Es war wasserdicht. Niemand hätte etwas anderes beweisen können.
Ich würde behaupten, ich sei mitten in der Nacht durch ein verdächtiges Geräusch draußen vor dem Haus wach geworden. Ich sei die Treppe hinunter- und in den Garten hinausgegangen, wo ich von einem Mann, der ums Haus herumschlich, bedrängt worden sei, einem Einbrecher womöglich, der es auf Vaters Briefmarken abgesehen hatte. Nach kurzem Kampf hätte ich ihn überwältigt.
Halt mal, Flave, jetzt nicht übertreiben: Horace Bonepenny war über eins achtzig groß und hätte mich mühelos zwischen Daumen und Zeigefinger erdrosseln können. Nein, wir hatten miteinander gerungen, und dann war er tot umgekippt. Vielleicht hatte er ja ein schwaches Herz in der Folge einer längst vergessenen Kinderkrankheit. Oder er litt meinetwegen an rheumatischem Fieber. Ja, das war’s. Verschleppte Herzmuskelschwäche, wie bei Beth in Vier Schwestern. Ich richtete ein Stoßgebet an den heiligen Tankred und bat um ein Wunder. Bitte, lieber Tankred, mach, dass die Autopsie meine Flunkerei bestätigt.
»Ich habe Horace Bonepenny umgebracht«, wiederholte ich, als würde es glaubhafter, wenn ich es zweimal sagte.
Inspektor Hewitt holte tief Luft und atmete bedächtig aus. »Dann erzähl mal.«
»Ich habe nachts ein Geräusch gehört und bin raus in den Garten, und dann hat mich jemand angefallen.«
»Halt. Aus welcher Richtung kam der Betreffende?«
»Er kam hinter dem Geräteschuppen hervor. Ich wollte mich losreißen, da hat er auf einmal ganz komisch geröchelt, als hätte er eine Herzmuskelschwäche, weil er als Kind an rheumatischem Fieber gelitten hat oder etwas Ähn lichem.«
»Aha«, sagte Inspektor Hewitt. »Und was hast du dann gemacht?«
»Ich bin wieder reingegangen und habe Dogger geholt. Alles Übrige wissen Sie ja schon.«
Moment mal … ich wusste zwar, dass Dogger dem Inspektor nicht von dem Streit zwischen Vater und Horace Bonepenny erzählt hatte, den wir gemeinsam belauscht hatten, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Dogger dem Inspektor erzählt hatte, dass ich ihn um vier Uhr morgens geweckt hätte, ohne dabei zu erwähnen, dass ich jemanden umgebracht hatte. Oder?
Ich musste Zeit schinden und das Ganze noch einmal überdenken.
»Sich gegen einen Angreifer zu wehren, ist noch kein Mord«, sagte der Inspektor.
»Nein«, erwiderte ich, »aber das ist ja auch noch nicht alles.«
Ich ging in Windeseile meine geistigen Karteikarten durch: noch unbekannte Gifte (zu langsam); tödliche Hypnose (dito); geheime und unerlaubte Jiu-Jitsu-Griffe (unwahrscheinlich, zu schwierig zu erklären). Mir dämmerte, dass es gar nicht so leicht war, ein Märtyrer zu sein. Schlagfertig zu sein genügte nicht, hier war echtes Genie gefragt.
»Es ist mir zu peinlich«, setzte ich rasch hinzu.
Im Zweifelsfall immer auf Gefühle zurückgreifen!, dachte ich, und war sehr stolz auf mich, dass mir das eingefallen war.
»Hmmm«, machte der Inspektor. »Lassen wir es für heute gut sein. Hast du Dogger erzählt, dass du den nächtlichen Eindringling umgebracht hast?«
»Ich glaube nicht. Dafür war ich viel zu aufgeregt.«
»Hast du es ihm irgendwann danach erzählt?«
»Nein. Ich dachte, das verkraften seine Nerven nicht.«
»Tja, das ist ja alles sehr interessant«, sagte Inspektor Hewitt, »aber die Einzelheiten sind doch ein wenig dürftig.«
Ich begriff, dass ich am Rand eines Abgrunds stand. Nur noch einen Schritt weiter, und es würde kein Zurück mehr geben.
»Da ist noch etwas, aber …«
»Aber?«
»Ich sage kein Wort mehr, wenn Sie mich nicht mit meinem Vater sprechen lassen.«
Inspektor Hewitt sah aus, als wollte er etwas schlucken, was nicht richtig rutschen wollte. Er machte den Mund auf und wieder zu. Er schluckte schwer, dann tat er etwas, wofür ich ihn ehrlich bewunderte und das ich mir für meine eigene Trickkiste merken musste: Er holte sein Taschentuch heraus und verbarg seine Verblüffung hinter einem vorgetäuschten Niesen.
»Und zwar unter vier Augen«, ergänzte ich.
Der Inspektor putzte sich laut prustend die Nase und trat wieder ans Fenster, wo er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ins Unbestimmte blickte. Mittlerweile kannte ich das schon und wusste, dass er angestrengt nachdachte.
»Na schön«, sagte er unvermittelt. »Komm mit!«
Ich sprang eifrig vom Stuhl und folgte ihm. An der Tür versperrte er mir mit dem Arm den Weg in den Flur, drehte sich um und ließ die andere Hand sanft wie eine Feder auf meine Schulter schweben.
»Ich mache jetzt etwas, das ich vielleicht noch einmal bitter bereuen werde«, verkündete er. »Ich setze meine Karriere aufs Spiel. Lass mich bloß nicht hängen, Flavia. Lass mich bloß nicht hängen.«
»Flavia!«, rief Vater erstaunt aus. Dann verdarb er alles, indem er sagte: »Bringen Sie das Kind weg, Inspektor, ich bitte Sie. Bringen Sie meine Tochter weg.«
Er wandte sich von mir ab und drehte sich zur Wand.
Die Tür zur Arrestzelle war zwar gelblich lackiert, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie aus Metall war. Nachdem der Inspektor aufgeschlossen hatte, sah ich, dass die Zelle nicht größer war als ein kleines Büro mit Pritsche zum Herunterklappen und einer überraschend sauberen Spüle. Gnädigerweise hatte man Vater nicht in einen dieser vergitterten Käfige gesteckt, die ich zuvor erblickt hatte.
Inspektor Hewitt nickte mir kurz zu, als wollte er sagen: »Jetzt liegt’s an dir!«, dann ging er hinaus und schloss leise die Tür. Ich hörte keinen Schlüssel, der sich im Schloss drehte, und auch keinen Riegel, der vorgeschoben wurde, allerdings blitzte und donnerte es auf einmal draußen, weshalb ich es vielleicht nur überhört hatte.
Vater hatte offenbar angenommen, der Inspektor hätte mich wieder mitgenommen, denn als er sich umdrehte, fuhr er erschrocken zusammen.
»Geh nach Hause, Flavia«, sagte er.
Obwohl er so kerzengerade dastand, als hätte er einen Spazierstock verschluckt, klang er alt und müde. Er spielte anscheinend den unverwüstlichen Briten, der durch nichts zu erschüttern ist, und es versetzte mir einen Stich, als ich merkte, dass ich ihn dafür liebte und zugleich verabscheute.
Ich zeigte zum Fenster. »Es regnet.« Draußen tobte wieder ein Wolkenbruch wie schon zuvor am Tempelchen, und wieder rauschte der Regen so heftig nieder, dass man die dicken Tropfen wie Schrotkugeln auf das Fensterbrett prasseln hörte. In einem Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite schüttelte sich eine Saatkrähe aus wie ein nasser Regenschirm.
»Ich kann erst nach Hause, wenn es aufgehört hat. Außerdem hat jemand Gladys geklaut.«
»Gladys?« Sein Blick glich dem eines ausgestorbenen Lebewesens aus der Tiefsee, das aus unergründlichen Tiefen an die Oberfläche geschwommen und aufgetaucht war.
»Mein Fahrrad.«
Er nickte geistesabwesend, und ich wusste, dass er überhaupt nicht zuhörte.
»Wer hat dich hergebracht?«, fragte Vater. »Er?« Er zeigte mit dem Daumen auf die Tür und meinte offenbar Inspektor Hewitt.
»Ich bin allein hergekommen.«
»Allein? Aus Buckshaw?«
»Ja.«
Das war anscheinend zu viel für ihn, denn er drehte sich wieder zum Fenster. Mir fiel unweigerlich auf, dass er die gleiche Haltung wie Inspektor Hewitt einnahm und ebenfalls die Hände auf dem Rücken verschränkte.
»Allein. Aus Buckshaw«, wiederholte er schließlich, als wäre er gerade eben draufgekommen.
»Ja.«
»Und Daphne und Ophelia?«
»Denen geht’s gut«, versicherte ich ihm. »Du fehlst ihnen schrecklich, klar, aber sie kümmern sich um alles, bis du wiederkommst.«
Wenn ich gelogen hab, bring ich Mama ins Grab.
Das sangen die kleinen Mädchen manchmal, wenn sie auf dem Kirchhof Seil sprangen. Meine Mama war ja schon tot, also konnte mir in dieser Hinsicht nicht viel passieren. Und wer weiß? Vielleicht habe ich ja deshalb beim lieben Gott etwas gut.
»Bis ich wiederkomme?«, wiederholte Vater schließlich, und ein Seufzer entrang sich ihm. »Das dürfte wohl nicht so bald sein. Nein … ganz bestimmt nicht.«
An der Wand neben dem vergitterten Fenster hing ein Kalender von einem Gemüsehändler aus Hinley, mit König Georg und Königin Elisabeth drauf, jeder in einem eigenen ovalen Rahmen und so gekleidet, als hätte sie der Fotograf zufällig auf dem Weg zum Kostümball im Schloss eines bayerischen Prinzen angetroffen.
Vater warf einen flüchtigen Blick auf den Kalender und fing an, ruhelos auf und ab zu gehen, wobei er tunlichst vermied, mich anzusehen. Ja, er schien mich ganz vergessen zu haben und summte nur unregelmäßig vor sich hin, ab und zu unterbrochen von entrüstetem Schniefen, als verteidigte er sich vor einem unsichtbaren Tribunal.
»Ich habe soeben gestanden«, verkündete ich.
»Ja, ja.« Vater ging weiter summend und brummelnd auf und ab.
»Ich habe Inspektor Hewitt gestanden, dass ich Horace Bonepenny umgebracht habe.«
Vater blieb so unvermittelt stehen, als wäre er in ein Schwert gelaufen. Er drehte sich um und heftete den gefürchteten starren Blick aus seinen blauen Augen auf mich, dessen er sich im Umgang mit seinen Töchtern oft und gern bediente.
»Was weißt du über Horace Bonepenny?«, fragte er in eisigem Ton.
»Ehrlich gesagt: so einiges.«
Dann sank er auf einmal in sich zusammen, ganz plötzlich, als hätte ihm jemand die Luft abgelassen. Eben hatte er noch die Wangen aufgepustet wie die Darstellungen der Winde auf mittelalterlichen Weltkarten, im nächsten Augenblick war sein Gesicht hager und eingefallen wie das eines Pferdehändlers. Er setzte sich auf den Rand der Pritsche und stützte sich mit einer Hand ab.
»Ich habe euren Streit mit angehört«, gestand ich. »Tut mir leid, dass ich an der Tür gelauscht habe. Es war keine Absicht, aber ich habe mitten in der Nacht Stimmen gehört und bin
Diesmal drang ich zu Vater durch.
»Ihn umgebracht? Was soll das heißen, du hast ihn umgebracht?«
»Ich wollte nicht, dass sie rauskriegen, dass du es warst.«
»Ich?« Vater sprang auf wie von der Tarantel gestochen. »Gütiger Himmel! Wie kommst du auf die Idee, ich hätte jemanden umgebracht?«
»Ist schon gut«, beschwichtigte ich ihn. »Der Bursche hat es bestimmt verdient. Ich erzähl es nicht weiter, versprochen.«
Ich legte die rechte Hand aufs Herz und hob die Linke zum Schwur. Vater sah mich so ungläubig an, als wäre ich ein glitschiges Ungeheuer, das einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen ist.
»Bitte glaub mir, Flavia«, sagte er, »so gern ich es auch getan hätte, aber ich habe Horace Bonepenny nicht umgebracht!«
»Ehrlich nicht?«
Ich konnte es kaum glauben. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mein Vater ein Mörder war, da kostete es mich doch beträchtliche Überwindung, mir einzugestehen, dass ich mich geirrt hatte.
Immerhin fiel mir ein, wie Feely einmal gesagt hatte, Beichten sei vorteilhaft für das Seelenheil (dabei hatte sie mir den Arm umgedreht und mich zwingen wollen, ihr zu verraten, was ich mit ihrem Tagebuch angestellt hatte).
»Ich habe mit angehört, wie ihr beide darüber gesprochen habt, dass ihr euren Hausleiter Mr Twining umgebracht habt. Ich bin in die Bücherei gefahren, habe im Zeitungsarchiv nachgesehen und mich mit Miss Mountjoy unterhalten. Sie ist Mr Twinings Nichte. Sie erinnerte sich noch gut an die GerichtsverhandlungDreizehn Erpel übernachtet hat und dass er aus Norwegen eine tote Zwergschnepfe mitgebracht hat, und zwar in einer Pastete eingebacken.«
Vater schüttelte langsam und traurig den Kopf, aber keineswegs aus Bewunderung für meine detektivische Begabung, sondern eher wie ein alter angeschossener Bär, der sich weigert, zu Boden zu gehen.
»Das stimmt so weit«, sagte er. »Aber hältst du deinen Vater wirklich für fähig, einen kaltblütigen Mord zu begehen?«
Jetzt, da ich einen Moment ernsthaft darüber nachdachte, sah ich ein, wie albern ich mich aufgeführt hatte. Warum war ich nicht längst daraufgekommen? Kaltblütiger Mord gehörte eindeutig zu den Taten, zu denen mein Vater überhaupt nicht fähig war.
»Äh … nein«, erwiderte ich kleinlaut.
»Sieh mich an, Flavia!«, sagte er, aber als ich aufblickte und Vater in die Augen schaute, sah ich verstörenderweise in meine eigenen blauen Augen und musste wegschauen.
»Horace Bonepenny war kein besonders anständiger Mensch, aber den Tod hatte er nicht verdient. Den hat niemand verdient«, sagte Vater, und seine Stimme verebbte wie ein Beitrag auf einem weit entfernten UKW-Sender. Ich spürte, dass seine Worte gar nicht mehr an mich gerichtet waren.
»Auf der Welt herrscht auch so schon viel zu viel Mord und Totschlag«, sprach er weiter.
Er setzte sich wieder hin, betrachtete seine Hände, strich mit einem Daumen über den anderen, und seine Finger griffen ineinander wie die Zahnräder eines alten Uhrwerks.
Nach einer Weile fragte er: »Was ist mit Dogger?«
»Der hat euch auch belauscht«, gestand ich.
Vater stöhnte leise.
»Das habe ich befürchtet«, sagte er tonlos. »Das habe ich mehr befürchtet als alles andere.« Und dann, während der Regen in dichten Schleiern gegen das Fenster peitschte, fing Vater an zu reden.