Entführt zu werden ist irgendwie anders, als man es sich gemeinhin vorstellt. Zunächst einmal hatte ich meinen Entführer weder gebissen noch gekratzt. Ich hatte auch nicht geschrien. Ich war still und gehorsam neben ihm hergetrabt wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird.
Die einzige Entschuldigung, die mir dafür einfällt, ist die, dass ich ganz und gar mit fieberhaftem Nachdenken beschäftigt war, und keine Kraft mehr für meine Gliedmaßen übrig blieb. Es war ein erstaunlicher Haufen Unsinn, der mir jetzt durch den Kopf ging.
Zum Beispiel fiel mir ein, dass Maximilian behauptet hatte, auf den Kanalinseln brauche man als Opfer eines Verbrechens nur zu rufen: Haruh! Haruh, mon Prince! On me fait tort!
Leicht gesagt, aber schwer getan, wenn man den Mund voll Taschentuch hat und der Kopf in ein fremdes Tweedjackett gewickelt ist, das betäubend nach Schweiß und Pomade riecht.
Abgesehen davon ist England heutzutage mit Prinzen nicht mehr allzu gut bestückt. Die einzigen, die mir in diesem Moment einfielen, waren Prinzessin Elisabeths Gatte Prinz Philip und deren kleiner Sohn, Prinz Charles.
Unterm Strich kam heraus, dass ich allein zurechtkommen musste.
Was hätte wohl Marie Anne Paulze Lavoisier an meiner Stelle getan?, fragte ich mich abermals. Oder ihr Mann Antoine?
Meine gegenwärtige missliche Lage erinnerte mich entschieden
Nein, es war zu entmutigend, über Marie Anne und ihre todgeweihte Familie nachzudenken. Ich musste mich von anderen bedeutenden Chemikern anregen lassen.
Was hätten beispielsweise Robert Bunsen oder Henry Cavendish gemacht, wenn sie gefesselt und geknebelt in einer Mechanikergrube gesessen hätten?
Ich staunte selbst, wie schnell mir die Antwort einfiel: Die beiden hätten eine Bestandsaufnahme vorgenommen.
Jawohl - und genau das machte ich auch.
Ich befand mich in einer ein Meter achtzig tiefen Grube, deren Ausmaße auf beklemmende Weise an die eines Grabes erinnerten. Ich war an Händen und Füßen gefesselt und konnte kaum umhertasten. Pemberton hatte mir seine Jacke um den Kopf gewickelt und vermutlich obendrein mit den Ärmeln festgebunden, damit ich nichts sehen konnte. Der schwere Stoff beeinträchtigte auch mein Gehör, und mein Geschmackssinn war von dem Taschentuchknebel lahmgelegt.
Ich konnte nur mit Mühe atmen, und da meine Nase teilweise zugedeckt war, verbrauchte schon die kleinste Anstrengung das bisschen Sauerstoff, das überhaupt bis in meine Lungen gelangte. Sich still zu verhalten war das Gebot der Stunde.
Derjenige meiner fünf Sinne, der als Einziger Überstunden zu machen schien, war mein Geruchssinn. Trotz der dicken Jacke drang mir der Geruch der Grube ungehindert in die Nase. Vorherrschend war der säuerliche Geruch von Erde, die jahrelang unter einer menschlichen Behausung liegt, das bittere Aroma von Dingen, über die man lieber nicht nachdenkt. Dazu kamen ein süßlicher Hauch von ranzigem Motoröl, der bei
Und eine Spur Ammoniak, die mir schon zuvor im Magazin aufgefallen war. Miss Mountjoy hatte etwas von Ratten gesagt, und ehrlich gesagt hätte mich deren Anwesenheit in diesen verlassenen Gebäuden am Fluss nicht sonderlich erstaunt.
Am beunruhigendsten war dieser Geruch von Faulschlammgas, ein unappetitliches Gemisch aus Methan, Schwefelwasserstoff und Stickstoffoxid, ein Mief nach Verwesung und Verfall, der Gestank eines offenen Abflussrohrs, das vom Flussufer unmittelbar in die Grube führte, in der ich gefangensaß.
Bei der Vorstellung, was womöglich in eben diesem Augenblick zu mir hereingespült wurde, überlief es mich eiskalt.
Ich gönne meiner Fantasie lieber eine Pause, dachte ich, und setze die Erkundung der Grube fort.
Beinahe hätte ich vergessen, dass ich saß. Pembertons Befehl, mich hinzusetzen, dem er so unsanft Nachdruck verliehen hatte, war vorhin so überraschend gekommen, dass mir nicht aufgefallen war, worauf ich überhaupt saß. Jetzt spürte ich es unter mir. Es war flach und hart. Als ich hin und her rutschte, gab es ein wenig nach, außerdem knarrte es. Eine große Teekiste, dachte ich, oder etwas ganz Ähnliches. Hatte Pemberton die Kiste in weiser Voraussicht hier aufgestellt, ehe er mich auf dem Friedhof angesprochen hatte?
Im selben Augenblick merkte ich, dass ich einen Bärenhunger hatte. Seit meinem dürftigen Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen, und selbst dabei war ich von Pembertons plötzlichem Auftauchen am Fenster gestört worden. Während sich mein Magen nachhaltig beschwerte, bereute ich es, meinen Toast und meine Frühstücksflocken nicht besser gewürdigt zu haben.
Außerdem war ich müde. Müde war gar kein Ausdruck -
Jetzt mal ganz ruhig, Flave. Behalte einen kühlen Kopf. Pemberton ist bestimmt bald wieder da.
Ich hatte damit gerechnet, dass ihn, nachdem er das Haus betreten hatte, um den Rächer an sich zu bringen, Dogger aufhalten und ihm dann ohne viel Federlesen das Handwerk legen würde.
Guter alter Dogger! Er fehlte mir schrecklich, dieser Große Unbekannte, der mit mir unter einem Dach wohnte und den ich noch nie offen nach seiner Vergangenheit gefragt hatte. Sollte ich je wieder aus dieser teuflischen Klemme herauskommen, das schwor ich mir, würde ich bei der nächstbesten Gelegenheit mit ihm ein Zweierpicknick veranstalten. Ich würde mit ihm zur künstlichen Ruine hinüberrudern, ihn mit Marmite-Broten füttern und gnadenlos ausquetschen, sämtliche bluttriefenden Einzelheiten inbegriffen. Garantiert wäre er so froh darüber, dass ich gesund und munter war, dass er mir keinen Wunsch abschlagen konnte.
Die treue Seele hatte behauptet, Horace Bonepenny umgebracht zu haben, wenn auch nur versehentlich, bei einem seiner Anfälle. Damit hatte er sich in erster Linie vor Vater stellen wollen, da war ich ganz sicher. Schließlich hatten wir beide nachts vor Vaters Arbeitszimmer gestanden. Schließlich hatten wir beide den Streit belauscht, der Bonepennys Tod vorausgegangen war.
Ja, was auch geschah, Dogger würde sich der Sache annehmen. Dogger war meinem Vater bedingungslos ergeben - und mir auch. Er war treu bis in den Tod.
Also … Dogger würde Pemberton am Schlafittchen packen, und damit wäre die Sache erledigt.
Oder nicht?
Wenn sich Pemberton nun unentdeckt Zutritt zum Haus
Das war doch sonnenklar. Er würde in die Garage zurückkehren und mich foltern.
Daraus folgte zwangsläufig: Ich musste rechtzeitig fliehen - also sofort!
Als ich aufstand, knackten meine Knie wie morsche Äste.
Zuallererst musste ich die Grube erkunden. Ich musste mir klarmachen, wie groß sie war und ob sich darin irgendetwas befand, das mir zur Flucht verhelfen konnte. Mit auf den Rücken gefesselten Händen konnte ich die Betonwand nur ausmessen, indem ich langsam einmal rundherum ging und den Rücken dagegendrückte, um mit den Fingerkuppen jeden Zentimeter abzutasten. Vielleicht entdeckte ich ja einen scharfkantigen Vorsprung, an dem ich die Fesseln durchscheuern konnte.
Meine Füße waren so fest zusammengebunden, dass die Knöchel gegeneinanderrieben. Ich musste hüpfen wie ein Frosch, um überhaupt von der Stelle zu kommen. Bei jedem Hüpfer raschelten die alten Zeitungen unter meinen Füßen.
Dort, wo ich das andere Ende der Grube vermutete, umströmte kalte Luft meine Fußknöchel, als gäbe es in Bodennähe eine Öffnung in der Grubenwand. Ich drehte mich zur Wand und versuchte, irgendwo einen Zeh einzuhaken, aber die Fesseln waren zu eng. Jedes Mal, wenn ich mich nach vorne beugte, drohte ich aufs Gesicht zu fallen.
Obendrein spürte ich, dass meine Hände inzwischen mit der ranzigen Schmiere bedeckt waren, die an den Wänden klebte. Von dem Gestank wurde mir ganz flau im Magen.
Und wenn es mir gelang, auf die Teekiste zu klettern? Dann müsste mein Kopf doch über den Rand der Grube reichen, und vielleicht gab es ja irgendwo oben an der Wand einen Haken,
Allerdings musste ich dafür erst einmal wieder zu meiner Kiste zurückfinden.
Gefesselt, wie ich war, dauerte das länger als gedacht. Aber irgendwann musste ich ja gegen die Kiste stoßen, spätestens dann, wenn ich einmal rundherum gehüpft war.
Nach weiteren zehn Minuten hechelte ich wie ein russischer Windhund und war immer noch nicht gegen die Kiste gelaufen. Hatte ich sie verpasst? Sollte ich weiterhopsen oder kehrtmachen?
Vielleicht stand die Kiste ja auch in der Mitte, und ich war im Karree darum herumgehüpft. Bei meinem ersten Besuch in der Garage war die Grube zwar mit Brettern abgedeckt gewesen und ich hatte nicht hineinschauen können, trotzdem schätzte ich sie auf höchstens zweieinhalb Meter mal eins achtzig.
Mit zusammengeschnürten Knöcheln konnte ich in jede Richtung nicht weiter als fünfzehn Zentimeter auf einmal hüpfen, sagen wir zwölf mal sechzehn Hüpfer. Demnach war die Mitte der Grube, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stand, entweder sechs oder acht Hüpfer weit weg.
Die Erschöpfung drohte mich zu übermannen. Ich sprang wie ein Grashüpfer im Marmeladenglas auf und ab und kam doch nicht voran. Und dann, als ich schon aufgeben wollte, schlug ich mir das Schienbein an der Teekiste an. Ich setzte mich sofort hin, um wieder zu Atem zu kommen.
Als ich mich ein wenig erholt hatte, ließ ich die Schultern kreisen, erst nach hinten, dann nach rechts. Als ich es mit links versuchte, streifte ich die Wand. Das munterte mich gehörig auf! Meine Kiste stand an der Wand oder jedenfalls dicht davor. Wenn es mir gelang hinaufzuklettern, würde es mir vielleicht auch gelingen, mich abzustoßen und über den Rand emporzuschnellen wie ein Seelöwe im Aquarium. Hatte ich die Grube erst einmal verlassen, war die Wahrscheinlichkeit erheblich
Ganz behutsam drehte ich mich um neunzig Grad, sodass ich mit dem Rücken zur Wand stand. Ich schob meinen Allerwertesten an die hintere Kante der Kiste, und es gelang mir, vorne die Fersen darauf zu stellen. Dann langsam … vorsichtig … fing ich an, die Beine durchzustrecken und Zentimeter für Zentimeter an der Wand heraufzurutschen.
Wir bildeten ein rechtwinkliges Dreieck. Die Wand und die Oberfläche der Kiste waren die Schenkel und ich die zitternde Hypotenuse.
Plötzlich schoss mir ein Krampf in die Wade, so heftig, dass ich hätte schreien mögen. Wenn ich zuließ, dass der Schmerz die Oberhand gewann, würde ich von der Kiste kippen und mir wahrscheinlich einen Arm oder ein Bein brechen. Also riss ich mich zusammen und wartete, dass der Schmerz nachließ, wobei ich mir so fest in die Wange biss, dass ich fast sofort mein warmes, salziges Blut schmeckte.
Halt durch, Flave, ermahnte ich mich, es gibt Schlimmeres. Aber mir wollte absolut nichts Schlimmeres einfallen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so zitternd dagestanden habe, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Ich war schweißgebadet, aber immerhin kam von irgendwoher ein kühler Lufthauch, dessen stetigen, leisen Strom ich auf meinen nackten Beinen spüren konnte.
Nach einem langen Kampf stand ich endlich aufrecht auf der Teekiste. Ich tastete mit den Fingern so viel von der Wand ab wie möglich, aber sie war zum Wahnsinnigwerden glatt.
Schwerfällig wie eine Elefantenballerina rotierte ich um hundertachtzig Grad, bis ich mit dem Gesicht zur Wand stand. Dann beugte ich mich vor und spürte - vielmehr glaubte ich
Es gab keinen Ausweg, zumindest nicht in dieser Richtung. Ich kam mir vor wie ein Hamster, der in seinem Käfig auf die Leiter gestiegen war und oben erkennen musste, dass er nirgendwohin konnte als wieder runter. Dabei wussten Hamster in ihren kleinen Hamsterherzen bestimmt, dass Flucht sinnlos war; nur wir Menschen sind unfähig, unsere Hilflosigkeit zu akzeptieren.
Also ließ ich mich auf der Teekiste auf die Knie fallen. Wenigstens war es leichter, von ihr runterzusteigen als herauf, obwohl das gesplitterte Holz und etwas, das sich schmerzhaft wie ein schmaler Metallrand rings um den Deckel der Kiste anfühlte, mir ordentlich die nackten Knie aufschrammte. Von dort aus war ich in der Lage, mich seitlich in eine sitzende Stellung zu drehen und die Beine über den Rand zu hieven, bis ich wieder den Grubenboden unter den Füßen spürte.
Wenn ich die Öffnung, durch die die kalte Luft in die Grube wehte, nicht finden konnte, blieb nur ein einziger Fluchtweg: nach oben. Falls es tatsächlich ein Rohr oder irgendeinen Durchlass vom Fluss bis hierherein gab, war er dann groß genug, damit ich durchkriechen konnte? Und selbst wenn, war er vielleicht verstopft und ich würde plötzlich mit dem Gesicht voran wie ein riesiger Blindwurm in völliger Dunkelheit gegen etwas Widerliches stoßen und in der Röhre stecken bleiben, mich nicht mehr vorwärts und auch nicht mehr zurück bewegen können.
Würden meine Knochen in einem zukünftigen England von einem verblüfften Archäologen gefunden werden? Würde ich in einer Vitrine im British Museum ausgestellt und von den Besuchermassen angestarrt werden? Meine Gedanken rasten hin und her, wogen das Pro und Kontra ab.
Aber halt! Ich hatte die Treppe am Ende der Grube vergessen!
In diesem Moment überkam mich etwas, erstickte mein Bewusstsein wie ein Kopfkissen. Ehe ich meine Erschöpfung als das erkennen konnte, was sie war, ehe ich mich dagegen aufbäumen konnte, war ich bereits erledigt. Ich spürte noch, wie ich zwischen den raschelnden Zeitungen zu Boden sank und auf das Papier fiel, das mir trotz der kalten Luft aus dem Durchlass auf einmal erstaunlich warm vorkam.
Ich bewegte mich ein wenig, als wollte ich mich noch tiefer in sie hineingraben, und zog die Knie bis unter das Kinn an. Und schon war ich eingeschlafen.
Ich träumte, Daffy würde zu Weihnachten eine Pantomime aufführen. Die große Eingangshalle auf Buckshaw hatte sich in ein prunkvolles Wiener Theater verwandelt, mit rotem Samtvorhang und einem großen Kristallkronleuchter, in dem die Flammen Hunderter Kerzen hüpften und flackerten.
Dogger, Feely, Mrs Mullet und ich saßen nebeneinander auf Stühlen, während Vater ganz in der Nähe an einer Holzschnitzerbank mit seinen Briefmarken beschäftigt war.
Das Stück war Romeo und Julia, und Daffy spielte in einer bemerkenswerten Eine-Frau-Aufführung sämtliche Rollen. Eben war sie Julia auf dem Balkon (der Absatz oben auf unserer Westtreppe), im nächsten Moment erschien sie, obwohl sie kaum länger als einen Wimpernschlag weg gewesen war, unten im Rang als Romeo.
Sie flitzte hoch und runter, hoch und runter und bewegte unsere Herzen mit Worten von zärtlicher Liebe.
Ab und zu legte Dogger den Zeigefinger an die Lippen und
Mrs Mullet lachte und lachte über Julias alte Amme, wurde ganz rot und warf uns allen merkwürdige Blicke zu, als wäre in den Worten eine verklausulierte Nachricht verborgen, die nur sie verstand. Sie wischte sich mit einem getupften Taschentuch über das rote Gesicht, wrang es in den Händen hin und her, bis sie es zusammenknüllte und in den Mund steckte, um ihr hysterisches Lachen zu ersticken.
Jetzt beschrieb Daffy (als Mercutio), wie Mab, die Zauberfee, galoppiert:
Der Schönen Lippen, die von Küssen träumen -
Oft plagt die böse Mab mit Bläschen diese,
weil ihren Odem Näscherei verdarb.
Ich warf Feely einen verstohlenen Blick zu, die, trotz der Tatsache, dass ihre Lippen aussahen wie etwas, das man auf dem Karren eines Fischhändlers finden mochte, Neds Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Ned saß hinter ihr und beugte sich über ihre Schulter nach vorne, bat mit gespitzten Lippen um einen Kuss. Aber jedes Mal, wenn Daffy als Romeo vom Balkon in den Rang herabhuschte (wobei sie mit dem bleistiftdünnen Oberlippenbart eher wie David Niven in Irrtum im Jenseits als wie der noble Montague aussah), sprang Ned auf und klatschte frenetisch Beifall, begleitet von gellenden Pfiffen, die er mit zwei Fingern produzierte, während Feely ungerührt ein Pfefferminzbonbon nach dem anderen in den Mund warf und erst dann erstaunt die Luft anhielt, als Romeo in Julias Marmorgrab eindrang:
Denn hier liegt Julia: ihre Schönheit macht
Zur lichten Feierhalle dies Gewölb’.
Da lieg begraben, Tod …
Ich erwachte. Verdammt! Etwas rannte mir über die Füße: etwas Nasses und Pelziges.
»Dogger!«, versuchte ich zu schreien, aber mein Mund war voll. Mein Unterkiefer tat weh, und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er gerade vom Henkersblock heruntergezogen worden.
Ich trat mit beiden Füßen aus, und etwas trippelte mit wütendem Zwitschern über das raschelnde Papier.
Eine Wasserratte. Wahrscheinlich wimmelte es in der Grube von ihnen. Hatten sie mich im Schlaf bereits angeknabbert? Allein der Gedanke ließ mich zusammenzucken.
Ich setzte mich mühevoll auf und lehnte mich wieder an die Wand, die Knie unters Kinn gezogen. Es war wohl zu viel erwartet, dass die Ratten meine Fesseln durchknabberten, so wie im Märchen. Eher würden sie mir die Fußgelenke bis zum Knochen abnagen, und ich würde nicht einmal etwas dagegen tun können.
Hör schon auf, Flave, dachte ich. Jetzt nicht die Fantasie mit dir durchgehen lassen.
In der Vergangenheit war es mir schon einige Male passiert, bei der Arbeit im Chemielabor etwa, oder auch abends im Bett, dass ich mich unverhofft bei dem Gedanken ertappte: »Du bist ganz allein mit Flavia de Luce«, was manchmal ein beunruhigender Gedanke war und manchmal nicht. Das in der Grube war eine der unheimlicheren Situationen.
Ich konnte das Trippeln deutlich hören: Etwas raschelte in der Ecke der Grube zwischen den Zeitungen herum. Wenn ich die Beine oder den Kopf bewegte, verstummten die Geräusche einen Augenblick, um kurz darauf wieder einzusetzen.
Wie lange hatte ich geschlafen? Waren es Stunden oder nur
Ich dachte daran, dass die Bücherei bis Dienstagmorgen geschlossen war, und heute war erst Montag. Ich konnte also noch eine ganze Weile hier unten sitzen.
Irgendwann würde mich jemand als vermisst melden, klar, höchstwahrscheinlich Dogger. Konnte ich wirklich darauf hoffen, dass er Pemberton beim unbefugten Betreten von Buckshaw erwischte? Aber selbst wenn er geschnappt wurde, hieß das noch lange nicht, dass ihnen Pemberton verriet, wo er mich versteckt hatte.
Langsam wurden meine Hände und Füße taub. Ich musste an den alten Ernie Forbes denken, dessen Enkel ihn auf einem kleinen Rollbrett über die Hauptstraße ziehen mussten. Ernie hatte im Krieg eine Hand und beide Füße durch Wundbrand verloren, und Feely hatte mir einmal erzählt, dass man ihn …
Lass den Quatsch, Flave! Sei gefälligst nicht so ein elender Jammerlappen!
Denk an etwas anderes. An irgendwas.
Zum Beispiel an … Rache?