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Petrow war im Begriff, sein Büro in dem tristen Moskauer Regierungsgebäude zu verlassen, als seine Sekretärin ihn darüber informierte, dass er am Telefon verlangt werde. Er hatte schlechte Laune. Er hatte es nicht geschafft, sich vor einer Diplomatenparty in der Norwegischen Botschaft zu drücken. Norwegen, du liebe Güte! Da gab es nichts als Räucherfisch zu essen. Er nahm sich vor, sich mit Wodka volllaufen zu lassen und sich gründlich zu blamieren. Vielleicht würden sie ihn dann nie wieder einladen.

»Schreiben Sie auf, was der Betreffende will«, hatte er spontan geknurrt. Auf dem Weg nach draußen und schon halb in der Tür hatte er sich noch einmal umgedreht. »Wer ist der Anrufer?«

»Ein Amerikaner«, antwortete seine Sekretärin. »Er sagt, sein Name sei John Doe.«

Petrow war wie vom Donner gerührt. »Sind Sie sicher?«

Petrow schob seine verblüffte Sekretärin einfach zur Seite und kehrte in sein Büro zurück, wo er den Telefonhörer von der Gabel angelte und sich ans Ohr hielt. »Petrow«, meldete er sich.

»Hallo, Iwan. Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, da haben Sie Ihre Telefongespräche selbst entgegengenommen«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Und ich erinnere mich, dass Sie früher Kurt Austin geheißen haben«, sagte Petrow. Sein unfreundlicher Ton passte ganz und gar nicht zu dem amüsierten Funkeln in seinen Augen.

»Touché, alter Junge. Immer noch der alte, scharfzüngige KGB-Apparatschik. Wie geht es Ihnen, Iwan?«

»Mir geht es gut. Wie lange ist es jetzt her seit der Razow-Affäre?«

»Zwei Jahre, denke ich. Sie sagten damals, ich solle mich melden, wenn ich jemals Hilfe brauchen sollte.«

Austin und Petrow hatten zusammengearbeitet, um den Plan Mikhail Razows, eines russischen Demagogen, zu vereiteln. Er hatte seinerzeit die Absicht gehabt, mithilfe umfangreicher im Ozean vorhandener Methanhydratfunde einen gegen die Ostküste der Vereinigten Staaten gerichteten Tsunami auszulösen.

»Sie haben Glück, dass Sie mich noch antreffen. Ich war unterwegs zu einer aufregenden Party in der Norwegischen Botschaft. Was kann ich für Sie tun?«

»Zavala und ich müssen so schnell wie möglich auf die Neusibirischen Inseln.«

»Sibirien?« Petrow kicherte. »Stalin ist tot, Austin. Sie schicken keine Menschen mehr in den Gulag.« Er schaute sich um. »Diejenigen, die ihre Vorgesetzten kritisieren, erhalten eine Beförderung, einen Titel und ein großes, furchtbar geschmacklos eingerichtetes Büro, in dem sie sich zu Tode langweilen.«

»Waren Sie wieder mal unartig, Iwan?«

»Das lässt sich nicht ins Russische übersetzen. Es reicht, wenn man sagt, dass es niemals klug ist, seinen Vorgesetzten anzugreifen.«

»Wenn ich das nächste Mal mit Putin rede, lege ich ein gutes Wort für Sie ein.«

»Mir wäre es lieber, Sie würden das nicht tun. Präsident Putin ist nämlich der Vorgesetzte, den ich angegriffen habe. Ich habe einen engen Freund von ihm bloßgestellt, der Geld aus einer Ölfirma veruntreut hat, die die Regierung übernommen hat, nachdem sie ihren Eigentümer verhaften ließ. Die üblichen Kreml-Spielereien. Ich wurde sofort aus meiner Geheimdienstposition entfernt. Ich habe zu viele Freunde in hohen Positionen, daher konnte man mich nicht in aller Offenheit bestrafen. Stattdessen haben sie mich in diesen Samtkäfig gesetzt. Warum Sibirien, wenn ich fragen darf?«

»Ich kann jetzt keine Einzelheiten nennen. Ich kann nur so viel sagen, dass es eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit ist.«

Petrow lächelte. »Wann ist bei Ihnen mal etwas nicht dringlich? Wann wollen Sie los?«

Austin hatte Petrow angerufen, nachdem er versucht hatte, Karla Janos an der Universität von Alaska aufzuspüren. Der Abteilungsleiter, mit dem er gesprochen hatte, meinte, Karla befinde sich auf einer Expedition zu den Neusibirischen Inseln. Austin wusste, dass er schnell handeln musste, als der Abteilungsleiter andeutete, dass es in dieser Woche schon das dritte Mal sei, dass jemand sich nach der Ivory-Island-Expedition erkundige.

»Sofort«, sagte er daher zu Petrow. »Noch eher, wenn Sie das ermöglichen können.«

»Sie haben es wirklich eilig. Ich rufe die Botschaft in Washington an und lasse den Papierkram durch einen Kurier zu Ihnen bringen. Meine Hilfe hat allerdings ihren Preis. Sie müssen mir gestatten, Sie zu einem Drink einzuladen, damit wir uns über die alten Zeiten unterhalten können.«

»Abgemacht.«

»Brauchen Sie Hilfe, wenn Sie dort sind?«

Austin überlegte. Von früher wusste er, dass Petrows Vorstellung von Hilfe aus einem harten Spezialteam bestand, das bis zu den Zähnen bewaffnet war und darauf brannte, losschlagen zu können.

»Vielleicht später. Die Situation könnte anfangs eine behutsamere Vorgehensweise erforderlich machen.«

»In diesem Fall halte ich mein Sanitätsteam bereit für den Fall, dass Sie ärztliche Hilfe benötigen. Vielleicht komme ich sogar selbst.«

»Sie haben offensichtlich keinen Scherz gemacht, als Sie meinten, Sie litten unter Langeweile«, stellte Austin fest.

»Es ist wirklich nicht mehr so wie in den alten Zeiten«, sagte Petrow mit Wehmut in der Stimme.

»Wir werden darin schwelgen, wenn wir unsere Drinks nehmen«, versprach Austin. »Tut mir leid, dass ich unsere Unterhaltung abrupt beenden muss, aber ich habe noch einige wichtige Anrufe zu tätigen. Ich melde mich, um Ihnen die letzten Reisedetails durchzugeben.«

Petrow zeigte Verständnis und bat Austin, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Er legte auf und gab seiner Sekretärin den Auftrag, den Wagen abzubestellen, der ihn in die Norwegische Botschaft bringen sollte. Dann rief er die Russische Botschaft in Washington an. Niemand wusste dort von seinem bürokratischen Exil, und er konnte problemlos die Papiere vorbereiten lassen, die Austin und Zavala die Einreise nach Russland zwecks einer NUMA-Expedition gestatten würden. Nachdem man ihm versichert hatte, dass die Papiere innerhalb der nächsten Stunde ausgeliefert würden, lehnte er sich in seinem Schreibtischsessel zurück und zündete sich eine der schlanken Havannazigarren an, die er bevorzugte, und dachte dann an seine Begegnungen mit dem draufgängerischen und mutigen Amerikaner von der NUMA.

Petrow war in den Vierzigern und hatte eine hohe Stirn und asiatisch anmutende Wangenknochen. Man hätte ihn als attraktiv bezeichnen können, wäre da nicht die große Narbe gewesen, die seine rechte Wange verunstaltete. Die Narbe war ein Geschenk von Austin, aber er hegte keinen Groll gegen den Amerikaner. Er und Austin waren mehrmals aneinandergeraten, als sie während des Kalten Krieges noch für spezialisierte Marinespionageeinheiten ihrer Länder gearbeitet hatten. Richtig hitzig wurde es, als sich ihre Wege während eines sowjetischen Versuchs kreuzten, ein gesunkenes amerikanisches Spionage-U-Boot mitsamt seiner Mannschaft zu bergen.

Austin hatte die Mannschaft gerettet und Petrow gewarnt, dass er in dem U-Boot eine Zeitbombe installiert habe. Wütend, dass man ihn ausgetrickst hatte, war Petrow mit seinem Mini-U-Boot auf Tauchstation gegangen und von der Explosion erwischt worden. Er hatte Austin den Unfall und die sich daraus ergebende Narbe nicht übel genommen und das Ganze stattdessen als Lektion verstanden, sich bei seinen Aktionen nicht von seinem Temperament leiten zu lassen. Später, als sie in der Razow-Affäre zusammenarbeiteten, erwiesen sie sich als hervorragendes Team. Falls Austin glaubte, er könne ihn in seinem eigenen Land um ein besonderes Vergnügen bringen, dann irrte er sich gewaltig, dachte Petrow. Er griff nach dem Telefonhörer, um einiges in die Wege zu leiten.


Austin telefonierte mit Zavala. »Ich war schon halb aus der Tür«, meinte Zavala. »Ich sehe dich bei der NUMA.«

»Es gibt eine Änderung der Pläne«, sagte Austin. »Wir gehen nach Sibirien.«

»Sibirien!«, wiederholte Zavala mit einem deutlichen Mangel an Begeisterung. »Ich bin Amerikaner mexikanischer Abstammung. Wir haben für Kälte nicht viel übrig.«

»Vergiss nur nicht, deine pelzgefütterten Unterhosen einzupacken, und dir geht es gut. Ich bringe meine Donnerbüchse mit«, sagte er und benutzte Zavalas Spitznamen für seinen großkalibrigen Bowen Revolver. »Vielleicht solltest du auch eine kleine Rückversicherung mitnehmen.«

Er verabredete sich mit Zavala am Flughafen und suchte dann einige Kleidungsstücke zusammen, die arktischen Bedingungen angemessen sein würden.


Tausende von Kilometern entfernt saß Schroeder in seiner engen Kabine und warf einen letzten Blick auf die topographische Karte, ehe er einen Fuß auf die Insel setzte.

Schroeder hatte schon vor langer Zeit erkannt, wie nötig es ist, den Schauplatz genau zu kennen, auf dem zu operieren von einem erwartet wird, sei es ein ländliches Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern oder eine Stadtlandschaft von wenigen Blocks mit allen Seitenstraßen und Gassen.

Er hatte die Landkarte mehrmals studiert und nun das Gefühl, dass er Ivory Island so gut kannte, als sei er schon einmal dort gewesen. Die Insel hatte eine längliche Form und war knapp zwanzig Kilometer breit und etwa vierzig Kilometer lang. Das Meer hatte den Permafrost aufgetaut und weggespült, so dass die Küste aussah wie die Kante einer Tonscherbe. An der Südküste bot eine halbmondförmige Einbuchtung der Uferlinie einen schützenden Hafen. In seiner Nähe mündete ein Fluss ins Meer.

Urzeitliche Wasserläufe, einige längst ausgetrocknet, andere noch Wasser führend, hatten ein labyrinthartiges Netz von gewundenen, natürlichen Korridoren durch die wellige Tundra geschaffen. Ein längst erkalteter Vulkan wölbte sich aus dem Permafrost auf wie ein riesiges schwarzes Furunkel.

Er legte die Landkarte beiseite und blätterte in einem zerlesenen russischen Reiseführer, den er in einem Antiquariat gekauft hatte, während er versuchte, eine Transportmöglichkeit auf die Insel zu arrangieren. Er war froh, feststellen zu können, dass er die russische Sprache immer noch recht gut beherrschte. Ivory Island wurde Ende des sechzehnten Jahrhunderts von russischen Pelztierjägern entdeckt. Sie fanden riesige Haufen von Tierknochen und Mammutstoßzähnen, die schließlich der Insel ihren Namen gaben. Die Knochen lagen überall herum, teilweise verstreut über die Landschaft oder in Hügeln, die durch den Frost zusammengehalten wurden.

Der Pelzhandel fand sein Ende in einer Orgie aus Mord und Blut, und die Elfenbeinjäger traten auf den Plan. Qualitativ hochwertiges Elfenbein fand bei den Schnitzmeistern Chinas und in anderen Teilen der Welt reißenden Absatz. Sich dieser profitablen weißen Goldader durchaus bewusst, verkaufte die russische Regierung Handelsrechte an private Unternehmer. Einer dieser Geschäftsleute engagierte einen Agenten namens Sannikoff, der sämtliche arktischen Inseln erkundete.

Auf Ivory Island befand sich der größte Vorrat, doch aufgrund ihrer Abgelegenheit blieb sie zugunsten besser zugänglicher Rohstoffquellen im Süden weitgehend unberührt. Einige unerschrockene Elfenbeinsammler gründeten eine Siedlung an der Mündung des Flusses, die sie Ivorytown nannten, stand in dem Buch, jedoch hatte die Insel ein weitgehend verlassenes Dasein geführt, da es erheblich gastlichere Orte gab.

Das Klopfen an seiner Kabinentür unterbrach seine Recherchen. Es war der Kapitän, ein Mann mit rundem Gesicht, der halb Russe, halb Eskimo war.

»Das Boot ist bereit, um Sie an Land zu bringen«, meldete er.

Schroeder ergriff seinen Seesack und folgte dem Kapitän zur Backbordreling des Trawlers, bevor er über eine Leiter hinunter in ein Ruderboot stieg. Während ein Matrose ruderte, benutzte Schroeder einen langstieligen Fischhaken, um Eisbrocken, die im stillen, kalten Wasser trieben, aus dem Weg zu schieben. Nur wenige Minuten später rutschte der Bootsrumpf knirschend auf den Kiesstrand. Schroeder warf seinen Seesack ans Ufer, stieg aus dem Boot und half dem Matrosen, es wieder ins Wasser zu schieben.

Er verfolgte, wie das Ruderboot von Nebelschwaden verschluckt wurde. Obgleich das Fischerboot nur wenige hundert Meter vom Ufer entfernt lag, war es hinter dem feuchten, dampfähnlichen Dunstvorhang kaum zu erkennen. Es war vereinbart worden, dass das Boot in dieser Position vierundzwanzig Stunden lang warten sollte. Schroeder würde innerhalb dieser Frist am Strand auftauchen und das Zeichen geben, abgeholt zu werden. Er hoffte, dass Karla sich dann in seiner Begleitung befand. Er hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht, ob sein warnender Finger ausreichen würde, sie dazu zu bewegen, die Insel zu verlassen. Mit diesem Problem würde er sich zu gegebener Zeit beschäftigen. Er hoffte nur, dass er nicht zu spät käme. Er war für sein Alter gut in Form, aber sein Körper konnte nicht leugnen, dass er acht harte Jahrzehnte hinter sich hatte und dieser Tatsache allmählich Tribut zu zollen begann. Seine Muskeln und Gelenke schmerzten, und er humpelte mittlerweile auf einem Bein.

Schroeder hörte das dumpfe Dröhnen der Trawlermaschine. Der Kapitän musste entschieden haben, dass er lieber mit der Hälfte der vereinbarten Summe abdampfte, anstatt auf Schroeder zu warten, wie sie vereinbart hatten, und dann die zweite Hälfte seines Honorars zu kassieren. Schroeder zuckte gleichmütig die Achseln. Er hatte den Kapitän von Anfang an als Pirat eingeschätzt. Das Geschäft rückgängig zu machen, war jetzt nicht mehr möglich.

Er sah sich an, was er von der Insel erkennen konnte. Der Strand stieg leicht an bis zu einer niedrigen Böschung, die zu ersteigen keinerlei Schwierigkeiten machen würde. Er schwang sich den Seesack auf die Schulter und entdeckte dann Fußabdrücke im Sand. Das musste wohl der Weg nach Ivorytown sein.

Er marschierte für zehn Minuten am Fluss entlang und lachte schallend auf, als er die traurige Ansammlung armseliger Häuser erblickte, der man den Status einer Stadt verliehen hatte. Die großen, bunten Zelte, die dicht neben den alten Bauten aufgeschlagen worden waren, verrieten ihm, dass er das Expeditionscamp gefunden hatte.

Während er sich dem Lager näherte, erkannte er zu seiner Überraschung, dass die Konstruktionen, die er für Steinhäuser gehalten hatte, in Wirklichkeit aus großen Knochen erbaut waren. Er schaute in zwei dieser Bauwerke hinein und entdeckte einige Schlafsäcke. Ein drittes Gebäude war aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen verschlossen. Er inspizierte die Zelte und entdeckte, dass eins als Küche und Messe eingerichtet war. Schroeder umrundete das Lager und machte sich mehrmals durch laute Rufe bemerkbar, erhielt jedoch keine Antwort. Er schaute zu dem düsteren, alten Vulkan und über die Insel, bemerkte aber keine Bewegung. Das überraschte ihn nicht. In diesem Netz von tiefen Gräben, das die Insel überzog, hätte sich eine ganze Armee verstecken können.

Er kehrte zum Fluss zurück und sah an seinem Ufer Fußspuren, die landeinwärts führten. Mit erfahrenem Blick unterschied er fünf Arten von Abdrücken, darunter zwei kleinere, nicht so tiefe, die aussahen, als wären sie von Frauen hinterlassen worden. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Die Aussicht, sein Patenkind wiederzusehen, beflügelte ihn, und er beschleunigte seine Schritte. Einige Zeit später verwandelte Schroeders Hochgefühl sich in höchste Besorgnis.

Abdrücke von schweren Stiefeln überlagerten die anderen. Karla und ihre Gruppe wurden offenbar beobachtet und verfolgt.

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