Kapitel 15

Es traf mich ins linke Schulterblatt, mit einer Wucht, die mich aus der Drehung heraus nach vorn stürzen ließ, so daß ich mit der Stirn voll auf die Kante des marmornen Kaminsimses schlug. Kurz bevor ich die Besinnung verlor, versuchte ich den Sturz mit der Hand abzufangen, aber wo ich hingriff, war nichts, nur die leere schwarze Höhle des Kamins, und so stürzte ich geradewegs hinein, krachte mitten in das Kaminbesteck. hörte nicht mehr viel von dem Krachen… und dann überhaupt nichts mehr.

Ich erwachte langsam, verkrampft, unter Schmerzen, nachdem wohl nicht einmal eine Viertelstunde vergangen war. Alles war still. Kein Laut. Kein Mensch. Nichts.

Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich war und was geschehen war. Nicht, bis ich versuchte aufzustehen. Dann holte mich der reißende Schmerz in meiner Schulter schlagartig wieder in die Realität zurück.

Hatte ein Messer im Rücken.

Mit dem Gesicht zwischen den Stocheisen tastete ich behutsam mit meiner rechten Hand danach. Leicht wie eine Feder fuhr ich mit den Fingern über das Heft. Die zarte Berührung ließ mich laut aufschreien. Es war furchtbar.

An welche Dummheiten man in solch einer Katastrophe denkt. Ich dachte: Verflucht, nur noch drei Wochen und

ein Tag bis zu meiner nächsten flugmedizinischen Untersuchung. Das schaffe ich nie…

Man soll ein Messer niemals aus der Wunde ziehen, heißt es. Dann blutet es nur um so schlimmer. Es kann tödlich sein, ein Messer aus der Wunde zu ziehen. Also. zum Teufel damit. Ich wußte nur, daß Acey/Carthy-Todd mich hier zurückgelassen hatte, weil er mich für tot hielt, und wenn er mich bei seiner Rückkehr lebendig vorfand, würde er sein Werk mit Sicherheit zu Ende führen. Also mußte ich aus dem Büro verschwinden, bevor er zurückkam. Und es wäre doch etwas unpassend gewesen, mit einem Messer im Rücken durch Warwick zu laufen. Also zog ich es heraus.

Ich mußte zweimal ziehen und verlor danach jedesmal mehr oder weniger das Bewußtsein. Redete mir ein, das sei die Gehirnerschütterung, die ich mir am Kaminsims zugezogen hatte, aber ich schrie auch dabei. Hält nichts aus, dieser Matt Shore.

Als es heraus war, blieb ich eine Weile liegen, wo ich lag, starrte das Messer an, greinte schwach und spürte, wie sich die klebrige Wärme langsam ausbreitete. Aber ich wurde innerlich etwas ruhiger, weil ich mir jetzt ziemlich sicher war, daß das Messer nicht in meiner Lunge gesteckt hatte. Es mußte mein Schulterblatt wohl von der Seite her getroffen haben: Es hatte zwar fast zehn Zentimeter tief daringesteckt, aber schräg, nicht gerade. Ich würde nicht sterben. Noch nicht jedenfalls.

Nach einer Weile richtete ich mich auf, zunächst auf die Knie. Ich hatte nicht endlos Zeit. Ich legte die Rechte auf Carthy-Todds Schreibtisch und zog mich dann hoch.

Schwankte. Fand, daß bestimmt alles viel schlimmer würde, wenn ich wieder stürzte. Lehnte mich an den Schreibtisch und blickte mich unsicher im Büro um.

Die unterste Schublade des zweiten Aktenschrankes stand offen.

Das sollte sie nicht. Ich hatte sie geschlossen.

Offen.

Ich schob mich vom Schreibtisch weg und wagte einige Schritte. Wankte. Schaffte es. Lehnte mich geschwächt an die Wand. Sah in die Schublade.

Die beiden Pappkartons waren noch da. Die leere Blechbüchse auch. Die kleine, schwere Büchse nicht mehr.

Stellte nüchtern fest, daß Zukunft für mich nicht länger bedeutete, nur mich selbst in Sicherheit zu bringen, sondern auch den Herzog zu erreichen, bevor die Bombe explodierte.

Es waren nur vierhundert Meter. nur.

Ich muß es tun, dachte ich, denn wenn ich nicht Carthy-Todds Büro durchsucht hätte, dann wäre Carthy-Todd jetzt nicht in solcher Eile.

Wenn ich nicht auftauchte, um die Whiteknights heimzufliegen — das heißt, wenn ich nirgends mehr auftauchte außer vielleicht in einem Graben mit einer Stichwunde im Rücken —, konnte der Herzog sagen, wo ich mich zuletzt aufgehalten hatte… Und Carthy-Todd würde polizeiliche Nachforschungen scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Er würde sie nicht abwarten. Sondern meine Spuren auslöschen.

Noch etwas fehlte in dem Büro. Ich konnte aber nicht sagen, was, sondern nur, daß etwas fehlte. Die Frage quälte mich einen Augenblick lang, aber ich beließ es dabei. Glaubte nicht, daß es wichtig sein könne…

Ich ging nach reiflicher Überlegung zur Tür. Öffnete sie, ging hinaus. Verharrte auf dem Treppenabsatz, schwindelig, schwach.

Gut. Irgendwie mußte ich hinunter. Mußte einfach.

Der Handlauf war an der linken Seite. Ich brachte es nicht fertig, den linken Arm zu heben. Drehte mich also herum, straffte mich und ging die Treppe rückwärts hinunter.

«Siehst du«, sagte ich laut zu mir selbst.»Du kannst es, verdammt. «Konnte mich selbst nicht überzeugen. Aber der Gedanke an Carthy-Todd überzeugte.

Ich lachte schwach. Ich hatte bei der Versicherung meinen vollen Beitrag bezahlt. Wäre zu schön, wenn Carthy-Todd mir etwas auszahlen müßte… Tausend Eier für ein Messer im Rücken. Herrlich.

Schob mich hinaus auf die Straße in den heißen Sonnenschein, so hohl im Kopf wie die sprichwörtliche Blondine.

Der blonde Acey Jones…

Acey Jones stand unter Zugzwang. War in Eile. Wußte, daß ich ihm auf die Schliche gekommen war, glaubte aber, er könne die Situation noch retten. Immer noch seine Zweihunderttausend machen. Wenn er die Nerven behielt. Wenn er den Herzog auf der Stelle umbrachte, an diesem Nachmittag, und es irgendwie als einen Unfall hinstellte. Wenn er mich später irgendwo ablud, so wie er es mit dem Major getan.

Er mußte glauben, daß er es noch schaffen konnte. Er wußte nicht, daß ich Colin alles erzählt hatte, hatte keine Ahnung, daß auch Colin sein Doppelspiel kannte… Die leere Straße war im Laufe des Nachmittags viel länger geworden. Außerdem hielt sie nicht richtig still. Sie schimmerte. Sie waberte. Das Pflaster war uneben. Jedesmal, wenn ich meinen Fuß darauf setzte, kam mir ein Pflasterstein entgegen und versetzte mir einen Schlag in den Rücken.

Ich begegnete auf dem ganzen Weg nur einer älteren Frau. Sie murmelte etwas, sprach mit sich selbst. Ich merkte, daß ich das gleiche tat.

Die halbe Strecke. Ich peilte das Tor des Parkplatzes an. Mußte es schaffen. Mußte einfach. Und das war noch nicht alles. Ich mußte jemanden finden, der den Herzog holte, damit ich ihm erklären konnte… erklären…

Ich merkte, daß ich fiel, und streckte die Hand nach der Mauer aus. Durfte die Augen nicht schließen… Das hatte mich schon mal erledigt… Taumelte schwerfällig gegen die Backsteine und bebte am ganzen Leib, als sich danach die schmerzhaften Folgen einstellten. Legte meinen Kopf an die Mauer, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Hatte keine Zeit. Mußte weiter.

Ich zwang mich wieder in eine halbwegs aufrechte Position, wollte weitergehen. Meine Füße wußten nie genau, wie weit es noch bis zum Pflaster war: Die meiste Zeit erstieg ich eine imaginäre Treppe.

Merkwürdig.

Etwas Warmes auf meiner linken Hand. Ich sah genauer hin. Mir schwindelte, Blut lief mir an den Fingern herunter und tropfte aufs Pflaster. Ich hob den Kopf wieder, sah nach vorn. Wieder verschwamm alles. Wußte nicht, ob es an der Gehirnerschütterung lag oder an der Hitze oder am Blutverlust. Wußte nur, daß es mir die Zeit stahl. Mußte hinkommen. Schnell.

Einen Fuß vor den anderen, sagte ich mir… Einfach nur weiter so, einen Fuß vor den anderen. Dann kommst du hin.

Konzentrier dich.

Ich kam hin. Das Tor zum Parkplatz. Kein Parkwächter zu sehen. Später Nachmittag, da waren keine weiteren Besucher mehr zu erwarten.

Ich sagte:»Oooh«, in schwacher Enttäuschung. Muß noch weiter gehen. Muß jemanden finden… Ich bog auf den Parkplatz ein. Vom Parkplatz führte ein Tor in den Führring. Da waren viele Leute. Viele…

Ich ging zwischen den Autos her, taumelte, stützte mich auf sie, spürte, wie meine Knie nachgaben, wußte, daß die Benommenheit, die Schwäche die Oberhand gewannen, machte mir immer weniger aus dem stechenden Schmerz jeden Schrittes. Mußte jemanden finden. Mußte einfach.

Plötzlich rief mich jemand, ganz aus der Nähe.

«Matt!«

Ich blieb stehen. Blickte mich langsam um. Midge stieg aus Colins Aston Martin am Ende der Wagenreihe und rannte los, um mich einzuholen.

«Matt«, sagte sie,»wir haben Sie gesucht. Ich bin zum Wagen zurückgegangen, weil ich müde war. Wo haben Sie gesteckt?«

Freundschaftlich legte sie ihre Hand auf meinen linken Arm.

Ich sagte undeutlich:»Bitte… nicht anfassen.«

Mit einem Ruck zog sie ihre Hand fort.»Matt!«

Jetzt musterte sie mich genauer, zuerst fragend, dann ängstlich. Schließlich betrachtete sie ihre Finger, die hellrot verschmiert waren, wo sie nach meiner Jacke gegriffen hatte.

«Das ist Blut«, sagte sie verständnislos.

Ich brachte ein winziges Nicken zuwege. Mein Mund war trocken. Ich wurde jetzt sehr müde.

«Hören Sie… Wissen Sie, wo der Herzog von Wessex ist?«

«Ja. Aber…«, protestierte sie.

«Midge«, unterbrach ich.»Gehen Sie und suchen Sie ihn. Bringen Sie ihn her… Ich weiß, es klingt dumm… aber jemand versucht, ihn zu töten… mit einer Bombe.«

«So wie Colin? Aber das war doch kein…«

«Holen Sie ihn, Midge«, sagte ich.»Bitte.«

«Ich kann Sie nicht allein lassen. Nicht in diesem Zustand.«

«Sie müssen.«

Sie sah mich zweifelnd an.

«Schnell.«

«Ich werde auch Hilfe für Sie holen«, sagte sie. Dann hatte sie auch schon auf dem Absatz kehrtgemacht und eilte Richtung Führring davon. Ich lehnte mich mit meinem Hinterteil gegen einen glänzend grauen Jaguar und fragte mich, wie schwierig es wohl war, zu verhindern, daß Carthy-Todd seine Bombe irgendwo unterbrachte. Diese Büchse, sie war klein genug, um in ein Futteral für ein Fernglas zu passen… Vielleicht war sie identisch mit derjenigen, der die Cherokee zum Opfer gefallen war. Wenn ich nicht bereits naßgeschwitzt gewesen wäre, wäre mir jetzt der Schweiß ausgebrochen beim Gedanken an so viel geballte Explosivkraft.

Warum kamen sie nur nicht? Mein Mund wurde immer trockener… Es ging kein Lüftchen… Wenn ich dem Herzog alles erklärt hatte, mußte er sich irgendwo in Sicherheit bringen und warten, bis das Handelsministerium mit Carthy-Todd fertig war.

Gleichmütig sah ich das Blut von meinen Fingern ins Gras tropfen. Ich konnte fühlen, daß der ganze Rücken meiner Jacke damit durchtränkt war. Konnte mir aber keine neue leisten. Würde sie reinigen lassen müssen, den Durchstich kunststopfen lassen. Mußte mich selbst auch zusammenflicken lassen, so gut es ging. Harley würde den Job nicht für mich freihalten. Würde sich jemand anderen suchen, der an meiner Stelle flog. Die Ärzte vom Handelsministerium würden mich wochenlang nicht fliegen lassen. Wenn man nur einen halben Liter Blut spendete, bekam man schon Startverbot für mehr als einen Monat… Ich hatte mehr als einen halben Liter unfreiwillig eingebüßt, so wie es aussah… Obwohl so ein halber Liter auch ganz anders wirkte, wenn man ihn vergoß.

Mit einem Ruck riß ich meinen herabhängenden Kopf hoch. Mußte wach bleiben, bis sie kamen. Mußte dem Herzog alles erklären…

Die Ränder meines Blickfeldes verschwammen langsam. Ich leckte mir die trockenen Lippen. Half auch nichts. Auch in meiner Zunge keine Spur von Feuchtigkeit mehr.

Schließlich sah ich sie, weit entfernt, wie mir schien, durch das Tor vom Führring kommen. Nicht nur Midge und den Herzog, sondern noch zwei. Den kleinen Matthew, der den anderen voraushüpfte.

Und Nancy.

Chanter war in der Vergangenheit verschwunden, unwichtig. Kein Gedanke mehr an ihn. Alles war so, wie es vorher gewesen war, am Tag, als sie nach Haydock flog. Vertraut, freundlich, innig. Das Mädchen, auf das ich mich nicht hatte einlassen wollen, das einen Eisblock weggeschmolzen hatte wie ein Schneidbrenner.

Jenseits des Meeres von Autos zeigte Midge in meine Richtung, und sie kamen auf mich zu, quer durch die Reihen der parkenden Wagen. Als sie nur noch vielleicht zwanzig Meter von mir entfernt waren, auf der anderen Seite der Wagenreihe direkt vor mir, blieben sie ohne ersichtlichen Grund stehen.

Geht weiter, dachte ich. Um Gottes willen, geht weiter.

Sie taten keinen Schritt.

Mit einiger Anstrengung richtete ich mich auf den Jaguar gestützt auf, löste mich von dessen Motorhaube und ging ihnen entgegen. Links von mir, sechs Autos weiter, stand offensichtlich der Rolls des Herzogs. Auf dessen Motorhaube stand eine glänzend rotgoldene Blechdose. Matthew zeigte darauf, wollte hinüberlaufen und sie holen, und Midge sagte drängend:»Nein, komm schon, Matt hat gesagt, wir sollen schnell kommen, und er blutet…«

Matthew blickte sie besorgt an und nickte, aber schließlich wurde die Versuchung zu groß, er rannte hinüber, nahm die Dose und lief dann wieder zurück.

Eine rotgoldene Blechbüchse. Mit kleinen Stückchen Orangenschale mit Schokoladenüberzug. Sie hatte auf dem Schreibtisch gestanden. Und nachher… nicht mehr. Etwas hatte gefehlt. Rotgoldene Büchse.

Hatte auf Carthy-Todds Schreibtisch gefehlt.

Mein Herz schlug mir bis zum Halse. Ich schrie, aber meine Stimme war hoffnungslos schwach.

«Matthew, wirf sie mir zu.«

Er blickte zweifelnd auf. Die anderen gingen jetzt zwischen den Wagen hindurch auf ihn zu. Sie würden ihn erreichen, bevor ich bei ihm sein konnte. Sie würden alle zusammenstehen, Nancy und Midge und der Herzog und der kleine Matthew, der ebenfalls wußte, daß ich noch einmal in Carthy-Todds Büro gegangen war.

Ich ließ meine Blicke verzweifelt über den Parkplatz schweifen, aber es war keine Frage, er mußte hier sein. Er hatte die Büchse auf den Wagen gestellt und wartete schlicht darauf, daß sie nach den Rennen hierherkämen. Das letzte Rennen sollte gleich starten… Die Pferde waren schon am Start, und gerade jetzt wurde über Lautsprecher angesagt:»Sie stehen unter Starters Order…«Er wußte, daß sie bald kommen mußten… Er stand drüben am Zaun der Rennbahn, sein schwarzer Kopf deutlich zu erkennen, die Sonne spiegelte sich auf seinen Brillengläsern. Er hatte zwar nur vor, den kleinen Matthew und den Herzog umzubringen, aber jetzt waren auch noch Nancy und Midge da… Und er wußte nicht, daß er ohnehin nicht davonkommen würde… wußte nicht, daß auch Colin informiert war… und war zu weit entfernt, als daß ich es ihm hätte sagen können… Ich konnte nicht schreien… konnte ja kaum sprechen.

«Matthew, wirf mir die Büchse zu. «Es war höchstens ein Flüstern.

Mühsam setzte ich mich in Bewegung, ging auf ihn zu, streckte meinen rechten Arm aus. Stolperte. Schwankte. Ängstigte ihn.

Die anderen näherten sich ihm.

Keine Zeit mehr. Ich holte tief Luft. Richtete mich auf.

«Matthew«, sagte ich laut.»Es geht um dein Leben. Wirf mir die Büchse zu. Jetzt. Auf der Stelle.«

Er war verwirrt, unsicher, besorgt.

Er warf die Büchse.

Carthy-Todd brauchte mehrere Sekunden, um die Knöpfe des Senders zu drücken. Er war darin nicht so erfahren wie Rupert Tyderman. Er konnte nicht sehen, daß er die Gelegenheit, den Herzog zu töten, bereits verpaßt hatte und daß es jetzt nur noch um mich ging. Aber, was immer er auch tat, er hatte das Spiel verloren.

Die rotgoldene Büchse schwebte auf mich zu wie eine glühend heiße Sonne und schien eine Ewigkeit zu brauchen, um die fünf Meter zu überbrücken, die mich von Matthew trennten. Ich streckte die rechte Hand aus, um sie zu fangen, und als ich sie auf meinem Handteller spürte, warf ich sie in einem Schwung im hohen Bogen durch die Luft, so weit hinter mich, wie es ging, über die Reihen der parkenden Wagen hinweg, denn dahinter war alles leer.

Die Bombe ging in der Luft los. Drei Sekunden nach meinem Wurf, sechs Sekunden nach Matthews. Sechs Sekunden. Die längsten sechs Sekunden meines Lebens.

Die rotgoldene Büchse löste sich mit einem Knall in einen sonnenähnlichen Feuerball auf, und die Druckwelle warf sowohl den kleinen Matthew als auch mich mit einem gewaltigen Stoß flach auf den Boden. Die Fenster der meisten Wagen auf dem Platz zersplitterten, und die beiden Fords, über denen die Bombe explodiert war, wurden wie Spielzeug umhergeschleudert. Nancy, Midge und der Herzog, die zwischen zwei Autos geschützt standen, hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Oben auf der Tribüne, hörten wir später, bemerkte man den Zwischenfall kaum. Das Rennen war gestartet, und die Stimme des Ansagers aus dem Lautsprecher übertönte mit ihrem Dröhnen alles, so daß kein Mensch etwas anderes hörte, als daß Colin Ross gut lag und das Rennen achthundert Meter vor dem Ziel auf dem Favoriten beherrschte.

Der kleine Matthew rappelte sich schnell wieder auf und fragte verwundert:»Was war das?«

Midge war schon an seiner Seite und nahm seine Hand.

«Das war eine Bombe«, sagte sie entsetzt.»Wie Matt sagte, es war eine Bombe.«

Ich versuchte vom Rasen aufzustehen. Selbst wenn der Herzog vorläufig in Sicherheit war, war es das Geld der Versicherung noch nicht. Konnte jetzt versuchen, nach dem Spiel auch Satz und Sieg zu gewinnen…

Immer noch auf Knien, sagte ich zu Matthew:»Kannst du Carthy-Todd irgendwo sehen? Es war seine Büchse… seine Bombe…«

«Carthy-Todd?«wiederholte der Herzog ausdruckslos.»Das kann nicht sein, unmöglich. Er würde so etwas niemals tun.«»Er hat es gerade getan«, sagte ich. Es gelang mir nicht, mich ganz zu erheben. Hatte keine Reserven mehr. Ein starker Arm schob sich unter meine rechte Achsel und half mir. Eine sanfte, ruhige Stimme sagte mir ins Ohr:»Du siehst aus, als ob du besser unten bliebest.«

«Nancy.«

«Wie hast du dich so zugerichtet?«

«Carthy-Todd… hatte ein Messer.«

«Da ist er!«rief Matthew plötzlich.»Da drüben.«

Schwankend kam ich endlich hoch. Sah, wohin Matthew zeigte. Carthy-Todd, der zwischen den Reihen geparkter Wagen hindurch lief. Auch Nancy sah ihn.

«Aber das«, sagte sie ungläubig,»das ist der Mann, den ich mit Major Tyderman im Wagen gesehen habe. Das kann ich beschwören.«

«Vielleicht mußt du das auch«, sagte ich.

«Er versucht wegzurennen«, rief Matthew.»Schneiden wir ihm den Weg ab.«

Für ihn war es fast ein Spiel, aber sein Eifer steckte einige andere Rennbesucher an, die bei ihrer vorzeitigen Rückkehr von den Rennen ihre Wagen mit zersplitterten Scheiben vorgefunden hatten.

«Den Weg abschneiden«, hörte ich einen Mann schreien und einen anderen:»Dort, da drüben. Fangt ihn ab.«

Ich stützte mich, hoffnungslos geschwächt, auf einen Wagen und schaute wie benebelt zu. Carthy-Todd sah, daß ihm immer mehr Leute auf den Fersen waren. Zögerte. Schlug eine andere Richtung ein. Lief ein Stück zurück. Und dann dorthin, wo er noch freies, offenes Gelände sah. Grünen Rasen. Die Rennbahn selbst.

«Nicht…«:, sagte ich. Es war nur ein Flüstern, und selbst wenn ich ein Mikrofon gehabt hätte, hätte er mich nicht gehört.

«O Gott«, sagte Nancy neben mir.»O nein.«

Carthy-Todd bemerkte die Gefahr nicht, bis es zu spät war. Er rannte blindlings über die Rennbahn, sah sich flüchtig nach den Männern um, die ihn verfolgt hatten, jetzt plötzlich stehenblieben und die Verfolgung einstellten.

Er lief geradewegs vor das donnernde Feld der Dreijährigen, die um die letzte Kurve geflogen kamen, um auf der Zielgeraden noch einmal alles zu geben.

Dicht an dicht hatten sie keine Chance, ihm auszuweichen. Er ging unter den wirbelnden Hufen zu Boden, ein Fetzen Stoff in einem Schredder, und einen Augenblick später war aus dem dahinstürmenden Pulk von Pferden ein einziges Chaos von Stürzen geworden… Zusammenstöße bei fünfundvierzig Kilometer pro Stunde… Beine, die durch die Luft wirbeln… Jockeys, die dumpf aufschlagen wie ein Hagel von hellen Farbklecksen… ein Durcheinander von Schmerzensschreien auf dem schönen grünen Turf. Die Nachzügler weichen aus, schwanken, sehen sich um, schwenken vorbei zu einem Finish, das niemand mehr beachtet.

«Colin!«rief Nancy angsterfüllt und rannte zum Zaun. Der pink-weiße Dreß lag regungslos da, ein kleines, zu seinem Schutz zusammengerolltes Bündel. Ich folgte mühsam, Schritt für Schritt, spürte, daß ich nicht mehr weiterkonnte, einfach nicht mehr konnte. Am letzten Wagen vorm Zaun blieb ich stehen. Ich klammerte mich an ihm fest, sackte zusammen. Die Kräfte verließen mich.

Die pink-weiße Kugel regte sich, entrollte sich und stand auf. Die Erleichterung machte mich nur noch schwächer. Ganze Menschenmengen erschienen jetzt auf der Bahn, rannten, halfen, glotzten und bildeten bald eine dichte Mauer um die am Boden liegenden Körper… Nach unendlich langer Zeit kamen Colin und Nancy aus einem

Gedränge von Menschen zum Vorschein und dann zum Parkplatz herüber.

«Nur einen Augenblick benommen«, hörte ich ihn im Vorübergehen zu jemandem sagen.»Ich würde an Ihrer Stelle nicht hingehen…«Aber der Schaulustige war schon weiter, Gier im Blick.

Nancy sah mich, winkte mir kurz zu und schlüpfte dann zusammen mit Colin unter dem Zaun durch.

«Er ist tot«, sagte sie unvermittelt. Sie sah aus, als sei ihr übel.»Dieser Mann — er ist — es war Acey Jones… Colin sagt, du wüßtest alles — sein Haar lag auf dem Rasen — aber es war eine Perücke — und dann dieser kahle, weiße Kopf und die blasse Haut — man konnte noch sehen, bis wohin er geschminkt war — und der schwarze Schnurrbart…«Ihre Augen waren vor Schreck geweitet.

«Denk nicht mehr dran«, sagte Colin. Dann wandte er sich mir zu.»Sie hätte nicht rüberkommen dürfen…«

«Ich mußte hin — du lagst doch auch da«, widersprach sie. Er betrachtete mich und wurde ernst. Dann sagte er:»Nancy meinte, Sie seien verletzt. Sie hat aber nicht gesagt, wie schwer. «Abrupt fügte er an Nancy gewandt hinzu:»Hol den Arzt.«

«Das habe ich schon versucht«, sagte sie.»Aber er sagte, er sei im Dienst und könnte sich nicht um Matt kümmern, bevor nicht das Rennen vorüber sei, für den Fall, daß er benötigt würde…«Sie zeigte auf die Menschenmenge auf der Bahn.»Er wird dort drüben sein und sich um die beiden Jockeys kümmern, die. «Dann blickte sie mit plötzlicher Furcht wieder Colin an.»Midge sagte, Matt hätte sich in den Arm geschnitten… Ist es schlimm?«

«Ich werde ihn holen«, sagte Colin grimmig und rannte zurück auf das Schlachtfeld. Nancy betrachtete mich mit solch überwältigender Besorgnis, daß ich grinsen mußte.

«Nicht so schlimm wie das da drüben«, sagte ich.

«Aber du bist doch noch gelaufen… Du hast diese Bombe mit solcher Kraft geworfen… Ich habe nicht begriffen… Du siehst schlimm aus. «Irgendwoher tauchten der Herzog, der kleine Matthew und Midge wieder auf. Ich hatte sie gar nicht kommen sehen. Es wurde alles immer nebliger.

Der Herzog war fassungslos.»Mein lieber Junge«, sagte er immer wieder.»Mein lieber Junge…«

«Woher wußten Sie, daß es eine Bombe war?«fragte Matthew.

«Ich wußte es einfach.«

«Das war kein schlechter Wurf.«

«Dem wir unser Leben verdanken«, sagte der Herzog.»Mein lieber Junge.«

Colin war zurück.

«Er kommt«, sagte er.»Jeden Augenblick.«

«Unser Leben verdanken«, sagte der Herzog wieder.»Wie können wir das wieder gutmachen…«

Colin sah ihm direkt in die Augen.»Ich kann Ihnen sagen, wie, Sir. Helfen Sie ihm, sich selbständig zu machen… Oder Derrydown zu übernehmen… Richten Sie ihm ein Lufttaxiunternehmen ein, irgendwo in der Nähe von Newmarket. Er wird dafür sorgen, daß Sie Gewinn dabei machen. Er wird mich als Kunden haben und Annie und Kenny… und überhaupt die ganze Stadt, denn die Versicherung kann doch jetzt wohl weitergeführt werden, oder nicht?«Er blickte mich fragend an, und ich stimmte mit einem winzigen Nicken zu.»Vielleicht wird es einiges kosten, die Dinge dort in Ordnung zu bringen«, sagte Colin,»aber Ihr Versicherungsverein kann weitergeführt werden, Sir, ganz in Ihrem Sinne.«»Ein Lufttaxiunternehmen. Derrydown aufkaufen«, wiederholte der Herzog.»Mein lieber Colin, was für eine ausgezeichnete Idee. Natürlich. Natürlich.«

Ich versuchte, etwas zu sagen… irgend etwas… als ersten Dank dafür, daß er mir so beiläufig die Welt in den Schoß legte… Aber ich konnte nichts sagen… konnte nicht sprechen. Ich konnte nur noch spüren, wie meine Beine unter mir nachgaben. Konnte sie einfach nicht mehr daran hindern. Stellte fest, daß ich auf dem Rasen kniete, nur deshalb nicht ganz umfiel, weil ich mich am Türgriff des Wagens festklammerte. Wollte nicht fallen. Tat zu weh.

«Matt!«sagte Nancy. Sie war auf den Knien neben mir. Midge auch. Und Colin.

«Nun stirb mal nicht, verdammt«, sagte Nancy.

Ich grinste sie an. Schwebte wie auf Wolken. Grinste Colin an. Und dann Midge.

«Nehmt ihr Untermieter?«fragte ich.

«Wann immer du willst«, sagte Colin.

«Nancy«, sagte ich,»willst du… willst du…«

«Du Rindvieh«, sagte sie.»Du Riesenrindvieh.«

Meine Hand rutschte vom Türgriff ab. Colin fing mich auf. Ganz langsam verschwamm alles, und bis ich unten ankam, spürte ich nichts mehr.

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