Greyminster lag dösend in der Sonne, als träumten die al ten Gemäuer von einstiger Herrlichkeit. Alles sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: prachtvolle alte Gebäude, gepflegter, grüner Rasen, der sich bis zum breiten, trä ge dahinfließenden Fluss hinunter erstreckte, leere Spielfelder, aus denen der ferne Widerhall vergangener Kricket-Spiele, deren Teilnehmer längst von uns gegangen waren, aufzusteigen schien.
Ich lehnte Gladys in einem kleinen Seitenweg, durch den ich auf das Gelände gelangt war, an einen Baum. Hinter einer Hecke tuckerte ein Traktor im Leerlauf, der Fahrer war nirgends zu sehen.
Aus der Kapelle wehten die Stimmen eines Knabenchors heran, der trotz des strahlenden Morgens sang:
Hinunter ist der Sonnen Schein,
Die finstre Nacht bricht stark herein.
Ich hörte ein paar Sekunden zu, dann brach der Gesang plötzlich ab. Nach einer kurzen Pause setzte die quäkende Orgel wieder ein, und die Sänger fingen noch einmal von vorn an.
Als ich langsam über die Wiese ging, die Vater bestimmt »das Viereck« genannt hätte, starrten die hohen Fenster des Schulgebäudes ausdruckslos und abweisend auf mich herab. Ich kam mir auf einmal wie ein Insekt unter einem Mikroskop
Mit Ausnahme eines einzelnen Schuljungen, der um eine Ecke gerannt kam, und zwei Lehrern in schwarzen Talaren, die im Gehen plaudernd die Köpfe zusammensteckten, waren die großen Rasenflächen und die sich dazwischen einherschlängelnden Wege von Greyminster leer. Der Himmel leuchtete so blau, dass das Ganze fast unwirklich aussah, wie eine hundertfach vergrößerte Agfacolor-Fotografie, eine Aufnahme, wie man sie in Büchern mit Titeln wie Malerisches Großbritannien fand.
Der Kalksteinkasten mit dem Glockenturm auf der Ostseite des Vierecks, dachte ich, muss Anson House sein, Vaters ehemalige Bude.
Die Sonne schien so gleißend, dass ich im Näherkommen die Hand schützend über die Augen an die Stirn legte. Von den Zinnen und Ziegeln dort oben musste Mr Twining damals in den Tod gesprungen sein, herab auf das uralte Pflaster, von dem ich kaum hundert Schritt entfernt stand.
Neugierig schlenderte ich hinüber.
Zu meiner Enttäuschung waren keine Blutflecke mehr zu erkennen. Selbstverständlich waren sie nach so langer Zeit längst verblasst. Außerdem hatte man gerade diese Blutflecken bestimmt unauffällig weggeschrubbt, noch ehe Mr Twinings zerschmetterter Leib zu dem gebettet worden war, was man »die ewige Ruhe« nannte.
Bis auf die Spuren von zweihundert Jahren Abnutzung durch die Schuhsohlen privilegierter Schüler und Lehrer hatten die Pflastersteine nichts zu erzählen. Der dicht an der Hauswand entlangführende Weg war keine zwei Meter breit.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute am Turm empor. Aus diesem Blickwinkel ragte die steile Mauer schwindelerregend hoch auf, und oben wurde sie von zierlichen Ornamenten gekrönt. Weiße Wolken zogen bedächtig über die
Ausgetretene Stufen führten von dem gepflasterten Weg verlockend unter einem Steinbogen hindurch zu einer Flügeltür. Links von mir befand sich die Pförtnerloge, deren Insasse über das Telefon gebeugt war und nicht mal aufblickte, als ich an ihm vorbeihuschte.
Ein kühler, gefliester, schummriger Korridor schien ins Unendliche zu führen. Ich marschierte tapfer drauflos, wobei ich Acht gab, nicht mit den Füßen zu schlurfen.
An einer Wand hing eine endlose Galerie lächelnder Porträts: Manche zeigten Schüler, andere Lehrer, aber alle hatten sie einst in Greyminster gelernt oder gelehrt, und sie hatten ihr Leben fürs Vaterland gelassen. Sie hingen einzeln in schwarz lackierten Rahmen, auf deren Unterkante in einem vergoldeten Schriftband zu lesen stand: »Damit andere leben dürfen«. Am Ende des Korridors hingen, von den anderen Bildern ein wenig abgesetzt, die Fotos dreier Jungen, deren Namen mit roter Schrift auf kleine, viereckige Messingplaketten graviert waren. Unter jedem Namen stand: »Vermisst.«
Vermisst? Warum hing Vaters Bild nicht auch hier?
Vater war für gewöhnlich so abwesend, dass er genauso gut als »vermisst« hätte gelten können wie diese jungen Männer, deren Gebeine irgendwo in Frankreich lagen. Bei diesem Gedanken verspürte ich zwar einen Anflug von schlechtem Gewissen, aber es stimmte dennoch.
Ich glaube, es war dort, in dem düsteren Flur in Vaters ehemaligem Internat, dass mir so richtig bewusst wurde, wie ungeheuer verschlossen Vater eigentlich war. Gestern hätte ich ihn liebend gern umarmt und so fest gedrückt, dass ihm die Luft weggeblieben wäre. Jetzt jedoch begriff ich, dass die traulichemir anvertraut, sondern Harriet, und wie bei dem sterbenden Horace Bonepenny war ich nicht mehr als ein zufälliger Beichtvater gewesen.
Jetzt, hier in Greyminster, an jenem Ort, an dem Vaters Kummer seinen Anfang genommen hatte, kam mir diese Umgebung umso kälter, abweisender und ungastlicher vor.
Hinter den Fotos führte eine Treppe in den ersten Stock. Ich ging hinauf und stand im nächsten langen Flur, der sich wie der im Erdgeschoss über die ganze Länge des Gebäudes erstreckte. Obwohl die Türen zu beiden Seiten geschlossen waren, konnte man durch kleine Scheiben einen Blick in die Räume dahinter werfen. Es waren lauter Klassenzimmer, und sie sahen alle gleich aus.
Das große Eckzimmer am Ende des Korridors sah da schon vielversprechender aus. Auf dem Schild an der Tür stand: Chemieraum.
Ich drückte auf die Klinke, und die Tür ging sofort auf. Der böse Bann war gebrochen!
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht: fleckige Holztische, nichtssagende Bechergläser, blinde Destillierkolben, angestoßene Reagenzgläser, verschmutzte Bunsenbrenner und an der Wand eine bunte Tabelle mit den Elementen und einem blödsinnigen Druckfehler, durch den Arsen und Selen vertauscht waren. Es fiel mir sofort auf. Darum holte ich ein Stück blaue Kreide von der Tafelablage und nahm mir die Freiheit, den Fehler zu korrigieren, indem ich einen Pfeil malte, der in zwei Richtungen zeigte. »Falsch!«, schrieb ich darunter und unterstrich es zweimal.
Das sogenannte Labor war ein Witz im Vergleich zu dem, was mir auf Buckshaw zur Verfügung stand. Ein Gedanke, bei dem mir vor Stolz die Brust schwoll. Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause geradelt, um mich an meinem Labor zu
Aber diese Freuden mussten warten. Ich hatte hier noch einiges zu erledigen.
Ich verließ das Labor und ging den Flur wieder zurück, bis ich ungefähr in der Mitte angelangt war. Wenn ich mich nicht irrte, musste ich mich hier direkt unter dem Turm befinden. Von hier aus musste es einfach einen Zugang geben.
Eine kleine Tür in der Holzvertäfelung, hinter der ich zuerst eine Besenkammer vermutet hatte, gab den Weg zu einer Treppe frei. Mein Herz schlug höher.
Dann sah ich das Schild. Auf Höhe der ersten Stufen war eine Kette quer über die Treppe gespannt. Daran hing ein handbeschriftetes Pappschild mit dem Hinweis: Zutritt zum Turm strengstens verboten.
Ich duckte mich blitzschnell darunter hindurch.
Es war wie im Gehäuse eines Einsiedlerkrebses. Die Treppe vollführte eine enge, eintönige Windung nach der anderen. Weder sah man, was vor einem, noch was hinter einem lag, man konnte immer nur die paar Stufen gleich über und unter sich erkennen.
Eine Zeit lang zählte ich flüsternd mit, aber irgendwann sah ich ein, dass ich meine Puste brauchte, um meine Beine mit Sauerstoff zu versorgen. Es ging steil aufwärts, und bald bekam ich Seitenstechen. Darum legte ich eine kurze Verschnaufpause ein.
Nur durch die kleinen Fensterschlitze, die jeweils auf einer vollen Wendelung der Treppe angebracht waren, fiel spärliches Licht. Auf dieser Seite des Turmes vermutete ich auch den Innenhof. Immer noch halbwegs außer Puste, nahm ich mein Gekraxel wieder auf.
Dann war die Treppe unvermittelt zu Ende, und zwar vor einer niedrigen, halbrunden Tür.
Ich dachte unwillkürlich an die kleinen Türen im Märchen,
Ich schnaufte enttäuscht und hockte mich schwer atmend auf die oberste Stufe.
»Verflixt und zugenäht!«, fluchte ich. Es hallte erschreckend laut durch das Treppenhaus.
»Heda!«, ertönte ein dumpfer Ruf, und ich hörte jemanden die Treppe hochstapfen.
»Verflixt und zugenäht!«, wiederholte ich, diesmal ganz leise.
»Wer ist da oben?«, wollte jemand wissen. Ich hielt mir den Mund zu, damit ich nicht versehentlich antwortete.
Als ich dabei an meine Zähne kam, hatte ich einen Geistesblitz. Vater hatte schon immer gesagt, ich würde eines Tages noch mal froh über meine Zahnspange sein. Recht hatte er!
Mit Daumen und Zeigefinger hebelte ich mir die Spange aus dem Gebiss, dann machte es Klick!, und das Ding fiel mir in die Hand.
Die Schritte kamen unerbittlich näher und mussten schon bald die oberste Stufe erreicht haben, auf der ich vor der versperrten Tür hockte. Ich verdrehte den Draht zu einem ›L‹ mit einem Haken am Ende und steckte die ruinierte Zahnspange in das Schlüsselloch.
Vater hätte mich mit der Reitpeitsche verdroschen, aber was blieb mir anderes übrig?
Es war ein altes, nicht besonders kompliziertes Schloss. Ich würde es bestimmt knacken können, wenn ich nur genug Zeit zur Verfügung hätte!
»Wer ist da?«, rief es. »Ich weiß, dass du da oben bist. Ich hör dich. Der Zutritt zum Turm ist verboten. Komm sofort runter, Junge.«
Junge?, dachte ich. Gesehen hatte er mich demnach nicht.
Ich stocherte mit dem Draht im Schloss herum und drehte
Um mich her war es finster wie im Kohlenkeller. Nicht einmal Fensterschlitze gab es hier.
Die Schritte hielten vor der Tür an. Ich huschte leise bis zur Wand und drückte mich dagegen.
»Wer ist da? Wer ist hier oben?« Dann wurde ein Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt und umgedreht, die Tür ging auf, und ein Mann streckte den Kopf herein.
Der Strahl seiner Taschenlampe irrte hierhin und dorthin und beleuchtete ein Gewirr von Leitern, das sich nach oben hin im Dunkeln verlor. Der Mann richtete den Lichtstrahl auf jede Leiter und ließ ihn Sprosse für Sprosse nach oben wandern, bis das Licht ganz oben nichts mehr ausrichten konnte.
Ich rührte mich nicht, blinzelte nicht einmal. Von dort aus, wo ich stand, konnte ich nur die Silhouette des Mannes in der Tür erkennen. Er hatte weißes Haar und einen Furcht einflö ßenden Schnurrbart. Wenn ich die Hand ausgestreckt hätte, hätte ich ihn anfassen können.
Er blieb eine halbe Ewigkeit dort stehen.
»Schon wieder diese blöden Ratten«, brummte er schließlich, dann knallte er die Tür zu und ich stand wieder allein im Dunkeln. Ein Schlüsselbund klirrte, und der Riegel rastete wieder ein.
Ich war eingesperrt.
Wahrscheinlich hätte ich mich bemerkbar machen und rufen sollen, aber ich dachte gar nicht daran. Ich war noch längst nicht mit meinem Latein am Ende. Im Gegenteil, mein Abenteuer fing gerade an, mir Spaß zu machen.
Natürlich hätte ich das Schloss noch einmal knacken und mich die Treppe wieder hinunterschleichen können, aber dann
Und da ich in der Turmkammer schließlich nicht überwintern konnte, führte der einzige Ausweg nach oben. Wie eine Schlafwandlerin setzte ich mit ausgestreckten Armen einen Fuß vor den anderen, bis meine Finger die nächstbeste Leiter streiften. Und schon ging’s hinauf.
Eigentlich ist nichts dabei, im Dunkeln eine Leiter hochzuklettern, es hat sogar gewisse Vorteile, den Abgrund, der unter einem gähnt, nicht sehen zu können. Doch im Verlauf der Kletterpartie gewöhnten sich meine Augen immer mehr an die Dunkelheit, die eben doch nicht vollständig war. Winzige Fugen im Mauerwerk und im Dachstuhl ließen hier und dort nadelfeine Lichtstrahlen herein, sodass ich schon bald den Umriss der Leiter erkennen konnte, der sich schwarz gegen das graue Licht abhob.
Am Ende der Sprossen stand ich auf einer kleinen Holzplattform wie ein Seemann in der Takelage. Links führte die nächste Leiter noch höher ins Halbdunkel hinauf.
Ich rüttelte einmal kräftig daran. Obwohl sie beängstigend knarrte, schien sie einigermaßen stabil zu sein. Ich holte tief Luft, stieg auf die unterste Sprosse, und weiter ging’s.
Kurz darauf stand ich auf einer noch kleineren, noch wackligeren Plattform. Die nächste Leiter war schmaler als die vorigen, die Sprossen dünner, und sie wackelte heftig, als ich den Fuß daraufsetzte und langsam hochstieg, beziehungsweise hochkroch. Auf halbem Weg fing ich wieder an zu zählen: »Zehn (schätzungsweise)… elf … zwölf … dreizehn …«
Dann knallte mein Kopf gegen etwas Hartes, und ich sah lauter um mich herumwirbelnde Sternchen. Ich klammerte mich an den Sprossen fest, mein Kopf schien geplatzt zu sein wie eine Melone, und die streichholzdünne Leiter vibrierte unter meinen Fingern wie eine gezupfte Violinensaite. Es fühlte sich an, als hätte mich jemand skalpiert.
Als ich die Hand ausstreckte und über meinen geschundenen Schädel tastete, streifte ich einen Holzgriff. Ich drückte mit letzter Kraft dagegen, und die Luke klappte auf.
Im Nu war ich auf das Turmdach hinausgeklettert, wo ich wie eine Eule in die ungewohnte Helligkeit blinzelte. Von einer viereckigen Plattform in der Mitte fielen die Schieferziegel nach allen vier Himmelsrichtungen sanft ab.
Die Aussicht war atemberaubend. Auf der anderen Seite des Vierecks, jenseits des Ziegeldachs der Kapelle, erstreckten sich die unterschiedlichsten Grüntöne bis zum dunstigen Horizont.
Immer noch blinzelnd, trat ich ein bisschen näher an die Brüstung und hätte mir beinahe das Genick gebrochen.
Ein gähnendes Loch klaffte zu meinen Füßen, und ich musste tüchtig mit den Armen rudern, um nicht hineinzufallen. Taumelnd erhaschte ich einen Blick auf das Pflaster, das in schwindelerregender Tiefe schwärzlich in der Sonne glänzte.
Die Öffnung war vielleicht dreißig Zentimeter breit und hatte eine ungefähr einen Zentimeter hohe Einfassung. Alle drei Meter wurde sie von einem schmalen, gemauerten Steg überbrückt, der die vorkragende Brüstung mit dem Dach verband. Das Ganze sollte offenbar bei starkem Regen das Wasser zügig vom Turmdach ableiten.
Ich holte tief Luft, sprang mit einem Satz über die Öffnung und schaute über die hüfthohe Brüstung. Unter mir lag der Hof.
Da er bis an das Gebäude heranreichte, war der gepflasterte Weg neben der Hauswand gerade noch zu erkennen. Merkwürdig, dachte ich. Wenn Mr Twining hier von der Brüstung gesprungen war, hätte er eigentlich nur im Gras landen können.
Es sei denn, der Hof wäre in den dreißig Jahren seit Mr Twinings Tod einschneidenden architektonischen Eingriffen unterworfen gewesen. Ein zweiter Blick durch die Öffnung hinter
Da vernahm ich hinter mir ein Geräusch. Ich fuhr herum. Mitten auf dem Dach baumelte ein Erhängter an einem Galgen! Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht loszuschreien.
Der Leichnam schaukelte und drehte sich im auffrischenden Wind wie der gefesselte Kadaver eines hingerichteten Straßenräubers, wie ich ihn auf einer Abbildung im Almanach des Gefängnisses von Newgate gesehen hatte. Dann barst ohne jede Vorwarnung sein Bauch und sein Gedärm quoll als roter, wei ßer und blauer Strang heraus.
Die Eingeweide entrollten sich flatternd und kurz darauf knatterte hoch über mir an der Spitze eines Fahnenmastes der gute alte Union Jack im Wind.
Als ich mich von meinem Schreck erholt hatte, sah ich, dass die Flagge von unten, wahrscheinlich von der Pförtnerloge aus, mithilfe einer ausgetüftelten Anordnung aus Seilen und Flaschenzügen auf- und eingezogen werden konnte. Die Segeltuchhülle der Fahne mitsamt dem Mast hatte ich für einen Gehenkten am Galgen gehalten.
Ich grinste betreten und schob mich vorsichtig an den Mechanismus heran, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Aber abgesehen von der genialen Konstruktion gab es nichts Spannendes zu entdecken.
Als ich eben wieder der gähnenden Öffnung zustrebte, rutschte ich aus und fiel der Länge nach hin, wobei mein Kopf bis über den schwindelerregenden Abgrund hinausragte.
Auch wenn ich mir jeden Knochen im Leib gebrochen hätte, hätte ich nicht gewagt, mich aufzurichten. Eine Million Meilen unter mir, so kam es mir jedenfalls vor, kamen zwei ameisengroße Gestalten aus dem Anson House und gingen quer über den Hof.
Mein erster Gedanke war, dass ich noch am Leben war. Aber sobald ich mich wieder gefasst hatte, wurde ich wütend. Ich ärgerte mich darüber, dass ich so dämlich und unbeholfen war, ärgerte mich über den unsichtbaren Dämon, der mir mittels einer nicht enden wollenden Abfolge von abgesperrten Türen, aufgeschürften Schienbeinen und zerschrammten Ellenbogen das Leben schwer machte.
Ich stand schwerfällig auf und klopfte mir den Schmutz ab. Aber nicht nur mein Kleid war schmutzig, ich hatte es auch fertiggebracht, mir die linke Schuhsohle halb abzureißen. Wie ich das angestellt hatte, war leicht zu begreifen. Ich war an der scharfen Kante eines vorstehenden Ziegels hängen geblieben. Dabei hatte ich ihn aus seiner Verankerung gerissen. Jetzt lag er lose auf dem Dach und glich einer der Steintafeln, auf denen Gott Moses die Zehn Gebote überreicht hatte.
Ich schiebe den Ziegel lieber wieder zurück, dachte ich, sonst tropft den Bewohnern von Anson House irgendwann der Regen auf den Kopf, und wer war dann wieder schuld? - Ich!
Der Ziegel war schwerer, als er aussah. Ich musste mich hinknien, um ihn dorthin zurückzuschieben, wo er hingehörte. Vielleicht hatte er sich gedreht, vielleicht waren auch die benachbarten Ziegel nach unten gerutscht, wie auch immer, jedenfalls wollte das blöde Ding nicht mehr in die Lücke passen.
Ich hätte natürlich in der Lücke umhertasten und feststellen können, ob dort irgendetwas klemmte, aber mir fielen die Spinnen und Skorpione ein, die sich mit Vorliebe in solchen lichtlosen Schlupfwinkeln aufhielten.
Schließlich riss ich mich doch zusammen und griff beherzt hinein. Ganz hinten in der Lücke spürte ich etwas Weiches.
Ich zog die Hand sofort zurück, beugte mich vor und spähte in den Zwischenraum. Außer Dunkelheit war nichts zu erkennen.
Also langte ich in Gottes Namen noch einmal hinein und zupfte meinen Fund mit spitzen Fingern heraus.
Es ging ganz leicht, und das weiche Etwas entfaltete sich dabei wie zuvor die Fahne, die jetzt über meinem Kopf wehte. Es war ein großes Stück abgewetzter, schwerer schwarzer Stoff. Der Umhang eines Internatslehrers. Und fest darin eingerollt, hoffnungslos zerknautscht, fand ich ein ebenfalls schwarzes quadratisches Barett.
Mir war sofort klar wie Kloßbrühe, dass diese Kleidungsstücke irgendwie mit Mr Twinings Tod zusammenhingen. In welcher Hinsicht? Das würde ich noch herausfinden!
Stimmt schon, ich hätte die Sachen dort auf dem Dach liegen lassen sollen. Ich hätte das nächstbeste Telefon aufsuchen und Inspektor Hewitt anrufen sollen. Stattdessen lautete mein nächster Gedanke: Wie komme ich ungesehen wieder weg aus Greyminster?
Und, wie so oft, wenn man in der Klemme steckt, fiel mir auch gleich die Lösung ein.
Ich schlüpfte in den schimmligen Talar, drückte das zerbeulte Barett einigermaßen zurecht, setzte es auf und flatterte wie eine große schwarze Fledermaus das Labyrinth wackliger Leitern hinunter, bis ich wieder vor der verschlossenen Tür stand.
Der Dietrich, den ich aus meiner Zahnklammer gebogen hatte, musste seine Dienste noch einmal verrichten, und als ich den Draht in das Schlüsselloch steckte, richtete ich ein stummes Stoßgebet an den Gott, der für derlei Dinge zuständig sein mochte.
Nach einigem Herumstochern, einem verbogenen Draht und etlichen mäßig derben Flüchen wurde mein Gebet schließlich erhört, und der Riegel rührte sich mit mürrischem Ächzen.
Ehe ich »Los!« sagen konnte, war ich die Wendeltreppe hinunter, lauschte an der unteren Tür und linste durch einen Spalt in den langen Korridor. Der lag leer und schweigend da.
Ich schob vorsichtig die Tür auf, schlüpfte aus dem Treppenhaus, marschierte forschen Schrittes an der Galerie der vermissten
Draußen wimmelte es von Schülern, die miteinander schwatzten, herumlümmelten, umherschlenderten und Unfug trieben. Jetzt, da die Ferien zum Greifen nah waren, genossen sie die vorübergehende Freiheit der Pausen.
Instinktiv nahm ich mit meinem Barett und dem Umhang eine gebückte Haltung ein und stahl mich über den Hof. Ob ich wohl auffallen würde? Selbstverständlich - für die wölfischen Schuljungen musste ich so etwas wie das verletzte Rentier am Schluss der Herde sein.
Von wegen! Ich nahm die Schultern zurück und stürmte wie ein Schüler, der zu spät zum Hürdenlauf kommt, hoch erhobenen Kopfes in Richtung Straße davon. Hoffentlich fiel niemandem auf, dass ich unter dem Talar ein Kleid trug.
Nein, niemand drehte auch nur den Kopf nach mir um.
Je weiter ich den Pausenhof hinter mir ließ, desto sicherer fühlte ich mich, aber mir war klar, dass ich in offenem Gelände noch viel verdächtiger aussehen musste.
Direkt vor mir stand eine uralte Eiche gemütlich mitten auf dem Rasen, als stünde sie dort schon seit den Tagen Robin Hoods. Als ich anschlagen wollte (Frei!), schoss urplötzlich ein Arm hinter dem Stamm hervor und packte mich am Handgelenk.
»Aua! Lass mich los! Du tust mir weh!«, entfuhr es mir, worauf ich, noch ehe ich mich richtig umgedreht hatte, ebenso urplötzlich wieder losgelassen wurde.
Es war Detective Sergeant Graves, der mindestens genauso verdutzt aus der Wäsche schaute wie ich.
»Wen haben wir denn da?«, fragte er, und ein Grinsen flog über sein Gesicht. »Wen haben wir denn da?«
Ich wollte eine bissige Bemerkung loslassen, verkniff sie mir aber. Ich wusste, dass der Sergeant mich mochte, und ich hatte so eine Ahnung, dass ich schon bald jede Unterstützung würde gebrauchen können.
»Der Inspektor hat Sehnsucht nach dir«, verkündete der Sergeant und deutete auf eine kleine Schar Leute, die palavernd auf der Straße neben Gladys standen.
Das war alles, was er sagte, aber als wir uns dem Grüppchen näherten, schob er mich sanft vor sich her auf Inspektor Hewitt zu, wie ein freundlicher Terrier, der seinem Herrchen eine tote Ratte präsentiert. Meine abgerissene Schuhsohle flappte wie bei Charlie Chaplins kleinem Tramp, aber obwohl der Inspektor einen flüchtigen Blick darauf warf, war er klug genug, seine Gedanken für sich zu behalten.
Neben dem blauen Vauxhall stand der lange Sergeant Woolmer. Sein Gesicht war breit und zerklüftet wie das Matterhorn. In seinem Schatten stand ein sehniger, sonnengebräunter Mann in einem Overall sowie ein Hutzelmännlein mit weißem Schnurrbart, das, kaum, dass es mich erblickte, aufgeregt mit dem Finger auf mich zeigte.
»Das ist er!«, sagte er. »Der war’s!«
»Ach ja?« Inspektor Hewitt nahm mir das Barett ab und streifte mir ehrerbietig wie ein Kammerdiener den Talar von den Schultern.
Das Männlein machte Stielaugen.
»Herrje«, brummte es enttäuscht. »Das ist ja bloß ein Mädchen!«
Ich hätte ihm am liebsten eine runtergehauen.
»Ja, die isses!«, sagte der Gebräunte.
»Mr Ruggles hat Grund zu der Annahme, dass du oben auf dem Turm warst.« Der Inspektor nickte dem Schnurrbärtigen zu.
»Und wenn schon«, erwiderte ich. »Ich hab mich nur mal umgesehen.«
»Der Zutritt zum Turm ist streng verboten«, verkündete Mr Ruggles nachdrücklich. »Verboten! So steht es auch auf dem Schild. Kannst du nicht lesen?«
Ich zuckte anmutig die Achseln.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du bloß ein Mädchen bist, wär ich auch noch die Leitern hochgekraxelt.« An den Inspektor gewandt fügte er hinzu: »Dabei sind meine Knie auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
Er drehte sich wieder zu mir um: »Ich wusste, dass du da oben bist, hab aber so getan, als hätt ich nix gesehen, und lieber die Polizei gerufen. Und tu bloß nicht so, als hättest du das Schloss nicht geknackt. Für das Schloss bin ich verantwortlich, und ich weiß genau, dass es abgesperrt war, so wahr ich hier in Fludd’s Lane stehe! Also so was! Ein Mädchen! Ts ts ts!«, brummelte er und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Du hast also das Schloss geknackt?«, fragte mich der Inspektor. Er wollte sich nichts anmerken lassen, aber ich spürte sehr wohl, dass er ziemlich überrascht war. »Wo hast du das denn gelernt?«
Das konnte ich ihm natürlich nicht verraten. Dogger musste unter allen Umständen gedeckt werden.
»Ach, irgendwo und irgendwann«, antwortete ich.
Der Inspektor musterte mich mit einem durchbohrenden Blick. »Manche Leute würden sich mit einer solchen Antwort zufrieden geben, Flavia, ich nicht.«
Jetzt kommt gleich wieder der »König-Georg-ist-kein-alberner-Mensch«-Spruch, dachte ich, aber Inspektor Hewitt hatte offenbar beschlossen, auf eine Erwiderung meinerseits zu warten, egal wie lange es dauern mochte.
»Auf Buckshaw ist nicht viel los«, sagte ich. »Da probiere ich manchmal irgendwas aus, damit mir nicht langweilig wird.«
Er hielt mir den schwarzen Talar und das Barett hin. »Darum läufst du wohl auch in diesem Kostüm herum. Damit dir nicht langweilig wird.«
»Das ist kein Kostüm. Wenn es Sie interessiert: Ich habe die Sachen unter einem losen Ziegel auf dem Turmdach gefunden. Sie haben irgendetwas mit Mr Twinings Tod zu tun, das steht fest.«
Hatte Mr Ruggles vorher schon Stielaugen gemacht, schienen sie ihm jetzt schier aus dem Kopf zu fallen.
»Mr Twining?«, sagte er. »Der Mr Twining, der damals vom Turm gesprungen ist?«
»Mr Twining ist nicht gesprungen«, widersprach ich. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, es dem grässlichen Hutzelzwerg heimzuzahlen. »Er wurde …«
»Danke, Flavia«, fiel mir Inspektor Hewitt ins Wort, »das reicht. Aber wir wollen Ihre Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen, Mr Ruggles. Sie sind ja ein vielbeschäftigter Mann.«
Ruggles plusterte sich auf wie ein balzender Täuberich, nickte dem Inspektor zu, bedachte mich mit einem unverschämten Feixen und stapfte davon.
»Vielen Dank, dass Sie uns verständigt haben, Mr Plover«, wandte sich der Inspektor jetzt dem Mann im Overall zu, der schweigend dabei gestanden hatte.
Mr Plover zupfte an seiner Haartolle und ging wortlos zu seinem Traktor.
»Unsere großen Privatschulen sind kleine wehrhafte Städte für sich«, erklärte der Inspektor mit ausholender Gebärde. »Als du in die Zufahrt eingebogen bist, hat Mr Plover dich als unbefugten Eindringling erkannt und ist sogleich zur Pförtnerloge gelaufen.«
Verflucht sei Mr Plover! Und der alte Ruggles gleich mit! Wenn ich wieder zu Hause war, durfte ich nicht vergessen, den beiden einen Krug rosa Limonade zu schicken, nur um zu zeigen, dass ich nicht nachtragend war. Für Anemonen war es leider schon zu spät im Jahr, weshalb anemonin nicht infrage kam. Tollkirschen dagegen waren vereinzelt noch zu finden, wenn man wusste, wo man zu suchen hatte.
Inspektor Hewitt überreichte Sergeant Graves, der schon mehrere Bögen Seidenpapier aus seiner Tasche geholt hatte, Barett und Talar.
»Prima!«, sagte der Sergeant. »Damit hat uns die Kleine abgenommen, über das Dach zu robben.«
Der Inspektor warf ihm einen Blick zu, der einen durchgegangenen Gaul zum Stehen gebracht hätte.
»’tschuldigung, Sir«, sagte der Sergeant mit puterrotem Gesicht und wickelte die Kleidungsstücke sorgfältig ein.
»Jetzt erzähl mir bitte mal ganz ausführlich, wie du die Sachen entdeckt hast«, sagte Inspektor Hewitt, als wäre nichts vorgefallen. »Lass aber nichts aus, und dichte auch nichts dazu.«
Alles, was ich sagte, notierte er sich mit seiner flinken, mikroskopisch kleinen Handschrift. Da ich Feely beim Frühstück immer gegenübersaß, während sie ihr Tagebuch schrieb, war ich darin geübt, auf dem Kopf zu lesen, aber Inspektor Hewitts Zeilen glichen über die Seite krabbelnden Ameisenkolonnen.
Ich erzählte ihm alles haarklein: von den knarrenden Leitern bis zu meinem beinahe tödlichen Sturz, vom losen Dachziegel bis zu dem, was sich darunter verborgen hatte, bis hin zu meiner genialen Flucht.
Als ich fertig war, kritzelte er noch irgendwelche Zeichen neben meinen Bericht, deren Bedeutung ich leider nicht mal erahnen konnte, dann klappte er sein Büchlein zu.
»Vielen Dank, Flavia. Damit hast du uns sehr geholfen.«
Zumindest besaß er den Anstand, es zuzugeben. Ich stand erwartungsvoll vor ihm.
»Leider sind König Georgs Schatztruhen nicht tief genug, um dich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal nach Hause zu chauffieren«, sagte er. »Aber wir warten noch, bis du losgeradelt bist.«
»Soll ich Ihnen wieder Tee bestellen?«, fragte ich keck.
Er stand einfach da, mit beiden Beinen fest im Gras. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht deuten.
Kurz darauf summten Gladys’ Dunlop-Reifen munter über die Seinen, wie sich Daffy ausgedrückt hätte, blieben immer weiter zurück.
Noch ehe ich eine Viertelmeile zurückgelegt hatte, überholte mich der blaue Vauxhall. Als er an mir vorbeifuhr, winkte ich wie verrückt, aber die Insassen hinter den Fenstern verzogen keine Miene.
Hundert Meter weiter vorn leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen hielt auf dem Seitenstreifen. Als ich angeradelt kam, kurbelte der Inspektor das Seitenfenster herunter.
»Wir fahren dich nach Hause. Sergeant Graves packt dein Fahrrad in den Kofferraum.«
»Hat König Georg es sich anders überlegt, Herr Inspektor?«
Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich bislang noch nicht bei ihm gesehen hatte. Blickte er etwa sorgenvoll drein?
»Nein. König Georg hat es sich nicht anders überlegt. Aber ich.«