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Atlantischer Ozean Gegenwart

Niemand nahm denjenigen, die die Southern Belle zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, übel, wenn sie sich fragten, ob die Person, die dem riesigen Frachtdampfer seinen Namen gegeben hatte, über einen besonders verschrobenen Humor verfügte oder nur unter starker Kurzsichtigkeit litt. Trotz eines eleganten Namens, der an mit den Wimpern klimpernde, vorbürgerkriegstypische Weiblichkeit denken ließ, war die Belle, offen gesagt, eine stählerne Monstrosität mit nichts, das auch nur entfernt an weibliche Schönheit erinnerte.

Die Southern Belle gehörte zu einer neuen Generation schneller, seetüchtiger Schiffe, die nach Jahren, in denen die Vereinigten Staaten anderen Schiffe bauenden Nationen hinterhergehinkt waren, in amerikanischen Werften vom Stapel liefen. Sie war in San Diego entworfen und in Biloxi gebaut worden. Mit zweihundertdreißig Metern war sie länger als zwei Fußballfelder und bot genügend Raum, um fünfzehnhundert Container aufzunehmen.

Der wuchtige Kasten wurde von einem hoch aufragenden Aufbau auf seinem Achterdeck aus gesteuert. Das über dreißig Meter breite Deckhaus, das einem Apartmenthaus glich, enthielt die Quartiere und Messehallen für Mannschaft und Offiziere, ein Hospital und Behandlungszimmer, Frachtbüros und Konferenzsäle.

Mit ihren leuchtenden Reihen sechsundzwanzig Zoll großer berührungssensitiver Monitorschirme erinnerte die Brücke der Belle an einen Spielsaal in Las Vegas. Das geräumige Opera­tions­zentrum reflektierte die neue Ära im Schiffsbau. In jedem Bereich der integrierten Systeme und Funktionen wurden Computer eingesetzt.

Aber alte Gewohnheiten sterben nur langsam aus. Der Kapitän des Schiffs, Pierre »Pete« Beaumont, blickte durch ein Fernglas und traute immer noch seinen Augen mehr als den raffinierten elektronischen Spielereien, die ihm zur Verfügung standen.

Von seinem Aussichtsplatz auf der Brücke hatte Beaumont einen ungehinderten Blick auf das schrecklich schöne Panorama des atlantischen Unwetters, das um sein Schiff herum tobte. Heftige Winde mit Orkanstärke peitschten Wellen auf, die so hoch waren wie Häuser. Die Brecher ergossen sich über den Bug und überspülten die an Deck festgezurrten Container bis fast zur Mitte des Schiffs.

Das extreme Ausmaß von elementarer Gewalt, die um das Schiff herum wütete, hätte kleinere Schiffe verzweifelt Schutz suchen lassen und ihren Kapitänen schwitzende Hände beschert. Aber Beaumont war so ruhig, als schipperte er in einer Gondel durch den Canal Grande.

Der freundliche Südstaatler liebte Stürme. Er ergötzte sich an dem Geben und Nehmen zwischen seinem Schiff und den Elementen. Anzusehen, wie die Belle in einer atemberaubenden Demonstration von Kraft durch die Wellen pflügte, war für ihn schon fast ein sinnliches Vergnügen.

Beaumont war der erste und einzige Kapitän des Schiffs. Er hatte zugesehen, wie es gebaut wurde, und kannte jede Niete und jede Schraube auf dem Schiff. Es war für den regelmäßigen Verkehr zwischen Europa und Amerika konstruiert worden, eine Route, die es durch einige der wildesten und unangenehmsten Ozeanregionen der Erde führte. Er vertraute darauf, dass der Sturm innerhalb der Skala der Naturgewalten rangierte, denen zu widerstehen das Schiff gebaut worden war.

Das Schiff hatte in New Orleans seine Ladung aus synthetischem Gummi, Faserstoffen, Kunststoffgranulat und Maschinenteilen übernommen und war dann um Florida herum bis zu einem Punkt an der Atlantikküste gedampft, wo es auf seinen schnurgeraden Kurs nach Rotterdam einschwenkte.

Der Wetterbericht hatte mit seiner Vorhersage genau ins Schwarze getroffen. Wind mit Sturmstärke war angekündigt worden, der sich zu einem atlantischen Orkan entwickeln sollte. Das Unwetter erwischte das Schiff etwa dreihundert Kilometer vom Festland entfernt. Beaumont war kein bisschen beunruhigt, auch als der Sturm noch an Stärke zunahm. Das Schiff hatte schon viel schlimmeres Wetter ohne Probleme überstanden.

Er suchte den Ozean ab, als er plötzlich erstarrte und fast in sein Fernglas hineinkroch. Er ließ das Fernglas sinken, setzte es wieder an die Augen und murmelte etwas. Er wandte sich an seinen Ersten Offizier.

»Schauen Sie sich mal diesen Teil des Ozeans an. Etwa bei zwei Uhr. Sagen Sie mir, ob Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt.«

Der Offizier war Bobby Joe Butler, ein talentierter junger Mann, der aus Natchez stammte. Butler machte kein Geheimnis aus seinem Wunsch, eines Tages ein Schiff wie die Belle zu führen. Vielleicht sogar die Belle selbst. Indem er der Aufforderung des Kapitäns nachkam, betrachtete Butler den Ozean bei dreißig Grad Steuerbord.

Er sah nur graues, aufgewühltes Wasser, das sich bis zum nebelverhangenen Horizont erstreckte. Dann, etwa zwei Kilometer vom Schiff entfernt, gewahrte er eine weiße Linie aus Schaum, mindestens doppelt so hoch wie der Seegang dahinter. Noch während er rätselte, was es mit dieser Erscheinung auf sich haben könnte, wuchs die Wasserwand erschreckend schnell in die Höhe, als ob sie ihre Energie aus den Wellen ringsum gewann.

»Das sieht aus wie ein ziemlich großer Brecher, der da auf uns zurollt«, sagte Butler in seinem schleppenden Mississippiakzent.

»Was schätzen Sie, wie hoch?«

Der jüngere Mann blickte durch das Fernglas. »Die durchschnittliche Wellenhöhe beträgt etwa zehn Meter. Diese dort scheint doppelt so hoch zu sein. Donnerwetter! Haben Sie schon mal etwas so Mächtiges gesehen?«

»Noch nie«, antwortete der Kapitän. »In meinem ganzen Leben nicht.«

Der Kapitän wusste, dass sein Schiff mit der Welle fertig würde, wenn die Belle mit dem Bug hineintauchte, um ihr die Wucht einer Breitseite zu nehmen. Der Kapitän befahl dem Steuermann, den Autopiloten darauf zu programmieren, den Bug direkt auf die Welle auszurichten und vorerst diesen Kurs zu halten. Dann ergriff er das Mikrofon und betätigte einen Schalter auf dem Armaturenbrett, der die Brücke mit allen auf dem Schiff verteilten Lautsprechern verband.

»Alle Mann Achtung! Hier spricht der Kapitän. Eine Monsterwelle wird gleich aufs Schiff treffen. Jeder sucht sich einen sicheren Ort, möglichst weit entfernt von losen, eventuell herumfliegenden Gegenständen, und wartet ab. Der Aufprall wird heftig. Ich wiederhole. Der Aufprall wird heftig.«

Als Vorsichtsmaßnahme befahl er dem Funker, einen SOS-Ruf abzusetzen. Das Schiff konnte immer noch eine Entwarnung senden, falls der Hilferuf sich als unnötig erweisen sollte.

Die grüne, mit weißen Schaumflocken gekrönte Welle war noch etwa einen Kilometer vom Schiff entfernt. »Sehen Sie sich das an«, sagte Butler. Der Himmel wurde von einer Serie greller Lichterscheinungen erhellt. »Blitze?«

»Schon möglich«, erwiderte der Kapitän. »Viel mehr Sorgen macht mir allerdings dieser verdammte Brecher!«

Das Profil der Welle war mit nichts zu vergleichen, was der Kapitän je in seinem Leben gesehen hatte. Im Gegensatz zu den meisten Wellen, die von der oberen Kante schräg abfallen, war diese von oben bis unten völlig glatt und gerade wie eine sich vorwärtsschiebende Wand.

Der Kapitän hatte den seltsamen Eindruck einer außerkörperlichen Wahrnehmung. Ein Teil von ihm betrachtete die heranrollende Welle auf eine desinteressierte, eher wissenschaftliche Art und Weise, fasziniert von ihrer Höhe und ihrer geballten Energie, während der andere Teil, über die ungeheure, drohende Wucht staunend, hilflos dastand.

»Sie wächst sogar noch«, murmelte Butler mit einem Ausdruck unverhohlener kindlicher Ehrfurcht.

Der Kapitän nickte. Er schätzte die Höhe der Welle mittlerweile auf gut dreißig Meter, fast dreimal so hoch wie zu dem Zeitpunkt, als er sie entdeckt hatte. Sein Gesicht war aschfahl. Sein solides, unerschütterliches Selbstvertrauen bekam deutliche Risse. Ein Schiff mit den Ausmaßen der Belle konnte nicht auf der Stelle wenden, und sie lag immer noch ziemlich schräg zu der Welle, als sie sich aufzubäumen schien wie ein lebendiges Wesen.

Er erwartete den Aufprall der Welle und war völlig unvorbereitet, als sich vor ihm im Ozean ein Abgrund öffnete, der groß genug war, um sein Schiff zu verschlingen.

Der Kapitän starrte fassungslos in die Grube, die vor seinen Augen erschienen war. Das ist das Ende der Welt, dachte er.

Das Schiff kippte in den gigantischen Trog, glitt an seiner Innenwand hinab und bohrte den Bug in den Ozean. Der Kapitän stürzte nach vorne gegen die vorderen Schotts.

Anstatt frontal zuzuschlagen, kippte die Welle von oben auf das Schiff und begrub es unter Tausenden Tonnen Wasser.

Die Fenster des Steuerhauses implodierten unter dem Druck, und der gesamte Atlantische Ozean schien sich in die Brücke zu ergießen. Die Wassermassen erwischten den Kapitän und die anderen Männer auf der Brücke mit der Gewalt von hundert Feuerwehrschläuchen. Die Brücke verwandelte sich in ein Gewirr von Armen und Beinen. Bücher, Schreibstifte und Sitzpolster wurden herumgewirbelt.

Ein Teil des Wassers strömte durch die Fenster hinaus, und der Kapitän kämpfte sich zurück zum Steuerstand. Sämtliche Kontrollmonitore waren tot. Radar, Kreiselkompasse und Funkanlage des Schiffs waren ausgefallen. Aber was viel schlimmer war, auch die Energiezufuhr war unterbrochen. Alle Instrumente waren durch Kurzschluss lahmgelegt. Die Steuerelektronik war nutzlos.

Der Kapitän ging zum Fenster, um das Ausmaß der Schäden zu begutachten. Der Bug war zerstört, und das Schiff hatte Schlagseite. Er vermutete, dass der Rumpf ein Leck aufwies. Die Rettungsboote auf dem Vorderdeck waren aus den Davits gerissen worden. Das Schiff schlingerte wie ein betrunkenes Flusspferd.

Die Riesenwelle schien das Meer aufgewühlt zu haben wie ein Demagoge, der den Straßenmob zur Raserei aufstachelt. Brecher rollten über das Vorderdeck. Weitaus gefährlicher war, dass das Schiff, da seine Maschinen stillstanden, in eine schlimmstmögliche Position quer zu den auflaufenden schweren Seen trieb.

Nachdem es die Welle überstanden hatte, lag das Schiff wie ein waidwundes Tier auf der Seite, bereit, den Gnadenschuss zu erhalten oder, wie es im bildhaften Jargon der Seefahrt hieß, »abzusaufen«.

Der Kapitän bemühte sich, seinen Optimismus zu behalten. Die Southern Belle konnte überleben, auch wenn einige ihrer Sektionen überflutet waren. Jemand hatte sicherlich den SOS-Ruf gehört. Wenn nötig, konnte das Schiff tagelang treiben, bis Hilfe eintraf.

»Käpt’n!« Der Erste Offizier unterbrach seine Gedanken.

Butler blickte durch das geborstene Fenster. Seine Augen starrten ungläubig auf einen fernen Punkt. Der Blick des Kapitäns folgte Butlers ausgestrecktem Finger, und er begann zu zittern, als er von Angst übermannt wurde.

In weniger als vierhundert Metern Entfernung entstand eine weitere horizontal verlaufende Schaumkrone.


Das erste Flugzeug traf zwei Stunden später ein. Es kreiste über dem Meer und erhielt bald Gesellschaft in Gestalt anderer Flugzeuge. Dann näherten sich die ersten Hilfsschiffe, die ihre jeweiligen Routen verlassen hatten. Die Schiffe hielten Abstände von fünf Kilometern zueinander und durchkämmten das Meer wie ein Suchtrupp, der in einem Wald nach einem verlaufenen Kind Ausschau hält. Selbst nach tagelanger Suche fanden sie nichts.

Die Southern Belle, eins der modernsten und leistungsfähigsten Frachtschiffe, die je konstruiert und gebaut wurden, war ganz einfach spurlos verschwunden.

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