Feely und Daffy saßen auf dem geblümten Diwan im Salon, hielten einander umschlungen und heulten wie die Luftschutzsirenen. Kaum hatte ich zwei Schritte ins Zimmer getan, um mich zu ihnen zu setzen, erblickte mich Ophelia.
»Wo warst du denn, du kleines Biest?«, fauchte sie, sprang auf und ging wie eine Wildkatze auf mich los. Ihre Augen waren dick verschwollen und rot wie Fahrradreflektoren. »Alle haben nach dir gesucht! Wir dachten schon, du seist ertrunken! Aber nein - wieder nichts!«
Schön, dass du wieder da bist, Flave, dachte ich im Stillen.
»Vater ist festgenommen worden«, sagte Daffy sachlich. »Sie haben ihn mitgenommen.«
»Wo haben sie ihn hingebracht?«, fragte ich.
»Woher sollen wir das wissen?«, fuhr mich Ophelia verächtlich an. »Wahrscheinlich dorthin, wo alle Verhafteten hinkommen. Wo warst du denn nun?«
»Meinst du in Bishop’s Lacey oder in Hinley?«
»Was soll der Unsinn? Drück dich gefälligst klar aus, dummes Ding!«
»In Bishop’s Lacey oder in Hinley?«, wiederholte ich unbeirrt. »In Bishop’s Lacey gibt es nur eine kleine Wache, darum nehme ich nicht an, dass sie ihn dorthin gebracht haben. Das Polizeirevier für unsere Grafschaft befindet sich in Hinley. Darum wird er vermutlich dort sein.«
»Er wird des Mordes beschuldigt«, sagte Ophelia. »Dafür wird man gehängt!« Sie brach wieder in Tränen aus und wandte
Als ich aus dem Salon wieder in die Diele kam, sah ich Dogger die Westtreppe hochgehen, schleppend, Schritt für Schritt, wie ein Verurteilter, der die Stufen zum Schafott hinaufsteigt.
Jetzt oder nie!
Ich wartete ab, bis er außer Sichtweite war, dann stahl ich mich ich in Vaters Arbeitszimmer und schloss hinter mir ab. Ich war noch nie allein in Vaters Zimmer gewesen.
Vaters Briefmarkenalben nahmen eine ganze Wand ein, dicke Lederbände, deren Farben für die Regentschaft der verschiedenen Monarchen standen: Schwarz für Königin Viktoria, Rot für Edward VIII., Grün für Georg V. und Blau für unseren derzeitigen König, Georg VI. Mir fiel wieder ein, dass der schmale scharlachrote Band zwischen dem grünen und dem blauen Wälzer nur ganz wenige Marken enthielt - jeweils eine der neun bekannten Varianten der vier Briefmarken, die König Edward VIII. zeigten und herausgegeben worden waren, ehe er sich mit der Amerikanerin aus dem Staub gemacht hatte.
Vater konnte sich stunden- und tagelang an den unzähligen Konfettifitzelchen erfreuen; mehr wusste ich jedoch nicht über seine Leidenschaft. Nur wenn er von irgendeiner aufregenden Besonderheit in der neuesten Ausgabe von The British Philatelist so begeistert war, dass er uns davon sogar am Frühstückstisch vorschwärmte, erhielten wir einen flüchtigen Einblick in die Freuden seiner einsiedlerischen Welt. Abgesehen von diesen seltenen Gelegenheiten waren wir allesamt, meine Schwestern genauso wie ich, völlig unbeleckt, was Briefmarken anging, während Vater versunken vor sich hin bosselte und seine bunten Papierstückchen mit mehr Vergnügen und Ehrfurcht einsortierte, als andere Männer an den Tag legten, wenn sie Hirsch- oder Tigerköpfe an die Wand hängten.
An der gegenüberliegenden Wand stand eine Kommode
Am hinteren Ende des Zimmers stand, vor der Tür, die auf die Terrasse hinausging, Vaters Schreibtisch, ein Doppelschreibtisch, so groß wie ein Spielfeld, der auch in der Buchhaltung von Scrooge & Marley aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte hätte stehen können. Die Schubladen waren garantiert abgeschlossen - ich hatte mich nicht geirrt.
Wo, überlegte ich, würde Vater wohl in einem Zimmer voller Briefmarken eine einzelne Briefmarke verstecken? Denn versteckt hatte er sie bestimmt - genauso wie ich es getan hätte. Vater und ich legten beide viel Wert auf unsere Privatsphäre; daher konnte ich davon ausgehen, dass er nicht so dumm gewesen war, die Marke an einem allzu naheliegenden Ort aufzubewahren.
Darum sah ich weder irgendwo drauf noch spähte ich irgendwo hinein, sondern legte mich gleich auf den Boden wie ein Mechaniker, der die Unterseite eines Automobils betrachtet, rutschte auf dem Rücken durch das Zimmer und nahm sämtliche verfügbaren Unterseiten in Augenschein. Ich schaute unter den Schreibtisch, den Tisch, den Papierkorb und unter Vaters Windsorstuhl. Ich schaute unter die Perserteppiche und hinter die Vorhänge. Ich schaute hinter die Standuhr und drehte die gerahmten Stiche an den Wänden um.
Es waren viel zu viele Bücher, um alle durchzublättern, darum überlegte ich, welches das nächstliegende war. Natürlich! Die Bibel!
Doch ein flüchtiges Durchblättern der König-James-Ausgabe förderte leider nur eine alte Kirchenbroschüre und eine
Da fiel mir plötzlich wieder ein, dass Vater die Penny Black vom Schnabel des toten Vogels gezogen und in seine Westentasche gesteckt hatte. Vielleicht hatte er sie dort gelassen, um sie erst später woanders zu verstecken.
Das war des Rätsels Lösung! Die Marke war gar nicht hier. Wie hatte ich so dumm sein können! Das gesamte Arbeitszimmer stand auf der Liste der allzu offensichtlichen Verstecke natürlich ganz oben. Nun bestand für mich kein Zweifel mehr. Das, was Feely und Daffy fälschlicherweise »weibliche Intuition« nannten, flüsterte mir ein, dass die gesuchte Marke ganz woanders war.
Ich schloss das Arbeitszimmer möglichst geräuschlos wieder zu. Die beiden Heulbojen waren immer noch im Salon, denn ihre an- und wieder abschwellenden Klage- und Zornesäußerungen waren unüberhörbar. Ich hätte bequem an der Tür lauschen können, aber ich hatte Wichtigeres zu tun.
Wie ein Gespenst huschte ich die Westtreppe hinauf und in den Südflügel.
Erwartungsgemäß war es in Vaters Zimmer dunkel. Unzählige Male hatte ich vom Garten aus zu diesen Fenstern emporgeblickt, und jedes Mal waren die dicken Vorhänge zugezogen gewesen.
Der Raum glich einem Museum nach Ende der offiziellen Öffnungszeit. Der starke Geruch von Vaters Duft- und Rasierwässerchen gemahnte an offene Sarkophage und Kanopen, die einst mit wohlriechenden Essenzen gefüllt gewesen waren. Die zierlich geschwungenen Beine des Queen-Anne-Waschtischs wirkten neben dem düsteren gotischen Bett in der Ecke nahezu anstößig, als würde ein grämlicher alter Kammerherr mürrisch dabei zusehen, wie seine Geliebte ihre Seidenstrümpfe von den langen, jugendlichen Beinen rollte.
Sogar die beiden Uhren ließen an längst vergangene Zeiten Die Schlangengrube und das Pendel langsam und tickend hin- und herschwang und matt im Zwielicht blinkte. Im stummen Widerspruch dazu stand auf dem Nachttisch eine kleine georgianische Uhr. Ihre Zeiger standen auf 3.15 Uhr, die der Kaminuhr auf 3.12 Uhr.
Ich ging einmal quer durchs Zimmer.
Harriets Ankleidezimmer - das man nur durch Vaters Schlafzimmer betreten konnte - war verbotenes Territorium. Vater hatte uns dazu erzogen, den Schrein zu respektieren, den er an dem Tag, als er von ihrem Tod erfahren hatte, für sie errichtet hatte. Das war ihm gelungen, indem er uns in dem nie recht widersprochenen Glauben ließ, dass wir bei der allerkleinsten Verletzung dieses Gebots unverzüglich im Gänsemarsch ans Ende des Gartens geführt, an die Backsteinmauer gestellt und standrechtlich erschossen würden.
Die Tür zu Harriets Zimmer war mit grünem Baumwollflanell verhängt und glich eher einem hochkant gestellten Billardtisch. Ich drückte behutsam dagegen und sie öffnete sich beunruhigend lautlos.
Dieses Zimmer wiederum war gleißend hell. Von drei Seiten ergossen sich durch die hohen Fenster wahre Flutwellen aus Sonnenlicht und wurden von bauschigen Dra pierungen aus italienischer Spitze zerstreut. Überhaupt erinnerte das Gemach an das Bühnenbild für ein Stück über den Herzog und die Herzogin von Windsor. Auf der Frisierkommode lagen lauter Bürsten und Kämme von Fabergé, als wäre Harriet nur mal eben ins angrenzende Bad gegangen. An den Parfümflakons von Lalique hingen bunte Ketten aus Bakelit und Bernstein, daneben standen eine niedliche kleine Kochplatte und ein versilberter Teekessel bereit, sodass sie sich den ersten Morgentee selbst zubereiten konnte. In einer schlanken Glasvase verwelkte eine einzelne gelbe Rose.
Auf einem ovalen Tablett stand ein winziges geschliffenes Parfümfläschchen, das kaum mehr als ein, zwei Tropfen enthielt. Ich zog den Stöpsel heraus und führte ihn unter meiner Nase hin und her.
Es duftete nach kleinen blauen Blumen, nach Bergwiesen und nach Eis.
Ein seltsames Gefühl überkam mich, beziehungsweise ging durch mich hindurch, als wäre ich ein Regenschirm, der sich daran erinnert, wie es ist, wenn man sich bei Regen öffnet. Ich schaute auf das Etikett. Dort stand nur ein Wort: Miratrix.
Ein silbernes Zigarettenetui mit den Initialen H. de L. lag neben einem Handspiegel, auf dessen Rückseite die Flora aus Botticellis Gemälde Primavera eingraviert war. Auf den Drucken nach dem Original war es mir noch nie aufgefallen, aber Flora sah unverkennbar schwanger aus - und durchaus glücklich darüber. Hatte mein Vater Harriet den Spiegel womöglich geschenkt, als sie mit einer von uns schwanger gewesen war? Und wenn ja, mit welcher von uns dreien, mit Feely, mit Daffy oder mit mir? Letzteres hielt ich für eher unwahrscheinlich, eine dritte Tochter war wohl kaum ein Geschenk der Götter gewesen - zumindest nicht in den Augen meines Vaters.
Nein, vermutlich war es Ophelia, die Erstgeborene, gewesen, die ja schon mit einem Spiegel in der Hand auf die Welt gekommen war … vielleicht sogar mit dem hier.
An einem Fenster stand ein Korbsessel, ein wunderbares Plätzchen zum Lesen, und hier, gleich in Reichweite, stand auch Harriets kleine Privatbibliothek. Sie hatte die Bücher aus ihrer Schulzeit in Kanada und den Sommern, die sie bei ihrer Tante in Boston verbracht hatte, nach England mitgenommen: Anne auf Green Gables und Jane in Lantern Hill standen gleich neben Penrod und Merton der Leinwandheld von einem Harry Leon Wilson, und am Ende der Reihe lehnte eine mit Eselsohren versehene Ausgabe von Martyrium im Kloster - die schockierenden Enthüllungen der Maria Monk. Keins der
Auf einem runden Tischchen daneben lag ein Fotoalbum. Ich klappte es auf. Die Seiten bestanden aus grobem, schwarzem Karton, die schwarz-weißen Schnappschüsse trugen Unterschriften mit Kreidestift: Harriet (2 Jahre alt) im Morr is House, Harriet (15 Jahre alt) in Miss Bodycotes Höherer Mädchenschule (1930 - Toronto, Kanada), Harriet mit ihrem Flugzeugdoppeldecker namens »Blithe Spirit«, einer de Havil land Gypsy Moth (1938), Harriet in Tibet (1939).
Die Fotos zeigten, wie sich Harriet von einer pummligen Putte mit goldblondem Lockenschopf zu einem großen, schlanken, lachenden Mädchen (ohne erkennbaren Busen) im Hockey-Trikot und schließlich zu einem Filmstar mit blonder Ponyfrisur wandelte, und wie Amelia Earhart neben ihrem Doppeldecker stand, eine Hand lässig auf das Cockpit gelegt. Von Vater gab es kein einziges Foto. Von uns drei Schwestern auch nicht.
Auf jedem Foto sah Harriet aus, als hätte man Feelys, Daffys und mein Aussehen zusammengeschüttet, einmal kräftig durchgerührt und daraus diese selbstbewusst lächelnde und zugleich liebenswert zurückhaltende Abenteurerin zusammengesetzt.
Als ich ihr Gesicht betrachtete und den Versuch unternahm, durch das Fotopapier bis in ihre Seele zu blicken, klopfte es leise.
Kurze Stille … dann klopfte es noch einmal. Und die Tür ging langsam auf.
Es war Dogger. Er streckte zaghaft den Kopf ins Zimmer.
»Colonel de Luce?«, fragte er. »Sind Sie da drin?«
Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen. Dogger machte keine Anstalten einzutreten, sondern blickte stur geradeaus, in der abwartenden Haltung des erfahrenen Dieners,
Aber was hatte er vor? Hatte er mir nicht eben erst erzählt, die Polizei habe meinen Vater mitgenommen? Wie kam er jetzt darauf, dass er ihn in seinem Arbeitszimmer antreffen könnte? War Dogger dermaßen durch den Wind? Oder beschattete er mich womöglich?
Ich öffnete die Lippen ein wenig und atmete langsam durch den Mund, damit mich kein versehentliches Pfeifen der Nase verriet; gleichzeitig sprach ich ein stummes Stoßgebet, dass ich jetzt bitte, bitte nicht niesen musste.
Dogger stand eine halbe Ewigkeit in der Tür wie ein Tableau vivant. Ich hatte in der Bibliothek Stiche von diesem altmodischen Zeitvertreib gesehen, wo man Schauspieler mit Schminke und Puder zutünchte, ehe sie sich zu lebenden, oftmals recht freizügigen Bildern gruppierten, die angeblich Szenen aus dem Leben der antiken Götter darstellen sollten.
Als ich nach einer ganzen Weile hervorragend nachvollziehen konnte, wie sich ein vor Schreck erstarrtes Kaninchen fühlen musste, zog Dogger den Kopf zurück und schloss geräuschlos die Tür.
Hatte er mich gesehen? Und wenn ja, tat er dann jetzt so, als ob nicht?
Ich horchte, aber nebenan war nichts zu hören. Dogger würde sich nicht lange mit Abwarten aufhalten, und als ich fand, dass genug Zeit vergangen war, öffnete ich die Tür und spähte ins Nebenzimmer.
Vaters Zimmer war noch genauso, wie ich es verlassen hatte. Die beiden Uhren tickten vor sich hin, nur dass mir das Ticken jetzt viel lauter vorkam, weil mir der Schreck noch in den Knochen saß. Da mir klar war, dass eine solche Gelegenheit nie wiederkommen würde, fing ich unverzüglich mit der Suche an, indem ich dieselbe Methode anwandte wie in Vaters Arbeitszimmer. Weil aber dieses Zimmer so spartanisch
Das einzige Buch im Zimmer war ein Verkaufskatalog von Stanley Gibbons für eine Briefmarkenauktion, die in drei Monaten abgehalten werden sollte. Ich drehte ihn um und blätterte ihn durch, aber nichts fiel heraus.
In Vaters Schrank hingen erschreckend wenig Kleider: ein paar alte Tweedjacken mit Lederflicken auf den Ellenbogen (die Taschen waren leer), zwei Wollpullover und mehrere Hemden. Ich fasste in die Schuhe und in ein Paar uralte Soldatenstiefel, entdeckte aber nichts.
Das war bedauerlich, denn sonst besaß Vater nur noch seinen Sonntagsanzug, und den musste er angehabt haben, als Inspektor Hewitt ihn mitgenommen hatte. (Das Wort »festgenommen« wollte ich noch nicht einmal denken.)
Vielleicht hatte er die durchbohrte Penny Black irgendwo anders versteckt - zum Beispiel im Handschuhfach von Harriets Rolls-Royce. Genauso wahrscheinlich war es, dass er die Marke längst vernichtet hatte. Eigentlich war das die logischste Lösung. Eine beschädigte Briefmarke ist wertlos. Ihr Anblick hatte Vater aufgewühlt, und es schien mir nur folgerichtig, dass er, kaum dass er am Freitag sein Zimmer aufgesucht hatte, ein Streichholz daran gehalten hatte.
Das hätte allerdings Spuren hinterlassen: Asche im Aschenbecher, ein abgebranntes Streichholz im Papierkorb. Ein Blick genügte, denn beide Behältnisse standen direkt vor mir - und waren leer.
Vielleicht hatte Vater eventuelle Indizien ja ins Klo gespült.
Als ich das dachte, merkte ich, dass ich mich schon an den letzten Strohhalm klammerte.
Gib’s auf, dachte ich. Überlass es der Polizei. Geh wieder in dein gemütliches Labor und arbeite weiter an deinem Lebenswerk.
Ich überlegte - aber nur einen prickelnden Augenblick
Aber diese Freuden musste ich zurückstellen. Ich stand gegenüber Vater in der Pflicht, und es war nun einmal mir zugefallen, ihm zu helfen, besonders jetzt, da er sich selbst nicht helfen konnte. Eigentlich hätte ich mir Zutritt zu seinem Gefängnis verschaffen müssen, ganz gleich, wo man ihn festhielt, und ihm nach Art des Treueschwurs der mittelalterlichen Knappen mein Schwert zu Füßen legen. Auch wenn ich ihm nicht gleich helfen konnte, sollte er doch wissen, dass ich ihn keineswegs im Stich ließ, und da merkte ich auf einmal, wie schmerzlich er mir fehlte.
Ich hatte eine Eingebung. Wie viele Meilen waren es bis Hinley? Konnte ich noch vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen? Würde man mich überhaupt zu ihm lassen?
Ich bekam derartiges Herzklopfen, als hätte mir jemand eine Tasse Fingerhuttee untergejubelt.
Zeit aufzubrechen. Ich hatte mich lange genug hier aufgehalten. Ein Blick auf die Nachttischuhr - sie zeigte inzwischen 15.40 Uhr. Auch das Ungetüm auf dem Kamin tickte unbeirrt weiter und stand auf 15.37 Uhr.
Vater war anscheinend mit den Gedanken woanders gewesen, sonst wäre ihm aufgefallen, dass die Uhren nicht übereinstimmten. Eigentlich duldete er keine Unregelmäßigkeiten, was die Tageszeit betraf. Ich erinnerte mich, wie er Dogger (wenn auch immerhin nicht uns) geradezu militärische Befehle zu erteilen pflegte:
»Bring dem Vikar diese Gladiolen, Dogger, und zwar Punkt
Ich betrachtete die beiden Uhren, in der Hoffnung, dass sie mir einen Hinweis liefern konnten. Als Vater einmal, was selten vorkam, in mitteilsamer Stimmung gewesen war, hatte er uns anvertraut, dass er sich hauptsächlich wegen ihrer Nachdenklichkeit in Harriet verliebt hatte. »Kommt bei Frauen selten vor, wenn ich es mir recht überlege«, hatte er gesagt.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Eine der Uhren war angehalten worden - und zwar genau drei Minuten lang. Das Ungetüm auf dem Kaminsims.
Ich schob mich auf sie zu, als müsste ich mich an einen Vogel anschleichen. Das dunkle Gehäuse verlieh ihr das trübselige Aussehen einer viktorianischen Leichenkutsche: lauter Messingverzierungen, Glas und schwarzer Schellack.
Ich beobachtete, wie sich meine Hand, klein und weiß im Dämmerlicht, danach ausstreckte, spürte, wie meine Finger die kalte Oberfläche streiften, wie mein Daumen den silbernen Riegel hochschob. Das schwere Messingpendel schwang dicht vor meinen Fingerkuppen hin und her und gab sein gespenstisches Tick-Tack, Tick-Tack von sich. Beinahe hätte ich mich nicht getraut, es anzufassen. Ich holte tief Luft und griff zu. Die Trägheit ließ das Pendel in meiner Hand beben wie einen gefangenen Goldfisch, wie das verräterische Herz, ehe es endgültig verstummt.
Ich befühlte die Rückseite. Dort war etwas befestigt … festgeklebt … ein winziges Päckchen. Ich zog daran. Es löste sich und fiel in meine Handfläche. Ich hatte die Hand noch nicht aus dem Innenleben der Uhr gezogen, da wusste ich schon, was sich meinem Blick darbieten würde … und ich irrte mich nicht. Auf meiner flachen Hand lag ein kleiner Pergaminumschlag, in dem gut sichtbar eine Penny-Black-Briefmarke steckte. Eine Penny Black mit einem Loch in der Mitte, wie es der Schnabel
Ich zog die Marke behutsam aus dem Umschlag heraus und betrachtete sie näher. Zunächst einmal hatte Königin Viktoria ein Loch im Kopf. Das mochte zwar nicht sehr vaterländisch sein, konnte aber einen gestandenen Mann wohl kaum derart erschüttern. Nein, es musste etwas anderes dahinterstecken.
Was unterschied diese eine Marke von allen anderen ihrer Art? Hatten Briefmarken nicht Millionenauflagen?
Vor einiger Zeit hatte Vater - in der Absicht, unsere Allgemeinbildung zu erweitern - verkündet, dass die Mittwochabende künftig für eine Reihe von Pflichtvorträgen (der Referent war er selbst) über verschiedene Aspekte des britischen Regierungswesens reserviert seien. »Vortragsreihe A«, wie er sich ausdrückte, sollte sich - wer hätte das gedacht? - mit der »Geschichte der Penny Post« beschäftigen.
Daffy, Feely und ich hatten unsere Notizbücher mit in den Salon gebracht und so getan, als würden wir mitschreiben, wobei wir uns allerdings Zettelchen zusteckten, auf denen »Du bist vielleicht’ne Marke!« oder »Ich kleb dir gleich eine!« stand.
Briefmarken wurden, wie Vater erläuterte, in Bögen zu je hundertundvierzig Stück gedruckt, zwanzig Reihen zu je zwölf Marken, was ich mir leicht merken konnte, da 20 die Ordnungszahl von Kalzium und 12 die von Magnesium ist - ich brauchte mir also nur CaMg zu merken. Jede Marke auf einem Bogen war mit einer unverwechselbaren Kennung versehen, wobei es mit »AA« auf der linken oberen Marke losging und alphabetisch fortlaufend von links nach rechts bis »T L« am rechten Ende der zwanzigsten beziehungsweise untersten Reihe zählte.
Dieses Schema war laut Vater von der Post zum Schutz gegen Fälschungen eingeführt worden, obwohl wir nicht recht begriffen,
Ich betrachtete noch einmal die Marke in meiner Hand. Unter Königin Viktorias Kopf stand ON E PENNY. Links davon erkannte man den Buchstaben B, rechts davon den Buchstaben H.
Das ergab: B ONE PENNY, H
»BH«. Demnach stammte diese Marke aus der zweiten Reihe des Druckbogens, achte Reihe von links. Zwo-acht. Bedeutete das irgendetwas? Abgesehen von der Tatsache, dass 28 die Ordnungszahl von Nickel war, fiel mir nichts dazu ein.
Da hatte ich einen Geistesblitz: Es ging gar nicht um eine Zahl, sondern um ein Wort!
BONEPENNY! Und nicht nur einfach Bonepenny, sondern BONEPENNY, H.!- Horace Bonepenny!
Auf den Schnabel einer toten Zwergschnepfe gespießt, stellte die Briefmarke zugleich eine Visitenkarte und eine Morddrohung dar. Und Vater hatte die Drohung auf Anhieb entschlüsselt und begriffen.
Der Vogelschnabel hatte den Kopf der Königin durchbohrt, den Namen des Absenders jedoch unversehrt gelassen - für jeden, der Augen hatte zu sehen.
Horace Bonepenny. Der verstorbene Horace Bonepenny.
Auf dem Hügel zeigte ein morscher Wegweiser - der klägliche Überrest eines Galgens aus dem 18. Jahrhundert - in zwei entgegengesetzte Richtungen. Hinley konnte man entweder über die Straße nach Doddingsley erreichen oder auf der etwas längeren und dafür weniger befahrenen Straße, die durch das Dörfchen St. Elfrieda führte. Ersteres ging schneller, Letzteres
»Har-har-har!«, lachte ich voll bitterer Ironie. Wer würde mich schon vermissen?
Trotzdem wandten Gladys und ich uns nach rechts und hielten auf St. Elfrieda zu. Da es nur bergab ging, kamen wir gut voran. Als ich per Rücktritt bremste, gab die Sturmey-Archer-Dreigangschaltung an Gladys’ Hinterrad ein Geräusch von sich wie ein Sack wütender, giftspritzender Klapperschlangen. Ich malte mir aus, ich würde von den Viechern verfolgt, die mir in die Fersen beißen wollten. Es war einfach herrlich! Seit ich damals mittels Extraktion und anschließender Verdampfung aus den Aronstabpflanzen, die im Lilienteich des Vikars wuchsen, ein künstliches Kurare hergestellt hatte, war ich nicht mehr so prächtiger Laune gewesen.
Ich legte die Füße auf den Lenker und ließ Gladys freien Lauf. Als wir den staubigen Hügel hinuntersausten, trällerte ich:
Seht, da kommt sie, munter und froh -
das Mädel mit dem knackigen … Apfel!