Die Bombe hatte nur einen Sekundenbruchteil gebraucht, um zu detonieren. Ihr Nachhall in der Öffentlichkeit währte drei Tage lang. Die Untersuchungen schleppten sich über Wochen dahin.
Wie vorherzusehen war, hängten die Tageszeitungen die Sache an die große Glocke: COLIN ROSS UM HAARESBREITE DEM TOD ENTRONNEN und CHAMPIONJOCKEY GEWINNT RENNEN GEGEN DIE ZEIT. Annie Villars sagte in einem Fernsehinterview, in dem sie ganz besonders lieb und zerbrechlich aussah, sie alle hätten einfach phantastisches Glück gehabt. Major Tyderman wurde mit folgenden Worten zitiert:»Glücklicherweise stimmte irgend etwas mit dem Flugzeug nicht, und wir landeten, um eine Überprüfung durchführen zu lassen. Sonst…«Und Colin Ross hatte den Satz anscheinend für ihn zu Ende geführt:»Sonst wären wir alle in kleinen Stücken auf Nottingham niedergeregnet.«
Das alles natürlich erst, nachdem sie sich erholt hatten. Als ich sie im Laufschritt in der Nähe des Eingangs zum Flughafengebäude erreichte, waren ihre Augen weit aufgerissen und ihre Gesichter starr vor Schreck. Annie Villars stand mit offenem Mund da und zitterte am ganzen Leib. Ich nahm ihren Arm. Sie sah mich ausdruckslos an, gab einen leisen, wimmernden Laut von sich und sackte — gänzlich unnapoleonisch — ohnmächtig in sich zusammen. Ich fing sie auf und nahm sie auf meine Arme, um ihr die
Tuchfühlung mit dem regennassen Asphalt zu ersparen. Sie war noch leichter, als sie aussah.
«Gott«, sagte Goldenberg mechanisch.»Gott. «Sein Gehirn und seine Zunge schienen an diesem einen Wort festzukleben.
Die Lippen des Majors zitterten, und im Kampf mit seinen klappernden Zähnen mußte er eine Niederlage einstecken. Der Schweiß trat ihm in kleinen Tröpfchen auf die Stirn, und sein Atem ging in kurzen Stößen.
Mit Annie Villars auf den Armen stand ich neben ihnen und beobachtete den Todeskampf des Flugzeugs. Die erste Explosion hatte es auseinandergerissen und beinahe augenblicklich die Benzintanks entzündet, die ihm jetzt den Rest gaben. Die Trümmer, brennende Einzelteile, lagen in weitem Kreis verstreut auf dem nassen Asphalt und sahen insgesamt nach viel zuwenig aus, als daß man sich hätte vorstellen können, sie hätten jemals ein ganzes Flugzeug gebildet. Brennendes Benzin plätscherte in kleinen Bächen zwischen ihnen hindurch, und um das größte Stück, das wie der vordere Teil der Kabine aussah, loderten riesige, spiralförmige Flammen auf.
Mein Arbeitsplatz. Heiß. Verdammt heiß.
Der Ärger folgte mir auf dem Fuß, so wie die Ratten dem Rattenfänger von Hameln.
Colin Ross sah genauso erschrocken aus wie die anderen, aber seine Nerven waren aus stabilerem Material.»War das… eine Bombe?«
«Treffer versenkt«, sagte ich schnodderig.
Er sah mich scharf an.»Das ist nicht komisch.«
«Aber tragisch auch nicht«, erwiderte ich.»Es gibt uns noch.«
Ein Gutteil Steifheit wich aus seinem Gesicht und seinem Körper. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich.»So ist es«, sagte er.
Im Kontrollturm hatte irgend jemand Alarm gegeben. Löschfahrzeuge schossen mit heulenden Sirenen heran, und Schaum ergoß sich aus den riesigen Schläuchen auf die mitleiderregenden Überbleibsel der Maschine. Die Löschausrüstung war für Jumbos bemessen. Nach ungefähr zehn Sekunden waren die cherokeegroßen Flammen zu schwarzen Reminiszenzen verlöscht.
Drei oder vier Flughafenwagen summten wie Mücken über den Platz, und einer davon mit aufgeregten Angestellten schoß in unsere Richtung.
«Sind Sie mit diesem Flugzeug gekommen?«
Die erste Frage. Aber ganz bestimmt nicht die letzte. Ich wußte, was mir bevorstand. Ich war schon einmal auseinandergenommen worden.
«Wer von Ihnen ist der Pilot? Würden Sie dann bitte mit uns kommen. Ihre Passagiere können solange in das Büro des Flughafendirektors gehen. Ist die Dame verletzt?«
«Ohnmächtig«, sagte ich.
«Oh…«Er zögerte.»Könnte einer von den anderen sie übernehmen?«Er sah sich die anderen an. Goldenberg, groß und schwabbelig; der Major, ältlich; Colin, schmächtig. Sein Blick glitt über Colin und dann wieder zurück, die Augen weiteten sich, Ungläubigkeit kämpfte mit Wiedererkennen.
«Entschuldigen Sie. Sind Sie?«
«Ross«, sagte Colin knapp.»Ja.«
Sofort wurde der rote Teppich ausgerollt. Man schaffte Riechsalz und eine Bodenhosteß für Annie Villars herbei, steife Brandys für den Major und Goldenberg, Autogrammhefte für Colin Ross. Der Direktor persönlich kümmerte sich um sie. Und irgend jemand rief aufgeregt die Presse des Landes auf den Plan.
Die Untersuchungsbeamten des Handelsministeriums waren nett und höflich. Wie gewöhnlich. Und beharrlich, gewissenhaft und gnadenlos. Auch wie gewöhnlich.
«Warum sind Sie in East Midlands gelandet?«
Reibung.
«Hatten Sie irgendeinen Verdacht, daß eine Bombe an Bord war?«
Nein.
«Haben Sie die Maschine vor dem Flug gründlich überprüft?«
Ja.
«Und keine Bombe?«
Nein.
Ob ich wüßte, daß ich trotzdem verantwortlich für die Sicherheit des Flugzeugs war und technisch gesehen dafür verantwortlich gemacht werden konnte, daß ich mit einer Bombe an Bord gestartet war?
Ja.
Wir sahen einander an. Es war eine merkwürdige Regel. Nur sehr wenige Menschen, die mit einer Bombe an Bord starteten, lebten lange genug, um dafür zur Verantwortung gezogen werden zu können.
Das Handelsministerium lächelte, um zu zeigen, daß es wußte, wie töricht die Annahme war, irgend jemand würde mit einer Bombe starten, wenn er von deren Existenz wußte.
«Haben Sie das Flugzeug jedesmal abgeschlossen, wenn Sie es verlassen haben?«
Habe ich.
«Und ist es die ganze Zeit verschlossen geblieben?«
Womit sie den wunden Punkt berührten. Ich erzählte ihnen vom Major. Sie wußten es bereits.
«Er sagt, er sei sicher, die Türen wieder verschlossen zu haben«, hieß es.»Aber wäre es selbst in diesem Falle nicht Ihre Pflicht gewesen, sich um die Sicherheit des Flugzeugs zu kümmern, und nicht seine?«
Ganz recht.
«Wäre es nicht klüger gewesen, Sie hätten ihn begleitet, um die Zeitung zu holen?«
Kein Kommentar.
«Die Sicherheit des Flugzeugs liegt in der Verantwortung des Flugkapitäns.«
Wie man die Sache auch drehen und wenden mochte, darauf lief es immer wieder hinaus.
Das war mein zweites Gespräch mit dem Handelsministerium. Das erste Gespräch am Tag nach der Explosion war freundlich und mitfühlend gewesen, ein Sammeln von Tatsachen, in dessen Verlauf das Wort» Verantwortung «nicht ein einziges Mal gefallen war. Es hatte sich schüchtern hinter den Kulissen gehalten. Unvermeidlich, daß es später aufs Tapet kommen und an irgend jemandes Brust geheftet werden würde.
«Während der vergangenen drei Tage haben wir all Ihre Passagiere befragt, und keiner von ihnen hat auch nur die geringste Ahnung, wer ihren Tod wünschen könnte oder warum. Also haben wir jetzt das Gefühl, uns mehr mit der Frage beschäftigen zu müssen, wer eine Gelegenheit dazu hatte, die Bombe anzubringen, und wir hoffen natürlich, daß es Ihnen nichts ausmacht, uns eine Menge Fragen zu beantworten. Dann stellen wir eine Erklärung für Sie zusammen, und wir wären froh, wenn Sie sie unterzeichnen würden.«
«Ich tue, was ich kann«, sagte ich. Grub mir mein eigenes Grab. Wieder einmal.
«Ihre Passagiere waren einhellig der Meinung, daß die Bombe sich in dem mit Geschenkpapier umwickelten Päckchen befunden haben muß, das Sie selbst an Bord gebracht haben.«
Nett.
«Und daß der Anschlag eigentlich Colin Ross gegolten hat.«
Ich sog die Luft ein.
«Sie sind anderer Meinung?«
«Ich habe ganz ehrlich keine Ahnung, wem der Anschlag gegolten hat«, sagte ich.»Aber ich glaube nicht, daß die Bombe in dem Päckchen war.«
«Warum nicht?«
«Seine Schwester hatte es gekauft, an besagtem Morgen.«
«Das wissen wir. «Er war ein großer Mann, und seine Augen schienen nach innen gerichtet zu sein, als konsultierten sie einen Computer in seinem Kopf, um jede Antwort, die er bekam, einzuspeisen und darauf zu warten, daß die Schaltkreise eine Schlußfolgerung ausspuckten. In seinem Gehabe lag keine Spur von Aggression, und zu seinen Motiven gehörte ganz gewiß nicht Rachsucht. Ein Tatsachenfinder, ein Ursachensucher — wie ein Trüffelhund. Er kannte den Geruch der Wahrheit. Nichts würde ihn vom Weg abbringen.
«Und es hat den ganzen Nachmittag auf einem Regal in der Umkleidekabine gelegen«, sagte ich.»Niemand hat Zutritt zur Umkleidekabine außer den Jockeys und den Jockeydienern.«
«Das haben wir auch gehört. «Er lächelte.»Könnte das Päckchen eine Bombe gewesen sein? Vom Gewicht her?«
«Ich denke schon.«
«Miss Nancy Ross sagt, es habe eine große Flasche mit feinem Badeöl enthalten.«
«Hat man in den Trümmern keine Hinweise gefunden?«fragte ich.
«Absolut nichts. «Der große Mann zog die Nase kraus.»Ich habe selten etwas gesehen, das gründlicher zerlegt war.«
Wir saßen im sogenannten Mannschaftsraum im Derry-down-Büro auf dem alten Royal-Air-Force-Flugplatz in der Nähe von Buckingham. Derrydowns Ausgaben für den schönen Schein beschränkten sich auf das Büro des Direktors und den Warteraum für die Passagiere auf der anderen Seite der Halle. Der Mannschaftsraum sah aus, als stünden Farbe und Wände kurz vor ihrer silbernen Hochzeit. Das Linoleum hatte seine Volljährigkeit auch schon lange erreicht. Drei der vier billigen Sessel hatten die Pubertät wohl noch vor sich, aber die Sprungfedern des vierten waren so übel zerbrochen, daß es bequemer war, auf dem Fußboden zu sitzen.
Einen Großteil des Platzes an den Wänden nahmen Landkarten, Wetterkarten und verschiedene» Mitteilungen an die Piloten «ein, von denen mehrere überholt waren. Es gab auch einen Einsatzplan, auf dem mein Name mit schönster Regelmäßigkeit auftauchte, und eine in roten Großbuchstaben getippte Mitteilung dahingehend, daß jedem, der vergaß, bei einem Charterflug die Zulassungsdokumente für das Flugzeug mitzunehmen, die Kündigung ins Haus stand. Ich hatte pflichtschuldigst alle Unterlagen der Cherokee sowie das Wartungsheft bei mir gehabt, ganz so, wie die Luftfahrtbehörde es wünschte. Jetzt wa-ren sie zu kleinen Aschenflöckchen verbrannt. Ich hoffte, daß irgend jemand irgendwo irgendeinen Sinn darin sah.
Der große Mann sah sich sorgfältig in dem schmuddeligen Raum um. Der andere — kürzer, breiter, schweigsam — saß mit seinem grünen, angekauten HB-Bleistift über einen Spiralblock gebeugt.
«Mr. Shore, wenn ich recht informiert bin, sind Sie im Besitz einer Lizenz für Linienflugzeugführer. Und eines Flugnavigatorzertifikats.«
Er hatte recherchiert. Damit hatte ich gerechnet.
«Ja«, sagte ich kurz.
«Diese Taxiarbeit ist kaum — nun ja — das, wofür Sie ausgebildet wurden.«
Ich zuckte die Achseln.
«Die höchstmöglichen Qualifikationen…«Er schüttelte den Kopf.»Sie sind bei der B.O.A.C. ausgebildet worden und neun Jahre für die Gesellschaft geflogen. Erster Offizier. Standen kurz vor der Beförderung zum Captain. Und dann sind Sie gegangen.«
«Ja. «Und man wurde nie ein zweites Mal dort eingestellt. Geschäftspolitik.
Nie.
Taktvoll konsultierte er seine Notizen.»Und dann sind Sie bis zu deren Bankrott als Captain für eine private britische Fluggesellschaft geflogen? Und danach für eine südamerikanische Fluggesellschaft, die Sie, glaube ich, entlassen hat. Dann das ganze letzte Jahr ein wenig Waffenschmuggel, diesen Frühling Schädlingsbekämpfung und jetzt dies.«
Sie ließen niemals locker. Ich fragte mich, wer die Liste zusammengestellt hatte.
«Es waren keine Waffen. Nahrungsmittel und medizinische Vorräte rein, Flüchtlinge und Verwundete raus.«
Er lächelte schwach.»Auf irgendeiner entlegenen afrikanischen Landepiste in dunklen Nächten? Unter Feindbeschuß?«
Ich sah ihn an.
Er breitete die Hände aus:»Ja. Ich weiß. Alles legal und respektabel, und es geht uns natürlich nichts an. «Er räusperte sich.»Waren Sie nicht — ähm — Gegenstand — einer Ermittlung vor ungefähr vier Jahren? Während Sie bei British Interport angestellt waren?«
Ich holte tief Luft.»Ja.«
«Hm. «Er schaute auf, dann wieder runter und zur Seite.»Ich habe eine Zusammenfassung des Falles gelesen. Man hat Ihnen nicht Ihre Lizenz entzogen.«
«Nein.«
«Obwohl das, oberflächlich betrachtet, eigentlich zu erwarten gewesen wäre.«
Ich antwortete nicht.
«Hat Interport das Bußgeld für Sie bezahlt?«
«Nein.«
«Aber Sie durften als Kapitän weiterarb eiten. Man hat Sie der groben Fahrlässigkeit für schuldig befunden, aber Sie durften weiterfliegen. «Diese Bemerkung lag irgendwo auf halbem Wege zwischen Feststellung und Frage.
«Das stimmt«, sagte ich.
Wenn er alle Einzelheiten in Erfahrung bringen wollte, konnte er den Bericht ganz lesen. Er wußte es, und ich wußte es. Er würde mich nicht dazu bringen, es ihm zu erzählen.
Er sagte:»Tja… nun. Wer hat diese Bombe in die Cherokee gebracht? Wann und wie?«»Ich wünschte, ich wüßte es.«
Sein Verhalten hatte sich nicht verändert. Seine Stimme war immer noch freundlich. Wir beide ignorierten seinen zaghaften Versuch, die Daumenschrauben anzuziehen.
«Sie sind in White Waltham und Newbury gelandet…«
«In White Waltham habe ich die Maschine nicht abgeschlossen. Ich habe auf dem Rasen vor der Empfangshalle geparkt. Ich konnte das Flugzeug die meiste Zeit über sehen, und es war nur eine halbe Stunde am Boden. Ich war etwas zu früh dort… Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand die Gelegenheit hatte oder sich darauf hätte verlassen können, die Gelegenheit zu bekommen, in White Waltham eine Bombe an Bord zu bringen.«
«Newbury?«
«Außer mir sind alle auf ihren Plätzen geblieben. Colin Ross kam herüber. Wir brachten seine Reisetasche im vorderen Gepäckfach unter.«
Der große Mann schüttelte den Kopf.»Die Explosion war weiter hinten. Hinter dem Pilotensitz oder sogar noch weiter hinten. Die Sprengspuren lassen da keine Zweifel zu. Einige der Metallteile vom Pilotensitz haben sich in das Armaturenbrett gebohrt.«
«Eine Minute«, sagte ich nachdenklich.»Scheußliche Sache.«
«Ja… Wer hatte in Haydock eine Gelegenheit?«
Ich seufzte innerlich.»Wahrscheinlich jeder — von dem Zeitpunkt an, da ich Major Tyderman die Schlüssel gab, bis zu meiner Rückkehr zum Flugzeug.«
«Wie lange war das?«
Ich dachte nach.»Beinahe drei Stunden. Aber.«
«Aber was?«
«Niemand konnte sich darauf verlassen, daß das Flugzeug unverschlossen war.«
«Soll das ein Versuch sein, sich rauszuwinden?«
«Glauben Sie?«
Statt einer Antwort sagte er:»Ich will Ihnen zugestehen, daß niemand wissen konnte, ob es verschlossen oder unverschlossen war. Sie haben die Sache nur erleichtert.«
«Na schön«, sagte ich.»Wenn Sie außerdem bitte daran denken würden, daß Autodiebe Tag für Tag verschlossene Autos aufbrechen und daß Flugzeuge und Autos im Prinzip die gleichen Schlösser haben. Jeder, der in der Lage ist, eine Bombe herzustellen und zu verstecken, kann auch ein kleines, altes Schloß aufbrechen.«
«Möglich«, sagte er und wiederholte dann:»Aber Sie haben die Sache erleichtert.«
Der verdammte Major Tyderman, dachte ich hoffnungslos. Dummer, unvorsichtiger alter Narr. Ich verdrängte den Gedanken, daß ich wahrscheinlich mit ihm gegangen wäre oder darauf bestanden hätte, ihm die Zeitung selbst zu holen, hätte es mir nicht widerstrebt, Nancy allein zu lassen.
«Wer konnte noch Zugang zu dem Flugzeug gehabt haben… einmal abgesehen von der Sache mit den Schlössern?«
Ich zog eine Schulter hoch.»Alle Welt. Man brauchte lediglich die Bahn zu überqueren.«
«Das Flugzeug stand, glaube ich, gegenüber den Tribünen, wo die Zuschauer es voll im Blick hatten.«
«Ja. Ungefähr hundert Meter von den Tribünen entfernt, um genau zu sein. Nicht nahe genug, als daß jemand genau hätte sehen können, was ein anderer tat, wenn er scheinbar um das Flugzeug herumgegangen wäre und durch die Fenster geschaut hätte. Das tun die Leute nämlich oft.«»Ihnen selbst ist aber niemand aufgefallen?«
Ich schüttelte den Kopf.»Ich habe mehrmals während des Nachmittags hinübergeschaut. Aber immer nur flüchtig. Ich habe nicht mit Schwierigkeiten gerechnet.«
«Hmm. «Er dachte ein paar Sekunden lang nach. Dann sagte er:»Zwei Maschinen von Polyplane waren auch da, glaube ich.«
«Ja.«
«Ich glaube, ich sollte mal mit den Piloten reden, um festzustellen, ob denen etwas aufgefallen ist.«
Ich schwieg. Seine Augen richteten sich plötzlich scharf und schwarz auf die meinen.
«Waren sie freundlich?«
«Die Piloten? Nicht direkt.«
«Wie steht die Fehde?«
«Was für eine Fehde?«
Er sah mich taxierend an.»So begriffsstutzig sind Sie nicht. Niemand arbeitet für Derrydown und weiß nicht, daß dieser Laden und Polyplane pausenlos damit beschäftigt sind, einander die Augen auszukratzen.«
Ich seufzte.»Das schert mich einen Dreck.«
«Nicht mehr, wenn die Polyplane-Leute anfangen, Sie anzuzeigen.«
«Mich anzuzeigen? Weshalb denn? Wie meinen Sie das?«
Er lächelte ein dünnes Lächeln.»Wenn Sie die Vorschriften auch nur einen Sekundenbruchteil außer acht lassen, haben wir Polyplane an der Strippe, bevor Ihre Maschine ausgerollt ist. Sie tun ihr Bestes, um Derrydown aus dem Geschäft zu bringen. Das meiste tun wir einfach als Gehässigkeit ab. Aber wenn die Sie dabei erwischen,
daß Sie gegen irgendeine Vorschrift verstoßen, und auch noch Zeugen dafür beibringen können, müssen wir aktiv werden.«
«Entzückend.«
Er nickte.»In der Fliegerei wird man niemals eine besondere Polizeieinheit brauchen, um irgendwelchen Verbrechen auf die Spur zu kommen. Alle sind ja so damit beschäftigt, über alle anderen Bericht zu erstatten. Zum Lachen manchmal.«
«Oder zum Weinen«, sagte ich.
«Das auch. «Er nickte ironisch.»Es gibt keine dauerhaften Freundschaften in der Fliegerei. Die Leute, die Sie für Ihre Freunde halten, werden die ersten sein, die jede Verbindung zu Ihnen leugnen, sobald auch nur der blasseste Schimmer von Schwierigkeiten am Horizont aufflackert. In Ihrem Geschäft kräht der Hahn, bis er heiser ist. «Die Bitterkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. Aber nicht gegen mich gerichtet.
«Ihnen gefällt das nicht.«
«Nein. Es macht unseren Job natürlich einfacher. Aber der Anblick von Leuten, die mit aller Macht versuchen, ihre eigene Haut zu retten, gleichgültig, was andere das kostet, gefällt mir immer weniger. Macht die Leute kleiner. Sie sind ohnehin schon ziemlich winzig.«
«Man kann ihnen kaum übelnehmen, daß sie nicht immer mit hineingezogen werden wollen. In der Fliegerei sind die Gerichtsverhandlungen so hitzig, so unversöhnlich.«
«Haben sich Ihre Freunde bei Interport um Sie geschart und Ihnen zugejubelt?«
Ich dachte an jene Wochen der Einsamkeit zurück.»Sie haben abgewartet.«
Er nickte.»Wollten sich nicht anstecken.«
«Es ist lange her«, sagte ich.
«Eine Zurückweisung vergißt man nie«, sagte er.»So etwas ist ein Trauma.«
«Interport hat mich nicht zurückgewiesen. Sie haben mich noch ein ganzes Jahr behalten, bis sie pleite gegangen sind. Und«, fügte ich hinzu, »damit hatte ich nichts zu tun.«
Er lachte leise.»Oh, ich weiß. Mein Herr und Meister, die Regierung, hat eine seiner großen, dicken Daumenschrauben angelegt und sie auf die eine oder andere Weise aus dem Geschäft gedrängt.«
Ich ging nicht darauf ein. Die Geschichte der Fliegerei war gepflastert mit den Leichen gemeuchelter Luftfahrtgesellschaften. Der Konkurs lauerte wie ein Geier in jedem Aufsichtsrat dieses Industriezweigs und pickte bereits an den Körpern herum, bevor sie überhaupt tot waren. British Eagle, Handley Page, Beagle — die Liste der Kadaver war endlos. Interport hatte zu den größten Firmen gezählt und Derrydown, das noch immer um seine Existenz kämpfte, zu den kleinsten, aber ihre Probleme waren die gleichen. Riesige, unerbittliche Kosten. Launisches, schwankendes Einkommen. Rote Zahlen.
Ich sagte:»Die Bombe könnte natürlich auch ganz woanders an Bord gebracht worden sein. «Ich hielt inne.
«Immer raus damit.«
«Hier.«
Der große Ermittlungsbeamte und sein schweigsamer Freund mit dem Bleistift gingen zum Hangar hinunter, um den alten Joe zu befragen.
Harley rief mich in sein Büro.
«Sind die beiden fertig?«
«Sie sind zu Joe gegangen, um ihn zu fragen, ob er die Bombe in die Cherokee eingebaut hat.«
Harley war gereizt, was bei ihm der gewöhnliche Gemütszustand war.»Lächerlich.«
«Oder ob Larry es getan hat.«
«Larry…«
«Er ist an bewußtem Nachmittag in die Türkei geflogen«, stellte ich fest.»Wäre es denkbar, daß er uns ein kleines Andenken hinterlassen hat?«
«Nein. «Kurz, barsch und vehement.
«Warum ist er gegangen?«
«Weil er es wollte. «Er warf mir einen scharfen, fast mißbilligenden Blick zu.»Sie reden schon genauso wie das Handelsministerium.«
«Tut mir leid«, sagte ich versöhnlich.»Muß ansteckend sein.«
Harleys Büro stammte aus einer besseren Vergangenheit. Auf dem Fußboden lag eine Art Teppich, für den letzten Anstrich der Wände gab es noch Zeitzeugen, und sein gediegener Schreibtisch hatte mit den Jahren Flair statt Macken bekommen. Schlaffe, blaue Vorhänge umrahmten das große Fenster mit Blick über den Flugplatz, und mehrere gelungene Fotos von Flugzeugen hingen eingerahmt an den Wänden. Für Kunden stand ein fast neuer, leichter Lehnsessel bereit; für Mitarbeiter ein harter Holzstuhl.
Harley selbst war Besitzer, Direktor, Chef, Fluglehrer, Flugscheinverkäufer und Fensterputzer. Sein Personal bestand aus einem qualifizierten Mechaniker jenseits des Rentenalters, einem jungen als Teilzeitkraft, einem Vollzeit-Taxipiloten (mir) und einem Teilzeitpiloten, der je nach Bedarf flog oder Unterricht gab und sich jeden zwei-ten Tag in einem Fliegerklub zwanzig Meilen weiter nördlich als Lehrer betätigte.
Die weiteren Aktivposten, die Derrydown besessen hatte, bevor die Cherokee in die Luft gegangen war, hatten aus drei einsatzfähigen Flugzeugen und einem klugen jungen Mädchen bestanden. Die restlichen zwei Flugzeuge waren ein kleines, einmotoriges Schulflugzeug und eine zweimotorige, acht Jahre alte Aztec, die über alle erdenklichen technischen Hilfsmittel verfügte und für die sich Harley mit einem Leasingvertrag über fünf Jahre dumm und dämlich zahlte.
Das Mädchen, Honey, die Tochter seines Bruders, arbeitete für Luft und Liebe und war die Stütze, die die ganze Firma aufrechthielt. Ich kannte ihre Stimme besser als ihr Gesicht, da sie den ganzen Tag im Kontrollturm saß und alles dirigierte, was an Luftverkehr daherkam. Zwischendurch tippte sie sämtliche Briefe, machte die Buchführung, kümmerte sich um die Rechnungen, ging ans Telefon, wenn ihr Onkel es nicht tat, und kassierte von den Piloten, die nicht hier zu Hause waren, die Landegebühren ein. Dem Vernehmen nach litt sie wegen Larry an gebrochenem Herzen und kam daher so selten wie möglich von ihrem Ausguck herunter.
«Sie hat sich die Augen aus dem Kopf geheult wegen diesem Schwein. «So hatte sich mein Teilzeitkollege ausgedrückt.»Aber warte mal ein oder zwei Wochen. Dann legt sie sich statt dessen für dich hin. Hat noch nie einen Piloten zurückgewiesen, unsere Honey.«
«Und wie steht’s mit dir?«fragte ich belustigt.
«Mit mir? Mich hatte sie schon ausgequetscht wie eine Zitrone, lange bevor dieser gottverdammte Larry hier auftauchte.«
Harley sagte ungehalten:»Wir haben seit der Bombe schon zwei Charters verloren. Den Leuten ist die Aztec zu teuer; da fahren sie lieber mit dem Wagen.«
Er fuhr sich mit der flachen Hand über den Kopf.»Oben in Liverpool steht noch eine andere Cherokee Six, die wir leasen könnten. Ich habe gerade mit den Leuten telefoniert. Klingt ganz gut. Sie bringen die Maschine morgen nachmittag her, so daß Sie nach Ihrer Rückkehr aus Newmarket einen Probeflug mit der Kiste machen und mir sagen können, was Sie davon halten.«
«Wie steht es mit der Versicherung für die alte?«erkundigte ich mich beiläufig.»Auf lange Sicht wäre es billiger, zu kaufen statt zu leasen.«
«Es war ein Mietkauf«, sagte er düster.»Wir können von Glück sagen, wenn wir überhaupt einen Penny kriegen. Und außerdem geht Sie das eigentlich nichts an.«
Harley war etwas dick und etwas kahl, und ihm fehlte gerade die Spur Durchsetzungsvermögen, die nötig war, um Derrydown aus dem Dreck zu ziehen. Sein Verhalten mir gegenüber war eher herrisch als freundlich, was ich durchaus begreiflich fand.
«Der letzte Mensch auf Erden, der eine Bombe in irgendein Flugzeug legen würde, ist Joe«, sagte er geladen.»Er kümmert sich wie eine Mutter um die Dinger. Er poliert sie.«
Das stimmte. Die Flugzeuge von Derrydown funkelten außen und wurden innen shampooniert. Die Motoren schnurrten wie Kätzchen. Das leicht irreführende, generelle Flair von Wohlstand, das der Firma anhaftete, ging größtenteils auf Joes Konto.
Als das Handelsministerium vom Hangar zurückkehrte, wirkte es ein wenig belämmert. Joe hatte ihm die Leviten gelesen, vermutete ich. Mit neunundsechzig Jahren und einigen Ersparnissen auf der Bank zeigte er eine gewisse Tendenz, seine eigenen Regeln aufzustellen. Meine Theorie, im Höhenruderzug könne sich eine Rolle gelöst haben, hatte er übelgenommen. So etwas passierte in seinen Flugzeugen einfach nicht, hatte er mir steif zu verstehen gegeben, und ich könnte mir meine vier Goldstreifen vom Ärmel nehmen und sie mir, ich wüßte schon wohin, stek-ken. Da ich meine Pilotenjacke seit fast zwei Jahren nicht mehr getragen hatte, erwiderte ich, daß mir da die Motten sicher zuvorgekommen seien, und obwohl es nur ein schwacher Scherz gewesen war, sah er mich daraufhin etwas weniger mürrisch an und erklärte mir, daß es keine gebrochene Rolle gewesen sein konnte, ganz bestimmt nicht, und wenn doch, dann war es die Schuld des Herstellers und nicht seine.
«Das Ding hat Colin Ross das Leben gerettet«, bemerkte ich.»Sie sollten eine Medaille dafür verlangen. «Eine Feststellung, bei der sich sein Mund öffnete und gleich wieder schloß.
Das Ministerium marschierte in Harleys Büro. Der Große setzte sich in den Lehnstuhl, Grüner Bleistift auf den Holzstuhl. Harley hinter seinen Schreibtisch. Für mich kein Sitzplatz; ich lehnte mich gegen die Wand.
«Tja, also«, sagte der große Mann.»Es sieht so aus, als hätte jeder auf diesem Flugplatz Gelegenheit gehabt, an der Cherokee herumzupfuschen. Jeder aus der Firma und alle Kunden, die an bewußtem Morgen zufällig hier waren, und überhaupt jeder, der an jenem Tag hier war, um sich den Betrieb mal anzusehen. Wir gehen davon aus, daß die Bombe für Colin Ross gedacht war, aber wirklich wissen können wir das nicht. Falls es jedoch so war, hatte irgend jemand eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wann er sich in dem Flugzeug befinden würde.«
«Letztes Rennen um halb fünf. Er hat daran teilgenommen«, sagte Harley.»Man braucht nicht lange nachzurechnen, um darauf zu kommen, daß er um zwanzig vor sechs in der Luft sein würde.«
«Siebzehn Uhr siebenundvierzig«, sagte der große Mann.»Um genau zu sein.«
«Na ja, sei’s drum«, erwiderte Harley gereizt.
«Ich frage mich, worin die Bombe versteckt war«, sagte der große Mann nachdenklich.»Haben Sie in den Verbandskasten gesehen?«
«Nein«, sagte ich verwundert.»Ich habe nur überprüft, ob er da war. Ich sehe nie hinein. Genausowenig wie in die Feuerlöscher oder unter die Sitze oder in die Schwimmwestenhüllen…«
Der große Mann nickte.»Überall da hätte die Bombe sein können. Oder sie war doch in diesem hübschen Päckchen.«
«Und hat munter vor sich hin getickt«, sagte Harley.
Ich löste mich langsam von der Wand.»Angenommen«, sagte ich zögernd,»angenommen, sie war an keinem dieser Plätze. Angenommen, sie war tiefer versteckt, wo man sie nicht sehen konnte. Irgendwo zwischen der Kabinenwand und der Außenhaut — wie eine Haftmine zum Beispiel. Angenommen, daß sie durch diesen turbulenten Flug
— und all die Kurven, die ich machen mußte, um den Gewitterwolken auszuweichen — verrutscht ist, so daß sie zwischen die Höhenruderzüge geraten ist… Angenommen, das war es, was ich spüren konnte — und warum ich beschlossen habe zu landen… daß wir also unsere Rettung schließlich der Bombe selbst zu verdanken haben.«