warf January einen flüchtigen Blick zu. Ihr Blick hatte sich irgendwie verändert. Ali brauchte eine Verbündete, doch alles was sie sah, waren Verpflichtung und Dringlichkeit. »Was genau wollen Sie von mir?«
Was ihr Thomas als Nächstes erzählte, übertraf ihre kühnsten Vorstellungen. Er spielte mit einem vergilbten Globus, ließ ihn kreisen, bremste die Drehung dann ab und zeigte auf die Galäpagos-Inseln. »In sieben Wochen wird von hier aus eine wissenschaftliche Expedition durch den Meeresboden des Pazifik in das Tunnelsystem der Nazca-Platte eingeschleust. Das Unternehmen besteht aus ungefähr fünfzig Wissenschaftlern und Forschern, die in der Hauptsache aus amerikanischen Universitäten und Laboren rekrutiert wurden. Sie werden ein ganzes Jahr lang in einem erstklassig eingerichteten Forschungsinstitut arbeiten. Es soll sich in einer abgelegenen Bergwerksstadt befinden. Wir versuchen gerade herauszubekommen, in welcher, und ob diese wissenschaftliche Station überhaupt existiert. Major Branch hat uns dabei sehr geholfen, aber selbst der militärische Geheimdienst kann sich keinen Reim darauf machen, warum Helios dieses Projekt vorantreibt und was sie damit eigentlich im Schilde führen.«
»Helios?«, sagte Ali. »Der Wirtschaftsmulti?«
»Helios ist ein multinationales Kartell, bestehend aus Dutzenden großer Firmen, total diversifiziert. Fertignahrung für Babys, Immobilien, Autofabriken, Plastikwiederaufbereitung, Buchverlage, dazu Film- und Fernsehproduktionen, auch Fluggesellschaften. Sie sind unberührbar. Jetzt aber hat dieser Koloss, dank seines Gründers C. C. Cooper, eine scharfe Kursänderung vorgenommen. Nach unten, direkt in den Subplaneten.«
»Der Präsidentschaftskandidat«, murmelte Ali. »Sie haben doch im Senat mit ihm gearbeitet.«
»Meistens gegen ihn«, erwiderte January. »Er ist ein kluger Kopf. Ein wahrer Visionär. Ein verkappter Faschist. Und jetzt ein verbitterter und paranoider Verlierer. Seine eigene Partei wirft ihm die Schmach der Wahlniederlage vor. Der Oberste Gerichtshof hat seine Klage wegen Wahlbetrugs abgewiesen. Mit dem Ergebnis, dass er jetzt tatsächlich davon überzeugt ist, dass die ganze Welt es auf ihn abgesehen hat.«
»Seit seiner Niederlage habe ich nichts mehr von ihm gehört«, sagte Ali.
»Er hat den Senat verlassen und ist zu Helios zurückgekehrt«, sagte January. »Wir waren uns eigentlich sicher, dass er jetzt Ruhe geben und sich wieder ganz dem Geldscheffeln widmen würde, Selbst die Leute, die solche Geschichten im Auge behalten, bemerkten lange nichts. C. C. benutzte seine Marionetten, Stellvertreter und Scheinfirmen, um sich Zugangsrechte, Tunnelbaugeräte und Unter-Tage-Technologie zu sichern. Er traf Abkommen mit den Regierungen von neun verschiedenen Pazifik-Anrainern, die sich an den Bohrarbeiten beteiligen und Arbeitskräfte stellen, und auch das wiederum sehr geheim. Das Ergebnis ist folgendes: Während wir damit beschäftigt waren, die unterirdischen Regionen unter unseren Städten und Kontinenten zu befrieden, ist Helios allen anderen in Bezug auf unterseeische Forschung und Entwicklung zuvorgekommen.«
»Ich dachte, die Kolonisierung fände unter internationaler Ägide statt«, sagte Ali.
»Das stimmt«, erwiderte January. »Innerhalb der Grenzen internationalen Rechts. In nicht eigenstaatlichen Gebieten greift das internationale Recht allerdings nicht, und was die Offshore-Gebiete betrifft, hinkt das Gesetz den unterirdischen Entwicklungen noch weit hinterher.«
»Ich habe das auch nicht ganz begriffen«, mischte sich Thomas wieder ein. »Es ist aber wohl so, dass die Gebiete unter dem Meeresboden so eine Art Wilder Westen sind und demjenigen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, der sie in Besitz nimmt. Im Falle des Pazifischen Ozeans bedeutet das ein Gebiet von gewaltiger Ausdehnung jenseits internationalen Zugriffs.«
»Also nichts anderes als ein hervorragendes Betätigungsfeld für einen Mann wie C. C. Cooper«, ergänzte January. »Schon heute besitzt Helios mehr unterseeische Bohrsta-tionen als jeder andere staatliche oder private Konkurrent. Helios ist auf dem Gebiet hydroponischer Abbaumethoden führend. Helios hat die neueste Technologie für verbesserte Kommunikation durch Felsgestein. Sie sind auf die gleiche Weise an die Eroberung des Subplaneten herangegangen, wie sich die USA vor vierzig Jahren an die erste bemannte Mondlandung gewagt hat. Während der Rest der Welt auf Zehenspitzen im Keller herumschlich, hat Helios Milliarden für Forschung und Entwicklung ausgegeben und ist jetzt bereit, das Neuland auszubeuten.«
»Mit anderen Worten«, ergänzte Thomas, »Helios schickt diese Wissenschaftler nicht aus reiner Gutherzigkeit dort hinunter. Die Expedition ist vor allem mit Geowissenschaftlern und Biologen ausgestattet. Erstes Ziel dürfte es sein, das Wissen hinsichtlich der Lithosphäre zu erweitern und mehr über Bodenschätze und Lebensformen zu erfahren, insbesondere natürlich diejenigen, die sich ausbeuten lassen. Helios hat kein Interesse an unserem Ansatz, die Hadal zu humanisieren. Das heißt, die anthropologische Komponente ist sehr, sehr gering.«
Bei dem Begriff Anthropologie zuckte Ali zusammen. »Ihr wollt, dass ich mitgehe? Dort hinunter?«
»Wir sind viel zu alt dazu«, erwiderte January.
Ali war wie betäubt. Wie konnten sie so etwas von ihr verlangen? Sie hatte ihre eigenen Verpflichtungen, Pläne, Wünsche.
»Sie sollten wissen, dass nicht die Senatorin Sie ausgewählt hat«, sagte Thomas zu Ali. »Das war ich. Ich beobachte Sie schon seit Jahren und bewundere Ihre Arbeit. Sie verfügen über genau die Fähigkeiten, die wir brauchen.«
»Aber dort hinunter ...« Sie hatte nie daran gedacht, an einer solchen Reise teilzunehmen. Sie hasste die Dunkelheit. Ein ganzes Jahr ohne Sonne?
»Sie gewöhnen sich daran.«
»Sie waren wohl schon einmal unten«, sagte Ali. Thomas hörte sich so überzeugend an.
»Nein«, erwiderte er. »Aber ich habe mich bei den Hadal aufgehalten, indem ich ihre Spuren in Ruinen und Museen aufsuchte. Meine Aufgabe wurde durch Äonen menschlichen Aberglaubens und menschlicher Ignoranz erschwert. Aber wenn man sich tief genug in die Geschichte der Menschheit wühlt, finden sich Hinweise darauf, wie die Hadal vor Tausenden von Jahren gewesen sein müssen. Es gab eine Zeit, da waren sie mehr als diese heruntergekommenen Kreaturen, mit denen wir es heute zu tun haben.«
Ihr Puls hämmerte. Sie wollte nicht aufgeregt sein. »Und ich soll den Anführer der Hadal ausfindig machen?«
»Aber nein.«
»Was dann?«
»Es geht uns nur um die Sprache.«
»Ich soll ihre Schrift entziffern? Aber es existieren doch nur Fragmente .«
»Wie man mir berichtete, gibt es dort unten Glyphen in Hülle und Fülle. Jeden Tag sprengen die Bergleute ganze Galerien davon weg.«
Hadal-Glyphen? Wo sollte das alles noch enden?
»Viele Leute sind der Meinung, die Hadal seien ausgestorben. Davon lassen wir uns nicht beirren«, sagte January. »Wir müssen immer noch mit dem leben, was sie waren. Und wenn sie sich nur irgendwo versteckt halten, dann müssen wir wissen, wozu sie fähig sind, und zwar nicht nur in ihrer Grausamkeit, sondern auch in der Erhabenheit, nach der sie einst strebten. Es steht außer Zweifel, dass sie einmal zivilisiert gewesen sind. Und wenn die Legende wahr ist, sind sie vor sich selbst in Ungnade gefallen. Warum? Könnte ein solcher Fall auch der Menschheit drohen?«
»Machen Sie uns ihre uralten Erinnerungen zugänglich«, sagte Thomas zu Ali. »Wenn Ihnen das gelingt, können wir Satan erst wirklich verstehen. Bislang ist es niemandem gelungen, ihre Schrift zu entziffern. Es ist eine verlorene Sprache, vielleicht. Wahrscheinlich haben auch sie, die Letzten ihrer Art, sie vergessen. Sie haben ihre eigentliche Herrlichkeit vergessen. Und Sie sind die Einzige, die mir einfällt, die in der Lage wäre, die in den Hieroglyphen und Schriften der Hadal verborgene Sprache aufzuspüren. Befreien Sie diese tote Sprache, und uns eröffnet sich vielleicht eine Möglichkeit zu verstehen, wer sie einst gewesen sind. Befreien Sie diese Sprache, und womöglich lüften Sie dabei auch das Geheimnis der Ursprache.«
»Nachdem das alles gesagt ist, Ali«, meldete sich January noch einmal zu Wort und suchte Alis Blick, »möchte ich, dass du eines weißt: Du musst nicht gehen. Du kannst auch Nein sagen, Ali.«
Aber natürlich konnte sie das nicht.