17

Das NOAA-Schiff Benjamin Franklin schleppte sich dahin wie ein Seemann, der in eine ausgiebige Kneipenschlägerei verwickelt gewesen war. Das Tauziehen mit dem Strudel hatte seinen Preis von den Maschinen des Schiffs gefordert, die unbedingt gründlich gewartet und aufgepäppelt werden mussten, damit sie nicht vollständig den Geist aufgaben. Die Throckmorton folgte ihm im Abstand von wenigen hundert Metern für den Fall, dass das NOAA-Schiff in Schwierigkeiten geriet.

Während die beiden Schiffe langsam nach Norfolk dampften, erschien im Westen am Himmel ein türkisfarbener Mehrzweckhubschrauber, auf dessen Rumpf in großen Lettern NUMA zu lesen war. Er blieb über der Benjamin Franklin wie ein Kolibri kurz in der Luft stehen, ehe er auf dem Deck landete. Vier Personen kletterten heraus, bepackt mit medizinischem Gerät.

Besatzungsmitglieder führten das Ärzteteam ins Schiffslazarett. Keine der Verletzungen, zu denen es gekommen war, als das Schiff senkrecht in den Strudel rutschte, war lebensbedrohlich. Der Kapitän hatte das Team zur Unterstützung des Schiffssanitäters angefordert, der mit der Versorgung der zahllosen Prellungen und Quetschungen einfach überfordert war.

Der Helikopter wurde aufgetankt, und die beiden Besatzungsmitglieder, die Armbrüche davongetragen hatten, wurden eingeladen. Austin bedankte sich bei dem Kapitän für seine Gastfreundschaft. Dann stieg auch er zusammen mit den Trouts und Professor Adler in die Maschine. Innerhalb von Minuten befanden sie sich schon in der Luft.

Weniger als zwei Stunden später landeten sie auf dem National Airport. Die Verletzten wurden in Krankenwagen geladen. Die Trouts fuhren mit einem Taxi zu ihrem Haus in Georgetown und nahmen Adler als Gast mit, und Zavala brachte Austin zu seinem Haus am Potomac River in Fairfax, Virginia, gut anderthalb Kilometer von der Zentrale der Central Intelligence Agency in Langley entfernt. Sie alle waren übereingekommen, sich erholt und ausgeschlafen um acht Uhr am nächsten Morgen wieder zu treffen.

Austin wohnte in einem umgebauten viktorianischen Bootshaus mit Blick auf den Fluss. Er hatte das mit kleinen Türmen verzierte Gebäude erworben, als er noch für die CIA gearbeitet hatte. Der mit einem Mansardendach versehene Bau gehörte zu einem alten Landgut und war von den vorherigen Eigentümern vernachlässigt worden. Er war die Heimat zahlloser Mäusefamilien gewesen, als Austin ihn im Innern hatte entkernen und umbauen lassen und sein Äußeres in seine alte Pracht zurückversetzt hatte. Der Raum unter dem Wohnbereich beherbergte sein Rennruderboot und ein kleines Außenbordgleitboot.

Er ließ seine Reisetasche in der Diele fallen und betrat das geräumige Wohnzimmer. Sein Haus war eine eklektische Mischung aus alt und neu. Die authentischen, aus dunklem Holz hergestellten Möbel im Kolonialstil kontrastierten mit den weiß gestrichenen Wänden, an denen moderne und naive Gemälde und Landkarten hingen. In den vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränken standen die häufig gelesenen, in Leder gebundenen Seeabenteuer von Joseph Conrad und Herman Melville sowie die Werke der bedeutenden Philosophen, die er mit besonderer Vorliebe studierte. In Glasvitrinen lagen einige der wertvollen Duellpistolen, die er sammelte. Seine umfangreiche Musiksammlung mit Schwerpunkt Jazz spiegelte seine stählerne Gelassenheit, seine Energie und Entschlossenheit sowie sein Improvisationstalent wider.

Er hörte seinen Anrufbeantworter ab. Zahlreiche Anrufe waren eingegangen, aber es war nichts dabei, das nicht warten konnte. Er schaltete die Stereoanlage ein, und Oscar Petersons perlende Hochgeschwindigkeitsklavierläufe füllten den Raum. Er schenkte sich von seinem besten anejo Tequila ein, öffnete die gläserne Schiebetür und trat mit dem Glas, in dem Eiswürfel klirrten, hinaus auf die Veranda. Er lauschte dem leisen Plätschern des Flusses und saugte die feuchte, nach Blumen duftende Luft der Flussauen ein, die so anders war als der salzige Geruch des Ozeans, auf dem er den größten Teil seiner Arbeitszeit verbrachte.

Nach ein paar Minuten kehrte er ins Haus zurück, holte ein Buch über griechische Philosophen aus einem Regal und schlug es bei Platos »Allegorie von der Höhle« auf. In Platos Parabel können in einer Höhle angekettete Gefangene nur die Schatten von Puppen an der Wand sehen und dabei hören, wie die Puppenspieler hinter ihnen agieren. Mit diesen wenigen Indizien müssen die Gefangenen entscheiden, was Schatten und was Realität ist. Auf ähnliche Weise sortierte Austins Gehirn die merkwürdigen Ereignisse der letzten Tage und versuchte, Ordnung in sein mentales Chaos zu bringen. Er kam immer wieder auf das Einzige zurück, das er halbwegs begreifen konnte.

Er ging zu einem Schreibsekretär und schaltete seinen Laptopcomputer ein. Indem er sich der Website-Adresse bediente, die Dr. Adler ihm genannt hatte, rief er das Satellitenbild von der Region auf, in der die Riesenwelle entstanden war. Das Bild zeigte, dass alles ruhig und friedlich war. Er ging in den Bildarchiven zurück bis zu dem Datum, an dem die Southern Belle gesunken war. Zwei riesige Wellen, die Adler aufgeschreckt hatten, waren an dem Tag, an dem das Schiff verschwunden war, deutlich zu sehen. Das Schiff selbst erschien als kleiner pulsierender Lichtpunkt, der von einer zur anderen Minute spurlos verschwand.

Er zoomte das Bild von sich weg, damit es eine größere Fläche Ozean zeigte, und sah dann etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Vier Schiffe hatten sich um die Zone versammelt, in der die Katastrophe stattgefunden hatte. An jeder der vier Kompasspositionen befand sich ein Schiff. Die Abstände der Schiffe zueinander waren auf den ersten Blick genau gleich. Er betrachtete das Bild eine Zeit lang, dann ging er ein paar weitere Tage zurück. Die Schiffe waren nicht dort. Er ging zu einem Datum kurz nach dem Untergang der Southern Belle. Nur drei Schiffe waren zu sehen. Als er auf einen Tag nach dem Untergang der Belle sprang, war kein Lichtpunkt mehr vorhanden.

Er kam sich vor wie einer von Platos Gefangenen in der Höhle, die versuchten, die Realität vom Schein zu trennen, aber er hatte einen Vorteil, den sie nicht hatten. Er konnte sich Hilfe suchen. Er schlug das dicke NUMA-Verzeichnis auf, das neben dem Telefon lag, überflog die Einträge und tippte dann eine Nummer. Ein Mann meldete sich.

»Hallo, Alan. Hier ist Kurt Austin. Ich bin soeben von einer Seereise zurückgekommen. Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt.«

»Überhaupt nicht, Kurt. Es ist immer wieder schön, von Ihnen zu hören. Was kann ich für Sie tun?«

»Können Sie es schaffen, morgen früh um acht zu einer Besprechung in mein Haus zu kommen? Es ist sehr wichtig.«

»Natürlich.« Eine kurze Pause trat ein. »Sie wissen doch, womit ich befasst bin?«

Alan Hibbet gehörte zu den Dutzenden gelegentlich ziemlich langweiligen NUMA-Gelehrten, die unbemerkt und unerkannt in den Eingeweiden der ozeanographischen Organisation ihrer Arbeit nachgingen, glücklich und zufrieden damit, auf exotischen Gebieten mit wenig öffentlicher Aufmerksamkeit lebenswichtige Forschungen betreiben zu dürfen. Ein paar Monate zuvor hatte Austin Hibbet während eines NUMA-Symposiums über seegebundene Kommunikation und Umweltüberwachung sprechen hören. Er war damals vom breit gefächerten Wissen des Mannes tief beeindruckt gewesen.

»Ich weiß sehr wohl, mit was Sie sich befassen. Sie sind Spezialist für angewandten Elektromagnetismus mit besonderen Kenntnissen über Antennen. Sie sind zuständig für die elektronischen Augen und Ohren, die die NUMA bei ihrer Tiefseeforschung verwendet und mit denen sie die Verbindung zwischen ihren weit verstreuten Operationen aufrechterhält. Ich habe Ihren Aufsatz über die Auswirkungen von Horizontalebenenausdehnung auf die von verkleinerten Oberflächenantennen erzeugten Strahlungsmuster gelesen.«

»Tatsächlich? Ich betrachtete das Spezialteam für Sondereinsätze als einen Verein von verwegenen Abenteurern und Haudegen.« Austin und sein Team genossen in weiten Kreisen der NUMA einen geradezu legendären Ruf, und Hibbet erstarrte beinahe vor Ehrfurcht, ausgerechnet von ihnen um Hilfe gebeten zu werden.

Austin lachte ein wenig trübselig. Seine Arme schmerzten noch immer von seinen Anstrengungen, Paul Trout zu retten, und er war hundemüde. »Ich glaube, das Team wird zur Zeit mehr gehauen, als dass es mit dem Degen glänzen kann. Wir können Ihre Kenntnisse wirklich gut gebrauchen.«

»Ich helfe gerne, wo und wie ich kann«, versicherte Hibbet.

Austin erklärte ihm den Weg zu seinem Bootshaus und beteuerte, wie sehr er sich freuen würde, ihn am nächsten Morgen begrüßen zu dürfen. Er machte sich auf einem Schreibblock ein paar Notizen, solange die Gedanken noch frisch in seinem Kopf waren. Dann bereitete er eine Kanne kenianischen Kaffees vor, schaltete die Automatik der Kaffeemaschine ein und begab sich in sein Schlafzimmer in einem der Türme. Er zog sich aus, schlüpfte zwischen die kühlen Laken und schlief auf der Stelle ein. Als er von der hellen Morgensonne, die durchs Schlafzimmerfenster schien, geweckt wurde, kam es ihm so vor, als hätte er nur ein paar Minuten geschlafen.

Er duschte und rasierte sich und entschied sich für ein T-Shirt und Shorts. Anschließend bereitete er sich eine Portion Rührei mit Virginiaschinken zu, die er genussvoll auf der Veranda verzehrte. Er war soeben damit fertig geworden, das schmutzige Geschirr wegzuräumen, als Zavala an die Tür klopfte. Kurz darauf erschienen die Trouts mit Professor Adler. Al Hibbet kam praktisch gleichzeitig mit ihnen an. Hibbet war ein hochaufgeschossener Mann mit vollem weißem Haar. Er war ungemein schüchtern, und seine Haut war weiß wie Marmor, beides eine Folge seines Wissenschaftlerdaseins, das er nahezu ausschließlich in einem Labor, weit weg von jeglichem menschlichem Kontakt und frischer Luft und Sonnenschein, verbrachte.

Austin reichte jedem einen Becher Kaffee und geleitete sie dann zu einem großen runden Teakholztisch auf der Veranda. Austin hätte das Treffen in seinem Büro in dem mit grün getöntem Glas verkleideten Turm in Arlington abhalten können, der das Zentrum der NUMA-Operationen darstellte. Aber er war nicht bereit, Fragen zu beantworten oder seine Gedanken mit irgendjemand anderem außerhalb des Kreises seiner engsten Vertrauten zu teilen, bevor er sich nicht erschöpfende Kenntnisse angeeignet hatte. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder und blickte sehnsüchtig auf den in der Sonne gleißenden Fluss, auf dem er gewöhnlich den Morgen beim Training in seinem Ruderboot zu verbringen pflegte. Dann ließ er den Blick am Tisch in die Runde schweifen und bedankte sich bei jedem für sein Erscheinen. Er kam sich vor wie Van Helsing, der einen Kriegsrat abhält, um den Kampf gegen Dracula aufzunehmen, und hätte beinahe gefragt, ob jeder genügend Knoblauch mitgebracht habe.

Stattdessen kam er gleich zum Thema. »Etwas Seltsames geht im Atlantik und im Pazifik vor sich«, begann er. »Die See wird aufgewühlt und durchgerührt wie Eier in einer Schüssel. Diese Störungen haben zum Untergang von einem, vermutlich sogar zwei Schiffen geführt. Ein weiteres Schiff wäre beinahe ebenfalls gesunken. Außerdem haben sie einigen der hier Versammelten, mich eingeschlossen, eine heillose Angst eingejagt.« Er wandte sich an Adler. »Professor, seien Sie doch so nett und beschreiben Sie das Phänomen, dessen wir Zeuge wurden, und nennen Sie uns einige Ihrer Theorien dazu.«

»Sehr gerne«, sagte Adler. Er lieferte einen kurzen Abriss über das Verschwinden der »unsinkbaren« Southern Belle und die erfolgreiche Suche nach ihrem Wrack. Er beschrieb die von Satelliten gelieferten Beweise für die Existenz von Monsterwellen in der nächsten Umgebung des Schiffs. Zuletzt, und mit deutlich weniger Begeisterung, kam er zu seiner Theorie, dass die Störungen nicht natürlichen Ursprungs sein könnten. Während er seine Überlegungen skizzierte, blickte er nervös von Gesicht zu Gesicht, als suchte er dort nach einem Anflug von Zweifel. Zu seiner Erleichterung fand er nur Ernsthaftigkeit und waches Interesse.

»Normalerweise könnten wir diese seltsamen Meeresaktivitäten König Neptun zuschreiben, den offenbar der Hafer sticht, wären da nicht zwei Dinge«, sagte er. »Satellitenbilder lassen vermuten, dass auch andere Regionen der Ozeane von ähnlichen Störungen heimgesucht wurden und dass bei diesen Störungen eine ungewöhnliche Symmetrie zu beobachten ist.« Indem er sich Austins Laptop bediente, zeigte er die Satellitenbilder von den Monsterwellenkonzentrationen.

Austin bat die Trouts, ihren Abstieg in den Mahlstrom zu schildern. Wieder herrschte aufmerksame Stille, während Gamay und Paul abwechselnd berichteten, wie sie in den Strudel gesogen und in allerletzter Minute gerettet wurden.

»Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie Blitze beobachtet haben, als dieser Strudel sich bildete?«, fragte Hibbet.

Gamay und Paul nickten.

Hibbets Antwort war außerordentlich erschöpfend. Er sagte nur: »Aha.«

Zavala nahm den Faden auf und berichtete vom Besuch des wieder aufgetauchten Schiffs. Hibbet interessierte sich besonders lebhaft für seine Beschreibung des Kraftwerks und der beschädigten elektrischen Aufbauten an Deck.

»Ich wünschte, ich hätte dabei sein können, um es mit eigenen Augen zu sehen«, sagte er.

»Das kann ich Ihnen nicht bieten, aber etwas nahezu ebenso Gutes«, meinte Zavala. Kurz darauf erschienen die Digitalfotos, die er auf dem geheimnisvollen Schiff geschossen hatte, auf dem Computerbildschirm.

Austin wollte von Hibbet wissen, welche Erklärung ihm für die Bilder einfiel. Der NUMA-Gelehrte betrachtete sie stirnrunzelnd und bat darum, sämtliche Fotos noch einmal durchlaufen zu lassen.

»Es ist ziemlich offensichtlich, dass ein großer Teil des elektrischen Stroms in einen zentralen Punkt eingespeist wird.« Er deutete auf den kegelförmigen Aufbau. »Im augenblicklichen Zustand der Apparatur ist schwer zu entscheiden, welche Funktion er erfüllt.«

»Joe hat ihn mit einer riesigen Zündkerze verglichen«, sagte Austin.

Hibbet kratzte sich am Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Eher sieht es aus wie eine riesige Tesla-Spule. Viele der Schaltkreise, die das Ding seine spezielle Funktion erfüllen lassen, sind nicht zu sehen. Wo ist das Schiff jetzt?«

»Es ist wieder versunken«, sagte Zavala.

Hibbet reagierte völlig anders, als Austin erwartet hatte. Seine grauen Augen funkelten erregt, und er rieb sich die Hände. »Das ist ja viel besser, als jeden Tag an irgendwelchen Antennen herumzufummeln.« Er klickte sich mit der Maus noch einmal durch sämtliche Satellitenbilder, dann warf er einen fragenden Blick in die Runde. »Ist jemand von Ihnen mit den Arbeiten Nikola Teslas vertraut?«

»Ich bin wohl der Einzige in dieser Runde, der regelmäßig die Popular Science liest«, stellte Zavala nach einer kurzen Pause fest. »Soweit ich weiß, hat Tesla den Wechselstrom erfunden.«

Hibbet nickte. »Er war ein aus Serbien stammender amerikanischer Ingenieur. Bei seinen Forschungen entdeckte er, dass man ein Magnetfeld in Rotation versetzen kann, wenn man zwei Spulen rechtwinklig zueinander anordnet und einen zweiphasigen Gleichstrom hindurchschickt.«

»Könnten Sie das vielleicht in eine verständliche Sprache übersetzen?«, fragte Adler höflich.

Hibbet lachte. »Ich liefere auch gleich den historischen Zusammenhang mit. Tesla kam in die Vereinigten Staaten und arbeitete für Thomas Edison. Sie wurden schließlich zu Rivalen. Edison machte sich für den Gleichstrom stark, und es entbrannte ein heftiger Kampf. Tesla schoss den Vogel ab, indem er den Auftrag für die Entwicklung der Wechselstromgeneratoren bei den Niagarafällen erhielt. Das Patent seines Induktionsmotors verkaufte er an George Westinghouse, dessen System zur Stromversorgung die Grundlage dessen wurde, was wir heute benutzen. Edison musste sich mit der Glühbirne und dem Phonographen zufriedengeben.«

»Soweit ich mich erinnere, meldete Tesla auch noch eine ganze Reihe ziemlich verrückter Patente an«, sagte Zavala.

»Das stimmt. Er war ein exzentrisches Genie. Zum Beispiel meldete er ein Patent für ein unbemanntes elektrisch betriebenes Flugzeug an, das eine Geschwindigkeit von zweiund­dreißigtausend Kilometern in der Stunde erreichen sollte und als Waffe eingesetzt werden konnte. Er trat mit einer Entwicklung, die er ›Teleforce‹ nannte, an die Öffentlichkeit. Dabei handelte es sich um einen Todesstrahl, der Flugzeuge auf eine Entfernung von bis zu vierhundertfünfzig Kilometern zerschmelzen konnte. Er beschäftigte sich außerdem intensiv mit der drahtlosen Übertragung von elektrischer Energie. Er war fasziniert von der Möglichkeit, elektrische Energie zu bündeln und dadurch ihre Wirkung zu vervielfachen. Er behauptete sogar, von seinem Labor aus ein Erdbeben ausgelöst zu haben.«

»Mit seinen ballistischen Raketen und Laserstrahlen war Tesla vermutlich seiner Zeit um einiges voraus«, sagte Austin.

»Seine Konzepte waren durchaus vernünftig. Aber die Ausführung wurde den Erwartungen niemals gerecht. In den vergangenen Jahren ist er so etwas wie eine Kultfigur geworden. Bestimmte Kreise, die überall irgendeine Verschwörung wittern, gehen davon aus, dass verschiedene Regierungen, unsere eigene eingeschlossen, mit den destruktiveren Aspekten von Teslas Entwicklungen experimentiert haben.«

»Und was denken Sie?«, wollte Austin wissen.

»Die Verschwörungstheoretiker dürften auf dem falschen Dampfer sein. Tesla erregte viel Aufmerksamkeit, weil er eine schillernde Persönlichkeit war. Meiner Meinung nach steckt in den Arbeiten von Lazio Kovacs erheblich mehr zerstörerisches Potenzial. Genauso wie Tesla war er ein brillanter Elektroingenieur. Er stammte aus Budapest, wo Tesla gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gearbeitet hat, und bediente sich in den dreißiger Jahren seiner Erkenntnisse, wobei er sich auf die Übertragung niederfrequenter elektromagnetischer Wellen konzentrierte. Er sagte, dass bestimmte Impulse dazu eingesetzt werden können, die Atmosphäre störend zu beeinflussen und Unwetter, Erdbeben und alle möglichen anderen unangenehmen Erscheinungen zu erzeugen. Er führte das weiter, was Tesla begonnen hatte.«

»In welcher Weise?«

»Kovacs entwickelte eine Reihe von Frequenzen, durch die elektromagnetische Resonanzen konzentriert und durch das umliegende Material verstärkt werden können. Bekannt wurden sie unter der Bezeichnung ›Kovacs-Theoreme‹. Er veröffentlichte seine Erkenntnisse in einem naturwissenschaftlichen Journal, unterließ es jedoch, sämtliche Frequenzen publik zu machen, mit denen der von ihm beschriebene Apparat hätte gebaut werden können. Andere Wissenschaftler standen seinen Erkenntnissen skeptisch gegenüber, da es keinen Beweis für ihre Richtigkeit gab.«

»Es ist ein Glück, dass ihm niemand geglaubt hat«, sagte Professor Adler. »Die Welt hat genug Probleme damit, die verschiedenen Kampfmittel unter Kontrolle zu halten, die uns heute schon zur Verfügung stehen.«

»Einige Leute glauben ihm. Die Nazis waren für Ideen auf der Basis von Mystizismus, Okkultismus und Pseudowissenschaft sehr empfänglich. So entsprechen zum Beispiel die Geschichten von der Suche nationalsozialistischer Archäologen nach dem Heiligen Gral durchaus den Tatsachen. Sie haben Kovacs überfallen und ihn und seine Familie entführt. Nach Kriegsende kam heraus, dass sie ihn in einem geheimen Labor an der Entwicklung einer Superwaffe haben arbeiten lassen, mit der sie im letzten Moment den Krieg doch noch zu gewinnen hofften.«

»Aber sie haben den Krieg verloren«, sagte Austin. »Tesla war nicht der Einzige, der Probleme mit seiner Glaubwürdigkeit hatte. Kovacs ist offensichtlich ebenfalls gescheitert.«

Hibbet schüttelte den Kopf. »Es war ein wenig komplizierter, Kurt. Unterlagen, die nach dem Krieg entdeckt wurden, besagten, dass er dicht davor stand, einen Durchbruch auf dem Gebiet der elektromagnetischen Kriegführung zu erzielen. Glücklicherweise ist es nicht mehr dazu gekommen.«

»Warum nicht?«

»Die Russen überfielen das Labor in Ostpreußen, in dem er angeblich arbeitete. Doch Kovacs war bereits verschwunden. Nach dem Krieg betrieben die Russen Forschungen, die auf den Kovacs-Theoremen basierten. Die Vereinigten Staaten hatten davon Wind bekommen und hätten sich liebend gerne mit Kovacs unterhalten. Die Bedeutung elektromagnetischer Strahlung war unserem Militär nicht entgangen. Vor Jahren fand in Los Alamos eine Konferenz statt, in der über angewandte Waffentechnologie im Zusammenhang mit seinen Forschungen diskutiert wurde.«

»Dort war doch auch das Manhattan Project angesiedelt, nicht wahr? Offenbar der ideale Ort für solche Dinge«, sagte Austin.

»Und das in vieler Hinsicht. Die Manipulation elektromagnetischer Strahlen konnte auf ihre Art weitaus vernichtendere Auswirkungen haben als eine Atombombe. Das Militär nahm Kovacs sehr ernst. So wurden während des Golfkriegs elektromagnetische Impulswaffen getestet. Einige Fachleute sind der Auffassung, dass durch diese Experimente und durch ähnliche, die die Sowjets durchführten, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Riesenwellen oder auch ozeanische Wirbel ausgelöst wurden. Deshalb mein Interesse an den hellen Lichterscheinungen am Himmel.«

»Was ist denn so bedeutsam an diesen Blitzen?«, fragte Austin.

»Zeugen, die den von den Amerikanern und den Russen durchgeführten Experimenten beigewohnt haben, berichteten, sie hätten so etwas wie ein Polarlicht oder helle Lichterscheinungen beobachtet, die von elektromagnetischen Impulsen ausgelöst wurden«, antwortete Hibbet.

»Erzählen Sie uns mehr von diesen Experimenten«, bat Austin.

»Es sind heftige Kontroversen ausgebrochen wegen eines Projekts, das die Bezeichnung HAARP trägt — der vollständige Namen lautet High Frequency Active Aural Research Program — und von den Vereinigten Staaten verfolgt wird. Im Prinzip geht es darum, einen gebündelten elektromagnetischen Strahl in die Ionosphäre zu schießen. Verkauft wird das Ganze als rein wissenschaftliches Programm zur Optimierung der weltweiten Kommunikation. Einige Kreise glauben hingegen, dass es sich im Wesentlichen um ein militärisches Programm handelt, das eine ganze Reihe von Zielen verfolgt, die von der ›Star Wars‹-Verteidigung bis hin zur totalen Gedankenkontrolle reichen. Ich weiß nicht, was ich glauben soll, aber das Projekt fußt auf den Kovacs-Theoremen.«

»Sie erwähnten etwas von einer Tesla-Spule«, sagte Austin. »Was haben Sie damit gemeint?«

»Im Grunde nichts anderes als einen einfachen Typ von Resonanzumformer, der aus zwei Spulen besteht. Energieimpulse werden von der einen zur anderen geschickt und erzeugen eine von einem Blitz begleitete Entladung. Bestimmt haben Sie so etwas schon mal in einem Kinofilm gesehen, wo eine solche Anlage offenbar zum Grundinventar im Labor des verrückten Wissenschaftlers gehört.«

Gamay hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt. Sie beugte sich vor. »Wir haben gerade davon gesprochen, diese Wellen ins Erdreich oder in die Atmosphäre zu leiten«, ergriff sie jetzt das Wort. »Was würde denn passieren, wenn man sie zum Meeresboden schickte?«

Hibbet spreizte die Hände in einer Geste der Ratlosigkeit.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Die Meeresgeologie ist nicht mein Arbeitsgebiet.«

»Aber meins«, meldete Paul Trout sich. »Eine Frage, Al, können verstärkte elektromagnetische Wellen hinreichend tief in die Erdkruste eindringen?«

»Das steht außer Frage.«

»In diesem Fall ist es möglich, dass die Impulse in der Erdkruste genauso mehr oder weniger heftige Störungen auslösen können, wie das HAARP-Programm, das Sie erwähnten, die Atmosphäre beeinflusst hat.«

»An welche Art von Störungen haben Sie gedacht?«, fragte Adler.

»An Wirbel und Wellenerscheinungen, zum Beispiel.«

»Könnten diese sich in irgendeiner Weise auf die Ozeane auswirken?«, wollte Austin wissen.

Hibbet massierte sein Kinn. »Die bewegliche flüssige Schicht unter der Erdkruste ist für die Existenz des Magnetfeldes, das die Erde umgibt, verantwortlich. Eine Veränderung dieses Feldes kann alle möglichen Folgen haben.«

Professor Adler schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich wusste es! Jemand hat an meinem Ozean herumgepfuscht!«

»Aber wir haben es hier mit riesigen Entfernungen und Flächenausdehnungen zu tun«, sagte Trout und dämpfte vorübergehend Adlers Überschwang. »Wenn ich diese Diskussion richtig verfolgt habe, so kommt sie gleich wieder auf Joes riesige Zündkerze — oder auf Als Spule — zurück. Selbst wenn diese Vorrichtung enorme Energien hervorbrächte, wäre dies doch im Vergleich mit der Masse der Erde verschwindend gering.«

Austin brach das Schweigen, das nach Trouts Einwand entstand. »Und wenn es mehr als nur einen dieser Apparate gäbe?«

Er schob den Laptop in die Mitte des Tisches und drehte ihn langsam, damit jeder die Lichtpunkte sehen konnte, die die in Mitleidenschaft gezogene Region umgaben.

Trout erkannte die Bedeutung des Gezeigten auf Anhieb.

»Vier Schiffe, von denen jedes seinen Energieausstoß auf einen kleinen Bereich konzentriert. Das könnte funktionieren.«

Austin nickte. »Ich habe noch etwas anderes Interessantes beobachtet.« Er rief das Satellitenbild auf, das kurz nach dem Untergang der Belle aufgenommen worden war. »Meine Vermutung läuft darauf hinaus, dass eins dieser Schiffe selbst den Störungen zum Opfer gefallen ist, die es erzeugt hat.«

Ein zustimmendes Murmeln verriet, dass darüber am Tisch Einigkeit herrschte.

»Das könnte immerhin das Wie erklären«, sagte Zavala.

»Worauf ich mir keinen Reim machen kann, ist das Warum.«

»Ehe wir diese Frage zu beantworten versuchen«, wandte Austin ein, »sollten wir vielleicht lieber ergründen, wer dahinterstecken könnte. Schließlich haben wir es nicht mit jemandem zu tun, der in einer Badewanne planscht und ein paar kleine Wellen erzeugt. Leute, bislang noch ohne Namen und ohne Gesicht, haben weder Kosten noch Mühen gescheut, den Ozean aufzuwühlen. Soweit wir bisher wissen, haben sie die Mannschaften von zwei Schiffen getötet und Schäden in Millionenhöhe verursacht — und alles nur in der Verfolgung irgendeines bislang noch unbekannten Ziels.« Er schaute die am Tisch Versammelten nacheinander an. »Sind wir alle bereit, uns in die Arbeit zu stürzen?«

Hibbet machte Anstalten, sich zu erheben.

»Ich hoffe, Sie holen Kaffee«, sagte Austin grinsend.

Hibbet senkte verlegen den Kopf. »Nein. Eigentlich wollte ich wieder in mein NUMA-Büro zurückkehren. Ich dachte, Sie hätten jetzt alles, was Sie brauchen.«

»Joe, erzähl Al mal etwas über unsere ›Hotel California‹-Regel.«

»Mit Freuden. Es ist wie in dem alten Song von den Eagles, Al. Sobald man ins Spezialteam für Sondereinsätze aufge­nommen wurde, kann man sich vorübergehend abmelden, aber man kann nicht aussteigen.«

»Wir brauchen Ihre Kenntnisse über Elektromagnetismus«, sagte Austin. »Es wäre uns eine große Hilfe, wenn Sie vom rein technischen Standpunkt aus darüber nachdenken könnten, ob diesen Hirngespinsten auch nur eine Spur von Plausibilität zugrunde liegt. Wo können wir mehr über die Kovacs-Theoreme erfahren?«

»Mein bester Rat ist, gehen Sie zum Ursprung. Die Forschungen wurden in Los Alamos durchgeführt. Da draußen gibt es sogar eine Kovacs Society, die ein Museum für seine Arbeiten und Dokumente unterhält. Ich habe mich von Zeit zu Zeit mit Fragen an sie gewandt.«

Austin sah Adler fragend an. »Könnten Sie sich mit Al zusammensetzen und so etwas wie eine schriftliche Darstellung verfassen? Joe, ich denke, wir sind uns einig darin, dass der Bau einer Flotte von schwimmenden Kraftwerken eine ziemlich aufwändige Angelegenheit ist. Ich denke, dass diese Dynamos irgendwo auf Bestellung gebaut wurden.«

»Ich werde mal sehen, ob ich ihre Herkunft feststellen kann«, versprach Zavala.

»Wir könnten noch heute Nachmittag nach New Mexico fliegen und morgen früh wieder zurück sein«, sagte Gamay.

Austin nickte. »Bringt in Erfahrung, wie weit diese Experimente gingen und ob sie noch immer durchgeführt werden. Wir tragen alles zusammen, was jemals über Kovacs geschrieben wurde. Vielleicht finden wir etwas, das unsere ganze Mühe lohnt.«

Er bedankte sich bei jedem für sein Erscheinen und schlug vor, dass sie am nächsten Tag um die gleiche Uhrzeit wieder zusammenkommen sollten. Er und Zavala würden sich in ein paar Stunden in der NUMA-Zentrale treffen. Als er wieder ins Haus zurückkehrte, ging Austin an seinem Bücherschrank vorbei, und sein Blick blieb an einem Buch über Plato hängen.

Schatten und Echos. Echos und Schatten.

Er fragte sich, wie Plato wohl dieses neue Rätsel erklärt hätte.

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