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Immer wenn ich im Freien bin und mal so richtig nachden ken will, lege ich mich auf den Rücken, strecke Arme und Beine aus, sodass ich wie ein Seestern aussehe, und schaue in den Himmel. Erst amüsiere ich mich ein Weilchen mit meinen »Schwimmern«, den wurmähnlichen Proteinfäden, die wie kleine dunkle Galaxien kreuz und quer durch mein Gesichtsfeld treiben. Wenn ich es nicht eilig habe, mache ich einen Kopfstand, um sie durcheinanderzuwirbeln, dann lege ich mich wieder hin und schaue mir die Vorstellung an wie einen Zeichentrickfilm.

Heute jedoch ging mir viel zu viel im Kopf herum, weshalb ich mich, nachdem ich fast zwei Kilometer weit von Haus Krähenwinkel weggeradelt war, auf die grasbewachsene Stra ßenböschung legte und einfach nur in den Sommerhimmel blickte.

Etwas, das mir Vater erzählt hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, nämlich dass die beiden, er und Horace Bonepenny, Mr Twining umgebracht hätten; dass sie persönlich für seinen Tod verantwortlich seien.

Wäre es nur wieder mal eines von Vaters Hirngespinsten gewesen, hätte ich es längst wieder vergessen, aber an der Sache war eindeutig mehr dran. Auch Miss Mountjoy war davon überzeugt, dass die Jungen ihren Onkel umgebracht hatten, das hatte sie mir selbst gesagt.

Dass Vater sein schlechtes Gewissen plagte, war nicht zu übersehen. Schließlich hatte auch er darauf gedrungen, Dr.

Nein, an der Sache musste noch mehr dran sein, aber ich kam einfach nicht darauf, was.

Ich lag im Gras und schaute so eindringlich zum blauen Himmelsgewölbe empor, wie die alten, auf Säulen hockenden indischen Fakire damals in die Sonne gestarrt hatten, ehe wir gekommen waren, um sie zu zivilisieren, aber mir wollte partout nichts Brauchbares einfallen. Unmittelbar über mir stand die Sonne wie eine große, gleißende Null und brannte mir auf den leeren Schädel.

Ich dachte messerscharf nach, rasiermesserscharf, skalpellscharf - es half alles nichts.

Aber halt! Genau! Das war’s! Vater hatte nichts getan. Gar nichts! Er hatte im selben Augenblick, als es geschah, gewusst oder zumindest vermutet, dass Bonepenny die kostbare Marke des Rektors gestohlen hatte … und trotzdem hatte er niemandem ein Sterbenswörtchen davon gesagt.

Das war ganz klar eine Unterlassungssünde gewesen: eines jener Vergehen aus dem kirchlichen Verzeichnis der Verfehlungen, das Feely so gern im Munde führte und das anscheinend auf jedermann anzuwenden war außer auf sie selbst.

Aber Vaters Schuld war eine moralische, und von daher mochte ich mich nicht zum Richter über ihn aufschwingen.

Trotzdem ließ es sich nicht abstreiten: Vater hatte geschwiegen und durch sein Schweigen womöglich den herzensguten alten Mr Twining dazu gebracht, die Schuld ganz allein auf sich zu nehmen und den Vertrauensbruch mit seinem Leben zu bezahlen.

Es musste doch damals Gerüchte gegeben haben … Die Einheimischen in diesem Winkel Englands waren noch nie für ihre Verschwiegenheit bekannt gewesen, ganz im Gegenteil.Hundert Alltagsfragen und Antworten für den anspruchsvollen Haushalt, die Mrs Mullet in der Speisekammer liegen hatte, war mir schon länger aufgefallen, dass man am besten zurechtkommt, wenn man den Nächstbesten anspricht und sich einfach erkundigt. Dann kann man auf derlei Nachschlagewerke verzichten.

Ich konnte Vater schlecht danach fragen, warum er damals als Schuljunge geschwiegen hatte. Selbst wenn ich mich getraut hätte, so saß er doch auf der Polizeiwache in der Arrestzelle und würde vorerst auch dort bleiben. Miss Mountjoy konnte ich auch nicht fragen. Die hatte mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, weil sie in mir die Nachfahrin eines kaltblütigen Mörders sah. Kurz gesagt, ich war ganz auf mich gestellt.

Den ganzen Tag über hatte es in meinem Hinterkopf gedudelt wie ein Grammophon in einem abgelegenen Zimmer. Hätte ich doch bloß die Melodie erkennen können!

Das Gedudel hatte eingesetzt, als ich in der Bücherei die Zeitungsstapel durchgewühlt hatte. Es handelte sich um etwas, das jemand gesagt hatte … Aber was?

Manchmal lässt sich ein flüchtiger Gedanke so schwer fangen wie ein durchs Fenster hereingeflogener Vogel. Man schleicht sich auf Zehenspitzen heran, will zupacken … und der Vogel ist auf und davon, schlägt mit den Flügeln …

Richtig! Flügel!

Er sah wie ein gestürzter Engel aus, hatte der eine Schüler aus Greyminster gesagt. Toby Lonsdale, jetzt fiel mir der Name wieder ein. Ein sonderbarer Vergleich. Beschrieb ein Schuljunge mit solchen Worten, wie sein Lehrer von einem

Ärgerlicherweise hatte ich nicht gründlich genug gewühlt. Der Hinley-Kurier hatte unmissverständlich vermeldet, dass die polizeilichen Ermittlungen sowohl bezüglich Mr Twinings Tod als auch hinsichtlich des Diebstahls von Dr. Kissings Briefmarke noch nicht abgeschlossen seien. Und der Nachruf? Der musste natürlich später erschienen sein. Was hatte darin gestanden?

Ruckzuck schwang ich mich wieder auf Gladys’ Sattel und radelte wie ein geölter Blitz in Richtung Bishop’s Lacey und Cow Lane.

Erst als ich nur noch drei Meter von der Büchereitür entfernt war, sah ich das Schild: »Geschlossen«. Natürlich! Manchmal hast du wirklich Pudding im Hirn, Flavia, da hat Feely ganz Recht. Heute war Montag. Die Bücherei würde erst wieder am Dienstagmorgen um zehn Uhr öffnen.

Als ich Gladys zum Fluss und zur Garage mit dem Archiv schob, musste ich an die albernen Geschichten aus der Kinderstunde im Radio denken: erzieherisch wertvolle Geschichtchen wie die von der kleinen Lok (Ich schaff es schon … ich schaff es schon …), die einen ganzen Güterzug über den Berg ziehen kann, nur weil sie fest daran glaubt, dass sie es schafft. Und weil sie nicht aufgibt. Nie aufgeben, das war der Schlüssel zum Erfolg.

Der Schlüssel? Ich hatte Miss Mountjoy den Schlüssel zum Magazin zurückgegeben, da war ich ganz sicher. Gab es vielleicht einen Zweitschlüssel? Einen Ersatzschlüssel, der unter einem Fensterbrett versteckt lag für den Fall, dass irgendein vergesslicher Mensch nach Blackpool in Urlaub gefahren war und das Original noch in der Tasche hatte? Da Bishop’s Lacey nicht gerade als landesweit berüchtigtes Verbrechernest galt

Ich befühlte den Türsturz, schaute unter die Geranientöpfe, die den Weg zum Eingang säumten, und hob sogar ein paar verdächtige Steine hoch.

Nichts.

Ich stocherte in den Fugen der Mauer, die von der Straße bis zum Eingang führte.

Nichts, aber auch gar nichts.

Ich spähte durchs Fenster zu den alten Zeitungen hinein, die Stapel neben Stapel friedlich auf den Regalen ruhten. So nah und doch so fern.

Ich hätte vor Wut am liebsten ausgespuckt … und das tat ich auch.

Was hätte Marie Anne Lavoisier an meiner Stelle getan?, überlegte ich. Hätte sie sich schäumend und qualmend vor der Tür aufgebaut wie einer dieser Minivulkane, die entstehen, wenn man ein Häufchen Ammoniumdichromat anzündet? Wohl kaum. Marie Anne hätte die Chemie Chemie sein lassen und sich die Tür vorgenommen.

Ich drehte kräftig am Türknauf, warf mich gegen die Tür - und kippte vornüber. Irgendein Blödmann war hier gewesen und hatte nicht wieder abgeschlossen! Hoffentlich hatte mich niemand gesehen. Zum Glück fiel mir das noch ein, denn das bewog mich, Gladys mit hinter die Mauer zu nehmen, wo sie vor neugierigen Blicken sicher war.

Ich ging um die mit Brettern abgedeckte Mechanikergrube herum und an den Regalen mit vergilbten Zeitungen entlang.

Im Handumdrehen entdeckte ich die gesuchte Ausgabe des Hinley-Kurier. Wie vermutet war der Nachruf auf Mr Twining am Freitag nach dem Artikel über seinen Tod erschienen:

Twining, Grenville, M A (Oxfordshire), vergangenen Montag in der Greyminster School bei Hinley im Alter von

Und wo lag der Verstorbene begraben? Hatte man seinen Leichnam in seine Heimatstadt Winchester überführt und an der Seite seiner Eltern beigesetzt? Oder war er in Greyminster beerdigt worden? Eher nicht. Mir kam es wahrscheinlicher vor, dass ich sein Grab auf dem Friedhof von St. Tankred finden würde, keine zwei Minuten vom Magazin entfernt.

Ich ließ Gladys hinter der Garage stehen, denn ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Wenn ich mich duckte und mich immer an der Hecke hielt, die den Treidelpfad säumte, konnte ich ungesehen auf den Friedhof gelangen.

Als ich die Tür nach draußen aufmachte, vernahm ich Hundegebell. Vorne an der Gasse stand Mrs Fairweather, Vorsitzende des kirchlichen Frauenkreises, der für den Blumenschmuck auf dem Altar zuständig war, mit ihrem Corgi. Ich zog die Tür leise wieder zu, ehe sie oder der Hund mich erblickte, und beobachtete verstohlen durchs Fenster, wie der Hund eine Eiche beschnüffelte, während Mrs Fairweather unverwandt in die Ferne sah und tat, als wüsste sie nicht, was am anderen Ende der Leine vor sich ging.

Verflixt! Jetzt musste ich warten, bis der Köter sein Geschäft erledigt hatte. Ich sah mich um.

Zu beiden Seiten standen behelfsmäßige Regale, deren grob gesägte, durchhängende Bretter den Eindruck machten, als hätte sie ein williger, aber unfähiger Amateurschreiner angebracht.

Rechts standen die verstaubten Jahrgänge längst veralteter Nachschlagewerke wie Crockfords Kirchenlexikon, Hazells’ Jahrbuch, Whitakers Almanach, Kellys Branchenverzeichnis und Brasseys Marinejahrbuch, und alle waren sie dicht an dicht auf die unbehandelten Fächer gestapelt, die einst edlen roten, blauen und schwarzen Einbände von der Zeit und dem gelegentlich einfallenden Tageslicht braun geworden, und allesamt rochen sie nach Mäusen.

Die Regale linkerhand waren reihenweise mit gleich aussehenden Bänden bestückt, auf deren Rücken mit verschnörkelten gotischen Buchstaben Der Greyminsterianer eingeprägt war. Das mussten die Jahrbücher von Vaters alter Schule sein, denn solche Wälzer standen auch auf Buckshaw. Ich zog einen Band heraus, sah aber gleich, dass er aus dem Jahr 1942 stammte.

Ich schob ihn wieder zurück und fuhr mit dem Zeigefinger die Bücherrücken entlang: 1930 … 1925 … 1920! Mit bebenden Händen nahm ich den Band heraus und blätterte ihn hastig von hinten nach vorn durch. Lauter Artikel über Kricket-spiele, Ruderwettkämpfe, Leichtathletik, Stipendien, Rugby, über Fotografie und Naturkunde. Über den Magischen Zirkel oder den Briefmarkenclub konnte ich nichts finden, dafür hier und da Fotos, auf denen in Reihen aufgestellte Jungen in die Kamera grinsten und manchmal auch Grimassen schnitten.

Gegenüber der Titelseite war ein schwarz gerahmtes Porträtfoto abgedruckt. Ein ehrwürdiger Herr mit Barett und Talar saß ungezwungen auf der Kante eines Lehrerpults, hielt ein Lateinbuch in der Hand und blickte den Fotografen mit verhaltener Belustigung an. Unter dem Foto stand: »Grenville Twining 1848-1920«.

Das war alles. Kein Wort zu den näheren Umständen seines Todes, kein Nachruf, kein liebevolles Gedenken. Hatte es eine allumfassende Verschwörung des Schweigens gegeben?

An dem Mann war mehr dran, als man auf den ersten Blick vermuten mochte.

Ich blätterte langsamer, diesmal in umgekehrter Richtung, überflog die Artikel und las die gelegentlichen Bildunterschriften.

Als ich zu zwei Dritteln durch war, stach mir der Name »de Luce« ins Auge. Das zugehörige Foto zeigte drei Jungen in kurzärmligen Hemden und mit Schülermützen auf den Köpfen. Vor ihnen, auf einer auf der Wiese ausgebreiteten Decke, stand ein Picknickkorb. Auf der Decke lagen alle möglichen Lebensmittel. Offenbar veranstalteten die drei ein zünftiges Picknick. Es gab einen Laib Brot, ein Glas Marmelade, einen Obstkuchen, Äpfel und etliche Flaschen mit Ingwerbier.

Die Unterschrift lautete: »Wie weiland bei Omar Khayyam - üppig bewirtet aus Greyminsters Küche. Von links nach rechts: Haviland de Luce, Horace Bonepenny und Bob Stanley posieren für ein lebendes Bild nach dem Werk des persischen Dichters.«

Der Junge ganz links, der im Schneidersitz auf der Decke saß, war unverkennbar Vater. Er sah glücklicher und fröhlicher und sorgloser aus, als ich ihn je gekannt hatte. Der lange, knochige Bursche in der Mitte, der tat, als wollte er gerade in ein belegtes Brot beißen, war Horace Bonepenny. Ihn hätte ich sogar ohne Beschriftung erkannt. Seine feuerroten Locken erschienen auf dem Foto als geisterhaft weiße Aura um seinen Kopf.

Ich erschauerte, denn ich musste daran denken, wie er im Tode ausgesehen hatte.

Etwas abseits seiner beiden Kameraden schien der dritte Junge großen Wert darauf zu legen, im Profil aufgenommen zu werden, denn er legte den Kopf unnatürlich schief. Er war ein dunkler Typ, gut aussehend und älter als die beiden anderen, und hatte etwas Verführerisches an sich, wie ein Stummfilmstar.

Ich konnte es nicht erklären, aber sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor.

Dann zuckte ich zusammen, als hätte mir jemand eine Eidechse in den Kragen gesteckt. Ich hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen, und das erst kürzlich! Der dritte Junge auf dem Foto war zu ebenjenem Mann herangewachsen, der sich mir erst gestern als Frank Pemberton vorgestellt hatte, Frank Pemberton, der im Tempelchen neben mir im Regen gestanden hatte, Frank Pemberton, der mir heute Morgen erzählt hatte, er wolle in Nether Eaton ein Grabmal besichtigen.

Mit einem Mal fügte sich eins zum anderen, und ich sah die Lösung so deutlich vor mir, als wären mir, wie einst Saulus, Schuppen von den Augen gefallen.

Frank Pemberton war Bob Stanley, und Bob Stanley war sozusagen »Der Dritte Mann«. Er war es, der Horace Bonepenny in unserem Gurkenbeet umgebracht hatte, dafür hätte ich jederzeit mein Leben verwettet.

Als mit einem Mal alle Puzzleteilchen zusammenpassten, hämmerte mein Herz zum Zerspringen.

Von Anfang an war etwas an Pemberton nicht ganz koscher gewesen, und auch daran hatte ich seit unserer gestrigen Begegnung im Tempelchen nicht mehr gedacht. Was hatte er da doch gleich gesagt?

Wir hatten übers Wetter gesprochen, wir hatten uns einander vorgestellt. Er hatte zugegeben, dass er bereits wusste, wer ich war, weil er meine Familie im Who’s Who nachgeschlagen hatte. Wozu, wenn er doch Vater seit Urzeiten kannte? Hatte diese Lüge meine unsichtbaren Antennen zum Zucken gebracht?

Er hatte einen leichten Akzent gehabt, fiel mir ein. Nicht sehr auffällig, aber dennoch …

Er hatte mir erzählt, dass er an einem Buch arbeitete: Pembertons Herrensitze - Ein Bummel durch die Zeitläufte. Das mochte stimmen.

Was hatte er sonst noch gesagt? Nichts von Bedeutung, ein paar belanglose Bemerkungen darüber, dass wir beide Schiffbrüchige

Da loderte das Stückchen Holzkohle, das die ganze Zeit in meinem Hinterkopf geglüht hatte, mit einem Mal hell auf!

»Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.«

Wortwörtlich. Und wo hatte ich das schon einmal gehört?

Wie ein Ball an einer Gummischnur flogen meine Gedanken zu einem Wintertag zurück. Obwohl es noch früher Morgen war, hatten sich die Bäume vor dem Salonfenster von gelb über orange nach grau verfärbt, und der Farbton des Himmels war von Kobaltblau zu Tiefschwarz umgeschlagen.

Mrs Mullet hatte ein Tablett mit Hefebrötchen hereingebracht und die Vorhänge zugezogen. Feely saß auf der Couch und begaffte sich in der Rückseite eines Teelöffels, Daffy fläzte sich in Vaters altem Polstersessel am Kamin. Sie las uns laut aus Penrod vor, einem Buch, das sie aus dem Regal mit Harriets Lieblingskinderbüchern in ihrem Ankleidezimmer requiriert hatte.

Penrod Schofield war zwölf, ein Jahr und ein paar Monate älter als ich, aber altersmäßig doch nahe genug an mir dran, um mein flüchtiges Interesse zu wecken. Er kam mir vor wie eine Art Huckleberry Finn, aber in die Zeit des Ersten Weltkriegs versetzt, irgendwo in einer ungenannten Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten. Obwohl in dem Buch lauter Ställe, Gässchen, hohe Bretterzäune und Lieferwagen vorkamen, die damals noch von Pferden gezogen wurden, erschien mir die ganze Szenerie so fremd, als spielte die Geschichte auf dem Planeten Pluto. Feely und ich hatten uns gebannt von Daffy Scaramouche, Die Schatzinsel und Die Geschichte zweier Städte vorlesen lassen, aber Penrod und seine Welt waren uns aus unerfindlichen Gründen so fern wie die letzte Eiszeit. Feely, die jedem Buch eine Tonart zuzuordnen pflegte, meinte, es sei in c-Moll geschrieben.

Trotzdem hatten wir hin und wieder lachen müssen, wenn Penrod gegen seine Eltern und die Obrigkeit rebellierte, aber ich hatte mich schon damals gewundert, was die junge Harriet de Luce an diesem aufsässigen Jungen spannend und womöglich liebenswert gefunden hatte. Vielleicht kam ich der Antwort jetzt näher.

Die amüsanteste Szene schilderte meiner Erinnerung nach, wie Penrod dem scheinheiligen Reverend Mr Kinosling vorgestellt wird, der ihm den Kopf tätschelt und im breitesten Mittelwesten-Dialekt sagt: »Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.« Genau mit dieser Art von Herablassung hatte auch ich es immer wieder zu tun, und wahrscheinl ich habe ich mich totgelacht.

Das Entscheidende war jedoch, dass Penrod ein amerikanisches Buch war, verfasst von einem Amerikaner. Es dürfte in England längst nicht so bekannt sein wie auf der anderen Seite des Ozeans.

Ob Bob Stanley alias Frank Pemberton hier in England auf das Buch beziehungsweise den Satz gestoßen war? Das war natürlich möglich, trotzdem hielt ich es für unwahrscheinlich. Und hatte mir Vater nicht erzählt, Bob Stanley, ebenjener Bob Stanley, der Horace Bonepennys Komplize gewesen war, sei nach Amerika ausgewandert, wo er einen zwielichtigen Briefmarkenhandel betrieben hatte?

Pemberton sprach mit amerikanischem Akzent! Ein ehemaliger Greyminsterianer mit einem Anflug von Neuer Welt.

Wie beschränkt ich doch gewesen war!

Der nächste Blick aus dem Fenster offenbarte mir, dass Mrs Fairweather verschwunden und die Cow Lane wieder menschenleer war. Ich ließ das Buch offen auf dem Tisch liegen, schlüpfte ins Freie und ging von der Rückseite der Garage aus zum Fluss.

Vor hundert Jahren war der Fluss Efon einmal Teil eines Kanalsystems gewesen, von dem heutzutage bis auf den Treidelpfad

Ich kletterte über das morsche Friedhofstor und stand auf dem alten Kirchhof, wo die alten Grabsteine wie kreuz und quer treibende Bojen aus einem Grasmeer aufragten. Das Gras war so hoch, dass ich hindurchwaten musste wie ein Badegast, der bis zur Hüfte im Meer steht.

Die ältesten Gräber und diejenigen der wohlhabendsten verblichenen Gemeindemitglieder standen nah bei der Kirche, während hier hinten an der Feldsteinmauer jene der erst kürzlich Verstorbenen zu finden waren.

Abgesehen davon gab es auch eine senkrechte Schichtung. Fünfhundert Jahre ununterbrochener Benutzung hatten dem Friedhof das Aussehen eines Brotlaibs verliehen: ein dickes, frisch gebackenes, grünes Brot, das beträchtlich über das Niveau des Bodens ringsum aufgegangen war. Bei dem Gedanken an die gärenden Überreste unter meinen Füßen überlief mich ein wohliger Schauer.

Eine Zeit lang streifte ich ziellos zwischen den Grabsteinen umher und las die Familiennamen, die man in Bishop’s Lacey heute noch alle naselang hört: Coombs, Nesbit, Barker, Hoare und Carmichael. Hier lag der kleine William mit einem eingemeißelten Lamm auf dem Stein, der kleine Sohn von Tully Stoker, der, wäre er am Leben geblieben, inzwischen ein erwachsener Mann von dreißig und Marys großer Bruder wäre. Der kleine William war im Alter von fünf Monaten und vier Tagen im Frühjahr 1919 an »Krupp« gestorben, wie auf dem Stein zu lesen stand, ein Jahr bevor Mr Twining in Greyminster vom Glockenturm sprang. Demnach standen die Chancen

Schon dachte ich, ich hätte ihn gefunden, denn ein schwarzer Stein mit pyramidenähnlicher Spitze trug die grob gehauene Inschrift »Twining«. Aber dieser Twining erwies sich bei näherer Betrachtung als ein gewisser Adolphus, der 1809 auf See verschollen war. Sein Stein war so gut erhalten, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, über die kühle, geschliffene Oberfläche zu streichen.

»Ruhe sanft, Adolphus«, sagte ich, »wo immer du auch sein magst.«

Mr Twinings Grabstein, so er denn einen hatte - und das konnte eigentlich nicht anders sein -, war gewiss keines der verwitterten Exemplare, die wie schartige braune Zähne aus dem Boden ragten, und auch keines jener gewaltigen, von Säulen eingefassten Denkmäler mit durchhängenden Ketten und schmiedeeisernen Einzäunungen, wie sie die reichsten und vornehmsten Familien von Bishop’s Lacey besaßen (darunter übrigens sämtliche de Luces).

Ich stemmte die Hände in die Hüften und stellte mich mitten in das hohe, von Unkraut durchsetzte Gras. Hinter der Mauer verlief der Treidelpfad und dahinter der Fluss. Irgendwo dort hinten war Miss Mountjoy verschwunden, als sie aus der Kirche geflüchtet war, gleich nachdem uns der Vikar aufgefordert hatte, für Horace Bonepennys Seele zu beten. Wo hatte die Bibliothekarin so eilig hingewollt?

Ich kletterte abermals über das Friedhofstor und sprang auf den Treidelpfad.

Jetzt konnte ich die Trittsteine erkennen, die zwischen den breiten, im Wasser wogenden Bändern des Wassergrases dicht unter der Oberfläche des träge dahinströmenden Flusses lagen. Die Steine führten in einer Schlangenlinie über den sich verbreiternden Teich bis zum gegenüberliegenden, flachen und sandigen Ufer hinüber. Oberhalb des Ufers und parallel zu ihm

Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und trat auf den ersten Stein. Das Wasser war eiskalt. Meine Nase lief immer noch ein bisschen, und meine Augen tränten, und mir ging durch den Kopf, dass ich womöglich in ein, zwei Tagen an Lungenentzündung sterben und mich Haste-nicht-gesehen zu den Dauerbewohnern des Friedhofs von St. Tankred gesellen würde.

Mit wie Schranken ausgebreiteten Armen balancierte ich vorsichtig durchs Wasser und watete drüben angekommen unbeholfen durch den Uferschlamm. Dann hangelte ich mich am Gestrüpp die Böschung hinauf, die zugleich einen Deich aus festgestampfter Erde zwischen dem Fluss und der angrenzenden Wiese bildete.

Dort angekommen musste ich mich erst einmal hinsetzen, ein wenig verschnaufen und mir mit einem Grasbüschel vom Heckensaum die Füße sauber wischen. Ganz in der Nähe trällerte eine Goldammer »Wie-wie-wie-hab-ich-dich-liiieeeb« - und verstummte jäh. Ich spitzte die Ohren, konnte aber nur das ferne Gebrumm des Landlebens vernehmen, das dudelsackähnliche Dröhnen irgendwelcher weit entfernter landwirtschaftlicher Maschinen.

Als ich Strümpfe und Schuhe wieder angezogen hatte, klopfte ich mir den Staub von den Kleidern und schlenderte an der Hecke entlang, die wie ein undurchdringliches Dornendickicht aussah. Gerade als ich wieder kehrtmachen wollte, entdeckte ich eine Stelle, an der sich die Ranken ein wenig lichteten. Ich zwängte mich hindurch und kam hinter der Hecke wieder heraus.

Ein paar Meter in Richtung Kirche ragte etwas aus dem Gras. Ich näherte mich vorsichtig, wobei mir ein noch von den Neandertalern stammender Urinstinkt eine Gänsehaut am ganzen Leib verpasste.

Es war ein Grabstein. Mit kunstlosen Lettern stand darauf geschrieben: »Grenville Twining«.

Auf dem schiefen Sockel war nur ein einziges Wort eingemeißelt: Vale.

Vale … das hatte Mr Twining auf dem Turm ausgerufen, ehe er sprang! Das hatte der sterbende Horace Bonepenny mir ins Gesicht geröchelt!

Jetzt endlich schlug die Erkenntnis wie eine Welle über mir zusammen: Den sterbenden Bonepenny hatte das Gewissen gedrückt, aber der Tod hatte ihm nur noch ein Wort gewährt, um den Mord an Mr Twining zu gestehen. Da ich der einzige Mensch war, der seine Beichte gehört hatte, war ich auch die einzige noch lebende Person, die einen Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen herstellen konnte. Ich und vielleicht noch Bob Stanley. Mein Mr Pemberton.

Bei dieser Vorstellung lief es mir eiskalt den Rücken herunter.

Auf Mr Twinings Grabstein waren keine Daten vermerkt, als hätte derjenige, der ihn hier bestattet hat, jede Erinnerung an sein Leben tilgen wollen. Daffy hatte uns Geschichten vorgelesen, in denen Selbstmörder außerhalb der Friedhofsmauer oder an Kreuzwegen begraben wurden, aber ich hatte das bis dahin für frömmlerische Ammenmärchen gehalten. Trotzdem überlegte ich unwillkürlich, ob ich wohl gerade über Mr Twinings Leichnam stand, der wie Graf Dracula in seinem Umhang in seinen Lehrertalar gehüllt dalag.

Aber der Talar, den ich auf dem Turm von Anson House gefunden hatte und der nun bei der Polizei verwahrt wurde, hatte nicht Mr Twining gehört. Vater hatte mehrmals erwähnt, dass Mr Twining mit wehendem Talar vom Dach gestürzt war, und so hatte es auch Toby Lonsdale dem Hinley-Kurier erzählt.

Konnten sie sich beide geirrt haben? Vater hatte schließlich auch eingeräumt, dass die Sonne ihn geblendet haben mochte. Was hatte er noch erzählt?

Ich rief mir noch einmal ins Gedächtnis, wie er Mr Twinings Erscheinung oben auf dem Dach beschrieben hatte.

»Sein Kopf schien zu glühen, sein Haar glich einer Scheibe aus Kupferblech, wie die Heiligenscheine in einer bebilderten mittelalterlichen Handschrift.«

Die Lösung des Rätsels traf mich so plötzlich, dass mir fast schlecht wurde: Derjenige, der auf dem Dach an der Brüstung gestanden hatte, war nicht Mr Twining, sondern Horace Bonepenny gewesen! Horace Bonepenny mit dem feuerroten Schopf, Horace Bonepenny der Schauspieler, Horace Bonepenny der Zauberkünstler.

Das Ganze war eine gründlich geplante Täuschung gewesen!

Miss Mountjoy hatte tatsächlich Recht gehabt: Bonepenny hatte ihren Onkel auf dem Gewissen.

Er und sein Komplize Bob Stanley mussten Mr Twining aufs Turmdach gelockt haben, höchst wahrscheinlich unter dem Vorwand, ihm die gestohlene Briefmarke zurückgeben zu wollen, die sie angeblich dort versteckt hatten.

Vater hatte mir von Bonepennys ausgefallenen mathematischen Berechnungen erzählt. Seine architektonischen Streifzüge dürften ihn mit den Turmziegeln so vertraut gemacht haben wie mit seiner Westentasche.

Als Mr Twining dann drohte, die beiden auffliegen zu lassen, hatten sie ihn umgebracht. Vermutlich hatten sie ihn mit einem Ziegelstein erschlagen. Nach dem schrecklichen Sturz vom Dach waren davon keine Spuren mehr nachzuweisen gewesen. Anschließend hatten die beiden den Selbstmord wie eine Theatervorstellung aufgeführt, nachdem sie ihn in allen Einzelheiten kaltblütig geplant, in Gedanken durchgespielt, ja, womöglich sogar geprobt hatten.

Mr Twining war tatsächlich vom Dach gestürzt, aber es war Bonepenny gewesen, der mit Talar und Barett im Schein der Morgensonne an der Brüstung gestanden und »Vale!« gerufen

Nach dieser kleinen Vorstellung hatte sich der Schurke hinter die Brüstung geduckt, während Stanley den toten Twining durch die Entwässerungsöffnung im Dach gestoßen hatte. Für einen, zumal von der Sonne geblendeten, Beobachter von unten musste es ausgesehen haben, als wäre der Alte gesprungen. Im Grunde war es ihre bewährte Nummer Die Auferstehung des Tschang Fu, nur auf einer größeren Bühne. Den geblendeten Zuschauern war etwas vorgegaukelt worden.

Und das ausgesprochen überzeugend!

Seit jenem Tag war Vater davon überzeugt, sein Schweigen habe Mr Twining in den Selbstmord getrieben, er habe den Tod des Alten verschuldet! Was für eine furchtbare Bürde! Wie schrecklich!

Dreißig Jahre hatte niemand die Beweisstücke unter den Dachziegeln von Anson House entdeckt, hatte niemand einen Gedanken darauf verschwendet, dass es auch ein Mord hätte sein können. Und beinahe wären die Verschwörer damit durchgekommen.

Ich musste mich an Mr Twinings Grabstein festhalten.

»Soso, du hast ihn also gefunden«, sagte da jemand hinter mir. Beim Klang der Stimme gefror mir das Blut in den Adern.

Ich fuhr herum. Hinter mir stand Frank Pemberton.

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