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Obwohl wir de Luces schon Katholiken waren, seit Wagen rennen im Circus Maximus der letzte Schrei waren, hielt uns das nicht davon ab, St. Tankred zu besuchen, die einzige Kirche in Bishop’s Lacey und ein unerschütterliches Bollwerk der anglikanischen Kirche.

Für diese unsere Gunst gab es mehrere Gründe. Zum einen kam uns die räumliche Nähe und somit die bequeme Erreichbarkeit von St. Tankred entgegen, zum anderen waren sowohl Vater als auch der Vikar (wenn auch zu verschiedenen Zeiten) in Greyminster zur Schule gegangen. Abgesehen davon war die Weihung einer Kirche, wie Vater uns einmal erklärt hatte, so dauerhaft wie eine Tätowierung. St. Tankred, sagte er, war vor der Reformation eine römisch-katholische Kirche gewesen, und in seinen Augen blieb sie das auch.

Deshalb marschierten wir ausnahmslos jeden Sonntagmorgen im Gänsemarsch querfeldein. Vater hieb ab und zu mit seinem Malakka-Spazierstöckchen in die Vegetation, ihm folgten Feely, Daffy und ich (und zwar in dieser Reihenfolge), und Dogger bildete in seinem besten Sonntagsstaat die Nachhut.

In St. Tankred schenkte uns niemand auch nur die geringste Beachtung. Vor einigen Jahren hatten sich etliche Gemeindemitglieder beschwert, aber eine strategisch wohlplatzierte Spende für die Restaurierung der Orgel hatte den Unmut ohne Blutvergießen und blaue Flecken alsbald beschwichtigt.

»Sagen Sie Ihrer Gemeinde doch bitte, dass wir vielleicht mit ihnen beten«, hatte Vater den Vikar gebeten, »dass wir aber auch nicht ausdrücklich gegen sie beten.«

Einmal, als Feely den Kopf verlor und nach vorn zur Kommunion ging, sprach Vater bis zum nächsten Sonntag kein Wort mehr mit ihr. Seit damals raunte er ihr, wenn sie in der Kirche auch nur mit den Füßen scharrte, zu: »Ruhig, altes Mädchen, gaaanz ruhig.« Er brauchte sie dabei nicht anzusehen. Der Anblick seines Profils, das dem eines Standartenträgers in einer besonders asketischen römischen Legion glich, genügte, um uns in Zaum zu halten. Zumindest in der Öffentlichkeit.

Als ich jetzt zu Feely hinüberschielte, die mit geschlossenen Augen in der Kirchenbank kniete, die gefalteten Hände himmelwärts gerichtet, und tonlos Andachtsformeln rezitierte, musste ich mich kneifen, um nicht zu vergessen, dass ich neben einem Satansbraten saß.

Die Gemeinde von St. Tankred hatte sich schon bald an unser unablässiges Verneigen und Niederknien gewöhnt, und wir sonnten uns in christlicher Nächstenliebe - bis auf das eine Mal, als Daffy Mr Denning, dem Organisten, schilderte, wie Harriet in uns allen die feste Überzeugung verankert hätte, dass die Geschichte von der Sintflut in der Genesis aus der gattungsgeschichtlichen Erinnerung der Familie der Katzen stamme, mit einer deutlichen Anspielung auf die Sitte, junge Kätzchen zu ertränken.

Das hatte für einen gewissen Aufruhr gesorgt, aber auch hier war es Vater gelungen, die Wogen mittels einer großzügigen Spende für die Reparatur des Kirchendachs wieder zu glätten, einer Summe, die er Daffy allerdings vom Taschengeld abzog.

»Da ich sowieso kein Taschengeld kriege«, hatte Daffy gemeint, »ist niemandem ein Schaden entstanden. Eigentlich keine schlechte Strafe.«

Ich hörte unbewegt zu, wie die Gemeinde die allgemeine Beichte ablegte und dem Pfarrer nachsprach:

»Wir haben Dinge nicht getan, die wir hätten tun sollen; und wir haben Dinge getan, die wir nicht hätten tun dürfen.«

Mir kamen, leicht abgewandelt, Doggers Worte in den Sinn:

»Es gibt Dinge, über die spricht man. Und es gibt andere Dinge, die behält man lieber für sich.«

Ich drehte mich zu ihm um. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen bewegten sich. Wie bei Vater übrigens auch.

Da es der Sonntag des Dreifaltigkeitsfestes war, kamen wir in den Genuss einer recht selten vorgetragenen Räuberpistole aus der Offenbarung, wo es um die Steine Jaspis und Sarder geht, um den Regenbogen rings um den Thron, das gläserne Meer gleich dem Kristall und die vier Tiergestalten voller Augen, außen und unangenehmerweise auch noch innen.

Ich hatte meine eigene Ansicht zu der wahren Bedeutung dieser offensichtlich alchimistischen Anspielung, aber da ich mir die für meine Doktorarbeit aufheben wollte, behielt ich sie für mich. Und auch wenn wir de Luces nun mal in der gegnerischen Mannschaft spielten, beneidete ich die Anglikaner gelegentlich um ihr prachtvolles Gebetbuch, das Book of Common Prayer.

Auch die Glasfenster waren prachtvoll. Über dem Altar strahlte das Licht der Morgensonne durch die drei bunten Glasfenster herein, deren Scheiben im finsteren Mittelalter von irgendwelchen halb wilden, halb sesshaften Glasmachern hergestellt worden waren. Die hatten damals am Rand des Ovenhouse Wood gehaust und gezecht, dessen arg ausgedünnte Reste Buckshaw nach Westen hin begrenzten.

Auf dem linken Fenster sprang Jonas gerade aus dem Maul des Wals und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen und entrüsteter Miene noch einmal nach dem Untier um. Aus der Broschüre, die am Eingang der Kirche verteilt wurde, wusste ich, dass die Schuppen des Riesenviehs durch das Aufschmelzenich diese Tatsache interessant - auch ein Gegenmittel bei Arsenvergiftung ist.

Das rechte Fenster zeigte Jesus Christus bei der Auferstehung aus seinem Grab, während Maria Magdalena in einem roten Kleid (ebenfalls Eisenoxid oder vielleicht zerstoßenes Gold) ihm ein violettes Gewand (Manganoxid) und einen gelben Brotlaib (Chlorsilber) hinhielt.

Man hatte die Metallsalze mit Sand und Pflanzenasche gemischt, in einem Ofen erhitzt, der so heiß war, dass es sich sogar Schadrach, Meschach und Abed-Nego noch einmal überlegt hätten, und das Ganze anschließend so weit abgekühlt, bis die gewünschte Farbe erreicht war.

Das mittlere Fenster wurde von unserem ureigenen St. Tankred beherrscht, dessen sterbliche Überreste irgendwo unter unserenFüßen in der Krypta lagen. Das Fenster zeigte ihn in der Tür der Kirche, in der wir saßen (so, wie das Gebäude aussah, ehe die Viktorianer es ›verschönerten‹), und er heißt eine vielköpfige Gemeinde mit offenen Armen willkommen. St. Tankred hat ein freundliches Gesicht, wie jemand, den man bedenkenlos zu sich nach Hause einladen würde, um sonntagnachmittags gemütlich in alten Ausgaben der Illustrated London News oder vielleicht auch von Country Life zu blättern, und da wir Glaubensbrüder sind, stelle ich mir gern vor, dass er, während er bis zum Jüngsten Tag unter dem Kirchenfußboden ratzt, es mit uns Buckshaw-Bewohnern ganz besonders gut meint.

Als sich meine Gedanken allmählich wieder der Gegenwart zuwandten, stellte ich fest, dass der Vikar für den Toten aus unserem Gurkenbeet betete.

»Er kam als Fremder zu uns«, verkündete er. »Seinen Namen brauchen wir nicht zu kennen …«

Das hörte Inspektor Hewitt bestimmt nicht gern.

»… wir können Gott auch so bitten, seiner Seele gnädig zu sein und ihm seinen Frieden zu schenken.«

Demnach wussten inzwischen alle Bescheid! Vermutlich hatte Mrs Mullet keine Zeit verloren und war sofort über die Straße geeilt, um dem Vikar alles brühwarm zu erzählen. Von der Polizei hatte er es ja wohl kaum erfahren.

Eine Kniebank polterte, und als ich aufblickte, sah ich eben noch, wie sich Miss Mountjoy im Krebsgang aus der Bankreihe schob und durch das Seitenschiff davoneilte.

»Mir ist nicht gut«, raunte ich Ophelia zu, woraufhin sie mich ohne aufzublicken vorbeiließ. Feely konnte es partout nicht leiden, wenn man ihr auf die Schuhe kotzte, eine durchaus nützliche Marotte, die ich mir hin und wieder zunutze machte.

Draußen war ein Wind aufgekommen, der die Äste der Friedhofseiben peitschte und das ungemähte Gras wild wogen ließ. Ich sah Miss Mountjoy zwischen den moosbedeckten Grabsteinen verschwinden und auf das kleine, bröckelige und überwucherte Friedhofstor zuhalten.

Was hatte sie so aufgebracht? Ich erwog, ihr nachzulaufen, aber dann hatte ich eine bessere Idee. Der Fluss machte nämlich einen Bogen um St. Tankred, und zwar so, dass die Kirche praktisch auf einer Insel stand, und im Lauf der Jahrhunderte hatte sich das mäandernde Wasser einen Weg durch die uralte Gasse außerhalb des Friedhoftors gebahnt. Demnach konnte Miss Mountjoy, wenn sie nicht den gleichen Weg nehmen wollte, auf dem sie hergekommen war, nur über die inzwischen überspülten Trittsteine, die früher einmal den Fluss durchzogen hatten, nach Hause gelangen. Dazu musste sie die Schuhe ausziehen und ein Stück durchs Wasser waten.

Es lag auf der Hand, dass sie allein sein wollte.

Als ich mich wieder zu Vater gesellte, schüttelte der gerade Canon Richardson die Hand. Nach dem Mord waren wir de Luces bei den Dörflern in ihrem Sonntagsstaat natürlich

»Schlimme Sache, das dort oben auf Buckshaw«, wandten sie sich an Vater, Feely oder mich.

»Ja, sehr unerfreulich«, erwiderten wir, schüttelten dem Betreffenden die Hand und wandten uns dem nächsten Bittsteller zu. Erst nachdem die versammelte Gemeinde in diesem Sinne versorgt war, durften wir nach Hause zum Mittagessen.

Als wir durch den Park gingen, öffnete sich die Tür eines wohlbekannten blauen Wagens, und Inspektor Hewitt kam über den Kies auf uns zu. Da ich insgeheim zu der Überzeugung gelangt war, dass wohl auch polizeiliche Ermittlungen den Sonntag heiligten, wunderte ich mich ein wenig, ihn zu sehen. Er nickte Vater zu und legte Feely, Daffy und mir gegenüber die Hand an die Hutkrempe.

»Nur ganz kurz, Colonel de Luce … aber unter vier Augen, wenn ich bitten darf.«

Ich schaute Vater aufmerksam an, weil ich fürchtete, er könnte wieder in Ohnmacht fallen, aber abgesehen davon, dass er den Knauf seines Spazierstocks fester umfasste, wirkte er recht gelassen. Fast so, dachte ich, als sei er auf diese Begegnung durchaus vorbereitet gewesen.

Derweil hatte sich Dogger unauffällig ins Haus verzogen. Vielleicht wollte er endlich sein altmodisches Hemd mit dem Vatermörder und den Manschetten aus- und seinen Gärtnerkittel wieder anziehen.

Vaters Blick wanderte über uns drei, als wären wir eine Schar aufdringlicher Gänse.

»Wir gehen in mein Arbeitszimmer«, beschied er den Inspektor und marschierte davon.

Daffy und Feely glotzten irgendwo in den Mittelgrund, wie Dritten Mann pfiff.

Da es Sonntag war, hielt ich es für angemessen, in den Garten zu gehen und noch einmal die Stelle aufzusuchen, wo der Tote gelegen hatte. Dann würde ich mir bestimmt vorkommen wie die verschleierte Witwe auf einem jener Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, die niederkniet, um eine Handvoll kümmerlicher Stiefmütterchen - in einem Wasserglas - aufs Grab ihres toten Gatten oder ihrer Mutter zu stellen. Aber aus irgendeinem Grund fand ich die Vorstellung dann doch bedrückend und beschloss, mir das theatralische Getue zu verkneifen.

Ohne den Toten war das Gurkenbeet seltsam uninteressant. Es war einfach nur ein Beet voller Grünzeug und hier und da einem abgebrochenen Stängel und einer Art Schleifspur - von einem Absatz? Man konnte noch erkennen, wo sich Sergeant Woolmers schweres Fotostativ in den Rasen gebohrt hatte.

Von Philip Odell, dem Privatdetektiv im Radio, wusste ich, dass bei jedem unerwarteten und unerklärlichen Todesfall unbedingt eine Obduktion durchgeführt werden musste, und ich überlegte folgerichtig, ob Dr. Darby die Leiche wohl schon - wie ich ihn zu Inspektor Hewitt hatte sagen hören - »auf dem Tisch« gehabt hatte. Auch das traute ich mich nicht, irgendjemanden zu fragen, jedenfalls jetzt noch nicht.

Ich schaute zu meinem Zimmerfenster hoch. Darin spiegelten sich, zum Greifen nah, dicke weiße Wolken, die durch ein Meer aus blauem Himmel dümpelten.

Zum Greifen nah! Richtig! Das Gurkenbeet lag ja gleich unter meinem Fenster!

Warum hatte ich dann nichts gehört? Es ist allgemein bekannt,

Was folgte daraus? Wenn der Fremde brutal attackiert worden war, musste sich das woanders abgespielt haben, irgendwo außerhalb meiner Hörweite. War er jedoch dort überfallen worden, wo ich ihn entdeckt hatte, musste der Mörder eine geräuschlose Methode angewandt haben, eine geräuschlose, langsame Methode; denn schließlich war der Mann, als ich ihn entdeckte, immer noch, wenn auch nur gerade noch so, am Leben gewesen.

»Vale«, hatte der Sterbende gesagt. Aber weshalb sollte er sich von mir verabschieden? Auch Mr Twining hatte »Vale!« gerufen, ehe er in den Tod gesprungen war, aber wo war da der Zusammenhang? Hatte der Mann im Gurkenbeet versucht, seinen eigenen Tod mit dem von Mr Twining in Verbindung zu bringen? War er dabei gewesen, als der Alte vom Dach gesprungen war? Hatte er vielleicht irgendetwas damit zu tun gehabt?

Ich musste nachdenken - und zwar in Ruhe. Die Remise kam nicht infrage, denn ich wusste inzwischen, dass man dort in schweren Zeiten eventuell Vater in Harriets Phantom antreffen konnte. Blieb also nur der Pavillon.

Auf der Südseite von Buckshaw war auf einer künstlichen Insel in einem künstlichen See eine künstliche Ruine errichtet worden, in deren Schatten ein kleiner griechischer Tempel aus moosbewachsenem Marmor stand. Obwohl inzwischen längst vergessen und von Brennnesseln überwuchert, war das kleine Bauwerk einst eine Zierde Englands gewesen: eine kleine Kuppel auf vier anmutig schlanken Säulen, die

Die Insel, der See und der Pavillon waren sämtlich von Capability Brown entworfen worden (auch wenn diese Zuschreibung immer mal wieder in Notes & Queries angezweifelt wurde - einer Kulturzeitschrift, die Vater gern las, sofern in der jeweiligen Ausgabe Fragen von philatelistischem Interesse erörtert wurden), und in der Bibliothek von Buckshaw gab es noch einen roten Lederband, der einen signierten Satz der Originalzeichnungen des Landschaftsarchitekten enthielt. Was wiederum Vater zu dem Scherz verleitete: »Sollen sich diese schlauen Männer doch ihre eigenen Tempel bauen.«

Eine unserer beliebten Familienanekdoten handelte davon, dass John Montague, der vierte Earl of Sandwich, anlässlich eines Picknicks im Pavillon von Buckshaw den nach ihm benannten Imbiss erfunden hatte: nämlich als er zum ersten Mal ein Stück kaltes Brathuhn zwischen zwei Brotscheiben packte, während er mit Cornelius de Luce Cribbage spielte.

»Zum Teufel mit der historischen Überlieferung«, hatte Vater gesagt.

Ich war durch das kaum kniehohe Wasser zu der Insel hinübergewatet und hockte nun mit bis zum Kinn hochgezogenen Knien auf den Stufen des Tempelchens.

Zuallererst gab es Mrs Mullets Schmandkuchen zu bedenken. Wo war der geblieben?

Ich rief mir noch einmal den frühen Samstagmorgen in Erinnerung, sah mich die Treppe herunterkommen, durch die

Später hatte mich Mrs Mullet dann gefragt, wie mir der Kuchen geschmeckt habe. Warum ausgerechnet mich? Warum nicht Feely oder Daffy?

Da traf es mich wie ein Donnerschlag! Der Tote hatte das Stück Kuchen gegessen. Endlich ergab das Ganze einen Sinn!

Wir hatten es mit einem Diabetiker zu tun, der eine lange Reise aus Norwegen hinter sich und eine in eine Pastete eingebackene Zwergschnepfe ins Land geschmuggelt hatte. Die Reste dieser Pastete hatte ich mitsamt der verräterischen Feder im Dreizehn Erpel entdeckt, der tote Vogel selbst hatte vor unserer Tür gelegen. Ohne etwas im Magen - obwohl er, Tully Stoker zufolge, in der Schankstube ein Bier getrunken hatte - hatte sich der Fremde am Freitagabend auf den Weg nach Buckshaw gemacht und das Haus nach der Auseinandersetzung mit Vater durch die Küche verlassen, wobei er unterwegs ein Stück von Mrs Mullets Schmandkuchen stibitzt hatte. Und noch vor dem Ende des Gurkenbeetes hatte ihn dieses Stück Kuchen niedergestreckt!

Was für ein Gift wirkte derart schnell? Ich ging die gebräuchlichsten durch. Zyankali wirkte innerhalb von Minuten, das Opfer wurde erst blau im Gesicht und erstickte dann rasch. Zurück blieb ein feiner Mandelgeruch. Gegen Zyankali sprach allerdings, dass das Opfer längst hätte tot gewesen sein müssen, als ich es entdeckte. (Ich muss zugeben, ich habe ein gewisses Faible für Zyankali - es wirkt nun mal am allerschnellsten. Wenn Gifte Pferde wären, würde ich immer auf Zyankali setzen.)

Hatte der letzte Atemzug des Mannes nach Bittermandel gerochen? Ich konnte mich nicht entsinnen.

Dann gab es noch Kurare. Das wirkte ebenfalls beinahe sofort, und auch davon erstickte das Opfer im Nu. Aber Kurare

Wie wäre es mit Tabak? Mir fiel ein, dass man eine Handvoll Tabakblätter, die man in einem Wasserkrug mehrere Tage in der Sonne weichen ließ, zu einem zähen, schwarzen, sirupartigen Harz eindampfen konnte, das innerhalb von Sekunden tödlich wirkte. Aber Nicoteana wuchs in Amerika. In England oder in diesem Falle in Norwegen ließen sich schwerlich frische Blätter auftreiben.

Frage: Ergeben zerkrümelte Zigarettenkippen, Zigarren oder Pfeifentabak ein genauso tödliches Gift?

Da auf Buckshaw niemand rauchte, musste ich mir wohl anderswo Proben beschaffen.

Frage: Wann (und wohin) werden die Aschenbecher im Dreizehn Erpel geleert?

Die eigentliche Frage lautete: Wer hatte den Kuchen vergiftet? Beziehungsweise: Wenn der Mann aus dem Gurkenbeet nur zufällig ein Stück davon gegessen hatte, wem war das Gift ursprünglich zugedacht gewesen?

Ich erschauerte, als ein Schatten über die Insel glitt. Als ich zum Himmel schaute, sah ich, dass sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben hatte. Bald würde es regnen.

Noch ehe ich aufspringen konnte, kam es auch schon wie aus Kübeln herunter - einer jener überraschenden Gewitterschauer im frühen Juni, die Blumen zerdrücken können und alle Regenrinnen überquellen lassen. Ich stellte mich genau in die Mitte des Pavillons unter die Kuppel, in der Hoffnung, mich dort vor dem Geprassel schützen zu können und halbwegs trocken zu bleiben - fror aber trotzdem wie ein Schneider, denn ein kräftiger Wind wehte zwischen den Säulen hindurch. Um mich ein wenig zu wärmen, schlang ich die Arme um mich. In so einem Fall, dachte ich, wartet man am besten ab, bis es vorüber ist.

»Hallo? Alles in Ordnung?«

Am gegenüberliegenden Seeufer stand ein Mann und schaute zu mir herüber. Durch die Regenschleier sah ich ihn als lauter verschwommene Tupfen, wie eine Figur auf einem impressionistischen Gemälde. Aber noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er schon die Hosenbeine hochgekrempelt und die Schuhe ausgezogen und kam barfuß angewatet. Dabei stützte er sich auf einen langen Spazierstock, sodass er ein wenig wie der heilige Christophorus aussah, der das Jesuskind huckepack über den Fluss trägt. Allerdings hatte dieser Mann, wie ich erkennen konnte, als er näher gekommen war, einen Leinenrucksack über der Schulter.

Er trug einen ausgebeulten Ausgehanzug und hatte einen breitkrempigen Schlapphut auf dem Kopf, ein bisschen so wie der Filmstar Leslie Howard, dachte ich. Der Mann war schätzungsweise um die fünfzig, ungefähr so alt wie Vater, aber wesentlich modischer gekleidet.

Mit dem wasserdichten Skizzenbuch in der Hand verkörperte er den durch die Lande streifenden Künstler: ein Sinnbild des guten, alten Englands und so weiter.

»Alles in Ordnung?«, wiederholte er, und erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch gar nicht geantwortet hatte.

»Aber ja. Danke der Nachfrage.« Ich plapperte drauflos, um meine Unhöflichkeit wiedergutzumachen. »Der Regen hat mich überrascht.«

»Das hab ich mir schon gedacht. Du bist ja völlig durchnässt.«

»Nicht nur durchnässt - ich bin bereits gesättigt«, verbesserte ich ihn. Wenn es um Chemie ging, konnte ich ziemlich kleinlich sein.

Er öffnete seinen Rucksack und holte einen wasserdichten Umhang heraus, wie ihn die Wanderer auf den Hebriden tragen. Den legte er mir um die Schultern, und im Nu wurde mir angenehm warm.

»Das wäre doch nicht … aber vielen Dank«, sagte ich.

Anschließend standen wir schweigend nebeneinander, schauten auf den See und lauschten dem Geprassel des Wolkenbruchs.

Nach einer Weile sagte er: »Da wir nun einmal beide auf dieser Insel gestrandet sind, kann es wohl nichts schaden, wenn wir uns einander vorstellen.«

Sein Akzent war schwer einzuordnen. Oxford mit einem Hauch von etwas anderem. Skandinavien?

»Ich heiße Flavia. Flavia de Luce.«

»Und ich heiße Pemberton, Frank Pemberton. Freut mich, dich kennenzulernen, Flavia.«

Pemberton? War das nicht der Mann, der gerade im Dreizehn Erpel angekommen war, als ich vor Tully Stoker geflohen war? Da ich nicht wollte, dass jemand von meinem Besuch dort erfuhr, behielt ich es lieber für mich.

Wir schüttelten einander die tropfenden Hände und traten dann wieder jeder ein Stück zurück, wie es Fremde oft machen, nachdem sie einander angefasst haben.

Es regnete und regnete. Irgendwann sagte er: »Offen gestanden wusste ich schon, wer du bist.«

»Ach ja?«

»Mmm. Wenn man sich ernsthaft mit englischen Landsitzen beschäftigt, ist einem der Name de Luce natürlich nicht fremd. Schließlich steht eure Familie im Who’s who.«

»Beschäftigen Sie sich denn ernsthaft mit englischen Landsitzen, Mr Pemberton?«

Er lachte.

»Schon. Allerdings rein beruflich. Genau genommen schreibe ich ein Buch über dieses Thema. Vielleicht nenne ich es Pembertons Herrensitze: Ein Bummel durch die Zeitläufte. Klingt eindrucksvoll, oder?«

»Kommt drauf an, wen Sie beeindrucken wollen, aber doch, irgendwie schon …«

»Ich wohne natürlich in London, aber ich bin jetzt schon eine ganze Weile in diesem Teil des Landes unterwegs und kritzle vor mich hin. Eigentlich hatte ich gehofft, mich auf eurem Anwesen ein wenig umsehen und vielleicht deinen Vater interviewen zu dürfen. Darum bin ich hergekommen.«

»Das wird wohl leider nicht möglich sein, Mr Pemberton«, erwiderte ich. »Es hat bei uns auf Buckshaw nämlich einen unerwarteten Todesfall gegeben, und Vater … unterstützt die Polizei bei den Ermittlungen.«

Unwillkürlich verwandte ich einen Satz, den ich schon oft in entsprechenden Radiosendungen gehört hatte und über dessen Bedeutung ich mir, ehe ich ihn selbst aussprach, noch nie Gedanken gemacht hatte.

»Grundgütiger!«, sagte er. »Ein unerwarteter Todesfall? Doch hoffentlich kein Familienmitglied?«

»Nein, ein Wildfremder. Aber seit man den Toten in unserem Garten gefunden hat, ist Vater … Sie verstehen?«

In diesem Augenblick hörte es so unvermittelt zu regnen auf, wie es angefangen hatte. Die Sonne kam heraus, ließ das nasse Gras in allen Regenbogenfarben glitzern, und irgendwo auf der Insel rief ein Kuckuck, geradeso wie am Ende des Gewitters in Beethovens »Pastorale«. Genau so war’s, ich schwöre es!

»Gewiss verstehe ich das«, versicherte Mr Pemberton. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, mich aufzudrängen. Falls sich Colonel de Luce irgendwann später mit mir in Verbindung setzen möchte, ich bin im Dreizehn Erpel in Bishop’s Lacey abgestiegen. Mr Stoker leitet die Nachricht sicherlich gerne an mich weiter.«

Ich nahm den Umhang ab und gab ihn ihm zurück.

»Vielen Dank«, sagte ich, »aber jetzt muss ich wieder nach Hause.«

Wir wateten durch den See zurück wie zwei Strandurlauber am Meer.

»Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Flavia«, verabschiedete sich Mr Pemberton. »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.«

Ich sah ihm nach, wie er in Richtung Kastanienallee davonschlenderte, bis er außer Sichtweite war.

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