Inspektor Hewitt stand in meinem Labor, drehte sich langsam um die eigene Achse und ließ dabei den Blick wie den Strahl aus einem Leuchtturm über die wissenschaftlichen Geräte, die Vitrinen und Schränkchen mit ihren Chemikalien schweifen. Als er einen kompletten Kreis beschrieben hatte, hielt er inne, dann vollführte er die gleiche Bewegung noch einmal in die andere Richtung.
»Außerordentlich!«, sagte er und zog das Wort dabei in die Länge. »Ganz außerordentlich!«
Ein Strahl angenehm warmen Sonnenlichts fiel durch die hohen Flügelfenster herein und ließ ein Becherglas mit einer roten Flüssigkeit aufleuchten, die kurz vor dem Kochen war. Ich dekantierte die Hälfte der Substanz in eine Porzellantasse und reichte sie dem Inspektor. Er betrachtete sie misstrauisch.
»Es ist Tee«, sagte ich. »Assam von Fortnum und Mason. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass er aufgewärmt ist.«
»Bei uns auf dem Revier gibt’s nur Aufgewärmten«, sagte er. »Ich gebe mich mit nichts anderem mehr zufrieden.«
Vorsichtig nippend, schritt er langsam durch den Raum und sah sich die chemischen Apparaturen mit professionellem Interesse an. Er nahm ein oder zwei Gefäße aus dem Regal und hielt sie gegen das Licht, dann bückte er sich und schaute durch das Okular meines Leitz. Ich merkte deutlich, dass er Schwierigkeiten hatte, auf den Punkt zu kommen.
»Wunderschönes Porzellan«, sagte er schließlich und hob
»Ziemlich frühes Spode«, sagte ich. »Albert Einstein und George Bernard Shaw haben schon aus genau dieser Tasse getrunken, als sie meinen Großonkel Tarquin besuchten. Natürlich nicht beide gleichzeitig.«
»Da fragt man sich doch, was die beiden voneinander gehalten hätten«, sagte Inspektor Hewitt und warf mir einen kurzen Blick zu.
»Allerdings.« Ich erwiderte seinen Blick.
Der Inspektor nahm noch einen kleinen Schluck Tee. Er wirkte irgendwie ruhelos, als wollte er noch etwas loswerden, fände aber nicht den richtigen Einstieg.
»Das war ein kniffliger Fall«, sagte er. »Sehr bizarr. Der Mann, dessen Leiche du gefunden hast, war ein völlig Fremder. Jedenfalls sah es so aus. Wir wussten lediglich, dass er aus Norwegen kam.«
»Die Schnepfe«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Die tote Schnepfe vor unserer Küchentür. Zwergschnepfen gibt es in England erst im Herbst. Sie musste von Norwegen hierhergebracht worden sein. In einer Pastete. So sind Sie draufgekommen, stimmt’s?«
Der Inspektor sah mich verwirrt an.
»Nein«, sagte er dann. »Bonepenny trug ein Paar neuer Schuhe mit dem Firmenzeichen eines Schuhmachers aus Stavanger.«
»Ach«, sagte ich.
»Von dort aus konnten wir seine Spur ziemlich leicht verfolgen.«
Während er sprach, malte Inspektor Hewitts Hand eine Landkarte in die Luft.
»Durch unsere Ermittlungen sowohl hier als auch im Ausland wussten wir, dass er mit dem Schiff von Stavanger nach
Aha! Genau so, wie ich vermutet hatte.
»Genau«, sagte ich. »Und Pemberton - oder sollte ich besser sagen: Bob Stanley? - ist ihm gefolgt, aber nur bis Doddingsley. Dort hat er sich im Fröhlichen Kutscher ein Zimmer genommen.«
Eine Augenbraue des Inspektors schnellte nach oben wie eine aufgeschreckte Kobra.
»Oha«, sagte er. »Woher weißt du das denn?«
»Ich habe im Fröhlichen Kutscher angerufen und mit Mr Cleaver gesprochen.«
»Ist das alles?«
»Sie haben das beide gemeinsam ausgeheckt, genau wie den Mord an Mr Twining.«
»Stanley streitet das ab«, sagte er. »Er behauptet, nichts damit zu tun zu haben. Unschuldig wie ein Lamm und so weiter.«
»Aber er hat mir in der Garage gesagt, dass er Bonepenny umgebracht hat! Außerdem hat er mehr oder weniger zugegeben, dass meine Theorie stimmt: Mr Twinings Selbstmord war nur Augenwischerei, eine Illusion.«
»Na, das werden wir ja sehen. Wir sind da dran, aber es wird noch eine Weile dauern, obwohl ich sagen muss, dass dein Vater uns sehr dabei geholfen hat. Er hat uns jetzt die ganze Geschichte erzählt, wie es zum Tod des armen Twining kam. Ich wünschte nur, er hätte sich früher zu einer Kooperation mit uns entschlossen. Damit hätten wir uns einiges …« Er hielt inne. Dann fügte er hinzu: »Tut mir leid, ich habe nur spekuliert.«
»Meine Entführung«, sagte ich.
Ich musste den Inspektor bewundern, wie schnell er das Thema wechseln konnte.
»Zurück zur Gegenwart«, sagte er. »Mal sehen, ob ich das
»Sie sind schon immer Komplizen gewesen. Bonepenny hat Briefmarken gestohlen und Stanley hat sie im Ausland an skrupellose Sammler verkauft. Aber irgendwie haben sie es nie geschafft, die beiden Rächer von Ulster zu verkaufen. Die waren einfach zu bekannt. Und da die letzte sogar dem König gestohlen worden war, wäre es für einen Sammler viel zu riskant gewesen, sie in seiner Sammlung zu haben.«
»Interessant«, sagte der Inspektor. »Und weiter?«
»Sie hatten vor, Vater zu erpressen, aber zwischenzeitlich müssen sie irgendwie über Kreuz gekommen sein. Bonepenny kam aus Stavanger, um die Erpressung durchzuführen, und irgendwann ist Stanley klar geworden, dass er ihm folgen und ihn auf Buckshaw ermorden, die Briefmarken an sich nehmen und das Land wieder verlassen konnte. Ganz einfach. Und alle hätten Vater für den Schuldigen gehalten. Wie es ja auch gekommen ist«, fügte ich hinzu und schaute den Inspektor vorwurfsvoll an.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.
»Hör mal, Flavia«, sagte er schließlich, »mir ist ja nicht viel anderes übrig geblieben, oder? Es gab keine anderen brauchbaren Verdächtigen.«
»Und ich?«, fragte ich. »Ich war schließlich am Tatort.«
Ich zeigte mit einer Handbewegung auf die Flaschen mit den Chemikalien an den Wänden.
»Außerdem kenne ich mich mit Giften aus. Man könnte mich durchaus als sehr gefährliche Person einstufen.«
»Hmm«, machte der Inspektor. »Ein interessantes Argument. Und du bist tatsächlich zum Todeszeitpunkt an der besagten Stelle gewesen. Wenn nicht alles so gelaufen wäre, wie es gelaufen ist, könnte jetzt ebenso gut dein Hals in der Schlinge stecken.«
Daran hatte ich nicht gedacht. Ich bekam eine Gänsehaut.
Der Inspektor redete weiter.
»Dagegen spricht jedoch deine Körpergröße, der Mangel eines echten Motivs und die Tatsache, dass du dich nicht gerade rar gemacht hast. Normalerweise macht ein Mörder einen weiten Bogen um die Polizei, wohingegen du … na ja, da kommt einem am ehesten das Wörtchen ›allgegenwärtig‹ in den Sinn. Was sagst du dazu?«
»Stanley hat Bonepenny in unserem Garten aufgelauert. Bonepenny war Diabetiker und …«
»Ah«, sagte der Inspektor fast murmelnd. »Insulin! Wir haben nicht daran gedacht, das zu überprüfen.«
»Nein«, sagte ich, »nicht Insulin: Tetrachlorkohlenstoff. Bonepenny ist daran gestorben, dass man ihm Tetrachlorkohlenstoff in den Hirnstamm injiziert hat. Stanley hat eine Flasche von dem Zeug aus der Apotheke in Doddingsley mitgebracht. Ich habe das Etikett von Johns, dem Apotheker, auf der Flasche gesehen, als Stanley in der Grube die Spritze damit gefüllt hat. Wahrscheinlich haben Sie sie längst unter dem ganzen Müll dort gefunden.«
Man konnte es seinem Gesicht ansehen, dass dem nicht so war.
»Dann muss sie ins Abflussrohr gerollt sein«, sagte ich. »Da ist so ein altes Rohr, das bis runter zum Fluss führt. Jemand muss sie dort nur rausfischen.«
Der arme Sergeant Graves!, dachte ich.
»Die Spritze hat Stanley aus der Tasche in Bonepennys Zimmer im Dreizehn Erpel gestohlen«, fügte ich ohne nachzudenken hinzu. Verdammt!
Der Inspektor schlug sofort zu.
»Woher weißt du, was sich in Bonepennys Zimmer befand?«, fragte er in scharfem Ton.
»Äh … dazu komme ich noch«, sagte ich. »Später. Stanley glaubte, dass Sie niemals irgendwelche Spuren von Tetrachlorkohlenstoff in Bonepennys Gehirn entdecken würden. Zum
Inspektor Hewitt zog sein Notizbuch heraus und kritzelte einige Worte hinein, zu denen, wie ich vermutete, auch der Begriff Tetrachlorkohlenstoff gehörte.
»Ich wusste gleich, dass es Tetrakohle ist, denn Bonepenny hat mir den letzten Rest davon mit seinem Todeshauch ins Gesicht geblasen«, sagte ich, rümpfte die Nase und machte ein entsprechendes Gesicht dazu.
Wenn man bei einem Inspektor sagen konnte, dass er ganz weiß im Gesicht wurde, dann wurde Inspektor Hewitt in diesem Moment ganz weiß im Gesicht.
»Bist du dir da sicher?«
»Aber klar. Bei Tetrachlorkohlenstoff kenne ich mich ganz gut aus.«
»Willst du mir damit sagen, dass Bonepenny noch lebte, als du ihn gefunden hast?«
»Gerade noch«, antwortete ich. »Er ist fast im gleichen Moment … ähm … dahingeschieden.«
Es folgte wieder eine lange, gruftartige Stille.
»Kommen Sie«, sagte ich, »ich zeige Ihnen, wie es gemacht wurde.«
Ich nahm einen gelben Bleistift in die Hand, spitzte ihn gut an und ging in die Ecke, wo das Skelett an seinen Drähten baumelte.
»Mein Großonkel Tarquin hat es von dem Zoologen Frank Buckland bekommen«, sagte ich und strich zärtlich über den Schädel. »Ich habe ihn Yorick getauft.«
Ich verriet dem Inspektor nicht, dass Buckland, in hohem Alter, Tar dieses Geschenk in Anbetracht seiner zu erwartenden großen Zukunft geschenkt hatte. »Der leuchtenden Zukunft der Wissenschaft«, hatte Buckland auf seine Karte geschrieben.
Ich hielt die Bleistiftspitze ans obere Ende der Wirbelsäule, schob den Stift langsam unter den Schädel und wiederholte dabei Pembertons Worte in der Garage:
»›Ein bisschen schräg ansetzen … dann durch splenius capitus und semispinalis capitis hinein, das Band zwischen Atlas und Axis anpieken, und dann die Nadel vorsichtig über das …«
»Vielen Dank, Flavia«, sagte der Inspektor abrupt. »Das reicht schon. Bist du ganz sicher, dass er das gesagt hat?«
»Genau das waren seine Worte«, antwortete ich. »Ich musste in Gray’s Anatomie für Medizinstudenten nachschlagen. In der Kinderenzyklopädie sind zwar viele Bildtafeln, aber nicht annähernd so viele Einzelheiten verzeichnet.«
Inspektor Hewitt rieb sich das Kinn.
»Dr. Darby findet bestimmt die Einstichstelle in Bonepennys Nacken«, sagte ich hilfsbereit. »Wenn er weiß, wo er nachsehen muss. Er könnte auch die Nebenhöhlen untersuchen. Tetrachlorkohlenstoff ist luftbeständig und dürfte, da der Mann ja nicht mehr geatmet hat, dort noch nachzuweisen sein. - Und außerdem«, fügte ich hinzu, »könnten Sie ihm sagen, dass Bonepenny, kurz bevor er sich zu seinem Spaziergang nach Buckshaw aufgemacht hat, im Dreizehn Erpel noch was getrunken hat.«
Der Inspektor sah immer noch verwirrt aus.
»Die Wirkung von Tetrachlorkohlenstoff wird durch Alkohol intensiviert«, erklärte ich.
»Und«, fragte er mit einem lässigen Lächeln, »hast du auch eine plausible Erklärung dafür, weshalb sich das Zeug immer noch in seinen Nebenhöhlen befinden sollte? Ich bin zwar kein Chemiker, aber soweit ich weiß, verflüchtigt sich Tetrachlorkohlenstoff sehr schnell.«
Ich hatte eine plausible Erklärung dafür, aber die wollte ich nicht unbedingt publik machen, schon gar nicht gegenüber der Polizei. Bonepenny hatte einen besonders üblen SchnupfenVale ins Gesicht hauchte, an mich weitergegeben hatte. Herzlichen Dank auch, Horace, dachte ich.
Ich vermutete, dass Bonepennys verstopfte Nasenhöhlen sehr wohl den injizierten Tetrachlorkohlenstoff, der in Wasser und demzufolge auch in Rotz unlöslich ist, aufgespeichert haben konnten. Obendrein hatte auch der Schnupfen das Einsaugen von Luft behindert.
»Nein«, sagte ich. »Aber Sie könnten ja veranlassen, dass das Labor in London den Test durchführt, der in der Britischen Pharmakopöe vorgeschlagen wird.«
»Ich müsste lügen, wenn ich mich an den so aus dem Stegreif erinnern sollte«, sagte Inspektor Hewitt.
»Eine sehr hübsche Prozedur«, sagte ich. »Man überprüft damit den Grenzwert von freiem Chlor, wenn Jod aus Kadmiumjodid gelöst wird. Damit sind Sie doch sicher vertraut. Ich würde Ihnen anbieten, es selbst durchzuführen, aber ich glaube nicht, dass Scotland Yard damit einverstanden wäre, Teile von Bonepennys Gehirn einer Elfjährigen auszuhändigen.«
Inspektor Hewitt wollte gar nicht mehr aufhören, mich anzustarren.
»Na schön«, sagte er schließlich. »Dann werfen wir jetzt mal einen Blick drauf.«
»Worauf denn?«, fragte ich und setzte meine gekränkte Unschuldsmiene auf.
»Auf das, was du getan hast. Schauen wir es uns mal an.«
»Aber … ich habe überhaupt nichts getan«, sagte ich. »Ich …«
»Verkauf mich nicht für dumm, Flavia. Niemand, der jemals das Vergnügen hatte, deine Bekanntschaft zu machen, würde jemals daran zweifeln, dass du deine Hausaufgaben gemacht hast.«
Ich grinste verlegen.
»Es ist hier drüben«, sagte ich und ging zu einem Ecktisch, auf dem ein Glasbehälter stand, der mit einem feuchten Geschirrhandtuch zugedeckt war.
Ich zog das Tuch weg.
»Herr im Himmel!«, entfuhr es dem Inspektor. »Was im Namen des …«
Er starrte den rosig grauen Klumpen an, der ruhig in dem Behälter schwamm.
»Das ist ein Stück Gehirn«, sagte ich. »Hab ich aus der Speisekammer geklaut. Mrs Mullet hat es gestern bei Carnforth gekauft. Für unser heutiges Abendessen. Sie wird bestimmt sehr wütend auf mich sein.«
»Und du hast …?«, fragte er und wedelte mit der Hand.
»Ja, ganz genau. Ich habe zwei einhalb Kubikzentimeter Tetrachlorkohlenstoff injiziert. Genauso viel, wie in Bonepennys Spritze passte.
Das menschliche Gehirn wiegt im Durchschnitt drei Pfund«, fuhr ich fort, »das des Mannes vielleicht ein bisschen mehr. Ich habe deshalb noch mal extra 150 Gramm abgeschnitten.«
»Woher weißt du das denn?«, fragte der Inspektor.
»Das steht in einem von Arthur Mees Büchern. Im Kinderlexikon, glaube ich.«
»Und du hast dieses … Gehirn auf die Nachweisbarkeit von Tetrachlorkohlenstoff hin getestet?«
»Ja. Aber erst fünfzehn Stunden, nachdem ich es eingespritzt hatte. Ungefähr so viel Zeit müsste zwischen dem Zeitpunkt, an dem es in Bonepennys Gehirn gespritzt wurde, und der Autopsie vergangen sein.«
»Und?«
»Immer noch ganz deutlich nachzuweisen«, sagte ich. »Ein Kinderspiel. Selbstverständlich habe ich P-Amino-Dimethylanilin benutzt. Das ist ein ziemlich neuer Test, aber sehr elegant. Stand ungefähr vor fünf Jahren in der Fachzeitschrift The Analyst. Ziehen Sie sich einen Hocker her, dann zeig ich’s Ihnen.«
»Ich glaube, das bringt eh nichts.« Inspektor Hewitt kicherte.
»Bringt nichts? Natürlich bringt es was. Ich habe es schon einmal gemacht.«
»Ich meine damit, dass du mich hier nicht mit deinem Laborkram durcheinanderbringen und dich ganz bequem um die Briefmarke herumdrücken kannst. Letztendlich geht es doch allein darum, oder nicht?«
Er hatte mich in die Enge getrieben. Eigentlich hatte ich vorgehabt, den Rächer von Ulster überhaupt nicht zu erwähnen und die Briefmarke klammheimlich Vater zu geben. Wem konnte sie denn sonst etwas nützen?
»Hör mal, ich weiß, dass du sie hast«, sagte er. »Wir haben Dr. Kissing im Haus Krähenwinkel einen Besuch abgestattet.«
Ich versuchte, ein skeptisches Gesicht zu machen.
»Und Bob Stanley, dein Mr Pemberton, hat uns gesagt, dass du sie ihm gestohlen hast.«
Ich ihm gestohlen? Wie kam er denn darauf? Was für eine Unverfrorenheit!
»Sie gehört dem König!«, protestierte ich. »Bonepenny hat sie bei einer Ausstellung in London gestohlen.«
»Wem sie auch gehören mag, es handelt sich jedenfalls um Diebesgut, und meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird. Ich muss nur wissen, wie es in deinen Besitz gekommen ist.«
Der Teufel sollte den Mann holen! Jetzt konnte ich mich nicht mehr herausreden. Jetzt musste ich mein unbefugtes Eindringen im Dreizehn Erpel gestehen.
»Wir können ja ein Geschäft machen«, sagte ich.
Inspektor Hewitt lachte laut auf.
»Es gibt Zeiten, Miss de Luce«, sagte er, »da verdient man
»Und welche Zeit haben wir jetzt gerade?«, fragte ich.
Huuu! Jetzt sieh dich aber vor, Flave!
Er drohte mir mit dem Zeigefinger. »Ich bin ganz Ohr«, sagte er.
»Also, ich habe nachgedacht«, sagte ich. »In der letzten Zeit hat sich das Leben Vater gegenüber nicht besonders nett verhalten. Zuerst tauchen Sie auf Buckshaw auf, und ehe er sich versieht, beschuldigen Sie ihn, einen Mord begangen zu haben.«
»Langsam … langsam«, sagte der Inspektor. »Darüber haben wir bereits gesprochen. Er wurde des Mordes beschuldigt, weil er es zugegeben hat.«
Im Ernst? Das war mir neu.
»Kaum hatte er den Mord zugegeben, kam Flavia anspaziert. Ich hatte mehr Beichten abzunehmen als die Heilige Mutter Gottes in Lourdes an einem Samstagabend.«
»Ich wollte ihn nur schützen«, sagte ich. »Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass er es vielleicht tatsächlich gewesen ist.«
»Und wen wollte er schützen?«, fragte Inspektor Hewitt und musterte mich eindringlich.
Die Antwort lautete natürlich: Dogger. Das hatte Vater gemeint, als er sagte: »Das habe ich befürchtet«, nachdem ich ihm erzählt hatte, dass auch Dogger den Streit mit Bonepenny in seinem Arbeitszimmer mit angehört hatte.
Vater hatte gedacht, Dogger hätte den Mann umgebracht, so viel war klar. Aber warum? Hätte Dogger es allein aus Treue meinem Vater gegenüber getan oder bei einem seiner eigenartigen Anfälle?
Nein, Dogger ließen wir am besten aus der Sache heraus. Das war das Wenigste, was ich für ihn tun konnte.
»Vielleicht mich«, log ich. »Vater dachte, ich hätte Bonepennymich zu schützen.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte der Inspektor.
»Es wäre jedenfalls ein feiner Zug von ihm«, antwortete ich.
»Da bin ich sicher«, sagte der Inspektor. »Ganz bestimmt hat er sich vor dich gestellt. Na schön, dann zurück zu der Briefmarke. Ich hab sie nämlich noch nicht vergessen.«
»Also, wie schon gesagt, ich würde sehr gern etwas für Vater tun; etwas, das ihn glücklich macht, selbst wenn es nur für ein paar Stunden ist. Ich würde ihm gern den Rächer von Ulster geben, wenn auch nur für einen oder zwei Tage. Wenn Sie mir das erlauben, erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Versprochen.«
Der Inspektor schlenderte zum Bücherregal, zog einen gebundenen Band der Tätigkeitsberichte der Chemischen Gesellschaft von 1907 heraus und blies den Staub vom Rücken. Dann blätterte er gelangweilt durch die Seiten, als suchte er darin das, was er als Nächstes sagen wollte.
»Weißt du«, sagte er schließlich, »es gibt nichts, was Antigone, meine Frau, mehr verabscheut, als einkaufen zu gehen. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich lieber einen Zahn plombieren lässt, als eine halbe Stunde beim Kauf einer Hammelkeule zu vergeuden. Trotzdem muss sie einkaufen gehen, ob sie will oder nicht. Es ist ihr Schicksal, sagt sie. Um die Schmerzen ein bisschen zu betäuben, kauft sie manchmal ein kleines gelbes Heftchen namens Du und deine Sterne.
Ich muss zugeben, dass ich bis jetzt des Öfteren, wenn sie mir daraus beim Frühstück vorgelesen hat, die Nase darüber gerümpft habe, aber heute Morgen sagte mein Horoskop, und jetzt zitiere ich wörtlich: ›Ihre Geduld wird auf eine äußerst harte Probe gestellt werden.‹ Glaubst du wirklich, dass ich diese Hefte bisher falsch beurteilt habe, Flavia?«
»Bitte!«, sagte ich und gab dem Wort den notwendigen Nachdruck.
»Vierundzwanzig Stunden«, sagte er. »Keine Minute länger.«
Und plötzlich sprudelte es nur so aus mir heraus, ich plapperte von der toten Zwergschnepfe, von Mrs Mullets eigentlich doch ziemlich unschuldigem (wenn auch ungenießbarem) Schmandkuchen, ich erzählte, wie ich Bonepennys Zimmer im Gasthaus durchsucht und die Briefmarken gefunden, wie ich Miss Mountjoy und Dr. Kissing besucht hatte, von meinen Begegnungen mit Pemberton auf der Insel im Park und auf dem Friedhof, und von meiner Gefangenschaft in der Garage.
Das Einzige, was ich nicht erzählte, war, dass ich Feelys Lippenstift mit einem Extrakt aus Giftefeu präpariert h atte. Warum den Inspektor mit unnötigen Einzelheiten verwirren?
Während ich redete, kritzelte er gelegentlich in sein kleines schwarzes Notizbuch, dessen Seiten, wie mir auffiel, mit jeder Menge Pfeilen und kryptischen Zeichen bedeckt waren. Sie sahen aus, als wären sie von einer alchimistischen Formel aus dem Mittelalter inspiriert worden.
»Komme ich da drin auch vor?«, fragte ich ihn und zeigte mit dem Finger auf das Buch.
»Allerdings.«
»Darf ich mal sehen? Nur ganz kurz?«
Inspektor Hewitt klappte sein Buch zu.
»Nein«, sagte er. »Das ist ein streng vertrauliches Polizeidokument.«
»Schreiben Sie meinen Namen richtig aus oder bin ich da nur durch eines dieser Symbole repräsentiert?«
»Du hast ein Symbol. Eins extra für dich«, sagte er und schob das Buch in seine Tasche. »Tja, ich glaube, ich muss mich wieder auf den Weg machen.«
Er gab mir die Hand und schüttelte sie kräftig. »Auf Wiedersehen, Flavia«, sagte er. »Es war … ein ziemliches Erlebnis.«
Er ging zur Tür und machte sie auf.
»Inspektor …«
Er blieb stehen und drehte sich um.
»Was ist es für eins? Mein Symbol, meine ich.«
»Es ist ein P«, antwortete er. »Ein großes P.«
»Ein P?«, fragte ich verdutzt. »Wofür steht denn das P?«
»Ach«, erwiderte er, »das bleibt am besten der Fantasie überlassen.«
Daffy lag im Salon auf dem Teppich und las Der Gefangene von Zenda.
»Weißt du eigentlich, dass du beim Lesen die Lippen bewegst?«, fragte ich sie.
Sie ignorierte mich. Also beschloss ich, mein Leben aufs Spiel zu setzen.
»Apropos Lippen«, sagte ich. »Wo ist Feely eigentlich?«
»Beim Arzt«, sagte sie. »Sie hat irgendeine Allergie. Muss mit irgendwas in Kontakt gekommen sein.«
Aha! Also war mein Experiment doch noch von Erfolg gekrönt worden! Niemand würde je dahinterkommen. Sobald ich einen Augenblick für mich hatte, würde ich es in meinem Notizbuch vermerken:
Dienstag, 6. Juni 1950, 13.20 Uhr. Erfolg! Ausbruch wie erwartet! Der Gerechtigkeit ist Genüge getan!
Ich schnaubte leise vor mich hin. Daffy musste es gehört haben, denn sie rollte sich herum und setzte sich auf.
»Glaub ja nicht, dass du einfach so davonkommst«, sagte sie leise.
»Hä?« Verwirrte Unschuld war meine Spezialität.
»Was für einen Hexentrank hast du in ihren Lippenstift gemischt?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst«, sagte ich.
»Sieh dich bloß mal im Spiegel an«, sagte Daffy. »Und pass auf, dass er nicht zerspringt.«
Ich drehte mich um und ging langsam zum Kamin, wo ein beschlagenes Überbleibsel aus dem Regency betrübt über dem Sims hing und das Zimmer widerspiegelte.
Ich beugte mich näher heran und musterte mein Spiegelbild. Zuerst sah ich lediglich mein gewöhnliches brillantes Ich, meine hellblauen Augen, meinen blassen Teint, aber als ich länger hinschaute, fielen mir weitere Einzelheiten an dem übel zugerichteten quecksilbrigen Abbild meiner selbst auf.
Da war ein Fleck an meinem Hals. Ein feurig roter Fleck! An der Stelle, an der Feely mich geküsst hatte!
Ich stieß einen gequälten Schrei aus. »Feely hat gesagt, sie hätte dir alles heimgezahlt, kaum dass sie fünf Sekunden in der Grube gewesen ist.«
Noch ehe Daffy sich wieder auf den Bauch gerollt und ihrer blöden Mantel-und-Degen-Geschichte zugewandt hatte, hatte mein neuer Plan Gestalt angenommen.
Einmal, als ich ungefähr neun war, führte ich Tagebuch darüber, wie es war, eine de Luce zu sein, oder zumindest diese eine besondere de Luce. Ich dachte viel darüber nach, wie ich mich dabei fühlte und kam schließlich zu dem Schluss, dass Flavia de Luce zu sein in etwa so war wie ein Sublimat zu sein: wie der schwarze kristalline Rest, den die violetten Joddämpfe auf dem kalten Glas eines Reagenzglases zurücklassen. Damals hielt ich das für die perfekte Beschreibung, und während der vergangenen zwei Jahre ist nichts passiert, was mich dazu gebracht hätte, meine Meinung zu ändern.
Wie bereits gesagt, den de Luces fehlt etwas. Irgendeine chemische Verbindung oder auch der Mangel daran fesselt ihre Zungen, sobald sie Gefahr laufen, Zuneigung zu jemandem zu
Den Beweis dafür hatte Feely geliefert, als sie mir mein Tagebuch stahl, das Metallschloss mit einem Büchsenöffner aus der Küche aufbrach und dann laut daraus vorlas, wobei sie sich in den Kleidern, die sie der Vogelscheuche unseres Nachbarn gestohlen hatte, oben auf die große Treppe stellte.
Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich mich Vaters Arbeitszimmer näherte. Davor blieb ich stehen, weil ich nicht genau wusste, ob ich meinen Plan wirklich umsetzen wollte.
Dann klopfte ich unsicher an die Tür. Es dauerte sehr lange, bis Vaters Stimme »Herein« sagte.
Ich drehte den Türknauf und trat ein. Vater saß am Tisch neben dem Fenster und schaute kurz von seinem Vergrößerungsglas auf, dann wandte er sich wieder der Betrachtung einer magentaroten Marke zu.
»Darf ich was sagen?«, fragte ich, wobei mir bewusst wurde, dass es eine merkwürdige Frage war. Trotzdem schienen mir diese Worte die einzig richtigen zu sein.
Vater legte das Glas auf den Tisch, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Er sah müde aus.
Ich fasste in meine Tasche und zog ein Stück blaues Schreibpapier heraus, in das ich den Rächer von Ulster eingeschlagen hatte. Ganz langsam, wie ein Bittsteller, ging ich auf ihn zu, legte das Papier auf den Schreibtisch und trat wieder zurück.
Vater faltete es auf.
»Herr der Gerechten!«, sagte er. »Das ist ja A A!«
Er setzte die Brille wieder auf, nahm seine Juwelierlupe zur Hand und betrachtete die Briefmarke ganz genau.
Jetzt, dachte ich, bekomme ich meine Belohnung. Ich konzentrierte
»Wo hast du die her?«, fragte er schließlich mit dieser sanften Stimme, die den Zuhörer wie einen Schmetterling auf eine Nadel spießt.
»Gefunden«, antwortete ich.
Vaters Blick war militärisch, unerbittlich.
»Bonepenny muss sie verloren haben«, sagte ich. »Sie ist für dich.«
Vater studierte mein Gesicht, wie ein Astronom eine Supernova studiert.
»Das ist sehr anständig von dir, Flavia«, sagte er schließlich mit einiger Anstrengung.
Und gab mir den Rächer von Ulster wieder zurück.
»Aber du musst sie seinem rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben.«
»König Georg?«
Vater nickte. Ich fand, dass er dabei ein bisschen traurig aussah.
»Ich weiß nicht, wie die Marke in deinen Besitz gekommen ist, und ich möchte es auch nicht wissen. Nachdem du allein so weit gekommen bist, solltest du es auch allein zu Ende bringen.«
»Inspektor Hewitt will, dass ich sie ihm gebe.«
Vater schüttelte den Kopf.
»Das ist nett von ihm«, sagte er, »aber auch typisch Behörde. Nein, Flavia, die gute alte AA hier ist schon durch zu viele Hände gegangen, einige davon waren sauber, die meisten leider schmutzig. Du musst dafür sorgen, dass sich die deinen als die würdigsten von allen erweisen.«
»Aber wie schreibt man denn dem König?«
»Ich zweifle nicht daran, dass du Mittel und Wege finden wirst«, sagte Vater. »Und mach bitte die Tür zu, wenn du gehst.«
»Miss Flavia«, sagte er, lüftete den Hut und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
»Wie adressiert man eigentlich einen Brief an den König?«, fragte ich.
Dogger lehnte die Schaufel vorsichtig ans Gewächshaus.
»Theoretisch oder tatsächlich?«
»Tatsächlich.«
»Hmmm«, machte er. »Ich glaube, da schaue ich besser irgendwo nach.«
»Halt«, sagte ich. »Mrs Mullets Hundert Alltagsfragen und Antworten für den anspruchsvollen Haushalt. Sie hat das Buch in der Speisekammer.«
»Sie ist eben zum Einkaufen ins Dorf gegangen«, sagte Dogger. »Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht mit dem Leben davon.«
Kurz darauf drängten wir uns in die Speisekammer.
»Hier ist es«, sagte ich aufgeregt, als ich das Buch in meinen Händen aufklappte. »Aber warte … das hier ist schon vor sechzig Jahren erschienen. Stimmen die Angaben da überhaupt noch?«
»Aber sicher«, meinte Dogger. »Im Königshaus ändern sich die Dinge nicht so schnell wie bei unsereinem. Ist wohl auch besser so.«
Der Salon war leer. Daffy und Feely trieben sich irgendwo anders herum, wo sie höchstwahrscheinlich ihren nächsten Angriff planten.
Ich fand ein anständiges Blatt Papier in einer Schublade, tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb mir die Anrede aus Mrs Mullets fettfleckigem Buch ab, wobei ich versuchte, so schön wie möglich zu schreiben:
Königliche Hoheit,
Euer allergnädigste Majestät,
Anbei findet Ihr einen Gegenstand von beträchtlichem
Wert, der Eurer Majestät gehört und in diesem Jahr
gestohlen wurde. Wie er in meine Hände geraten ist
(eine hübsche Redewendung, fand ich), ist weiter un
wichtig, aber ich kann Eurer Majestät versichern,
dass der Verbrecher festgenommen wurde.
»Gefasst«, sagte Dogger, der mir über die Schulter schaute.
Ich verbesserte es.
»Was noch?«
»Nichts«, sagte Dogger. »Nur noch unterschreiben. Könige bevorzugen Knappheit.«
Ganz vorsichtig, um ja keinen Flecken auf das Papier zu machen, schrieb ich das Briefende ab:
Ich verbleibe in tiefster Verehrung als
Euer Majestät treueste Untertanin
Flavia de Luce (Miss)
»Perfekt«, sagte Dogger.
Ich faltete den Brief sorgfältig und fuhr die Falte extra mit dem Daumen nach. Dann schob ich ihn in einen von Vaters besten Umschlägen und schrieb die Adresse drauf:
Seine Königliche Hoheit König Georg VI.
Buckingham Palace, London S.W.I.
England
»Soll ich noch ›vertraulich‹ dazu schreiben?«
»Gute Idee«, meinte Dogger.
Eine Woche später, als ich gerade meine nackten Füße im Wasser des künstlichen Sees kühlte und meine Notizen zu Koniin, dem bekanntesten Alkaloid, noch einmal durchging, tauchte Dogger plötzlich auf und wedelte mir mit etwas in seiner Hand zu.
»Miss Flavia!«, rief er und kam zur Insel herübergewatet, ohne sich die Stiefel auszuziehen.
Seine Hosenbeine waren klatschnass, aber obwohl er triefend wie Poseidon vor mir stand, war sein Grinsen so sonnig wie der Sommernachmittag.
Er reichte mir einen Umschlag, so weich und weiß wie Eiderdaunen.
»Soll ich ihn aufmachen?«, fragte ich.
»Ich glaube, er ist an dich adressiert.«
Dogger zuckte zusammen, als ich den Umschlag aufriss und ein einzelnes Blatt cremeweißes Papier herauszog, das zusammengefaltet darin gelegen hatte.
Sehr verehrte Miss de Luce,
ich bin Ihnen überaus dankbar für Ihre jüngst erfolgte
Benachrichtigung und die Rückerstattung des kostbaren
Gegenstandes, den sie enthielt, und der, wie Ihnen sicher
lich nicht unbekannt ist, eine bemerkenswerte Rolle nicht
nur in der Geschichte meiner eigenen Familie, sondern
auch in der Geschichte Englands gespielt hat.
Bitte nehmen Sie meinen tief empfundenen Dank ent
gegen.
Die Unterschrift lautete einfach nur »Georg«.