21

Im Flur machte ich Halt und lauschte reglos. Dank der Par kettböden und getäfelten Wände hatte Buckshaw eine mindestens so gute Akustik wie die Royal Albert Hall. Auch wenn alles still war, herrschte auf Buckshaw eine ganz besondere Stille, die ich überall wiedererkannt hätte.

Behutsam nahm ich den Telefonhörer ab und drückte ein paarmal auf die Gabel.

»Ein Ferngespräch nach Doddingsley bitte. Tut mir leid, die Nummer habe ich gerade nicht parat, aber ich möchte mit dem dortigen Gasthaus verbunden werden … wie heißt es doch gleich? Zum roten Fuchs oder Zum reichen Fährmann … jedenfalls irgendwas mit R und F.«

»Augenblick bitte«, erwiderte die gelangweilte, aber kompetent klingende Stimme am anderen Ende der knackenden Leitung.

Das konnte ja wohl nicht so schwer sein, dachte ich. Das R F lag gleich am Bahnhof, gegenüber vom Bahnsteig, und Doddingsley war schließlich keine Weltstadt.

»Ich habe hier nur Einträge für die Traubenstube und Zum fröhlichen Kutscher.«

»Das ist es! Zum fröhlichen Kutscher!«

Der unanständige Laut, den ich zu hören glaubte, stammte gewiss aus dem Gebrodel ganz tief unten in meinen Gedanken.

»Die gewünschte Nummer lautet Doddingsley zwo-drei. Falls Sie später noch einmal anrufen wollen.«

»Danke schön«, sagte ich, da hörte ich auch schon das Freizeichen in der Leitung, und gleich darauf hob jemand ab.

»Doddingsley zwo-drei, Zum fröhlichen Kutscher, Cleaver am Apparat.«

Cleaver war bestimmt der Wirt.

»Ich möchte bitte Mister Pemberton sprechen. Es ist dringend.«

Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man ein Hindernis, sogar ein nur angenommenes, am besten überwindet, indem man Dringlichkeit vortäuscht.

»Der ist nicht da«, erwiderte Cleaver.

»Ach, du lieber Himmel!« Ich trug richtig dick auf. »Da habe ich ihn wohl gerade verpasst. Könnten Sie mir sagen, wann er weggegangen ist? Dann weiß ich in etwa, wann ich ihn zu erwarten habe.«

Mensch, Flave, dachte ich, du solltest dich um einen Sitz im Parlament bemühen.

»Er ist am Samstagmorgen abgereist. Vorgestern.«

»Verbindlichsten Dank«, säuselte ich in einem Ton, mit dem ich auch den Papst irregeführt hätte. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

Ich legte den Hörer so vorsichtig wieder auf die Gabel wie ein frisch geschlüpftes Küken.

»Was treibst du da?«, fragte eine dumpfe Stimme.

Ich fuhr herum. Hinter mir stand Feely. Ihr Mund und das Kinn waren mit einem dicken Wollschal verhüllt.

»Was treibst du da?«, wiederholte sie. »Du weißt genau, dass wir das Instrument nicht benutzen dürfen.«

»Und was treibst du selber?«, konterte ich. »Willst du rodeln gehen?«

Als Feely sich auf mich stürzen wollte, verrutschte der Schal und enthüllte zwei rote geschwollene Lippen von derselben Farbe wie der Südpol eines Pavians.

Ich war zu erschrocken, um zu lachen. Der Giftefeu, mit

Leider hatte ich gerade keine Zeit, meinen Triumph schriftlich zu dokumentieren. Mein Notizbuch würde noch ein Weilchen warten müssen.

Maximilian saß in senffarben kariertem Tweed gewandet auf dem Rand der gemauerten Pferdetränke im Schatten des Marktkreuzes und baumelte wie Humpty Dumpty mit den winzigen Füßen in der Luft. Er war so klein, dass ich ihn beinahe übersehen hätte.

»Haruh, mon vieux, Flavia!«, rief er, und ich brachte Gladys kurz vor den Spitzen seiner Lacklederschuhe zum Stehen. Schon wieder in die Falle getappt! Jetzt musste ich das Beste draus machen.

»Tag, Max. Ich muss Sie was fragen.«

»Hoho!«, machte er. »Einfach so! Du willst mich etwas fragen! Ohne irgendeine Einleitung? Ohne irgendwelche Neuigkeiten von deinen lieben Schwestern? Ohne irgendwelchen Klatsch und Tratsch aus den Konzerthallen der Welt?«

»Na ja«, erwiderte ich ein bisschen verlegen, »im Radio kam Der Mikado.«

»Und wie war’s? Vom Ausdruck her? Die meisten Sänger pflegen bei Gilbert und Sullivan schrecklich zu brüllen.«

»Aufschlussreich.«

»Aha! Aber in welcher Hinsicht? Der gute Arthur hat ein paar der großartigsten Stücke komponiert, die je in unserem Inselkönigreich geschrieben wurden, zum Beispiel Der verklungene Ton. Ich finde G. und S. immer wieder hochspannend. Weißt du eigentlich, dass ihre unverbrüchliche Freundschaft an einer Meinungsverschiedenheit über den Preis eines Teppichs zerbrach?«

Ich musterte ihn forschend. Wollte er mich auf den Arm nehmen? Aber er schien es ganz ernst zu meinen.

»Ich platze verständlicherweise vor Neugier darauf, was sich kürzlich Unerfreuliches bei euch auf Buckshaw zugetragen hat, meine liebe Flavia, aber ich weiß, dass deine Lippen schon aus Schamgefühl, Familiensinn und Verpflichtung gegenüber der Obrigkeit dreifach versiegelt sind. Wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge, hab ich Recht?«

Ich nickte.

»Dann darfst du nunmehr deine Frage an das Orakel richten.«

»Sind Sie in Greyminster zur Schule gegangen?«

Max kicherte zwitschernd wie ein kleiner gelber Vogel.

»Wo denkst du hin! Das wäre dann doch eine Nummer zu edel für mich gewesen. Nein, ich bin auf dem Kontinent zur Schule gegangen, besser gesagt in Paris, und dort fand meine Ausbildung eher draußen als drinnen statt. Aber mein Vetter Lombard ist ein alter Greyminsterianer. Er lobt die Schule in den höchsten Tönen, wenn er nicht gerade beim Pferderennen ist oder bei Montfort Karten spielt.«

»Hat Ihr Vetter irgendwann einmal den Rektor Dr. Kissing erwähnt?«

»Den Briefmarken-Guru? Mein liebes Mädchen, er spricht kaum von jemand anderem. Er verehrt den alten Herrn richtiggehend. Behauptet steif und fest, nur dem alten Kissing hätte er das zu verdanken, was aus ihm geworden ist, was zwar nichts Besonderes ist, aber immerhin …«

»Lebt er denn noch? Dr. Kissing, meine ich? Er muss doch schon steinalt sein, oder? Ich würde alle meine Besitztümer drauf verwetten, dass er längst tot ist.«

»Dann wärst du dein Geld aber schnell los«, erwiderte Max amüsiert. »Und zwar bis auf den letzten Penny!«

Haus Krähenwinkel schmiegte sich in die Kissen des gemütlichen Bettes, das von den Junkerbergen und dem sogenannten Kürbiskopf gebildet wurde. Letzteres war eine eigenartige Erhebung, die von weitem wie ein Hügelgrab aus der Eisenzeit aussah, aus der Nähe betrachtet jedoch deutlich größer und wie ein Totenschädel geformt war.

Ich lenkte Gladys in die Pooker’s Lane, die am Unterkiefer des Schädels, beziehungsweise an seinem östlichen Rand entlangführte. Am Ende der Straße säumten dichte Hecken die Zufahrt zum Haus Krähenwinkel.

War man an diesen struppigen Überlebenden längst vergangener Zeiten vorbeigefahren, erstreckten sich nach Osten, Westen und Süden ungepflegte, stachlige Rasenflächen. Trotz des sonnigen Tages lagen an mehreren schattigen Stellen noch letzte Nebelschwaden über dem ungemähten Gras. Hier und da ragte eine riesige Rotbuche auf. Die dicken Stämme und die herabhängenden Zweige dieser Bäume ließen mich immer an eine bedrückte Elefantenfamilie denken, die allein durch die kahle afrikanische Savanne zieht.

Hinter den Rotbuchen spazierten zwei uralte Damen in lebhaftem Zwiegespräch daher, als konkurrierten sie um die Rolle der Lady Macbeth. Die eine war in ein durchsichtiges Musselin-Nachthemd gewandet und hatte eine Morgenhaube auf dem Kopf, die dem 18. Jahrhundert zu entstammen schien, während ihre Gefährtin, die in ein zyanblaues Zeltkleid gehüllt war, Messingohrringe groß wie Suppenteller trug.

Das Haus selbst war das, was man oft schwärmerisch als »altehrwürdiges Gemäuer« bezeichnet. Der ehemalige Stammsitz der Familie de Lacey, von der die Ortschaft Bishop’s Lacey ihren Namen hat (angeblich waren es entfernte Verwandte der de Luces), war im Lauf der Zeit immer mehr heruntergekommen, vom Landhaus eines geschäftstüchtigen, erfolgreichen hugenottischen Leinenhändlers zu dem, was es heute war, nämlich einem privaten Altersheim, das Daffy und ich sofort

Zwei staubbedeckte Automobile, die nebeneinander auf dem Vorhof standen, bezeugten den Mangel sowohl an Personal als auch an Besuchern. Ich ließ Gladys neben einer uralten Araukarie ins Gras fallen und ging die bemooste, abgebröckelte Vortreppe hoch.

Auf einem handgemalten Schild stand Bitte klingeln. Ich zog an dem Emaillegriff. Von drinnen ertönte ein hohles Scheppern wie von einem auf Kuhglocken gespielten Angelus-Läuten und kündigte den Bewohnern, wer sie auch sein mochten, meine Ankunft an.

Da nichts geschah, klingelte ich noch einmal. Die beiden alten Damen spielten mittlerweile »Teegesellschaft«, knicksten anmutig und affektiert, hielten unsichtbare Tassen und Untertassen vor sich und spreizten zierlich die kleinen Finger ab.

Ich legte das Ohr an die wuchtige Tür, aber bis auf einen Grundton, bei dem es sich offenbar um die Atemzüge des Gebäudes handelte, war nichts zu vernehmen. Daraufhin schob ich die Tür auf und trat ein.

Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von Bittermandelaroma wahr, das genauso unverkennbar roch wie Blausäure - das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet wurden.

Die weitläufige Diele war in Irrenhaus-Apfelgrün gestrichen: grüne Wände, grüne Wandtäfelung, grüne Decke. Auf dem Boden lag billiges braunes Linoleum, das mit derart brutalen Furchen und Rillen übersät war, dass man vermuten konnte, ein Archäologe habe es aus dem Kolosseum in Rom geborgen und Pffft! von sich. Irgendwann würde ich mich einmal mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein Farbton eigentlich Brechreiz verursachen kann.

An der Wand ganz hinten saß in einem chromblitzenden Rollstuhl ein Greis und starrte mit offenem Mund an die Decke, als wartete er darauf, dass dort eine Erscheinung auftauchte.

An einer anderen Wand stand ein Schreibtisch. Er war unbesetzt. Nur eine silberne Glocke und ein abgegriffenes Pappschild mit der Aufschrift Bitte klingeln deutete auf das Vorhandensein irgendwelchen verborgenen Personals hin.

Ich schlug viermal auf den Klingelknopf. Bei jedem Bing zwinkerte der alte Mann heftig, löste den Blick aber nicht von der Decke.

Da erschien mit einem Mal, als wäre sie durch eine Geheimtür in der Holzvertäfelung geschlüpft, ein Hauch von einer Frau. Sie trug eine weiße Uniform und eine blaue Haube, unter die sie emsig lose, fettige, strohblonde Strähnen stopfte.

Sie machte den Eindruck, als hätte sie etwas verbrochen und wäre sich darüber im Klaren, dass ich davon wusste.

»Ja, bitte?«, fragte sie in piepsigem, aber nichtsdestotrotz energischem und somit typischem Krankenschwesternton.

»Ich möchte Dr. Kissing besuchen«, sagte ich. »Ich bin seine Urenkelin.«

»Dr. Isaac Kissing?«

»Eben den. Gibt es denn hier noch einen Dr. Kissing?«

Daraufhin machte das Phantom in Weiß wortlos auf dem Absatz kehrt, und ich folgte ihr durch einen Durchgang in einen schmalen Wintergarten, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte. Auf halbem Weg blieb sie stehen und deutete wie der dritte Geist in Dickens’ Weihnachtsgeschichte mit dem Finger, dann war sie verschwunden.

Am anderen Ende des mit hohen Fenstern versehenen Wintergartens, im Schein des einzigen Sonnenstrahls, dem es gelungen war, in das düstere Gebäude einzudringen, saß ein alter Mann in einem Korbrollstuhl. Ein Heiligenschein aus blauem Rauch umschwebte sein Haupt. Auf einem Beistelltischchen türmte sich ein unordentlicher Stapel Zeitungen, der jederzeit einstürzen konnte.

Der Mann war in einen mausgrauen Morgenmantel gehüllt, genau wie Sherlock Holmes, nur dass sein Morgenmantel mit lauter Brandlöchern übersät war, wodurch er entfernt an einen Leoparden erinnerte. Darunter trug er einen schwarzen Anzug und ein gestärktes Hemd mit altmodischem Vatermörderkragen. Auf seinem langen, gelockten gelblich-grauen Haar saß ein pflaumenfarbenes Samtkäppchen, und an seiner Unterlippe klebte eine brennende Zigarette, deren graue Asche sich wie eine mumifizierte Nacktschnecke krümmte.

»Tag, Flavia«, begrüßte er mich. »Ich habe schon auf dich gewartet.«

Eine Stunde war vergangen. Eine Stunde, in der mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden war, was wir im Krieg alles verloren hatten.

Der Auftakt war nicht sehr vielversprechend gewesen.

»Ich muss dich gleich warnen, dass ich wenig Übung darin habe, mich mit kleinen Mädchen zu unterhalten«, hatte Dr. Kissing verkündet.

Ich biss mir auf die Zunge und hielt die Klappe.

»Bei Jungen hat es sich bewährt, sie mittels Schlägen und anderen Kunstgriffen zu halbwegs zivilisierten Menschen zu erziehen, aber ein Mädchen, dem aufgrund seiner Natur solche Züchtigungen vorenthalten bleiben müssen, bleibt doch immer eine Art terra incognita, nicht wahr?«

Mir war klar, dass es eine rein rhetorische Frage war. Ich zog die Mundwinkel hoch und hoffte, so etwas wie ein Mona-Lisa-Lächeln

»Du bist also Schnäppis Tochter«, fuhr der Alte fort. »Dabei siehst du ihm kein bisschen ähnlich.«

»Angeblich komme ich mehr nach meiner Mutter Harriet.«

»Ach ja, die gute Harriet. Was für eine Tragödie. Wie furchtbar für euch alle.«

Er streckte die Hand aus und tippte auf eine Lupe, die bedenklich wacklig auf dem Zeitungseisberg balancierte. Außerdem öffnete er ein Etui mit Players, aus dem er sich eine neue Zigarette auswählte.

»Ich tue mein Bestes, um mit dem Weltgeschehen Schritt zu halten, jedenfalls mit dem Weltgeschehen, wie es sich in den Augen dieser Schreiberlinge darstellt. Meine eigenen Augen, das gebe ich zu, beobachten diese Parade nun seit fünfundneunzig Jahren und sind des Ganzen ein wenig müde geworden.

Trotzdem gelingt es mir, über die Geburten, Todesfälle, Hochzeiten und Verbrechen, die sich in unserer beschaulichen Grafschaft ereignen, einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben. Und ich habe natürlich weiterhin Punch und Lilliput abonniert.

Soviel ich weiß, hast du zwei Schwestern, Ophelia und Daphne.«

Ich nickte abermals.

»Ja, ja, unser Schnäppi hatte immer eine Vorliebe für alles Ausgefallene. Darum habe ich mich auch nicht gewundert, als ich gelesen habe, dass er seine ersten beiden Nachfahren nach einer Hysterikerin bei Shakespeare und einem griechischen Nadelkissen benannt hat.«

»Wie bitte?«

»Daphne wurde von Eros mit einem liebestötenden Pfeil durchbohrt, ehe sie von ihrem Vater in einen Baum verwandelt wurde.«

»Ich meinte die andere, die wahnsinnige Ophelia.«

»Die ist ja nun völlig übergeschnappt.« Er drückte den Stummel in dem überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich die nächste Zigarette an. »Oder bist du anderer Meinung?«

Die Augen, die mich aus dem runzligen Greisengesicht ansahen, blickten so wach und aufmerksam wie die jeden Lehrers, der mit dem Zeigestock in der Hand vor einer Wandtafel steht, und ich spürte, dass meine Rechnung aufgehen würde. Ich war kein »kleines Mädchen« mehr. Im Gegensatz zu Daphne, die lediglich in einen Lorbeerbaum verwandelt worden war, hatte ich mich in einen Schuljungen aus der Unterstufe verwandelt.

»Eigentlich nicht, Sir«, erwiderte ich. »Ich glaube eher, dass Ophelia für Shakespeare eine Art Symbol war … wie die Kräuter und Blumen, die sie pflückt.«

»Hä? Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, Ophelia ist das unschuldige Opfer einer mörderischen Familie, deren Mitglieder allesamt in höchstem Maße selbstsüchtig sind. So sehe ich das zumindest.«

»Soso. Ist ja ausgesprochen interessant.«

»Trotzdem«, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu, »war es mir eine Genugtuung, dass dein Vater vom Lateinunterricht immerhin so viel behalten hat, um dich Flavia zu nennen, die Goldhaarige.«

»Mein Haar ist aber eher mausbraun.«

»Ach so.«

Wir schienen in einer der Sackgassen angelangt zu sein, wie es sie im Gespräch mit alten Menschen öfter gibt. Ich dachte schon, der alte Mann sei mit offenen Augen eingedöst.

Aber da sagte er unvermittelt: »Na schön, dann zeig mal her.«

»Sir?«

»Meinen Rächer von Ulster. Ich würde gern einen Blick drauf werfen. Du hast ihn doch dabei, nicht wahr?«

»Ich … schon, Sir, aber woher …?«

»Dann wollen wir mal kombinieren«, sagte er seelenruhig, als hätte er verkündet: Lasset uns beten.

»Horace Bonepenny, seinerzeit Zauberkünstler sowie langjähriger Schwindler und Betrüger, liegt auf einmal tot im Garten seines alten Schulfreundes Schnäppi de Luce. Wieso? Höchstwahrscheinlich ist Erpressung im Spiel. Darum wollen wir von Erpressung ausgehen. Nur ein paar Stunden sind vergangen, da stöbert Schnäppis Tochter im Zeitungsarchiv von Bishop’s Lacey nach Artikeln über das Ableben meines lieben alten Kollegen Mr Twining, er ruhe in Frieden. Woher ich das weiß? Das liegt doch auf der Hand.«

»Miss Mountjoy.«

»Sehr gut, Kleine. Tilda Mountjoy, ganz recht. Seit einem Vierteljahrhundert meine Augen und Ohren im Dorf und der Umgebung.«

Ich hätte es wissen müssen! Miss Mountjoy war ein Spitzel!

»Weiter im Text. Am letzten Tag seines Lebens kam es dem Dieb Bonepenny in den Sinn, sich im Dreizehn Erpel einzuquartieren. Anschließend gelingt es dem dummen Grünschnabel - nun ja, ein Grünschnabel ist er nicht mehr, aber dumm allemal -, sich von irgendwem abmurksen zu lassen. Ich habe schon seinerzeit zu Mr Twining gesagt, dass es mit dem Burschen kein gutes Ende nehmen würde. Meine Vorhersage war zutreffend, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken möchte. Dieser Bonepenny hatte schon immer etwas Teuflisches an sich.

Aber ich schweife ab. Kurz nach seinem Ableben wird sein Zimmer im Gasthaus von einer holden Maid durchsucht, deren Namen ich nicht zu nennen wage, die mir aber gerade eben sittsam gegenübersitzt und in ihrer Tasche herumspielt. Was mag wohl darinnen sein? Ich tippe auf ein gewisses Fitzelchen orangenmarmeladenfarbenes Papier mit dem Porträt unserer Quod erat demonstrandum - Q. E. D.«

»Q. E. D.«, bestätigte ich, holte den Pergamin-Umschlag heraus und hielt ihn dem Greis hin. Mit zitternden Händen - ob vor Alter oder vor Aufregung, hätte ich nicht zu sagen gewusst - und indem er das hauchdünne Papier wie eine Pinzette benutzte, schälte er die Seiten des Umschlags mit nikotinfleckigen Fingern nach unten. Als die orangefarbenen Ecken der beiden Rächer frei lagen, fiel mir auf, dass seine fleckigen Fingerkuppen und die Briefmarken fast dieselbe Farbe hatten.

»Alle Wetter!«, schnaufte er sichtlich erschüttert. »Du hastAAwiedergefunden! Diese Marke gehört Seiner Ma jestät, weißt du das? Sie wurde erst vor wenigen Wochen bei einer Ausstellung in London gestohlen, das stand in allen Zeitungen.«

Er blickte mich vorwurfsvoll über den Rand seiner Brille an, musste aber sofort wieder den Schatz betrachten, den er in Händen hielt. Er schien mich ganz zu vergessen.

»Seid mir gegrüßt, meine Freunde«, flüsterte er. »Wir haben uns ja so lange nicht gesehen!«

Er griff zur Lupe und studierte beide Marken gründlich.

»Und du, meine heißgeliebte kleine TL- was du wohl alles zu erzählen hast!«

»Horace Bonepenny trug alle beide bei sich«, warf ich ein. »Ich habe sie im Gasthaus in seinem Gepäck entdeckt.«

»Du hast sein Gepäck durchwühlt?« Dr. Kissing blickte nicht auf. »Uff! Die Polizei wird nicht gerade Purzelbäume über den Dorfanger schlagen, wenn sie das hört … und du dann wohl auch nicht mehr.«

»Ich habe sein Gepäck nicht durchwühlt. Er hatte die Marken unter einem Aufkleber auf seinem Koffer versteckt.«

»Unter dem sie einfach hervorgepurzelt kamen, als du zufällig draufgetippt hast.«

»Genauso war’s.«

»Sag mal«, er hob jäh den Kopf und sah mich an, »weiß dein Vater eigentlich, dass du hier bist?«

»Nein. Vater ist wegen Mordes angeklagt. Er sitzt in Hinley im Arrest.«

»Großer Gott! Ist er’s denn gewesen?«

»Keine Ahnung. Manchmal denke ich ja, dann wieder nein. Das Ganze ist ein einziges Kuddelmuddel.«

»Am Anfang ist alles immer ein einziges Kuddelmuddel. Sag mir eins, Flavia: Wofür interessierst du dich von allen Wissensgebieten dieser Welt am meisten? Was ist deine allergrößte Leidenschaft?«

»Die Chemie«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

»Bravo!«, sagte Dr. Kissing. »Diese Frage habe ich zu meiner Zeit ganzen Heerscharen von Hottentotten gestellt, und alle haben irgendeinen Blödsinn geantwortet. Große Töne spucken und hirnverbrannte Träumereien. Du dagegen hast es fertiggebracht, dich auf ein einziges Wort zu beschränken.«

Das Korbgeflecht ächzte grässlich, als er sich mir zuwandte. Ich bekam schon einen Schreck, weil es sich anhörte, als hätte er sich die morsche Wirbelsäule gebrochen.

»Natriumnitrit«, sagte er. »Das ist dir ja sicherlich ein Begriff.«

Ein Begriff? Natriumnitrit war ein bewährtes Gegenmittel bei Zyankalivergiftung. Ich kannte mich mit allen seinen Verbindungen aus. Wie aber kam er ausgerechnet auf dieses Beispiel? Konnte er Gedanken lesen?

»Schließ die Augen«, fuhr er fort. »Stell dir vor, du hältst ein Reagenzglas in der Hand, das zur Hälfte mit einer drei ßigprozentigen Salzsäurelösung gefüllt ist. Dazu gibst du ein paar Kristalle Natriumnitrit. Was geschieht?«

»Dazu brauche ich nicht die Augen zuzumachen. Die Lösung wird orange … orange und trüb.«

»Ausgezeichnet! Orange wie diese beiden eigensinnigen Briefmarken, nicht wahr? Und dann?«

»Nach einer Weile, nach zwanzig, dreißig Minuten vielleicht, wird die Lösung wieder klar.«

»Klar. Damit wäre meine Herleitung abgeschlossen.«

Ich grinste befreit und ein bisschen dümmlich, als wäre mir eine große Last von den Schultern genommen.

»Als Lehrer müssen Sie ein wahrer Zauberer gewesen sein, Sir.«

»Ja, das war ich wohl … zu meiner Zeit. Und jetzt hast du mir meinen kleinen Schatz wiedergebracht.« Er heftete den Blick wieder auf die Briefmarken.

Damit hatte ich nicht gerechnet, ja, ich war gar nicht auf die Idee gekommen. Ich hatte nur herausfinden wollen, ob der Besitzer des Rächers noch am Leben war. Anschließend hätte ich Vater die Marke ausgehändigt, der sie der Polizei übergeben hätte, die wiederum dafür sorgen würde, dass sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückerstattet würde. Dr. Kissing merkte sofort, dass ich verunsichert war.

»Andere Frage«, sagte er. »Was hättest du getan, wenn du hergekommen wärst und man dir mitgeteilt hätte, dass ich bereits in den ewigen Jagdgründen weile?«

»Sie meinen … dass Sie gestorben wären, Sir?«

»Ach, richtig, so heißt das ja, ›gestorben‹.«

»Dann hätte ich die Marke wahrscheinlich meinem Vater gegeben.«

»Damit er sie behält?«

»Er weiß bestimmt, was damit zu tun ist.«

»Das dürfte der Besitzer der Marke wohl am allerbesten wissen, oder?«

Ich wusste schon, dass die richtige Antwort »Ja« lautete, aber es wollte mir nicht über die Lippen. Ich wollte die Marke unbedingt Vater geben, auch wenn mir das eigentlich nicht zustand. Genauso dringend wollte ich beide Marken Inspektor Hewitt übergeben. Warum bloß?

Dr. Kissing zündete sich noch eine Zigarette an und sah aus

»Hier hast du die AA. Sie ist nicht mein, sie gehört mir nicht, wie es im Volkslied heißt. Soll dein Vater damit verfahren, wie er es für richtig hält. Es ist nicht an mir, das zu entscheiden.«

Ich nahm den Rächer von Ulster entgegen und schlug ihn vorsichtig in mein Taschentuch ein.

»Die exquisite kleine TL dagegen gehört mir, da beißt die Maus keinen Faden ab.«

»Sie freuen sich doch bestimmt, dass Sie die wertvolle Marke wieder in Ihr Album einsortieren können, Sir«, sagte ich enttäuscht und steckte den anderen Rächer ein.

»In mein Album?« Sein krächzendes Lachen endete in einem Hustenanfall. »Meine Alben sind längst, wie es der selige Dowson einmal nannte, vom Winde verweht.«

Er wandte das Greisengesicht wieder dem Fenster zu und schaute geistesabwesend in den Park hinaus, wo die beiden alten Damen unter den vom Sonnenschein besprenkelten Buchen immer noch wie exotische Schmetterlinge umherflatterten und eine Art kunstvollen Tanz aufführten.

»So viel hab ich vergessen, Cynara, vom Winde

verweht,

Die Rosen, übermütig in die Menge geworfen,

Der Tanz, um nicht an deine bleichen Lilien zu denken,

Doch elend war ich, krank vor einst’ger

Leidenschaft,

Die ganze Zeit, denn lang hab ich getanzt …

Ich war dir treu, Cynara - doch auf meine Art!

Das stammt aus seinem Non Sum Qualis eram Bonae Sub Regn o Cynarae, du kennst es vielleicht.«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber es ist sehr schön.«

»An einem so abgeschiedenen Ort wie diesem untergebracht

Er sah mich an, als hätte er einen gelungenen Witz gemacht. Als ich keine Miene verzog, zeigte er auf den Tisch.

»Gib mir mal eins von den Alben. Das oberste.«

Da sah ich erst, dass unter der Tischplatte noch ein Fach angebracht war, in dem zwei dicke, in Leder gebundene Alben klemmten. Ich pustete den Staub weg und reichte ihm das oberste.

»Nein, nein … schlag du es auf.«

Ich öffnete das Album auf der ersten Seite, die nur zwei Marken enthielt, eine schwarze und eine rote. Doch an den gummihaltigen Spuren und den mit einem Lineal gezogenen Linien erkannte man, dass die Seite einmal voll gewesen sein musste. Ich blätterte zur nächsten Seite weiter … und zur übernächsten. Das Album war nur noch eine ausgeweidete Hülle, geplündert und so spärlich bestückt, dass es sogar ein Schuljunge schamhaft versteckt hätte.

»Wie du siehst, kostet es nicht wenig, ein noch schlagendes Herz zu versorgen. Quadrätchen für Quadrätchen trennt man sich von seinem Leben. Viel ist nicht mehr davon übrig, was?«

»Aber der Rächer von Ulster!«, rief ich aus. »Der muss doch ein Vermögen wert sein!«

»Allerdings.« Dr. Kissing betrachtete seinen Schatz abermals durch die Lupe.

»In Romanen ist manchmal von einer Gnadenfrist zu lesen, die jemandem gewährt wird, wenn die Falle bereits zugeschnappt ist, oder aber von dem Pferd, dem kurz vor der Ziellinie das Herz stehen bleibt.«

Er kicherte ironisch und zog ein Taschentuch hervor, um sich die Augen zu wischen.

»›Zu spät! Zu spät!, so die Maid‹, und so weiter. ›Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.‹«

»Ach, das Schicksal treibt gern seine Späße«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Wer hat das gesagt? War das nicht Cyrano de Bergerac?«

Ganz kurz dachte ich, welchen Spaß es Daffy machen würde, sich mit dem alten Herrn zu unterhalten, aber nur ganz kurz. Dann zuckte ich die Achseln.

Mit einem heiteren Lächeln nahm Dr. Kissing die Zigarette aus dem Mund und hielt die glühende Spitze an die Ecke des Rächers von Ulster.

Mir war zumute, als hätte mir jemand einen Feuerball ins Gesicht geschleudert und Stacheldraht um die Brust gespannt. Ich fuhr erst zusammen, dann erstarrte ich vor Schreck, konnte nur hilflos zusehen, wie die Briefmarke zu qualmen anfing und ein Flämmchen sich gemächlich, aber unerbittlich durch das jugendliche Antlitz Königin Viktorias fraß.

Als das Flämmchen an seinen Fingern ankam, ließ Dr. Kissing die geschwärzte Marke auf den Boden fallen. Unter dem Saum seines Morgenmantels tauchte ein blank gewienerter schwarzer Schuh auf, stellte sich sachte auf die Asche und zermalmte sie mit ein paar kurzen Drehbewegungen.

Es dauerte nur drei dröhnende Herzschläge, dann erinnerte nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Linoleum in Haus Krähenwinkel an den Rächer von Ulster.

»Die Marke in deiner Tasche hat ihren Wert soeben verdoppelt«, verkündete Dr. Kissing. »Hüte sie gut, Flavia. Jetzt ist sie die Einzige ihrer Art auf der ganzen Welt.«

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