38

Barrett saß unter den dunklen Balken des altehrwürdigen Schankraums des Landgasthofs von Leesburg an einem Tisch in einer ruhigen Nische. Er beschrieb wie wild eine Serviette und hatte den Kopf tief über seine Arbeit gesenkt. Der Tisch selbst war längst mit Dutzenden zerknüllter Servietten bedeckt. Neben seinem rechten Ellenbogen stand außerdem ein unberührter Krug Bier. Er ignorierte die Blicke der anderen Gäste, mit denen sie die Spinne betrachteten, die seinen kahlen Schädel zierte.

Austin und Karla setzten sich zu ihm an den Tisch. Als er spürte, dass er Gesellschaft bekommen hatte, blickte Barrett mit einem geistesabwesenden Blick auf. Er grinste, als er ihre Gesichter erkannte.

»Sie ahnen gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen. Ich könnte jeden Moment explodieren.«

»Bitte tun Sie das noch nicht«, sagte Austin. Er fragte Karla, was sie trinken wolle, und bestellte zwei »Black and Tans«, eine Mischung aus Guinness und Lagerbier.

Ihre Fahrt im offenen Wagen durch die Landschaft Virginias hatte sie durstig gemacht. Als das Bier gebracht wurde, leerte Austin sein Glas gleich zur Hälfte, während Karla genussvoll ihre Nase in den Schaum tauchte.

Ehe er zu seinem Treffen mit Barrett aufgebrochen war, hatte Austin Pitt über den Stand der Polsprung-Affäre ins Bild gesetzt. Pitt hatte versprochen, Sandecker anzurufen, der am nächsten Tag von einer Auslandsreise zurückkehren würde, und eine Konferenz mit dem Präsidenten vorzubereiten, sobald dieser von einer Inspektionsreise in den Mittleren Westen zurückkäme, in deren Verlauf er sich über durch Tornados hervorgerufene Schäden in dieser Region hatte informieren wollen. In der Zwischenzeit solle Austin sich mit Vertretern des Pentagon zusammensetzen. Als zusätzliches Bonbon gab er Austin freie Hand, was den Einsatz der umfangreichen technischen Möglichkeiten der NUMA betraf.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte Austin und wischte sich den Mund ab, nachdem er das kalte Gebräu hatte durch seine Kehle rinnen lassen. »Wir sind so schnell gekommen, wie es ging. Als Sie anriefen, war ziemlich viel Lärm im Hintergrund, daher weiß ich nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe«, sagte Austin. »Ich glaube, Sie erzählten irgendetwas von einem Kinderreim, aber den Rest habe ich nicht mitgekriegt.«

»Nachdem Sie nach Manassas gestartet sind, habe ich ein wenig mit Karlas Gute-Nacht-Gedicht herumgespielt. Der Titel ›Drunter-drüber‹ und einige Textzeilen entsprechen dem, was wir vom Polsprung wissen. Und das schien kein Zufall zu sein.«

»Ich habe immer wieder feststellen müssen, dass nur wenig auf Zufall beruht«, sagte Austin. »Ein Zufall ist jedoch, dass ich noch immer Durst habe und ein unberührtes Bier auf dem Tisch steht.«

»Ich bin viel zu aufgedreht, um zu trinken.« Barrett schob das Bier über den Tisch zu Austin hinüber, der erst Karla davon trinken ließ und dann selbst einen kräftigen Schluck nahm.

»Wir haben gerade über Zufälle gesprochen«, kam Austin aufs eigentliche Thema zurück.

Barrett nickte. »Kovacs war ein Hobbykryptograph. Ich fing mit der Annahme an, dass das Gedicht ein chiffrierter Text ist. Ich ging von der Vermutung aus, dass die Reimpaare im Grunde bedeutungslos waren — Buchstaben oder Worte, die in die Chiffrierung eingefügt wurden, um den Entschlüssler zu verwirren — daher überging ich sie und konzentrierte mich auf den eigentlichen Text. Eine Chiffrierung unterscheidet sich von einem Code, zu dessen Übersetzung meistens ein Codebuch notwendig ist. Um eine Chiffrierung zu knacken, braucht man einen Schlüssel, der in der Nachricht selbst versteckt ist. Und eine Zeile sprang mir regelrecht entgegen.«

»›Der Schlüssel steckt in der Tür‹«, sagte Karla, ohne lange nachzudenken.

»Genau das ist die Zeile! Es war so offensichtlich, fast schon zu offensichtlich«, sagte Barrett, »aber Kovacs war Wissenschaftler, und die haben es meistens mit der Präzision. Es wäre viel genauer gewesen, wenn er gesagt hätte, der Schlüssel steckt im Schloss.«

»Der Schlüssel steckte in dem Wort Tür«, sagte Austin.

»Das war auch mein Gedanke«, bestätigte Barrett die Vermutung. »Tür wurde mein Schlüsselwort. Man muss an das Entschlüsseln eines Codes auf unterschiedliche Weise herangehen. Zum einen hat man es mit der reinen Technik der Chiffrierung zu tun, also mit dem Ersetzen oder Verschieben von Worten oder Buchstaben. Andererseits ist da auch noch die Bedeutung der Elemente.« Als er sah, dass seine Erklärung nur ratlose Blicke auslöste, fuhr er fort: »Was tut eine Tür?«

»Das ist einfach«, sagte Karla. »Sie trennt einen Raum vom anderen. Man muss sie öffnen und schließen, wenn man hindurchgeht.«

»Richtig«, sagte Barrett. »Der Buchstabe, der das Wort eröffnet, ist das T.«

Er nahm sich eine saubere Serviette und schrieb mit seinem Kugelschreiber darauf:


TUVWXYZABCDEFGHIJKLMNOPQRS


»Damit ist die Buchstabenfolge für das Alphabet festgelegt. Ich nahm dann den letzten Buchstaben in Tür und benutzte ihn auf gleiche Weise für das Chiffrealphabet.«

»Lassen Sie mich mal versuchen«, sagte Karla. Sie nahm den Kugelschreiber und schrieb:


RSTUVWXYZABCDEFGHIJKLMNOPQ


»Ich kaufe Ihnen ein Ticket nach Bletchley Park«, sagte Barrett und spielte auf die englische Entschlüsselungszentrale während des Zweiten Weltkriegs an.

»Wenn man die Alphabete benutzt, um das Wort ›Botschaft‹ zu schreiben, erhält man nur sinnloses Zeug.« Karla betrachtete das Wort voller Enttäuschung.

»Ihr Großvater wollte es nicht zu einfach machen. Ich kam zu dem gleichen Ergebnis. Dann nahm ich mir wieder das Schlüsselwort vor. Wenn ich von der Schreibweise TUER ausgehe, da das Englische keine Umlaute kennt, befinden der erste und der letzte Buchstabe sich auf den Positionen eins und vier. Also schrieb ich jedes vierte Wort des Gedichts auf, doch mein Instinkt sagte mir, das sei zu viel. Also versuchte ich mein Glück mit jedem vierten Buchstaben. Aber da war noch immer nichts, was ich als Hinweis hätte betrachten können. Dann dachte ich, dass T und R im Alphabet durch dreiundzwanzig Buchstaben voneinander getrennt sind. Diesen Wert wendete ich auf das Gedicht an und schrieb jedes dreiundzwanzigste Wort heraus. Dann nahm ich das normale und das Chiffrealphabet zu Hilfe, um eine Kryptoanalyse vorzunehmen. Können Sie mir folgen?«

»Nein«, gestand Austin.

»Ja, das ist mir auch passiert«, sagte Barrett grinsend.

»Also habe ich gepfuscht. Ich hab den ganzen Mist durch einen Computer gejagt.« Er griff in seine Tasche und holte einen Computerausdruck hervor. »Und das habe ich herausbekommen.«

»Ein Durcheinander von Vokalen und Konsonanten, aber keine Worte«, stellte Karla fest.

»Ich habe alles versucht. So rief ich einen Professor am MIT an, der ungarisch spricht, und habe ihm alles rübergefaxt. Nichts. Dann fiel mir ein, dass Kovacs rumänisch gesprochen hat, und ich rief einen Typen an, der ein transsylvanisches Restaurant in Seattle betreibt. Er konnte sich ebenfalls keinen Reim auf die Buchstabenfolge machen. Es war zum Haare raufen, was ich auch sicher getan hätte, wenn noch welche auf meinem Kopf wären. Also kehrte ich zu den Worten zurück, die ich weggestrichen hatte, speziell zu Drunter-drüber. Ich dachte, dass sie vielleicht auf das zutrafen, was ich gerade tat.«

»Wie konnten Sie die Botschaft umdrehen?«, fragte Karla zweifelnd.

»Das konnte ich nicht. Aber ich konnte die Worte ziemlich frei interpretieren und habe sie rückwärts aufgeschrieben, so wie die zweite Zeile des Gedichts. Das tat ich. Und es ergab noch immer keinen Sinn. Dann hatte ich eine Erleuchtung. Während ich auf meinem Motorrad durch die Gegend fuhr, erkannte ich plötzlich, dass es gar keine Worte sein sollten. Es war nur eine Folge von Buchstaben. Sobald ich mir darüber klar war, kam ich zu dem Schluss, dass in der Botschaft auch Zahlen verborgen waren. Also zurück zum Computer. Bestimmte Buchstaben fungierten als Indikatoren, die andeuteten, dass der nächste Buchstabe in Wirklichkeit eine Zahl war. A, angekündigt durch einen anderen Buchstaben, heißt 1. B entspricht 2und so weiter.«

»Ich verstehe schon wieder nichts«, sagte Austin. Dem verwirrten Gesichtsausdruck Karlas nach zu urteilen, hatte sie sich ebenfalls im Land der Chiffren und Codes verwirrt.

Barrett legte den Computerausdruck beiseite und ergriff die Serviette mit beiden Händen. »Das ist eine Gleichung.«

»Eine Gleichung für was?«, fragte Austin.

»Allein für sich betrachtet ergibt die Botschaft keinen Sinn, aber wir müssen sie in einen Zusammenhang stellen. Kovacs ging davon aus, dass die Botschaft nur einer einzigen Person zugänglich sein würde: Karla. Er dachte, sie habe das Gedicht stets zur Verfügung, wenn es gebraucht würde.«

»Könnte es sein, dass Sie genau das meinen, was ich denke?«, fragte Austin.

»Ich bin erst vor ein paar Minuten daraufgekommen, daher kann ich mir erst sicher sein, wenn ich einen Test durchgeführt habe«, sagte Barrett. »Aber es ist durchaus möglich, dass Kovacs uns eine Reihe elektromagnetischer Frequenzen mitgeteilt hat.«

»Die Gegenmaßnahme«, flüsterte Karla.

Austin griff nach der Serviette, hob sie vom Tisch hoch und behandelte sie, als könnte sie jeden Moment zerfallen.

»Ist das etwa die Frequenz, die einen Polsprung rückgängig machen kann?«

Barretts Adamsapfel führte einen nervösen Tanz auf.

»Verdammt, ich hoffe es«, sagte er heiser.

Karla beugte sich vor und küsste Barrett mitten auf seinen kahlen Schädel. »Sie haben es geschafft!«

Für jemanden, der soeben die Welt gerettet hatte, sah Barrett ziemlich mutlos aus. »Schon möglich. Ich fürchte nur, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«

»Was meinen Sie?«, fragte Austin.

»Nach unserem Treffen habe ich mir die Telefongespräche angehört, die durch die Wanze übertragen wurden, die Sie auf Gants Landsitz verstecken konnten. Er und Margrave haben sich unterhalten. Mittlerweile haben sie das Land verlassen.«

»Verdammt.« Austin biss sich auf die Lippen. »Wo sind sie hin?«

»Keine Ahnung. Margrave hat sich mir gegenüber niemals über die Pläne für die letzte Phase geäußert. Aber ich mache mir weniger Sorgen darüber, wo etwas passieren könnte, als vielmehr darüber, was passieren wird. Ich denke, sie sind im Begriff, den Polsprung tatsächlich einzuleiten.«

»Können Sie abschätzen, wie viel Zeit uns bleibt?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte Barrett. »Der Zielort befindet sich im Südatlantik. Ich war bei den letzten Gesprächen nicht mehr zugegen, daher kenne ich den genauen Ort nicht. Sobald sie in Position sind, ist es nur noch eine Frage von Stunden, ehe sie auf den Knopf drücken.«

Austin gab Barrett die Serviette zurück. »Kann diese Gleichung in etwas übertragen werden, mit dem wir die Polumkehr tatsächlich rückgängig machen können?«

»Sicher. Genauso wie E=mc2 in die Bombe und in Atomkraft umgesetzt wurde. Man braucht nur die entsprechenden Mittel und genügend Zeit.«

»Sie kriegen alle Mittel, die Sie brauchen. Wie lange brauchen Sie, um etwas zu bauen, das die geforderte Aufgabe lösen kann?«

»Erst einmal brauche ich Hilfe. Ich habe das technische Wissen beigesteuert und das Modell für die Auslöse-Apparatur hergestellt, doch andere waren mit der eigentlichen Konstruktion befasst.«

»Ich verschaffe Ihnen Hilfe. Wie lange?«

Barrett revanchierte sich mit einem trüben Lächeln. »Zweiundsiebzig Stunden. Vielleicht.«

»Ich dachte, ich hätte Sie sechsunddreißig sagen gehört.« Austin lächelte unschuldig. »Und wie groß ist dieser Apparat?«

»Richtig groß«, sagte Barrett. »Sie haben ja die Anlage auf dem Transmitter-Schiff gesehen.«

»Autsch«, kam es Austin ungewollt über die Lippen. Sein unerschütterliches Selbstvertrauen geriet für einen Moment ins Wanken, doch sein lebhafter Geist fing sich sofort wieder. »Was tut man mit dem Ding, sobald es gebaut wurde?«

»Es muss elektromagnetische Wellen übertragen und dabei in etwa den gleichen Bereich abdecken wie der Polsprung.« Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns etwas überlegen, wie wir dieses Gerät zum Zielbereich transportieren. Verdammt. Ich allein habe der Welt diese ganze Schweinerei eingebrockt.«

Trotz Barretts Hell’s-Angel-Erscheinung hatte er eine ziemlich zerbrechliche Psyche. Austin sah, dass Schuldgefühle dieses brillante Computergenie zu zerbrechen drohten, und wenn das geschah, wäre er zu nichts mehr nütze.

»Dann kann ich mir niemanden vorstellen, der besser geeignet wäre, diese Schweinerei zu beseitigen. Überlassen Sie die Transportfrage mir. Ich habe eine Idee, die funktionieren könnte.«

Er erhob sich von seinem Stuhl und legte ein paar Geldscheine für das Bier auf den Tisch. Während sie den Gasthof verließen, sah Austin, wie Spider den Weg zu seinem Motorrad einschlug, und fragte: »Wo wollen Sie hin?«

»Zu meiner Maschine.«

»Die lasse ich von jemandem abholen«, meinte Austin und ergriff seinen Arm. »Zu gefährlich.«

Karla fasste Barretts anderen Arm, und gemeinsam lotsten sie ihn zum Jeep. Während der Rückfahrt nach Washington holte Austin sein Mobiltelefon hervor, rief Zavala an und erklärte, er habe einen wichtigen Auftrag für ihn.

»Ich werde mich sofort darum kümmern«, versprach Zavala, nachdem er sich die Einzelheiten angehört hatte. »Ich habe übrigens mit den Trouts gesprochen. Es gibt gute Nachrichten. Sie haben das Transmitter-Schiff per Satellit nach Rio verfolgt und sind bereits dorthin unterwegs.«


Weniger als eine Stunde später bog Austin mit Barrett und Karla in die Einfahrt zur NUMA-Tiefgarage ein, und sie fuhren anschließend mit dem Fahrstuhl hinauf in den dritten Stock. Die Flure waren verlassen und dunkel bis auf einen Lichtbalken, der aus dem Arbeitszimmer neben dem Konferenzsaal drang. Zavala hatte Austins Bitte erfüllt und Hibbet abgeholt.

Austin begrüßte ihn. »Vielen Dank, dass Sie mitgekommen sind, Alan. Tut mir leid, dass wir Sie zum zweiten Mal haben belästigen müssen, aber wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Ich hatte es durchaus ernst gemeint, als ich sagte, Sie könnten mich Tag und Nacht anrufen, wenn Sie mich brauchen. Gibt es seit unserem letzten Gespräch irgendetwas Neues?«

»Wir haben eindeutig feststellen können, dass der Strudel und die Monsterwellen Nebenwirkungen eines Experiments zur Auslösung eines Polsprungs waren. Und dass die magnetische Verschiebung eine geologische Reaktion mit katastrophalen Auswirkungen für die ganze Welt verursachen kann.«

Hibbets Gesicht wurde aschfahl. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, ein solches Ereignis zu verhindern?«

Austin brachte trotz der Lage den Anflug eines Lächelns zustande. »Ich hoffe, dass Sie uns das verraten können.«

»Wieso ich? Das verstehe ich nicht.«

»Dies ist Spider Barrett«, stellte Austin seinen Begleiter vor. »Er hat den Mechanismus zum Auslösen eines Polsprungs konstruiert.«

Hibbet musterte den todtraurigen Barrett und seinen tätowierten Schädel. Er war schon lange genug in der Szene tätig, um zu wissen, dass die wissenschaftliche Welt von einer ganzen Reihe seltsamer Typen bevölkert wurde. Er streckte ihm spontan eine Hand entgegen. »Hervorragende Arbeit.«

Barretts Miene hellte sich bei diesem professionellen Lob zu einem Strahlen auf. »Vielen Dank.«

Austin spürte sofort zwischen den beiden Männern eine synergistische Verbindung. »Wir möchten, dass Sie sich mit Spider, Joe und Karla zusammensetzen, um eine Antenne zu bauen, die gegebenenfalls die niederfrequenten elektro­magnetischen Wellen neutralisieren kann, die einen Polsprung in Gang setzen können.«

»Eine solche Antenne zu bauen, wird kein Problem sein. Dazu ist nur ein wenig Metall und Draht nötig. Aber sie wäre ohne die richtigen Frequenzen, die nötig sind, um die Auslösefrequenzen auszulöschen, allenfalls als Wäscheleine zu gebrauchen.«

Karla lächelte und angelte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus ihrem Blouson. Mit unendlicher Behutsamkeit faltete sie das Papier auseinander und schob es auf dem Tisch zu Hibbet hinüber. Er ergriff die Serviette und las stirnrunzelnd die Gleichung, die darauf notiert war. Dann leuchtete in seinen Augen ein Licht des Verstehens auf.

»Woher haben Sie das?«, fragte er. Seine Stimme war zu einem andächtigen Flüstern herabgesunken.

»Von meinem Großvater«, antwortete Karla.

»Karlas Großvater war Lazio Kovacs«, erklärte Austin. »Er verschlüsselte die Ergebnisse seiner Arbeit, ehe er sie weitergab. Dank Spider haben wir das Rätsel entschlüsselt. Und jetzt, nachdem wir alle unsere Hausaufgaben gemacht haben, die entscheidende Frage — können Sie uns eine Antenne bauen?«

»Ja«, sagte Hibbet. »Zumindest glaube ich, dass ich das kann.«

»Das reicht uns schon. Verraten Sie uns, was Sie brauchen. Ihnen stehen sämtliche Ressourcen der amerikanischen Regierung zur Verfügung.«

Hibbet lachte und schüttelte den Kopf. »Das ist um einiges besser, als sich mit den Erbsenzählern der NUMA herumzu­schlagen. Sie glauben gar nicht, welche Schwierigkeiten ich immer habe, neue Geräte für notwendige Experimente bewilligt zu bekommen.« Er überlegte. »Selbst wenn ich auf die Schnelle etwas zusammenbasteln kann, brauchen wir immer noch eine Plattform, um die Konstruktion dort hinzuschaffen, wo sie den größten Nutzen hat.«

»Wie groß wäre diese Konstruktion denn?«, wollte Austin wissen.

»Sehr groß«, antwortete Hibbet. »Dann wären da noch die Generatoren, um die Antenne mit Energie zu versorgen. Und etwas, womit man tonnenschwere Lasten transportieren kann.«

»Das wären also die schlechten Nachrichten«, sagte Austin.

»Und was ist die gute Nachricht?«, fragte Hibbet.

Austin grinste. »Not macht erfinderisch.«

In diesem Moment klingelte das Telefon, und Austin meldete sich. Pitt musste einige bedeutende Fäden gezogen haben. Das Pentagon gab Bescheid, dass man einen Wagen losgeschickt habe, um sie abzuholen.


Die Erde schien an hundert verschiedenen Stellen in Flammen zu stehen … Vulkane brachen aus wie eine Epidemie und spuckten breite, glühende Lavaströme aus, deren Dampfwolken den Planeten in tiefen Schatten tauchten. Stürme von ungeahnter Kraft erzeugten in der gigantischen Wolke rasende Wirbel, die über die Kontinente wanderten. Tsunamis brandeten von Osten und Westen gegen die Küsten Nordamerikas und reduzierten den Erdteil zu einer schmalen Landmasse, die von zwei wütenden Ozeanen verschlungen zu werden drohte.

Dann verschwand das Bild des gepeinigten Planeten. Der große Bildschirm im Vorführsaal des Pentagon wurde dunkel. Die Beleuchtung, die für die Dauer der Vorführung ausgeschaltet worden war, hellte sich wieder auf und holte Austin und die betroffenen Gesichter eines Dutzends hochrangiger Militärs und Regierungsvertreter, die an einem langen Konferenztisch saßen, aus dem Dunkel.

»Die Computersimulation, die Sie soeben gesehen haben, wurde von Dr. Paul Trout, einem Experten für Computergrafik der NUMA, vorbereitet«, sagte Austin. »Sie liefert ein ziemlich genaues Bild von den Folgen einer geologischen Polverschiebung.«

Ein Viersternegeneral, der Austin gegenübersaß, sagte: »Ich wäre der Erste, der zugeben würde, dass die Bilder, die wir gesehen haben, im höchsten Maße beängstigend sind, wenn sich alles so abspielen würde. Aber wie Sie eben sagten, handelt es sich um eine Computersimulation und könnte daher ein Szenario sein, das ausschließlich auf Annahmen beruht und nicht auf Tatsachen.«

»Ich wünschte, es wären nur Annahmen, General. Wir hatten nicht die Zeit, eine schriftliche Zusammenfassung vorzubereiten, daher müssen Sie sich gefallen lassen, dass ich Ihnen die wesentlichen Punkte dessen, womit wir es zu tun haben, mündlich erläutere. Das erste Glied in der Kette der Ereignisse, die uns hier zusammengeführt haben, wurde vor mehr als sechzig Jahren mit der Arbeit eines genialen Elektroingenieurs namens Lazio Kovacs geschmiedet.«

Mehr als eine Stunde lang erläuterte Austin die historischen Abläufe, angefangen mit Nikola Tesla über Kovacs’ Flucht aus Ostpreußen bis hin zu den von den Vereinigten Staaten und Russland durchgeführten Experimenten zum Einsatz elektromagnetischer Waffensysteme. Er beschrieb sein Treffen mit Barrett, dem Mann, der die praktische Anwendbarkeit der Theoreme erschlossen hatte, sowie die Schiffe versenkenden ozeanischen Störungen und die Pläne, einen Polsprung zu initiieren. Austin war sich des fantastischen Charakters seiner Geschichte durchaus bewusst, daher verzichtete er auf die Schilderung einiger Details. Hätte er sie nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er niemals an die Existenz von Zwergmammuts in einer im Innern eines urzeitlichen Vulkans eingeschlossenen Kristallstadt geglaubt.

Aber auch ohne die unglaublichen Details schlug ihm eine Woge der Skepsis entgegen. Austin stellte seine Auffassung mit dem Geschick eines Staranwalts vor einer Jury dar. Doch er wusste, dass man ihn mit Fragen überschütten würde. Ein Ministerialdirektor aus dem Verteidigungsministerium unterbrach Austin, als er Jordan Gants Verbindung mit Margrave erläuterte.

»Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, wenn ich Schwierigkeiten habe zu glauben, dass der Chef einer gemeinnützigen Organisation und der milliardenschwere Inhaber einer angesehenen Softwarefirma sich wegen irgendeines vagen neo-anarchistischen Anliegens zusammentun, um diesen sogenannten Polsprung herbeizuführen.«

»Über Einzelheiten lässt sich diskutieren«, sagte Austin, »aber es ist alles andere als ein vages Anliegen. Lucifer hat die Lichtreklamen des Broadway benutzt, um der Welt seine Botschaft zu schicken, und hat anschließend als Warnung New York City für einige Zeit lahmgelegt. Ich denke, 9/11 hat gezeigt, wie gefährlich es ist, scheinbar verrückte Warnungen zu ignorieren.«

»Wo liegen diese sogenannten Transmitter-Schiffe?«, wollte ein Marineoffizier wissen.

»In Rio de Janeiro«, antwortete Austin.

»Sie sagten, es hätte früher vier Schiffe gegeben, von denen eins gesunken sei.«

»Das ist richtig. Wir nahmen an, dass ein Ersatzschiff gebaut würde, konnten aber nichts dergleichen feststellen, daher gehen wir davon aus, dass sie sich bei der Ausführung ihres Plans mit drei Schiffen begnügen.«

»Dann dürften wir leichtes Spiel haben«, sagte der Ministerialdirektor. »Ich schlage vor, dass wir das nächste U-Boot auf diese Schiffe ansetzen, und wenn sie irgendetwas Verdächtiges versuchen, versenken wir sie.«

»Wie steht es mit diplomatischen Verwicklungen?«, fragte der Viersternegeneral. »Sollen wir auch auf hoher See mit der Taktik ›Erst schießen, dann fragen‹ vorgehen?«

»Es wäre nichts anderes, als ein Passagierflugzeug abzuschießen, das aufs Weiße Haus oder den Kongress gelenkt wird«, sagte der Ministerialdirektor. »Können wir es tun?«, fragte er den Marineoffizier.

»Die Marine liebt Herausforderungen«, erwiderte dieser.

»Dann machen wir es so. Ich werde den Verteidigungsminister von dem Plan in Kenntnis setzen, und dann können wir sofort loslegen. Er wird den Präsidenten unterrichten, wenn er morgen von seiner Reise zurückkehrt.« Er wandte sich an Austin. »Vielen Dank für die erschöpfenden Informationen.«

»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Austin. »Es gibt Grund zu der Annahme, dass wir etwas zur Verfügung haben, womit sich der Polsprung verhindern oder neutralisieren lässt. Möglicherweise haben wir eine wirkungsvolle Gegenmaßnahme gefunden.«

Sämtliche Augen im Saal starrten ihn an.

»Welche Art von Gegenmaßnahme?«, fragte der General mehr aus Höflichkeit als aus ernsthaftem Interesse.

»Es gibt eine Reihe von elektromagnetischen Frequenzen, von denen wir annehmen, dass sie der Polverschiebung entgegenwirken.«

»Wie wollen Sie diese Gegenmaßnahme anwenden?«, wollte der Ministerialdirektor wissen. »Punktuell oder großräumig?«

»Ich habe da ein paar Ideen.«

»Die einzige sinnvolle Gegenmaßnahme, die mir einfällt, wäre ein Torpedo in den Arsch dieser Irren«, sagte der Marineoffizier.

Jeder im Saal außer Austin brach in brüllendes Gelächter aus.

»Ich will ja nicht unhöflich sein«, ergriff der Ministerial­direktor wieder das Wort. »Aber ich denke, Sie sollten Ihre Überlegungen zu Papier bringen und bei Gelegenheit meiner Sekretärin geben.«

Die Konferenz war vorüber. Während Austin durch das Labyrinth von Fluren und Korridoren im Pentagon geführt wurde, erinnerte er sich an seine Begegnung mit Gant und an seinen Eindruck, dass er jemand war, dessen Doppelzüngigkeit man auf keinen Fall unterschätzen sollte.

Von wegen leichtes Spiel, dachte er.

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