26

Es war Pemberton. Als ich seine Stimme hörte, blieb mir fast das Herz stehen. Was meinte er mit: »Und jetzt zu Flavia«? Hatte er Daffy bereits etwas Schreckliches angetan? Oder Feely? Oder … Dogger?

Noch ehe ich mir Einzelheiten ausmalen konnte, packte er meinen Oberarm mit einem lähmenden Griff, wobei er mir wie schon vorher den Daumen grob in den Muskel bohrte. Ich versuchte zu schreien, kriegte aber keinen Ton heraus. Beinahe hätte ich brechen müssen.

Ich schüttelte heftig den Kopf, aber er ließ mich erst nach einer halben Ewigkeit los.

»Aber zuerst müssen Frank und Flavia sich ein bisschen unterhalten«, sagte er in einem so netten, plauderhaften Ton, als spazierten wir gemeinsam durch den Park, und in diesem Augenblick wurde mir erst so richtig klar, dass ich hier ganz allein mit einem Verrückten in meinem persönlichen schwarzen Loch von Kalkutta saß.

»Ich nehme dir jetzt die Jacke vom Kopf, verstanden?«

Ich stand einfach nur wie versteinert da.

»Hör mir gut zu, Flavia. Wenn du nicht genau das tust, was ich dir sage, bringe ich dich um. So einfach ist das. Hast du mich verstanden?«

Ich nickte kurz.

»Gut. Und jetzt keinen Ton mehr.«

Ich spürte, wie er grob an den Knoten herumriss, die er in seine Jacke gemacht hatte, und im nächsten Augenblick

Der Strahl seiner Taschenlampe traf mich wie ein Hammerschlag und blendete mich brutal.

Erschrocken wich ich zurück. Blitzende Sterne und schwarze Flecken durchzuckten abwechselnd mein Gesichtsfeld. Ich war so lange im Dunkeln gewesen, dass sogar das Licht eines einzigen Streichholzes quälend gewesen wäre. Pemberton leuchtete mir aber mit einer kräftigen Taschenlampe direkt und absichtlich in die Augen.

Da ich mir nicht die Hände schützend vors Gesicht halten konnte, blieb mir nur, den Kopf zur Seite zu drehen, die Augenlider zusammenzupressen und zu warten, bis die Übelkeit wieder verging.

»Tu weh, hm?«, fragte er. »Aber das ist gar nichts gegen das, was ich mit dir anstelle, wenn du mich noch einmal anlügst.«

Ich machte die brennenden Augen auf und versuchte, mich auf eine dunkle Ecke der Grube zu konzentrieren.

»Sieh mich an!«, verlangte er.

Ich drehte den Kopf und blinzelte ihn mit einer höchstwahrscheinlich ziemlich grässlichen Grimasse an. Ich sah nichts von dem Mann hinter der runden Linse seiner Taschenlampe, deren grausamer Strahl sich mir immer noch wie eine riesenhafte weiße Wüstensonne ins Gehirn brannte.

Er ließ sich sehr viel Zeit dabei, den gleißenden Strahl weg von mir und auf den Boden zu richten. Irgendwo hinter dem Licht war er nicht mehr als eine Stimme in der Dunkelheit.

»Du hast mich angelogen.«

Meine Antwort bestand aus einer Art Achselzucken.

»Du hast mich angelogen«, wiederholte Pemberton jetzt lauter, und dieses Mal nahm ich die Anspannung in seiner Stimme deutlich wahr. »In dieser Uhr war außer der Penny Black nichts versteckt.«

Also war er tatsächlich auf Buckshaw gewesen! Mein Herz flatterte wie ein Vogel im Käfig.

»Mngg«, sagte ich.

Pemberton dachte ein paar Sekunden darüber nach, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.

»Ich nehme dir das Taschentuch aus dem Mund, aber zuerst will ich dir etwas zeigen.«

Er hob seine Tweedjacke vom Boden auf, fasste in die Tasche und zog einen glänzenden Gegenstand aus Glas und Metall heraus. Bonepennys Spritze! Er hielt sie vor mich, damit ich sie genau betrachten konnte.

»Die hast du doch gesucht, oder? Im Gasthaus und in eurem Garten! Dabei ist sie die ganze Zeit hier in meiner Jacke gewesen!«

Er lachte schnaubend wie ein Schwein durch die Nase und setzte sich auf die Treppe. Dort klemmte er sich die Taschenlampe zwischen die Knie, hielt die Spritze senkrecht nach oben und kramte wieder in seiner Jacke herum, bis er eine kleine braune Flasche herauszog. Ich hatte kaum Zeit, das Etikett zu lesen, da nahm er schon den Verschluss ab und befüllte rasch die Spritze damit.

»Ich denke mal, du weißt, was das hier ist, Fräulein Schlaumeier?«

Unsere Blicke begegneten sich, aber ich ließ nicht erkennen, ob ich ihn gehört hatte.

»Und denk ja nicht, dass ich nicht genau weiß, wie und wohin man das hier injiziert. Schließlich habe ich nicht umsonst so viele Stunden im Sezierraum in London zugebracht. Nachdem ich den alten Bony bewusstlos geschlagen hatte, war die eigentliche Injektion beinahe lächerlich einfach: ein bisschen schräg halten beim Einstechen, dann durch splenius capitus und semispinalis capitis, das Band zwischen Atlas und Axis punktieren und dann die Nadel über den Wirbelbogen schieben. Und - zack! - schon gehen die Lichter aus! Fast sofort

Genau wie ich gefolgert hatte! Ich wusste genau, wie er es getan hatte! Der Mann war komplett verrückt.

»Jetzt hör zu«, sagte er. »Ich nehme dir das Taschentuch aus dem Mund, und du sagst mir, was du mit den Rächern von Ulster gemacht hast. Ein falsches Wort … eine falsche Bewegung, und …«

Er hielt mir die Spritze fast bis an die Nase und drückte leicht auf den Kolben. Ein paar Tropfen Tetrachlorkohlenstoff zeigten sich einen Moment lang wie Tau auf der Nadelspitze und tropften dann auf den Boden. Meine Nase nahm den vertrauten Duft sofort wahr.

Pemberton legte die Taschenlampe auf die Treppe und richtete ihren Strahl so aus, dass sie mir ins Gesicht leuchtete. Die Spritze legte er daneben.

»Mund auf«, sagte er.

Dabei schoss mir Folgendes durch den Kopf: Er würde mir Daumen und Zeigefinger in den Mund stecken, um das Taschentuch herauszuholen. Ich würde zubeißen, so fest ich konnte, und sie ihm einfach abbeißen!

Aber was dann? Ich war immer noch an Händen und Fü ßen gefesselt, und selbst wenn ich ihn schlimm erwischte, war Pemberton immer noch in der Lage, mich ganz einfach umzubringen.

Ich öffnete meine schmerzenden Kiefer ein bisschen.

»Weiter auf«, sagte er und wartete noch. Dann stießen seine Finger blitzschnell vor und zogen mir das durchtränkte Taschentuch aus dem Mund. Einen Moment befand sich der Schatten seiner Hand vor dem Licht der Taschenlampe, sodass er das, was ich sah, nicht sehen konnte: ein kurzes orangefarbenes Aufblitzen, als das nasse Knäuel in der Dunkelheit auf den Boden fiel.

»Danke«, flüsterte ich heiser und machte meinen ersten Zug in dieser zweiten Partie unseres Spiels.

Pemberton wirkte verblüfft.

»Jemand muss sie gefunden haben«, krächzte ich. »Die Briefmarken, meine ich. Ich habe sie in der Uhr versteckt, ich schwöre es.«

Ich wusste sofort, dass ich zu weit gegangen war. Aber wenn ich die Wahrheit sagen würde, hätte Pemberton keinen Grund mehr gehabt, mich am Leben zu lassen. Ich war die Einzige, die wusste, dass er der Mörder war.

»Es sei denn …«, fügte ich eilig hinzu.

»Es sei denn was? Was?«

Er stürzte sich auf die Worte wie ein Schakal auf eine verwundete Antilope.

»Meine Füße«, jammerte ich. »Es tut so weh. Ich kann nicht … machen Sie es doch bitte lockerer … wenigstens ein bisschen lockerer.«

»Na schön«, sagte er erstaunlicherweise sofort. »Aber deine Hände bleiben gefesselt. Damit kommst du auch nicht weit.«

Ich nickte eifrig.

Pemberton ging in die Knie und löste seine Gürtelschnalle. Als der Lederriemen von meinen Knöcheln fiel, nahm ich all meine Kraft zusammen und trat ihm in die Zähne.

Sein Kopf flog nach hinten und knallte gegen den Beton, und ich hörte etwas Gläsernes auf den Boden fallen und in die Ecke rollen. Pemberton rutschte langsam an der Wand herunter, bis er saß, während ich auf die Treppe zuhumpelte.

Dann ging ich hinauf … eine Stufe … zwei … meine schwerfälligen Füße traten gegen die Taschenlampe, die kreiselnd auf den Grubenboden fiel, wo sie liegen blieb und einen von Pembertons Schuhen anstrahlte.

Drei … vier … Meine Füße fühlten sich an wie an den Knöcheln abgehackte Stummel.

Fünf …

Jetzt musste mein Kopf eigentlich schon über den Rand der Grube hinausragen. Falls ja, lag der ganze Raum in schwärzester Dunkelheit. Es musste Nacht sein. Demnach hatte ich mehrere Stunden geschlafen.

Während ich versuchte, mich daran zu erinnern, in welcher Richtung die Tür lag, fing es in der Grube an zu scharren. Der Strahl der Taschenlampe fingerte über die Decke und plötzlich war Pemberton auf der Treppe und stand hinter mir.

Er warf die Arme um mich und quetschte mich dermaßen zusammen, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ich hörte die Knochen in meinen Schultern und Ellenbogen knacken.

Ich versuchte, gegen seine Schienbeine zu treten, aber er hatte mich rasch überwältigt.

Wie zwei Kreisel taumelten wir in dem Raum von einer Seite zur anderen.

»Nein!«, schrie er auf, verlor das Gleichgewicht, fiel rückwärts wieder in die Grube und riss mich mit sich.

Er schlug mit einem widerlich dumpfen Geräusch auf dem harten Boden auf, und fast im gleichen Moment prallte ich auf ihn. Ich hörte ihn in der Dunkelheit keuchen. Hatte er sich das Rückgrat gebrochen? Oder würde er sich gleich wieder aufrappeln und mich wieder wie eine leblose Puppe schütteln?

Pemberton schleuderte mich mit einer Kraft, die ich ihm nicht zugetraut hätte, von sich, und ich flog, mit dem Gesicht nach unten, in eine Ecke der Grube. Wie eine Raupe wand und schlängelte ich mich verzweifelt wieder auf, aber es war zu spät: Pemberton packte mich grob am Arm und zog mich in Richtung Treppe.

Es war beinahe zu einfach: Er ging in die Hocke, hob die Taschenlampe auf und streckte die Hand nach den Stufen aus. Ich hatte gedacht, die Spritze sei auf den Boden gefallen, aber ich musste wohl die Flasche gehört haben, denn kurz darauf sah ich aus dem Augenwinkel die Spritze in seiner Hand, und dann spürte ich einen Stich im Nacken.

Mein einziger Gedanke war der, Zeit zu gewinnen.

»Sie haben Professor Twining ermordet, stimmt’s?«, keuchte ich. »Sie und Bonepenny.«

Damit schien ich ihn kalt zu erwischt zu haben, denn ich spürte, wie sich sein Griff lockerte.

»Wie kommst du denn darauf?«, keuchte er mir ins Ohr.

»Es war Bonepenny da oben auf dem Dach«, sagte ich. »Bonepenny hat Vale! gerufen. Er hat Mr Twinings Stimme nachgemacht. Und Sie haben Mr Twining durch das Loch hinabgestoßen.«

Pemberton atmete laut schnaufend durch die Nase ein.

»Hat dir das Bonepenny erzählt?«

»Ich habe die Robe und das Barett gefunden«, erwiderte ich. »Unter den Ziegeln. Da bin ich ganz von allein draufgekommen.«

»Du bist ein sehr kluges Mädchen«, sagte er, fast bedauernd.

»Und jetzt, nachdem Sie Bonepenny ermordet haben, gehören die Briefmarken Ihnen. Jedenfalls dann, wenn Sie wüssten, wo sie sind.«

Das schien ihn wütend zu machen. Er drückte meinen Arm fester zusammen und bohrte mir wieder den Daumen in den Oberarmmuskel. Ich schrie vor Schmerz laut auf.

»Fünf Worte, Flavia«, zischte er: »Wo sind meine verdammten Briefmarken?«

In der langen Stille, die darauf folgte, und unter einem beinahe betäubenden Schmerz, suchte mein Verstand sein Heil in der Flucht.

Wird das Flavias Ende sein?, fragte ich mich.

Wenn ja, wachte Harriet über mich? Vielleicht saß sie in diesem Augenblick auf einer Wolke, ließ die Füße über den Rand baumeln und sagte: »Aber nein, Flavia! Tu das nicht! Sag das nicht! Vorsicht, Flavia! Gefahr!«

Falls es so sein sollte, konnte ich sie leider nicht hören. Vielleicht war ich ja doch viel weiter von Harriet entfernt als Feely

Es war schon sehr traurig, dass ich von Harriets drei Kindern das einzige war, das keine richtige Erinnerung an sie hatte. Feely hatte wie ein Geizkragen acht Jahre Mutterliebe erfahren und gehortet. Und Daffy behauptete steif und fest, sie könne sich, obwohl sie bei Harriets Verschwinden noch nicht einmal drei Jahre alt gewesen war, noch sehr genau an eine schlanke, lachende junge Frau erinnern, die ihr ein gestärktes Kleid angezogen, ein Hütchen aufgesetzt und sie dann auf eine Decke auf der sonnenüberfluteten Wiese gesetzt habe, woraufhin sie mit einer Klappkamera ein Foto von ihr gemacht und ihr anschließend eine saure Gurke gegeben habe.

Der nächste Stich holte mich in die Wirklichkeit zurück. Die Nadel hatte fast meinen Hirnstamm erreicht.

»Die Rächer von Ulster. Wo sind sie?«

Ich zeigte mit dem Finger in die Ecke der Grube, wo das Taschentuch zusammengeknüllt im Dunkeln lag. Als der Strahl von Pembertons Taschenlampe in die besagte Richtung tanzte, schaute ich weg, und dann richtete ich den Blick nach oben, so wie es angeblich die Heiligen von früher getan haben, wenn sie auf himmlische Errettung hofften.

Ich hörte es, bevor ich es sah. Es war eine dumpfes, wirbelndes Geräusch, als flatterte draußen vor dem Schuppen ein riesenhafter mechanischer Pterodaktylus herum. Kurz darauf krachte es fürchterlich, und ein Regen aus Glassplittern prasselte auf uns herab.

Der Raum über uns, oberhalb des Grubenrandes, explodierte in grell gleißendem, gelbem Licht, durch das Dampfwolken hindurchwehten wie kleine, schnaufende Seelen der Verstorbenen.

Ich stand da wie angewurzelt und starrte die eigenartig vertraute Erscheinung an, die bebend und ratternd über der Grube hockte.

Ich bin übergeschnappt, dachte ich. Ich bin völlig verrückt geworden.

Direkt über meinem Kopf befand sich, zitternd wie ein lebendiges Wesen, der Unterboden von Harriets Rolls-Royce.

Ehe ich auch nur blinzeln konnte, hörte ich, wie seine Türen aufgingen und Füße über mir auf den Garagenboden traten.

Pemberton machte einen Satz zur Treppe und kroch wie eine in die Enge getriebene Ratte hinauf. Oben angekommen, versuchte er verzweifelt, sich zwischen Grubenrand und vorderem Stoßdämpfer des Phantom durchzuquetschen.

Eine körperlose Hand erschien, packte ihn am Kragen und zog ihn aus der Grube heraus wie einen Fisch aus einem Teich. Seine Schuhe verschwanden im Licht über mir, und ich hörte eine Stimme - Doggers Stimme! - sagen: »Entschuldigen Sie, das war mein Ellenbogen.«

Ein widerlich knirschendes Geräusch ertönte, dann plumpste etwas über mir auf den Boden wie ein Sack Steckrüben.

Ich war immer noch völlig benommen, als die Erscheinung wie aus dem Nichts vor mir auftauchte. Sie war ganz weiß, schob sich ohne Mühe durch den schmalen Spalt zwischen Chrom und Beton und stieg dann flatternd in die Grube herab.

Als das Wesen seine Arme um mich warf und an meiner Schulter zu schluchzen anfing, spürte ich, dass sein dünner Körper wie ein Blatt zitterte.

»Dummes kleines Ding! Du dummes kleines Ding!«, weinte es wieder und wieder und drückte seine rauen roten Lippen gegen meinen Hals.

»Feely!« Ich war völlig erstaunt. »Du machst dir ja dein bestes Kleid ganz dreckig!«

Außerhalb der Garage, in der Cow Lane, ging es zu wie in einem Wachtraum: Feely kniete heulend vor mir und hatte die Arme fest um mich geschlungen. Einen Augenblick lang

Und dann schienen sämtliche Bewohner von Bishop’s Lacey plötzlich wie von Zauberhand aufzutauchen, kamen langsam aus der Dunkelheit auf uns zu, gluckten wie bei einer Dorfversammlung in der von Taschenlampen beschienenen Szene rings um das Loch zusammen, das dort klaffte, wo sich einmal die Tür zur Garage befunden hatte. Sie erzählten einander, was sie gerade getan hatten, als das entsetzlich laute Krachen das ganze Dorf aufgeschreckt hatte. Es war wie eine Szene aus dem Musical Brigadoon, wenn das Dorf alle hundert Jahre für jeweils nur einen Tag zum Leben erwacht.

Harriets Phantom, dessen herrlicher Kühlergrill, nachdem er als Rammbock missbraucht worden war, ziemlich perforiert aussah, stand jetzt still vor sich hindampfend vor der Garage und ließ Wasser durch ein Leck auf den staubigen Boden rinnen. Einige der kräftigeren Dorfbewohner, darunter auch Tully Stoker, wie mir auffiel, hatten den schweren Wagen rückwärts herausgeschoben, damit Feely und ich aus der Grube stiegen und in das Licht seiner unbarmherzig grellen großen runden Scheinwerfer treten konnten.

Feely war jetzt wieder auf den Beinen, klammerte sich aber immer noch an mir fest wie eine Napfschnecke an einem Kriegsschiff und plapperte aufgeregt vor sich hin.

»Wir sind ihm gefolgt, weißt du, Dogger wusste, dass du noch nicht nach Hause gekommen warst, und als er jemanden ums Haus herumschleichen sah …«

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viele aufeinanderfolgende Worte an mich gerichtet, und ich kostete jedes einzelne davon aus.

»Er hat natürlich die Polizei angerufen, dann hat er gesagt, wenn wir diesen Mann verfolgen … wenn wir die Scheinwerfer

Der gute alte leise Roller, dachte ich. Trotzdem würde Vater wohl sehr wütend werden, wenn er den Schaden sah.

Miss Mountjoy stand ein wenig abseits, zog sich den Wollschal fest um die Schultern und starrte missbilligend auf den zersplitterten Höhleneingang, der einmal das Tor zur Garage gewesen war. Ihre Miene erweckte den Eindruck, als sei eine derartig rücksichtslose Entweihung von Bibliothekseigentum mehr als nur ein Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich suchte ihren Blick, aber sie schaute ängstlich in Richtung ihres Häuschens, als hätte sie für einen Abend schon genug Aufregung gehabt und wollte sich deshalb allmählich wieder auf den Heimweg machen.

Auch Mrs Mullet war da, mit einem kleinen dicken Rollmops von einem Mann, der sie sichtlich im Zaum hielt. Das musste Alf, ihr Mann, sein, und er war ganz und gar nicht der Spargeltarzan, als den ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Wäre sie allein da gewesen, hätte sich Mrs M garantiert nach vorne gedrängelt, die Arme um mich geworfen und laut geweint, aber Alf schien ein instinktsicheres Gefühl dafür zu haben, dass öffentliche Zurschaustellungen von Vertrautheit in dieser Situation nicht angebracht waren. Als ich sie kurz anlächelte, tupfte sie mit der Fingerspitze an einem Auge herum.

In diesem Moment erschien Dr. Darby am Ort des Geschehens, und zwar wie immer so, als wäre er gerade bei einem kleinen Abendspaziergang. Trotz seines lässigen Auftretens fiel mir sofort auf, dass er seine schwarze Arzttasche dabeihatte. Seine Praxis mit angeschlossenem Wohnhaus lag gleich um die Ecke auf der Hauptstraße, weshalb auch er das splitternde Holz und das berstende Glas gehört haben musste. Jetzt betrachtete er mich aufmerksam von Kopf bis Fuß.

»Alles klar, Flavia?«, fragte er und beugte sich kurz vor, um sich meine Augen genauer anzusehen.

»Alles bestens, Dr. Darby, danke der Nachfrage«, sagte ich freundlich. »Und bei Ihnen?«

Er griff nach seinen Gletschereisbonbons. Noch ehe die Papiertüte halb aus seiner Tasche heraus war, lief mir der Speichel im Mund zusammen wie bei einem Hund: Nach der stundenlangen Gefangenschaft mit Knebel hatte ich einen absolut widerlichen Geschmack im Mund.

Dr. Darby kramte kurz in seinen Bonbons herum, wählte sorgfältig das seiner Meinung nach verlockendste aus und warf es sich in den Mund. Kurz darauf befand er sich schon wieder auf dem Heimweg.

Der kleine Menschenauflauf bildete eine Gasse für ein Automobil, das aus der Hauptstraße in die Cow Lane einbog. Als es neben der Steinmauer abrupt zum Stehen kam, strahlten seine Scheinwerfer zwei Gestalten an, die gemeinsam unter einer Eiche standen: Mary und Ned. Sie kamen nicht näher, sondern grinsten mich nur verlegen an.

Ob Feely sie schon gesehen hatte? Wahrscheinlich nicht, denn sie plapperte immer noch tränenreich auf mich ein und erzählte mir von der Rettungsaktion. Falls sie die beiden entdeckte, würde ich womöglich schon bald die Schiedsrichterin bei einem Faustkampf sein und bis zu den Knien in ausgerissenen Haaren stehen. Daffy hatte mir einmal gesagt, dass immer dann, wenn es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kommt, normalerweise die Tochter des Gutsbesitzers den ersten Schlag anbringt, und niemand weiß besser als ich, dass Feely durchaus das Zeug dazu hat. Trotzdem sage ich nicht ohne Stolz, dass ich trotz der Umstände die Geistesgegenwart und den Mut aufbrachte, Ned heimlich mit erhobenem Daumen meinen Glückwunsch zu signalisieren.

Eine Tür im Fond des Vauxhall ging auf, und Inspektor Hewitt kletterte heraus. Zur gleichen Zeit entfalteten sich die

Sergeant Woolmer ging mit raschen Schritten auf Dogger zu, der Pemberton mit einem komplizierten und schmerzhaft aussehenden Griff festhielt, bei dem Pemberton aussah wie ein nach vorne gebeugter Atlas, der das Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt.

»Ich übernehme ihn, Sir«, sagte Sergeant Woolmer, und kurz darauf glaubte ich das Klicken vernickelter Handschellen zu hören.

Dogger sah zu, wie Pemberton auf das Polizeiauto zuschlurfte, dann drehte er sich um und kam langsam auf mich zu. Bevor er mich erreicht hatte, flüsterte mir Feely noch aufgeregt ins Ohr: »Dogger ist auf die Idee gekommen, den Royce mit der Traktorbatterie anzulassen. Vergiss nicht, dich bei ihm dafür zu bedanken.«

Dann gab sie meine Hand frei und ließ von mir ab.

Dogger stand vor mir und ließ die Hände ein wenig hilflos herunterhängen. Hätte er einen Hut gehabt, er hätte ihn bestimmt in den Händen gedreht. Da standen wir also und sahen einander an.

Ich wollte nicht damit anfangen, ihm wegen der Batterie zu danken. Ich wollte lieber gleich die richtigen Worte finden: denkwürdige Worte, über die man noch einige Jahre in ganz Bishop’s Lacey sprechen würde.

Eine dunkle Silhouette, die sich vor die Scheinwerfer des Vauxhall schob, lenkte meine Aufmerksamkeit jedoch ab, denn sie warf ihren Schatten über mich und Dogger. Dort stand eine vertraute Gestalt wie ein Scherenschnitt im grellen Licht: Vater.

Langsam, beinahe schüchtern setzte er sich in Bewegung, kam auf mich zu. Als er erkannte, dass Dogger neben mir stand, blieb er stehen, als wäre ihm gerade etwas absolut Lebenswichtiges

Miss Cool, die Postmeisterin, nickte mir freundlich zu, hielt sich aber zurück, als sei ich irgendwie eine andere Flavia als diejenige, die - war das erst vor zwei Tagen gewesen? - in ihrem Laden für einen Shilling Sixpence Süßigkeiten gekauft hatte.

»Feely«, sagte ich und drehte mich zu ihr um. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Geh doch mal rasch in die Grube und bring mir mein Taschentuch. Pass aber auf, dass du auch das mitbringst, was darin eingewickelt ist. Dein Kleid ist sowieso schon schmutzig. Sei doch bitte so gut.«

Feelys Unterkiefer klappte ungefähr einen Meter herunter, und ich befürchtete schon, dass sie mir gleich ins Gesicht schlagen würde. Ihr ganzes Gesicht wurde so rot wie ihre Lippen, aber dann machte sie plötzlich auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit der Garage.

Ich wandte mich wieder an Dogger, um meine schon bald als Klassiker weitererzählten Worte an ihn zu richten, aber er war schneller als ich.

»Meine liebe Miss Flavia«, sagte er leise, »es sieht ganz so aus, als sollte es doch noch ein ganz reizender Abend werden, findest du nicht?«

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