Kapitel 11

Das Handelsministerium fiel über mich her wie ein Rudel hungriger Wölfe, und diesmal war es nicht der vernünftige, große Mann, dem ich im Mannschaftsraum gegenübersaß, sondern ein gedrungenes Individuum mit markantem Kinn und humorlosen Augen. Er lehnte es ab, Platz zu nehmen; stand lieber. Er hatte auch keinen schweigsamen Protokollanten mitgebracht. Er war buchstäblich eine Ein-Mann-Band, und er verstand sich auf Paukenschläge.

«Ich muß Sie auf die Luftverkehrsordnung von 1966 hinweisen. «Seine Stimme war abgehackt und kompromißlos, die in seinem Ministerium übliche Höflichkeit nur noch als hauchdünner Lacküberzug wahrnehmbar.

Ich ließ durchblicken, daß ich mit dem fraglichen Gesetzeswerk einigermaßen vertraut sei. Das war nicht weiter überraschend, denn es regelte auch die kleinste Kleinigkeit im Leben eines Berufspiloten.

«Uns ist mitgeteilt worden, daß Sie am letzten Freitag gegen Artikel 25, Paragraph 4 Absatz a und gegen Regel 8, Paragraph 2 verstoßen haben.«

Ich wartete, bis er fertig war. Dann sagte ich:»Wer hat Ihnen das mitgeteilt?«

Er sah mich scharf an.»Das tut nichts zur Sache.«

«War es vielleicht Polyplane?«

Unwillkürlich zuckten seine Augenlider.»Wenn uns ei-

ne Beschwerde zugeht, die glaubhaft gemacht werden kann, dann sind wir verpflichtet, dem nachzugehen.«

Die Beschwerde konnte glaubhaft gemacht werden, soviel stand fest. Die Zeitungen vom Samstag lagen an diesem Montagvormittag noch im Mannschaftsraum, allesamt mit Berichten über den letzten Anschlag auf Colin Ross’ Leben. Groß aufgemacht natürlich auf den Titelseiten und mit detaillierten Berichten von all meinen Passagieren, wie wir ihn hinaus über die offene See, unter die Wolkenuntergrenze von siebenhundert Fuß und schließlich nach Hause gebracht hatten.

Es gab nur ein Problem — es war gesetzeswidrig, mit zahlenden Passagieren an Bord einer einmotorigen Maschine wie der Six so niedrig übers Meer zu fliegen, wie ich es getan hatte, und auf einem Flugplatz zu landen, über dem die Wolkenuntergrenze tiefer als tausend Fuß lag.

«Sie geben zu, daß Sie gegen Artikel…«

Ich unterbrach ihn.»Ja.«

Er öffnete den Mund und schloß ihn wieder.»Ähh, ich verstehe. «Er räusperte sich.»Sie werden zu gegebener Zeit eine Vorladung erhalten.«

«Ja«, sagte ich wieder.

«Nicht Ihre erste, glaube ich. «Eine Feststellung, kein Hohn.

«Nein«, erwiderte ich gleichmütig.

Kurzes Schweigen. Dann sagte ich:»Wie funktionierte diese Vorrichtung? Dieses Salpetersäurepflaster an dem Gummiband?«

«Das geht Sie nichts an.«

Ich zuckte die Achseln.»Jeder Schuljunge, der Chemieunterricht hat, kann mir das sagen.«

Er zögerte. Nicht der Typ, irgend etwas preiszugeben. Er würde niemals wie der große Mann sagen oder andeuten, daß seine Regierung oder sein Ministerium einen Fehler gemacht haben könnte. Aber nachdem er sein Gewissen und zweifellos auch seine Dienstanweisungen durchforscht hatte, sah er sich schließlich doch zu einer Erklärung in der Lage.

«Das Pflaster enthielt Fiberglasfasern, die mit einer schwachen Lösung von Salpetersäure getränkt waren. Ein Abschnitt des Drahtes im Kabel zum Hauptschalter war blankgelegt und das Fiberglas darumgewickelt worden. Die Salpetersäure löste den Kupferdraht langsam auf; das dauerte bei der geringen Konzentration wahrscheinlich ungefähr anderthalb Stunden. «Er hielt inne und überlegte.

«Und das Gummiband?«hakte ich nach.

«Ja… Nun, Salpetersäure ist genau wie Wasser selbst ein elektrischer Leiter, so daß der Stromkreis geschlossen bleiben mußte, solange das Fiberglas an seinem Platze war, selbst wenn der Draht sich inzwischen vollständig aufgelöst hatte. Um den Stromkreis zu unterbrechen, mußte die Lage Fiberglas entfernt werden. Dafür wurde gesorgt, indem es unter Spannung mit einem Gummiband an einer anderen Stelle des Kabels befestigt wurde. Wenn jetzt also die Salpetersäure einen Abschnitt des Drahtes aufgelöst hatte, wurde das ganze Pflaster sofort von dem Gummiband weggezogen. Ähh… Habe ich mich verständlich gemacht?«

«Ja«, stimmte ich zu,»das haben Sie.«

Er schien sich selbst einen kleinen Ruck zu geben, geistig und körperlich, und wandte sich mit plötzlicher Energie zur Tür.

«Gut«, sagte er schroff.»Dann muß ich noch kurz mit Mr. Harley sprechen.«»Haben Sie auch schon mit Major Tyderman gesprochen?«fragte ich.

Fast ohne zu zögern, sagte er wieder:»Das geht Sie nichts an.«

«Vielleicht haben Sie ihn schon aufgesucht?«

Schweigen.

«Vielleicht war er aber auch nicht zu Hause?«

Weiteres Schweigen. Dann wandte er sich mir in starrköpfiger Verärgerung zu.»Sie haben mich nicht auf diese Weise zu befragen. Ich kann Ihnen keine Antwort geben. Ich bin hier, um Sie zu vernehmen, nicht umgekehrt. «Er ließ seinen Mund zuschnappen und sah mich scharf an.»Und dabei hat man mich noch gewarnt«, murmelte er.

«Ich hoffe, Sie finden den Major«, sagte ich höflich,»bevor er noch mehr kleine Vorrichtungen an Stellen anbringt, wo sie nicht hingehören.«

Er schnaubte und schritt vor mir her aus dem Mannschaftsraum hinaus und hinein in Harleys Büro. Harley wußte, warum er diesen Besuch bekam, und war erwartungsgemäß seit Freitag wütend auf mich gewesen.

«Mr. Shore gibt die Verstöße zu«, sagte das Handelsministerium.

«Es würde ihm schwerfallen, sie nicht zuzugeben«, sagte Harley ärgerlich,»wenn man bedenkt, daß jede R.A.F.-Basis im Land ihm mitgeteilt hat, wie niedrig die Wolkenuntergrenze in Cambridge war.«

«Nach Lage der Dinge«, stimmte das Handelsministerium zu,»hätte er sofort nach Manchester zurückkehren müssen, wo die Wetterverhältnisse noch innerhalb der zulässigen Grenzen lagen, und dort warten, bis sich die Bedingungen verbesserten, statt die ganze Strecke nach Ostengland zu fliegen, so daß er schließlich nicht mehr genug Treibstoffreserven übrig hatte, um irgendeinen wolkenfreien Flugplatz zu erreichen. Das einzig Richtige wäre auf jeden Fall gewesen, schon ganz zu Anfang umzukehren.«

«Und Colin Ross zur Hölle gehen zu lassen«, sagte ich im Plauderton.

Sie kniffen wie in einem stummen Chor die Lippen zusammen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Wenn man rote Ampeln überfuhr und die Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht einhielt, weil man jemanden ins Krankenhaus brachte, dessen Leben auf Messers Schneide stand, dann konnte man dennoch für diese Verstöße verfolgt werden. Das war genau das gleiche. Die gleiche Sackgasse. Humanität gegen Gesetz, ein jahrhundertealtes Dilemma. Triff deine Wahl und sieh zu, wie du mit den Konsequenzen fertig wirst.

«Ich übernehme keinerlei Verantwortung für das, was Sie getan haben«, sagte Harley streng.»Ich werde kategorisch erklären, auch vor Gericht, wenn es sein muß, daß Sie den Anweisungen von Derrydown strikt zuwidergehandelt haben und daß sich Derrydown vollkommen von Ihrer Handlungsweise distanziert.«

Sollte ich ihm ein Becken für die rituelle Waschung der Hände bringen? Ich überlegte einen Moment, kam dann aber zu dem Schluß, es besser zu lassen.

Er fuhr fort:»Und wenn Ihnen irgendeine Buße auferlegt wird, dann werden Sie sie natürlich selbst bezahlen müssen.«

Mein Pech, dachte ich, daß ich immer dann mein Fett abkriege, wenn meine Firma zu nahe am Bankrott ist, um sich großzügig zu zeigen. Aber ich sagte nur:»Ist das jetzt alles? Wir haben gleich einen Flug, wie Sie ja wissen.«

Sie bedeuteten mir angewidert, daß ich gehen könne, und ich sammelte meine Sachen zusammen und machte mich in der Aztec auf den Weg, um eine Gruppe von Geschäftsleuten von Elstree nach Den Haag zu fliegen.

Als Colin und ich am vorangegangenen Freitag Nancys Cherokee abgeschlossen und dafür gesorgt hatten, daß niemand an die Maschine herankam, fielen auch schon im Laufschritt die ersten Kohorten der lokalen Presse ein, und das Handelsministerium, das niemals schläft und immer wacht, führte pausenlos Ferngespräche.

Der Flugfunk ist ungefähr so privat wie der Times Square: Es stellte sich heraus, daß Dutzende von flugbegeisterten Nichtfliegern in Mittelengland meinen Funkverkehr mit Birmingham Radar mitgehört und danach die Telefonvermittlung in Cambridge mit Anrufen überschwemmt hatten, um herauszubekommen, ob Colin Ross in Sicherheit war. Unverzagt hatten sie der Fleet Street übermittelt, daß möglicherweise sein Verlust zu beklagen sei. Seine Ankunft — heil und ganz — wurde in einer Nachrichtensendung des Fernsehens vierzig Minuten nach unserer Landung bekanntgegeben. Die allgewaltigen britischen Medien hatten alle Hebel in Bewegung gesetzt. Nancy und Annie Villars hatten Fragen beantwortet, bis sie heiser waren und schließlich in der Damentoilette Zuflucht suchten. Colin war den Umgang mit der Presse gewohnt, aber auch er war blaßblau vor Erschöpfung, als er sich endlich von der immer weiter anwachsenden, sensationslüsternen Meute gelöst hatte.

«Kommen Sie«, sagte er zu mir.»Holen wir Nancy und fahren nach Hause.«

«Ich muß Harley anrufen.«

Harley wußte bereits Bescheid und ging hoch wie ein Feuerwerkskörper. Irgend jemand von Polyplane, so schien es, hatte ihn sofort angerufen und mit ätzender Freundlichkeit davon in Kenntnis gesetzt, daß sein ach so hochqualifizierter Chefpilot jedes nur erdenkliche Gesetz gebrochen und Derrydown damit vollends in die Klemme gebracht hatte. Die Tatsache, daß sein bester Kunde noch am Leben war und ihm daher erhalten blieb, schien Harley völlig entgangen zu sein. Polyplane hatte die Gelegenheit bekommen, ihm einen schmerzhaften Tritt zu versetzen, und das war meine Schuld.

Ich konnte in Cambridge bleiben, weil ich versprach, wieder die Rechnung für den Stellplatz im Hangar zu bezahlen, und fuhr mit Nancy und Colin nach Hause.

Nach Hause.

Ein gefährliches, verlockendes Wort. Aber das Schlimme war, daß ich es tatsächlich so empfand. Zuhause. Ich war erst zum dritten Mal da, und es war schon so vertraut, so behaglich, zwanglos, unbefangen… Es war nicht gut, daß ich das Gefühl hatte, dort hinzugehören, denn das tat ich nicht.

Den Samstagvormittag verbrachte ich damit, in Cambridge von Angesicht zu Angesicht mit der Polizei und per Telefon mit dem Handelsministerium in London zu sprechen. Beide Behörden murmelten vorsichtig etwas davon, daß sie vielleicht in der Tat Major Rupert Tyderman bitten wollten, ihnen bei ihren Nachforschungen behilflich zu sein. Am Samstagnachmittag flog ich Colin noch einmal nach Haydock und zurück — ohne Zwischenfälle; den Samstagabend verbrachte ich wieder zufrieden in Newmarket; am Sonntag flog ich Colin nach Buckingham und von dort aus in der Aztec weiter nach Ostende. Schaffte es, Harley aus dem Weg zu gehen, bis ich Sonntagabend zurückkam und er schon auf mich wartete, als ich zum Hangar rollte. Er maulte über eine halbe Stunde lang herum, erklärte mir, daß man sich an die Buchstaben des Gesetzes halten müsse. Der Kern seiner Einlassungen war, daß Nancy auch ohne mich irgendwo auf dem flachen Land von Ostengland sicher hätte landen können. Es einfach getan haben müßte. Sie wäre gegen keinen von all diesen Funktürmen und Kraftwerksschornsteinen geprallt, die über das Gebiet verstreut waren und in die Wolken geragt hatten wie lange Nadeln. Sie waren natürlich alle auf ihrer Karte eingetragen und hätten sie in tausend Nöte gebracht. Sie hätte gewußt, daß sie eine gute Chance hatte, einen davon zu treffen, wenn sie auf gut Glück hinunterging. Der Fernsehturm von Mendlesham brachte es auf mehr als tausend Fuß… Aber, sagte Harley, es wäre ihr schon nichts passiert. Bestimmt wäre ihr nichts passiert.

«Wie hätten Sie sich an ihrer Stelle gefühlt?«fragte ich.

Er gab mir keine Antwort. Er wußte es sehr gut. Als Pilot — als Geschäftsmann war er ein verdammter Narr.

Am Dienstagmorgen eröffnete er mir, daß Colin seinen Flug nach Folkestone an diesem Tag telefonisch abgesagt habe, daß ich aber trotzdem mit der Six hinfliegen müsse, um einen Besitzer und seine Freunde von Nottingham dorthin zu bringen.

Ich vermutete, daß Colin seine Absicht, in Folkestone zu reiten, geändert hatte und statt dessen in Pontefract starten würde, aber so war es nicht. Er war, wie ich feststellte, nach Folkestone geflogen. Und zwar mit Polyplane.

Ich merkte erst nach den Rennen, daß er da war, als er in einem Taxi zurück zum Flugplatz kam. Er stieg aus, wie üblich nach einem Rennen in erschöpftem Zustand, ließ seinen Blick über die Reihe wartender Flugzeuge schweifen und ging dann schnurstracks an mir vorbei zu der Polyplane-Maschine.

«Colin«, sagte ich.

Er blieb stehen, wandte sich mir zu und starrte mich an. Ohne jede Spur von Freundlichkeit, ohne die geringste Spur.

«Was ist los?«fragte ich verwirrt.»Was ist passiert?«

Er wandte seinen Blick von mir ab und fixierte die Polyplane-Maschine. Ich folgte seinem Blick. Der Pilot stand daneben und feixte. Es war derjenige, der sich geweigert hatte, Kenny Bayst zu helfen, und er hatte schon den ganzen Nachmittag nach Leibeskräften gegrinst.

«Sind Sie mit ihm gekommen?«fragte ich.

«Ja, das bin ich. «Seine Stimme war kalt. Seine Augen auch.

Ich war perplex.

«Ich verstehe nicht.«

Colins Gesichtsausdruck machte eine Wandlung durch — von kalt nach glühend heiß.»Sie — Sie — ich glaube, ich kann es nicht ertragen, mit Ihnen zu reden.«

Ein Gefühl von Unwirklichkeit lähmte meine Zunge. Ich sah ihn nur bestürzt an.

«Sie haben uns richtig schön auseinandergebracht… Oh, ich glaube wohl, daß das nicht Ihre Absicht war… Aber Nancy ist zu Hause ausgezogen, und ich habe Midge weinend in der Wohnung zurückgelassen.«

Ich war entsetzt.»Als wir am Sonntagvormittag aufbrachen, war alles gut…«

«Gestern«, sagte er tonlos.»Nancy hat es gestern herausgefunden, als sie zu einer Flugstunde zum Flugplatz ging. Es hat sie völlig umgehauen. Sie kam in furchtbarer Laune heim und tobte durch das ganze Haus, hat buchstäblich mit allem um sich geworfen, und heute morgen hat sie ihren Koffer gepackt und ist gegangen… Weder Midge noch ich konnten sie aufhalten, und Midge ist entsetzlich besorgt…«Er hielt inne, biß die Zähne zusammen und sagte:»Warum zum Teufel hatten Sie nicht den Mumm, es ihr selbst zu sagen?«

«Ihr was zu sagen?«

«Was?« Er steckte die Hand in die Tasche seiner fadenscheinigen Jeans und brachte einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt zum Vorschein.»Das hier.«

Ich nahm es entgegen. Faltete es auseinander. Spürte, wie die Ausdruckslosigkeit in meinem Gesicht die Oberhand gewann, und wußte, daß ich es nicht verbergen konnte.

Er hatte mir den schärfsten und vernichtendsten Bericht der Boulevardpresse über meine Verhandlung und meine Verurteilung wegen fahrlässiger Gefährdung des Lebens von siebenundachtzig Passagieren in die Hand gedrückt. Eine Eintagsfliege für das Publikum und lange vergessen. Aber unauslöschbar in den Akten und jedem zugänglich, der es ausgraben wollte.

«Das war noch nicht alles«, sagte Colin.»Er hat ihr auch erzählt, daß Sie bei einer anderen Fluglinie wegen Feigheit rausgeflogen sind.«

«Wer hat ihr das erzählt?«sagte ich begriffsstutzig. Ich hielt ihm den Zeitungsausschnitt hin. Er nahm ihn zurück.

«Spielt das eine Rolle?«

«Ja, das tut es.«

«Er verfolgte keine eigennützigen Ziele. Das ist es ja, was sie überzeugt hat.«

«Keine eigennütz. Hat er das gesagt?«

«Ich denke, ja. Was spielt das für eine Rolle?«

«War es ein Pilot von Polyplane, der es ihr erzählt hat? Zum Beispiel der, der Sie heute fliegt?«Und sich jetzt dafür rächt, dachte ich, daß ich ihm in Redcar gedroht habe.

Colins Mund klappte auf.

«Keine eigennützigen Ziele«, sagte ich bitter.»Das ist ein Witz. Die versuchen schon den ganzen Sommer über, Sie von Derrydown abzuwerben, und jetzt sieht es ja so aus, als ob es ihnen gelungen sei.«

Ich wandte mich ab; meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich konnte kein Wort mehr hervorbringen. Ich erwartete, daß er weitergehen würde, sich auf die Seite von Polyplane schlagen und meine Zukunft auf den Mist werfen.

Aber statt dessen folgte er mir und zog mich am Arm.

«Matt.«

Ich schüttelte ihn ab.»Sagen Sie Ihrer teuren Schwester«, sagte ich mit belegter Stimme,»daß ich wegen meiner Gesetzesübertretungen am letzten Freitag, als ich sie nach Cambridge zurückgebracht habe, aufs neue vor Gericht muß, daß ich bestraft und mit einer Geldbuße belegt werden und bald wieder hoch verschuldet sein werde… und daß ich es diesmal sehenden Auges getan habe… nicht wie damals«- ich zeigte mit einer deutlich zitternden Hand auf den Zeitungsausschnitt —»als ich die Strafe für etwas auf mich nehmen mußte, das eigentlich nicht meine Schuld war.«

«Matt!«Jetzt war er selbst bestürzt.

«Und was die Feigheit angeht, da ist sie wohl nicht richtig im Bilde… oh, ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß es überzeugend und furchtbar klang — Polyplane hatte viel dabei zu gewinnen, sie aufs äußerste aufzubringen —, aber ich verstehe nicht… ich verstehe nicht, warum sie das so entsetzlich aufgeregt hat, daß sie aus dem Haus gegangen ist. Es hätte doch gereicht, Sie zu überzeugen, nicht mehr mit mir zu fliegen.«

«Warum haben Sie es ihr nicht selbst gesagt?«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich hätte es wahrscheinlich getan, eines Tages. Ich hielt es nicht für wichtig.«

«Nicht für wichtig!«Er wurde wild vor Ärger.»Sie hat Sie wohl für eine Art Held gehalten und mußte dann feststellen, daß ihr ganzes Denkmal auf tönernen Füßen steht… Natürlich hätten Sie es ihr sagen müssen, da Sie sie ja heiraten wollten. Das hat sie offensichtlich am meisten aufgebracht.«

Mein Kiefer klappte buchstäblich nach unten. Schließlich fragte ich dümmlich:»Sagten Sie heiraten?«

«Ja, natürlich«, sagte er ungeduldig und bemerkte dann erst, wie schockiert ich war.»Sie wollten sie doch heiraten, oder?«

«Wir haben niemals — auch nur darüber geredet.«

«Aber Sie müssen darüber geredet haben«, insistierte er.»Ich habe am Sonntagabend gehört, wie Nancy und Midge sich darüber unterhielten, nach meiner Rückkehr von Ostende. >Wenn du mit Matt verheiratet bistc, das waren Midges Worte. Ich habe sie deutlich gehört. Sie waren beide in der Küche beim Abwasch. Sie haben beschlossen, daß Sie zu uns ziehen und mit uns zusammen im Bungalow wohnen sollten… Sie haben die Schlafzimmer verteilt…«Seine Stimme verlor sich.»Es ist gar nicht — es ist gar nicht wahr?«

Ich schüttelte schweigend den Kopf.

Er blickte mich verwirrt an.»Frauen«, sagte er.»Frauen.«

«Ich kann sie nicht heiraten«, sagte ich wie betäubt.»Ich habe ja kaum genug für das Aufgebot.«

«Das spielt keine Rolle.«

«Für mich schon.«

«Aber für Nancy nicht«, sagte er. Dann stutzte er.»Meinen Sie damit — daß sie schließlich doch nicht so weit daneben lag?«»Nicht allzu weit… denke ich.«

Sein Blick fiel wieder auf den Zeitungsausschnitt in seiner Hand, und plötzlich knüllte er ihn zusammen.»Es sah so übel aus«, sagte er mit einem Anflug von Entschuldigung.

«Es war übel«, sagte ich.

Er blickte mich direkt an.»Ja. Ich verstehe jetzt, daß es das war.«

Ein Taxi fuhr vor, bremste scharf, und meine Passagiere zwängten sich heraus, ausgelassen und angeheitert mit einem Gewinner und einer Flasche Champagner.

«Ich werde es ihr erklären«, sagte Colin.»Ich werde sie zurückholen…«Sein Gesichtsausdruck zeigte plötzlich Schrecken. Und Verzweiflung.

«Wo ist sie hin?«fragte ich.

Er verdrehte die Augen wie vor Schmerz.

«Sie sagte«- er schluckte —»sie ginge — zu Chanter.«

Ich saß den ganzen Abend in meinem Wohnwagen und hätte am liebsten etwas zerschlagen. Die Kochecke zertrümmert. Die Fenster. Den ganzen Wohnwagen.

Vielleicht hätte ich mich dann besser gefühlt, wenn ich es getan hätte.

Chanter

Konnte nicht essen, nicht denken, nicht schlafen.

Hatte noch nie meinen eigenen Rat befolgt: Laß dich auf nichts ein. Laß dich nirgends hineinziehen. Hätte mich daran halten sollen, nicht auftauen sollen. Eisig bleiben. In Sicherheit.

Versuchte, zurück in die Arktis zu kommen und nichts zu fühlen, aber es war schon zu spät. Die Gefühle waren

mit einer Wucht und einer Intensität zurückgekehrt, auf die ich hätte verzichten können.

Ich hatte nicht gewußt, daß ich sie liebte. Hatte gewußt, daß ich sie mochte, daß ich mich wohl bei ihr fühlte, gern mit ihr zusammen war und gern länger mit ihr zusammengeblieben wäre. Ich hatte gedacht, ich könnte es bei der Freundschaft belassen, und nicht begriffen, wie weit ich schon gegangen war, wie tief ich mich schon verstrickt hatte.

O Nancy.

Schließlich schlief ich ein, nachdem ich die Flasche Whisky von Kenny Bayst halb ausgetrunken hatte, aber viel half das auch nicht. Um sechs Uhr morgens wachte ich auf, die furchtbare Folter ging weiter, und dazu hatte ich noch Kopfschmerzen.

Ich hatte den ganzen Tag über keinen Flug, der mich hätte ablenken können.

Nancy und Chanter

Irgendwann am Vormittag rief ich vom Münzfernsprecher im Warteraum für die Passagiere die Kunstakademie in Liverpool an, um mir Chanters Privatadresse geben zu lassen. Die klare Stimme einer Sekretärin antwortete mir: Es tue ihr außerordentlich leid, aber sie gäben grundsätzlich die Privatadressen ihrer Mitarbeiter nicht bekannt. Wenn ich schreiben würde, würden sie den Brief weiterleiten.

«Könnte ich ihn dann vielleicht sprechen?«fragte ich; was das genützt hätte, wußte allein der Himmel.

«Ich fürchte nein, denn er ist nicht im Haus. Die Akademie ist vorübergehend geschlossen, und wir wissen nicht, wann der Unterrichtsbetrieb wiederaufgenommen wird.«

«Die Studenten«, fiel mir ein,»streiken?«

«Ja — ähh — so ist es«, pflichtete sie bei.

«Gibt es denn vielleicht irgendeine andere Möglichkeit, Chanter zu erreichen?«

«Oje… Sie sind schon der zweite, der mir damit zusetzt… Aber wenn ich ehrlich sein soll, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht, wo er wohnt… Er zieht häufig um und macht sich nur selten die Mühe, uns auf dem laufenden zu halten. «Der klaren Stimme war Mißbilligung und Hoffnungslosigkeit zu entnehmen.»Wie ich auch Mr. Ross schon sagte — ich habe beim besten Willen keine Ahnung, wo Sie ihn finden könnten.«

Ich saß im Mannschaftsraum, und der Nachmittag schleppte sich so dahin. Hatte um halb drei alle Flugaufzeichnungen auf den letzten Stand gebracht, las einige neu eingetroffene Rundschreiben und rechnete mir aus, daß es nur noch drei Wochen und vier Tage bis zu meiner nächsten flugmedizinischen Tauglichkeitsuntersuchung waren, fand heraus, daß ich ein Fünfzehntel meines wöchentlichen Haushaltsgeldes vertrank, wenn ich jeden Tag vier Tassen Kaffee aus Honeys Maschine zog, beschloß, es öfter einmal bei Wasser zu belassen, blickte auf, als Harley hereinstolziert kam, hörte mir eine Lektion in Sachen Loyalität (meine ihm gegenüber) an, erfuhr, daß ich am nächsten Tag einen Trainer aus Wiltshire zu den Rennen nach Newmarket fliegen sollte und daß ich mir meine Papiere abholen könne, wenn ich Polyplane noch einen einzigen Grund lieferte, über mich oder die Firma beim Handelsministerium Meldung zu machen.

«Werde versuchen, es zu vermeiden«, murmelte ich. Stellte ihn damit nicht zufrieden.

Stierte auf die Tür, die hinter ihm ins Schloß fiel.

Stierte auf die Uhr. Fünfzehn Uhr zweiundzwanzig.

Chanter und Nancy.

Im Wohnwagen das gleiche wie am Abend zuvor. Versuchte es mit Fernsehen. Irgendeine Komödie über das Leben in einer amerikanischen Vorstadt, angereichert mit Lachern aus der Konserve. Hielt es fünf Minuten lang aus und fand die Stille danach fast genauso unerträglich.

Ging einmal halb übers Flugfeld, dann hinüber ins Dorf, trank im Pub ein Bier, lief zurück. Insgesamt vier Meilen. Als ich in den Wohnwagen stieg, war es erst neun Uhr.

Honey Harley erwartete mich, aufs Sofa drapiert, zeigte alles, was sie an Bein zu zeigen hatte. Rosa gemustertes Strandkleid aus Baumwolle, sehr tiefer Ausschnitt.

«Hallo«, sagte sie selbstsicher.»Wo haben Sie gesteckt?«

«War spazieren.«

Sie sah mich fragend an.»Geht Ihnen das Handelsministerium im Kopf herum?«

Ich nickte. Das und anderes.

«Ich würde mir deswegen nicht zu viele Sorgen machen. Was auch immer das Gesetz oder die Gerichte sagen, Sie konnten die Ross-Geschwister ja nicht einfach hängenlassen.«

«Ihr Onkel ist da anderer Meinung.«

«Onkel«, sagte sie sachlich,»ist ein Depp. Und überhaupt: Sie müssen es bloß richtig anstellen. Selbst wenn Sie eine Geldstrafe bekommen, wird Colin Ross sie für Sie bezahlen. Sie brauchen ihn nur zu fragen.«

Ich schüttelte den Kopf.

«Sie sind dämlich«, sagte sie.»Ganz einfach dämlich.«

«Vielleicht haben Sie recht.«

Sie seufzte, setzte sich in Bewegung und stand auf. Ihr wohlgerundeter Körper wippte ein wenig, genau an den richtigen Stellen. Ich dachte an Nancy: viel flacher, viel dünner, weniger augenfällig von Sex durchdrungen und so unendlich begehrenswerter. Ich wandte mich abrupt von Honey ab. Der Gedanke an Chanter traf wie auf einen blanken Nerv, Chanter mit seinen Haaren und seinen Fransen. und seinen Händen.

«Okay, Eisberg«, sagte sie in Verkennung der Umstände,»beruhigen Sie sich. Ihre Tugend ist nicht in Gefahr. Fürs erste bin ich nur heruntergekommen, um Ihnen zu sagen, daß jemand für Sie angerufen hat und Sie bitte zurückrufen möchten.«

«Wer?«Ich versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen.

«Colin Ross«, stellte Honey sachlich fest.»Er möchte, daß Sie irgendwann heute abend zurückrufen, wenn es geht. Ich habe ihm gesagt, wenn es um einen Flug ginge, dann könnte ich es auch regeln, aber es ist offensichtlich etwas Privates. «Sie ließ den Satz zwischen einem Vorwurf und einer Frage in der Schwebe und gab mir viel Zeit für eine Erklärung.

Ich erklärte nichts. Ich sagte:»Dann werde ich jetzt hinaufgehen und das Telefon im Wartesaal benutzen.«

Sie zuckte die Achseln.»In Ordnung.«

Sie ging mit mir hinauf, aber brachte es dann doch nicht fertig, sich so lange in meiner Nähe herumzudrücken, daß sie mithören konnte. Ich machte ihr die Tür des Warteraums vor der Nase zu.

Suchte die Nummer heraus.

«Colin? Matt.«»O Gott«, sagte er.»Also. Nancy hat heute über Tag angerufen, während Midge und ich bei den Rennen waren… Ich habe Midge mit auf die Heath genommen, weil es ihr zu Hause so schlecht ging, und jetzt geht es ihr natürlich noch schlechter, weil sie Nancys Anruf verpaßt hat. Jedenfalls hat unsere Putzfrau das Gespräch und eine Nachricht von Nancy entgegengenommen.«

«Ist sie — ich meine, geht es ihr gut?«

«Meinen Sie, ob sie noch bei Chanter ist?«Seine Stimme klang gequält.»Sie sagte unserer Putzfrau, sie habe in Liverpool jemanden aus ihrem alten Freundeskreis von der Kunstakademie getroffen und wäre für ein paar Tage mit ihr zum Camping in die Nähe von Warwick gefahren.«

«Mit ihr?« rief ich.

«Also, ich weiß es nicht. Ich habe unsere Mrs. Williams gefragt, und sie sagte darauf, sie habe eben >ihr< verstanden, aber ich denke, das hätte sie wohl in jedem Fall, nicht wahr?«

«Ich fürchte, so ist es.«

«Aber wie dem auch sei, Nancy war es viel wichtiger, daß Mrs. Williams mir etwas anderes erzählte. Sie hat angeblich Major Tyderman gesehen.«

«Nicht möglich!«

«Jawohl… Sie hat gesagt, sie habe Major Tyderman auf dem Beifahrersitz eines Autos auf der Straße von Warwick nach Stratford gesehen. Offensichtlich gab es dort Straßenbauarbeiten, und der Wagen hat einen Augenblick in ihrer Nähe angehalten.«

«Er könnte jedes Ziel gehabt haben… und von jedem beliebigen Ort gekommen sein.«

«Ja«, stimmte er niedergeschlagen zu.»Ich habe die Polizei in Cambridge angerufen, aber Nancy hatte sich bereits dort gemeldet, bevor sie bei uns zu Hause anrief. Das einzige, was sie über den Fahrer sagen konnte, war, daß er eine Brille trug. Und er habe wahrscheinlich dunkles Haar und vielleicht einen Schnurrbart gehabt. Sie hat ihn nur eine Sekunde lang gesehen, weil sie sich ganz auf Tyderman konzentrierte. Sie hat auch nicht auf die Nummer geachtet, und die verschiedenen Automarken kann sie ohnehin nicht auseinanderhalten, so daß die ganze Sache vielleicht nicht besonders hilfreich ist.«

«Nein.«

«Jedenfalls hat sie Mrs. Williams gesagt, sie käme Samstag wieder nach Hause. Wenn ich zu den Rennen in Warwick mit dem Wagen kommen würde, statt zu fliegen, dann würde sie mit mir zusammen heimfahren.«

«Ah… Dem Himmel sei Dank dafür.«

«Wenn auch für nichts sonst«, sagte er trocken.

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