Ich entdeckte Daffy in der Bibliothek, wo sie ganz oben auf der Rollleiter hockte.
»Wo ist Vater?«, fragte ich.
Sie blätterte um und las weiter, als wäre ich niemals geboren worden.
»Daffy?«
Mein innerer Kessel fing an zu kochen, jener brodelnde Kessel mit diesem okkulten Gebräu, das Flavia die Unsichtbare im Handumdrehen in Flavia den Teufelsbraten verwandeln konnte.
Ich rüttelte einmal kräftig an der Leiter, verpasste ihr einen tüchtigen Stoß und schob los. Hatte man das Ding erst einmal in Gang gesetzt, ließ es sich mühelos weiterrollen, und Daffy klammerte sich oben fest wie eine gelähmte Napfschnecke.
»Lass den Quatsch, Flavia! Hör auf!«
Als der Türrahmen bedenklich schnell näher kam, bremste ich jäh, lief um die Leiter herum und schob sie in die entgegengesetzte Richtung; die ganze Zeit schaukelte und schlingerte Daffy auf der obersten Sprosse wie ein Walfänger in seinem Mastkorb im Nordatlantik.
»Wo ist Vater?«, rief ich.
»Der ist immer noch mit dem Inspektor in seinem Arbeitszimmer. Hör endlich auf!«
Da sie schon ein bisschen blass um die Kiemen war, ließ ich mich erweichen.
Daffy stieg zitternd von der Leiter und betrat vorsichtig
»Manchmal machst du mir richtig Angst«, sagte sie.
Ich wollte schon erwidern, dass ich mir gelegentlich selbst Angst machte, da fiel mir ein, dass Schweigen manchmal vernichtender ist als viele Worte, und ich biss mir auf die Zunge.
In Daffys Augen war immer noch das Weiße zu sehen wie bei einem durchgehenden Zugpferd, und ich beschloss, die Gelegenheit zu nutzen.
»Wo wohnt Miss Mountjoy?«
Daffy sah mich verständnislos an.
»Miss Oberbibliothekarin Mountjoy!«
»Keine Ahnung. Ich war noch ein Kind, als ich zum letzten Mal in der Dorfbücherei war.«
Sie sah mich mit immer noch weit aufgerissenen Augen über ihre Brille an.
»Ich wollte mich mal bei Miss Mountjoy erkundigen, wie man eigentlich Bibliothekarin wird.«
Eine großartige Lüge. Daffys Miene zeigte einen Anflug von Anerkennung.
»Ich weiß nicht, wo sie wohnt«, erwiderte sie. »Frag mal Miss Cool aus der Konditorei. Die weiß, was unter jedem Bett in Bishop’s Lacey liegt.«
Damit ließ sie sich in einen Ohrensessel fallen. »Danke, Daff«, sagte ich, »bist ein Pfundskerl.«
Eine der größten Annehmlichkeiten, die das Wohnen in der Nähe eines Dorfes mit sich bringt, besteht darin, dass man nötigenfalls schnell dort ist. Ich flog auf Gladys über Land und überlegte unterwegs, dass es keine schlechte Idee wäre, ein Logbuch zu führen, so wie es Flugzeugpiloten machen. Inzwischen hatten Gladys und ich bestimmt schon etliche hundert Flugstunden zusammen, die meisten auf der Strecke nach
Einmal waren wir den ganzen Morgen durchgefahren, um ein Wirtshaus zu besichtigen, in dem im Jahre 1747 angeblich Richard Mead einmal übernachtet hatte. Richard (oder Dick, wie ich ihn manchmal zu nennen pflegte) war der Verfasser von Eine schematische Darstellung der Gifte in mehreren Aufsätzen, veröffentlicht 1702, das erste Buch über dieses Thema in englischer Sprache, von dem obendrein eine Erstausgabe der ganze Stolz meiner Chemiebibliothek war. In der Porträtgalerie in meinem Schlafzimmer hatte ich ein Bild von ihm an meinen Spiegel geklemmt. Dort befand er sich in bester Gesellschaft von Henry Cavendish, Robert Bunsen und Carl Wilhelm Scheele, wogegen Daffy und Feely ihre Spiegel mit Pin-ups von Charles Dickens beziehungsweise Mario Lanza verzierten.
Die Konditorei auf der Dorfstraße von Bishop’s Lacey war zwischen das Bestattungsunternehmen und das Fischgeschäft gezwängt. Ich lehnte Gladys an das Schaufenster und drückte auf die Türklinke.
Ein unterdrückter Fluch entfuhr mir. Der Laden war so fest verriegelt und verrammelt wie Fort Knox.
Warum hatte sich das gesamte Universum gegen mich verschworen? Erst der Wandschrank, dann die Bücherei, und jetzt auch noch die Konditorei. Mein Leben verwandelte sich in einen langen Korridor verschlossener Türen.
Ich legte die gewölbten Hände ans Schaufenster und spähte in den schummrigen Ladenraum.
Offenbar war Miss Cool kurz weggegangen oder es war, wie bei allen anderen Einwohnern von Bishop’s Lacey, ein dringender Familiennotfall eingetreten. Mir war zwar klar, dass es zwecklos sein würde, aber ich rüttelte mit beiden Händen an der Türklinke.
Dann fiel mir ein, dass Miss Cool hinter dem Laden ein paar Zimmer bewohnte. Vielleicht hatte sie ja nur vergessen, die Vordertür aufzuschließen. Älteren Menschen passiert so etwas: sie werden tüttelig und...
Wenn sie nun im Schlaf gestorben war? Oder schlimmer, wenn …
Ich sah mich nach beiden Seiten um, aber die Dorfstraße war menschenleer. Aber halt! Ich hatte nicht an Bolt Alley gedacht, eine Gasse wie ein dunkler, feuchter, kopfsteingepflasterter Tunnel zwischen hohen Ziegelwänden, die zu den Höfen hinter den Läden führte. Na klar! Ich machte mich sofort auf den Weg.
In der Bolt Alley müffelte es nach Vergangenheit. Angeblich hatte sich dort einmal eine berüchtigte Gin-Kneipe befunden. Ich erschauerte unwillkürlich, als meine Schritte von den moosbedeckten Mauern und dem tropfenden Dach widerhallten. Ich achtete darauf, dass ich die stinkenden grünfleckigen Wände links und rechts nicht berührte und den säuerlichen Gestank nicht einatmete, bis ich auf der anderen Seite wieder ins helle Sonnenlicht trat.
Miss Cools winziger Hinterhof war von einer niedrigen, zerbröckelnden Ziegelmauer umgeben; das Holztor war von innen verriegelt.
Ich kletterte über die Mauer, marschierte schnurstracks zur Hintertür des Ladens und schlug laut und vernehmlich mit der flachen Hand dagegen.
Dann legte ich das Ohr an die Tür, aber drinnen schien sich nichts zu rühren.
Ich verließ den Weg, stapfte durch das ungemähte Gras und drückte mir die Nase am unteren Rand der schmutzigen Fensterscheibe platt. Die Rückwand eines Geschirrschranks versperrte mir die Sicht.
In einer Ecke des Hofs stand eine baufällige Hundehütte - das war alles, was von Geordie, Miss Cools Collie, übrig geblieben
Ich zerrte das marode Brettergebilde aus dem Lehm und schleifte es quer über den Hof bis direkt unter das Fenster. Dann kletterte ich hinauf.
Vom Dach der Hundehütte aus war es nur noch ein Schritt bis auf den Fenstersims, wo ich schwankend auf der abgeblätterten Farbe balancierte, Arme und Beine ausgestreckt wie Leonardo da Vincis vitruvianischer Mensch, wobei ich mich mit einer Hand am Fensterladen festhielt und mit der anderen versuchte, ein Guckloch in den Schmutz zu reiben.
In dem kleinen Schlafzimmer war es dunkel, aber immerhin hell genug, um die Gestalt zu erkennen, die auf dem Bett lag - das weiße Gesicht, das mich anstarrte, den Mund zu einem grässlichen »O« aufgesperrt.
»Flavia!« Miss Cool rappelte sich mühsam hoch. »Um Himmels willen, was …?« Die Scheibe dämpfte ihre Worte.
Sie fischte ihr Gebiss aus einem Glas, rammte es sich in den Mund, und als sie dann für einen Augenblick verschwand, sprang ich vom Fenstersims. Schon hörte ich, wie sie den Riegel zurückzog. Die Tür ging nach innen auf, dahinter stand Miss Cool - wie ein in die Enge getriebener Dachs - in einem Hauskleid, die Hand am Hals, wo sie sich nervös öffnete und schloss.
»Was um Himmels willen …?«, wiederholte sie. »Was ist denn los?«
»Vorn ist zu«, erwiderte ich. »Ich bin nicht reingekommen.«
»Natürlich ist dort zu. Sonntags ist immer zu. Ich habe gerade ein Nickerchen gemacht.«
Sie rieb sich die kleinen schwarzen Augen, die immer noch ins Licht blinzelten.
Mir dämmerte, dass sie Recht hatte. Es war Sonntag. Es schien mir zwar Jahrzehnte her zu sein, aber es war tatsächlich
Ich muss ziemlich niedergeschlagen ausgesehen haben.
»Was hast du denn, Liebes?«, erkundigte sich Miss Cool. »Macht dir dieser schreckliche Vorfall bei euch zu Hause zu schaffen?«
Sie hatte also auch schon davon gehört.
»Hoffentlich warst du so vernünftig und hast dich von … von … na ja, hast dich davon ferngehalten.«
»Aber gewiss doch, Miss Cool«, entgegnete ich mit bedauerndem Lächeln. »Aber ich darf nicht drüber sprechen. Das verstehen Sie doch bestimmt.«
Auch das war eine Lüge und zwar eine waschechte.
»Was bist du doch für ein braves Mädchen.« Sie ließ rasch den Blick über die mit Vorhängen versehenen Fenster der angrenzenden Häuserreihe schweifen, die auf den Hof hinausgingen. »Aber hier lässt sich nicht gut plaudern. Komm doch rein.«
Sie führte mich durch einen schmalen Flur, von dem auf einer Seite ihr winziges Schlafzimmer und auf der anderen ein Min i-aturwohnzimmer abging. Miss Cool war nicht nur die einzige Konditorin von Bishop’s Lacey, sondern auch die Postamtsvorsteherin, und als solche wusste sie alles, was es so zu wissen gab - nur mit Chemie kannte sie sich natürlich nicht aus.
Sie musterte mich eindringlich, während ich meinerseits die vielen Regale ins Auge nahm, auf denen ein Glas neben dem anderen stand, bis zum Rand voll mit Karamellstangen, Drops und Liebesperlen gefüllt.
»Tut mir furchtbar leid, aber sonntags darf ich dir nichts verkaufen, sonst komm ich noch vor Gericht. Das ist nämlich streng verboten.«
Ich schüttelte bekümmert den Kopf.
»Entschuldigen Sie, ich habe gar nicht dran gedacht, welchen Tag wir heute haben. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Na, so schlimm war’s ja auch wieder nicht.« Mit einem Mal fand sie ihre Geschwätzigkeit wieder, lief geschäftig im Laden hin und her und griff zerstreut nach diesem und jenem.
»Bestell doch deinem Vater, dass bald ein neuer Satz Briefmarken herauskommt. Nichts direkt Umwerfendes, jedenfalls meiner Meinung nach, halt wieder das gleiche Bild von unserem König Georg, Gott segne ihn, nur ein bisschen aufgepeppt: lauter neue Farben.«
»Das ist nett, Miss Cool, ich werd’s ihm ganz bestimmt ausrichten.«
»Die dort im Londoner Postministerium könnten sich ruhig mal was Pfiffigeres einfallen lassen«, fuhr sie fort, »aber soweit ich gehört habe, heben sie sich ihr Gehirnschmalz für nächstes Jahr auf, wenn das Festival of Britain gefeiert werden soll.«
»Können Sie mir vielleicht sagen, wo Miss Mountjoy wohnt?«, unterbrach ich sie.
»Tilda Mountjoy?« Sie klang sofort argwöhnisch. »Was willst du denn von der?«
»Sie war neulich in der Bücherei so hilfsbereit zu mir, da wollte ich ihr als Dankeschön etwas zum Naschen vorbeibringen.«
Passend zur Lüge lächelte ich besonders süßlich.
Dabei war es eine schamlose Lüge. Bis gerade eben war ich gar nicht auf einen solchen Gedanken gekommen, aber jetzt begriff ich, dass ich damit vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe erledigen konnte.
»Stimmt, ja«, sagte Miss Cool. »Margaret Pickery ist zu ihrer Schwester nach Nether-Wolsey gefahren: Nähmaschine, Nadel, Finger, Zwillinge, trunksüchtiger Mann, unbezahlte Rechnungen … und schon kann sich Tilda Mountjoy endlich mal wieder nützlich machen … - Saure Drops«, sagte sie plötzlich und ganz unvermittelt. »Sonntag hin oder her, saure Drops sind genau das Richtige.«
»Dann nehme ich welche für Sixpence«, sagte ich.
»… und noch für einen Shilling Karamellstangen«, setzte ich hinzu. Karamellstangen waren mein heimliches Laster.
Miss Cool ging auf Zehenspitzen nach vorn in den Laden und zog die Jalousien herunter.
»Das bleibt aber unter uns!«, raunte sie verschwörerisch.
Dann löffelte sie die sauren Drops in eine violette Papiertüte, deren Farbe derart an Beerdigungen erinnerte, dass sie förmlich danach schrie, mit einem oder zwei Schuss Arsen oder nux vomica abgefüllt zu werden.
»Macht einen Shilling Sixpence.« Sie wickelte die Karamellstangen in Papier. Ich gab ihr zwei Shilling, und als sie in ihren Taschen kramte, sagte ich: »Ist schon gut, Miss Cool, behalten Sie das Wechselgeld.«
Sie strahlte. »Was bist du doch für ein liebes Kind!« Dann steckte sie noch eine Karamellstange dazu. »Wenn ich selbst Kinder hätte, könnte ich mich glücklich schätzen, wenn sie auch nur halb so aufmerksam und großzügig wären wie du.«
Als sie mir den Weg zu Miss Mountjoys Haus beschrieb, gönnte ich ihr ein halbes Lächeln und hob die andere Hälfte für mich auf.
»Die Weidenvilla. Nicht zu verfehlen. Ein orangefarbenes Haus.«
Die Weidenvilla war tatsächlich orangefarben. So ein Orange sieht man sonst nur bei Totenkopfpilzen, kurz bevor ihnen die eigentlich dunkelrote Kappe abfällt. Das Haus lag im Schatten der wehenden grünen Schleier einer gewaltigen Trauerweide, deren Zweige sich unruhig im Wind bewegten und den Boden unter dem Baum blank fegten wie ein Regiment Hexenbesen. Ich musste an ein Musikstück aus dem 17. Jahrhundert denken, das Feely manchmal spielte und sang - und zwar sehr wohlklingend, wie ich zugeben muss -, wenn sie an Ned dachte. Auch darin kam eine Weide vor:
The willow-tree will twist, and the willow-tree will twine, O I wish I was in the dear youth’s arms that once had the heart of mine.
Das Lied hieß The Seeds of Love - Die Saat der Liebe, obwohl ich beim Anblick einer Weide nicht als Erstes an Liebe dachte, ganz im Gegenteil: Weiden erinnerten mich immer an Ophelia (nicht meine, sondern die von Shakespeare), die sich in der Nähe einer Weide ertränkte.
Bis auf ein taschentuchgroßes Rasenfleckchen am Rand füllte Miss Mountjoys Weide den eingezäunten Vorgarten zur Gänze aus. Noch auf der Treppe vor der Haustür war es feucht und klamm. Die herunterhängenden Weidenruten bildeten eine Art grüne Käseglocke, durch die nur wenig Licht drang, wodurch man sich vorkam wie unter Wasser. Leuchtend grünes Moos verwandelte die Treppenstufen in schwammartige Gebilde, Wasserflecken streckten ihre traurigen schwarzen Finger über die orangefarbene Fassade.
Der angelaufene Messingklopfer war die grinsende Fratze eines Lincoln-Kobolds. Ich hob ihn an und klopfte behutsam mehrere Male. Beim Warten schaute ich unschuldig in die Luft, nur für den Fall, dass jemand durch die Vorhänge spähte.
Aber die verstaubte Borte hing so reglos im Fenster, als rührte sich im ganzen Haus kein Lüftchen.
Ein Weg aus abgetretenen Ziegelsteinen führte links am Haus vorbei, und als ich ein, zwei Minuten vergeblich vor der Tür gewartet hatte, ging ich ums Haus herum.
Die Hintertür war hinter langen Weidenruten kaum zu erkennen. Durch die Zweige ging eine wellenförmige Bewegung, eine Art erwartungsvolles Raunen, als könnte sich jeden Augenblick ein knallbunter Theatervorhang heben.
Ich versuchte, durch eine der kleinen Scheiben in der Tür zu spähen. Vielleicht wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte …
»Was machst du da?«
Ich fuhr herum.
Miss Mountjoy stand vor der Weidenkäseglocke und schaute zu mir hinein. Durch die Zweige und Blätter sah ich ihr Gesicht nur in vertikalen Streifen, aber was ich davon erkannte, machte mich leicht nervös.
»Ich bin’s bloß, Miss Mountjoy … Flavia«, sagte ich. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken, weil Sie mir in der Bücherei so nett geholfen haben.«
Die Weidenruten raschelten, als Miss Mountjoy durch den Laubvorhang trat. Sie hielt eine Gartenschere in einer Hand, und sie sagte nichts. Ihre Augen jedoch, die wie zwei blitzende Rosinen in ihrem faltigen Gesicht saßen, ließen meinen Blick nicht los.
Als ich zurückwich, baute sie sich auf dem Gartenweg auf und verstellte mir den Fluchtweg.
»Ich weiß sehr gut, wer du bist«, entgegnete sie. »Du bist Flavia Sabina Dolores de Luce - Schnäppis jüngste Tochter.«
»Sie wissen, wer mein Vater ist?!« Ich schnappte nach Luft.
»Selbstverständlich weiß ich das, Mädel. Wenn man so alt ist wie ich, weiß man eine ganze Menge.«
Ehe ich es verhindern konnte, sprang die Wahrheit aus mir heraus wie ein Korken aus einer Flasche.
»›Dolores‹ ist gelogen«, gestand ich. »Manchmal denke ich mir irgendwas aus.«
Sie machte einen Schritt auf mich zu.
»Was willst du hier?«, flüsterte sie heiser.
Ich griff in meine Tasche und angelte die Tüte mit den Sü ßigkeiten heraus.
»Ich wollte Ihnen ein paar saure Drops bringen und mich entschuldigen, dass ich so unhöflich war. Hoffentlich nehmen Sie meine kleine Versöhnungsgabe an.«
Sie stieß ein pfeifendes Keuchen aus, das ich als Lachen deutete.
»Den Tipp hast du bestimmt von Miss Cool, stimmt’s?«
Wie der Dorftrottel in einer Pantomime nickte ich einige Male übertrieben heftig.
»Es tut mir richtig leid, wie Ihr Onkel - Mr Twining - gestorben ist«, sagte ich und meinte es auch so. »Ehrlich. Ich find’s irgendwie ungerecht.«
»Ungerecht? Na ja, gerecht war es wirklich nicht«, erwiderte sie. »Aber ungerecht würde ich es auch nicht nennen, sondern … Weißt du, was es war?«
»Nein«, erwiderte ich leise.
»Es war Mord. Schlicht und ergreifend Mord.«
»Und wer war der Mörder?« Manchmal überrumpelte mich meine eigene Zunge.
Ein unbestimmter Ausdruck glitt über Miss Mountjoys Gesicht wie eine Wolke über den Mond, als hätte sie sich ihr Leben lang auf diese eine Rolle vorbereitet und jetzt, da sie mitten auf der Bühne im Scheinwerferlicht stand, den Text vergessen.
»Diese Jungen«, sagte sie schließlich. »Diese elenden, widerwärtigen Jungen. Ich kann sie einfach nicht vergessen, trotz ihrer Apfelbäckchen und all ihrer zur Schau getragenen Schulbubenunschuld.«
»Und mein Vater war einer von diesen Jungen«, sagte ich leise.
Ihr Blick schien in die Vergangenheit gerichtet und kehrte nur zögerlich in die Gegenwart und damit zu mir zurück.
»Ja. Laurence de Luce. Schnäppi. Das war der Spitzname deines Vaters, Schnäppi. Den hatte er eigentlich bei seinen Mitschülern weg, und doch hat ihn später sogar der Leichenbeschauer vor Gericht so genannt: ›Schnäppi‹. Als er sich in der Verhandlung zur Todesursache äußerte, sprach er den Namen so sanft aus, ja, beinahe zärtlich - als sei er dem ganzen Gerichtssaal wohl bekannt.«
»Hat mein Vater anlässlich dieser Untersuchung ausgesagt?«
»Selbstverständlich. Als Zeuge. Wie die anderen Jungen auch. Das war damals so üblich. Er hat natürlich jegliche Beteiligung oder Mitschuld abgestritten. Eine wertvolle Briefmarke war aus der Sammlung des Direktors gestohlen worden, aber alle riefen nur: ›Nein, Sir, ich war’s nicht, Sir!‹ Als wären der Marke wie durch Zauberei kleine schmutzige Finger gewachsen und sie hätte sich selber stibitzt!«
Ich wollte schon erwidern: »Mein Vater ist aber kein Dieb und auch kein Lügner«, da begriff ich mit einem Mal, dass nichts, was ich dagegenhalten würde, Mrs Mountjoys jahrzehntelang gehegte Überzeugung umstoßen konnte. Also ging ich zum Angriff über.
»Warum haben Sie heute Vormittag den Gottesdienst verlassen?«
Miss Mountjoy fuhr zusammen, als hätte ich ihr ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet.
»Du nimmst aber auch kein Blatt vor den Mund, was?«
»Nein. Es hatte etwas mit der Predigt zu tun, mit dem Fremden in unserer Mitte, stimmt’s? Mit dem Toten, den ich in unserem Garten gefunden habe.«
»Du hast die Leiche gefunden? Du?«, zischte sie durch die Zähne wie ein Teekessel.
»Ja.«
»Dann verrat mir eins: Hatte er rote Haare?« Sie machte die Augen zu und hielt sie in Erwartung meiner Antwort geschlossen.
»Ja, er hatte rote Haare.«
»Dank sei Dir, o Herr, für Deine Segnungen«, hauchte sie und machte die Augen wieder auf. Diese Reaktion fand ich nicht nur ausgesprochen absonderlich, sondern irgendwie auch ziemlich unchristlich.
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Ich habe ihn gleich wiedererkannt«, entgegnete sie. »Nach so vielen Jahren wusste ich gleich, wer er war, als ich diesen rotenDreizehn Erpel herauskommen sah. Und wenn nicht, dann hätten mir sein großspuriger Gang, seine maßlose Überheblichkeit und diese kalten blauen Augen - und zwar jedes einzeln für sich - verraten, dass Horace Bonepenny nach Bishop’s Lacey zurückgekehrt ist.«
Ich begriff allmählich überhaupt nichts mehr.
»Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich unmöglich mit der Gemeinde für die schwarze Seele dieses Jungen - beziehungsweise Mannes - beten konnte.«
Sie nahm mir die Tüte mit den sauren Drops aus der Hand, steckte sich einen in den Mund und den Rest in die Tasche.
»Ganz im Gegenteil«, fuhr sie fort. »Ich bete, dass er inzwischen in der Hölle schmort.«
Damit verschwand sie in ihrer feuchtkalten Behausung und knallte die Tür hinter sich zu.
Wer in aller Welt war Horace Bonepenny? Und was hatte ihn nach Bishop’s Lacey zurückgeführt?
Mir fiel nur ein Mensch ein, den ich womöglich dazu bringen konnte, mir mehr darüber zu erzählen.
Als ich in die Kastanienallee nach Buckshaw einbog, sah ich sofort, dass der blaue Vauxhall nicht mehr vor unserer Tür stand. Inspektor Hewitt und seine Männer waren weg.
Ich schob Gladys hinters Haus. Aus dem Gewächshaus ertönte ein metallisches Scheppern. Ich schaute durch die Tür. Es war Dogger.
Er hockte auf einem umgedrehten Eimer und schlug mit einem Spachtel darauf ein.
Bing … bang … bong … bing, so wie die Glocke von St. Tankred zur Beerdigung irgendeines Greises aus Bishop’s Lacey schlug, pausenlos und unaufhörlich wie Pulsschläge. Bing … bang … bong … bing …
Dogger saß mit dem Rücken zur Tür und konnte mich nicht sehen. Ich schlich mich zur Küchentür, wo ich Gladys absichtlich
»Verdammter Mist!«, rief ich so laut, dass man mich auch im Gewächshaus hören konnte. Dann tat ich überrascht.
»Ach, Dogger!«, sagte ich munter. »Dich hab ich gerade gesucht.«
Er drehte sich nicht gleich um, und ich tat so, als kratzte ich mir den Lehm von der Schuhsohle, bis er sich einigermaßen gefangen hatte.
»Miss Flavia«, sagte er bedächtig. »Du wirst schon überall gesucht.«
»Tja, jetzt bin ich ja hier!« Am besten, ich übernahm die Unterhaltung, bis Dogger wieder in der Spur war.
»Ich habe mich im Dorf mit jemandem unterhalten, der mir von jemandem erzählt hat, über den du mir wahrscheinlich mehr erzählen kannst.«
Dogger lächelte gezwungen.
»Ich weiß, das klingt ein bisschen konfus, aber …«
»Ich weiß schon, was du meinst«, sagte er.
»Horace Bonepenny«, platzte ich heraus. »Wer ist Horace Bonepenny?«
Dogger bekam auf einmal Zuckungen wie ein Frosch im Versuchslabor, dessen Rückenmark mit einer galvanischen Batterie verbunden ist. Er leckte sich über die Lippen und wischte sich hektisch mit dem Taschentuch die Mundwinkel. Seine Augen wurden matt wie die Sterne kurz vor Sonnenaufgang, aber er gab sich große Mühe, sich zusammenzureißen, wenn auch mit mäßigem Erfolg.
»Ist ja gut, Dogger«, sagte ich beschwichtigend. »Ist nicht so wichtig.«
Er wollte von seinem Eimer aufstehen, aber es gelang ihm nicht.
»Weißt du, Miss Flavia«, sagte er, »es gibt Fragen, die muss man stellen, und andere, die behält man lieber für sich.«
Doggers magische Formel, und er sprach sie so selbstverständlich und unwiderruflich aus, als stammte sie vom Propheten Jesaja persönlich.
Aber mit dem einen kurzen Satz hatte er sich offenbar völlig verausgabt, denn er schlug tief seufzend die Hände vors Gesicht. Da hätte ich ihn am liebsten in den Arm genommen, aber ich ahnte, dass er das nicht gewollt hätte. Darum legte ich ihm nur die Hand auf die Schulter, spürte allerdings, dass diese Geste mir selbst mehr Trost spendete als ihm.
»Ich hole Vater«, sagte ich. »Wir bringen dich auf dein Zimmer.«
Dogger wandte mir langsam das Gesicht zu, die kreideweiße Maske der Tragödie. Seine Stimme war ganz heiser und kratzig, wie Stein, der auf Stein kratzte.
»Den haben sie mitgenommen, Miss Flavia. Die Polizei hat ihn mitgenommen.«