Kapitel 2

Whoww«, sagte sie.»Der falsche. «Sie nahm die Sonnenbrille ab, legte sie zusammen und steckte sie in die weiße Handtasche, die ihr an einer dicken, blauweißroten Kordel von der Schulter baumelte.

«Machen Sie sich nichts draus.«

«Wo ist Larry?«

«Abgezogen. Richtung Türkei.«

«Abgezogen?«sagte sie verdutzt.»Soll das heißen, daß er wirklich schon weg ist?«

Ich schaute auf meine Uhr.»Ist vor zwanzig Minuten von Heathrow abgeflogen, glaube ich.«

«Verdammt!«sagte sie nachdrücklich.»Verdammt.«

Sie richtete sich auf, so daß ich sie auch von der Taille abwärts sehen konnte. Ein erfreulicher Anblick für einen armen Flieger. Die Beine sahen nach dreiundzwanzig Jahren aus, und es gab nichts an ihnen auszusetzen.

Sie beugte sich wieder vor. Auch an allem anderen gab es nichts auszusetzen.

«Wann kommt er zurück?«

«Er hat einen Dreijahresvertrag.«

«O Mist!« Ein paar Sekunden lang starrte sie mich unglücklich an, dann sagte sie:»Kann ich einsteigen und einen Augenblick mit Ihnen reden?«

«Klar«, sagte ich und nahm meine Landkarten und den ganzen anderen Kram von Goldenbergs Platz. Sie kletterte

in das Cockpit und ließ sich gekonnt auf den Sitz gleiten. Ganz bestimmt nicht ihr erster Auftritt in einem Leichtflugzeug. Ich dachte an Larry. Larry, der Glückspilz.

«Er hat Ihnen nicht zufällig… ein Päckchen… oder irgend etwas anderes… für mich mitgegeben, nein?«fragte sie niedergeschlagen.

«Nein, nichts, fürchte ich.«

«Dann ist er also ein echter Widerling… ähm, ist er ein Freund von Ihnen?«

«Ich bin ihm zweimal über den Weg gelaufen, das ist alles.«

«Er hat mir hundert Mäuse geklaut«, sagte sie bitter.

«Geklaut…?«

«Ja, verdammt noch mal. Ganz zu schweigen von meiner Handtasche und den Schlüsseln und allem. «Sie hielt inne und preßte vor Zorn die Lippen aufeinander. Dann fügte sie hinzu:»Ich habe vor drei Wochen meine Handtasche in diesem Flugzeug liegengelassen, als wir nach Doncaster geflogen sind. Und seitdem verspricht Larry mir, sie Colin beim nächsten Flug zu den Rennen für mich mitzugeben, und drei volle Wochen lang hat er es immer wieder vergessen. Wahrscheinlich wußte er, daß er in die Türkei gehen würde, und dachte, wenn er mich nur lange genug hinhalten könnte, brauchte er mir die Tasche überhaupt nicht mehr zurückzugeben.«

«Colin… Colin Ross?«fragte ich.

Sie nickte geistesabwesend.

«Sind Sie seine Frau?«

Sie schaute überrascht auf und lachte dann.»Gütiger Himmel, nein. Ich bin seine Schwester. Ich habe ihn gerade im Führring getroffen und gefragt: >Hat er meine Handtasche mitgebracht?<, und er hat den Kopf geschüttelt und wollte irgend etwas sagen, aber da war ich schon fuchsteufelswild auf dem Weg hierher. Wahrscheinlich wollte er mir erzählen, daß diesmal ein anderer Pilot… ah, verdammt. Ich hasse es, beklaut zu werden. Colin hätte ihm ganz bestimmt hundert geliehen, wenn er das Geld wirklich so dringend gebraucht hätte. Er hätte sie nicht zu klauen brauchen.«

«Eine schöne Stange Geld, um sie in einer Handtasche aufzubewahren«, meinte ich.

«Colin hatte sie mir gerade erst gegeben. Im Flugzeug. Irgendein Besitzer hatte ihm ein hübsches Sümmchen bar auf die Hand gegeben, und er hat mir einen Hunderter geschenkt, damit ich eine Rechnung bezahlen konnte. Wirklich lieb von ihm. Ich kann ja kaum erwarten, daß er mir noch mal hundert gibt, bloß weil ich so dumm war, meine Handtasche irgendwo rumliegen zu lassen…«Ihre Stimme verlor sich in Trübsal.

«Mit dem Geld«, fügte sie unglücklich hinzu,»wollte ich meine Flugstunden bezahlen.«

Ich sah sie mit einigem Interesse an.»Wie weit sind Sie denn?«

«Oh, den Flugzeugführerschein habe ich schon«, sagte sie.»Bei diesen Stunden ging es um Instrumentenflug. Und Funknavigation und den ganzen Kram. Ich habe insgesamt fünfundneunzig Flugstunden. Allerdings über vier Jahre verteilt, traurig, aber wahr.«

Damit gehörte sie in die Klasse der fortgeschrittenen Anfänger — ein überaus gefährliches Stadium. Nach achtzig Flugstunden fällt man bereits der Vorstellung zum Opfer, man wüßte genug. Nach hundert Stunden weiß man zumindest, daß dem keineswegs so ist. Dazwischen erreicht die Unfallquote ihren Höhepunkt.

Sie stellte mir eine Reihe Fragen über das Flugzeug, und ich antwortete ihr. Dann sagte sie:»Tja, ziemlich zwecklos, den ganzen Nachmittag hier rumzusitzen«, und begann, sich auf die Tragfläche hinauszustemmen.»Kommen Sie mit rüber zu den Rennen?«

«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.

«Ach, geben Sie sich doch einen Ruck«, sagte sie.»Bitte.«

Die Sonne schien, und das Mädchen war ausgesprochen hübsch. Ich lächelte, sagte» Okay «und schwang mich ebenfalls hinaus auf den Rasen. Sinnlos, jetzt darüber zu spekulieren, was alles anders verlaufen wäre, wäre ich geblieben, wo ich war.

Ich holte meine Jacke aus dem hinteren Gepäckraum, verschloß sämtliche Türen und marschierte mit dem Mädchen quer über die Rennbahn. Der Mann am Tor ließ mich pflichtbewußt in den Führring ein, und Colins Schwester machte keine Anstalten, mich nun, nachdem sie mir Zutritt verschafft hatte, mir selbst zu überlassen. Statt dessen diagnostizierte sie meine nahezu komplette Unkenntnis und schien sich darüber zu freuen, etwas dagegen unternehmen zu können.

«Sehen Sie dieses braune Pferd da drüben?«fragte sie und lotste mich auf die Rails des Führrings zu.»Das Pferd, das am anderen Ende geht, die Nummer sechzehn, das ist das Tier, das Colin in diesem Rennen reitet. Es ist etwas leicht gebaut, macht aber sonst einen ganz guten Eindruck.«

«Ah, wirklich?«

Sie sah mich belustigt an.»Eindeutig.«

«Dann soll ich wohl darauf setzen?«

«Sie nehmen das alles hier nicht ernst.«»Doch«, protestierte ich.

«O nein, natürlich nicht. «Sie nickte.»Sie beobachten diesen Renntag so, wie ich einem Haufen Spiritisten zusehen würde. Ungläubig und etwas von oben herab.«

«Autsch.«

«Aber was Sie hier wirklich vor sich sehen, ist eine große Exportindustrie bei der Vermarktung ihrer Produkte.«

«Das werde ich mir merken.«

«Und wenn diese Industrie ihrem Geschäft hier draußen nachgeht, an einem schönen, sonnigen Tag, inmitten von Leuten, die ihren Spaß haben — na gut, dann um so besser.«

«So betrachtet«, sagte ich,»ist es auf jeden Fall spaßiger als eine Autofabrik.«

«Sie werden sich schon noch dafür erwärmen«, sagte sie entschieden.

«Nein. «Ich war mir genauso sicher.

Sie nickte heftig mit dem Kopf.»Werden Sie doch. Jedenfalls, wenn Sie viel Rennplatztaxi fliegen. Die Pferde werden durch Ihre kühle Schale dringen, und Sie werden zur Abwechslung einmal etwas empfinden.«

Ich staunte.»Reden Sie immer so mit völlig fremden Menschen?«

«Nein«, sagte sie langsam,»für gewöhnlich nicht.«

Die leuchtend bunten kleinen Jockeys strömten in den Führring und verteilten sich auf die kleinen, ernsten Grüppchen von Besitzern und Trainern, die mit viel Kopfnicken bedeutungsschwere Gespräche führten. Gemäß den Anweisungen von Colin Ross’ Schwester gab ich mir Mühe, das Ganze einigermaßen ernst zu nehmen. Ohne besonderen Erfolg.

Colin Ross’ Schwester…

«Haben Sie auch einen Namen?«fragte ich.

«Normalerweise schon.«

«Danke.«

Sie lachte.»Ich heiße Nancy. Und Sie?«

«Matt Shore.«

«Hm. Kurz und bündig. Paßt zu Ihnen.«

Die Jockeys wurden wie Konfetti hochgeworfen, landeten in ihren Sätteln, und ihre spindeldürren, glänzenden, langbeinigen Transportmittel tänzelten mit ihnen auf die Bahn hinaus. Zweijährige, sagte Nancy.

Sie führte mich zu den Tribünen und erbot sich, mich in den für Trainer und Besitzer reservierten Bereich hineinzuschmuggeln. Der Ordner am Fuß der Treppe strahlte sie an, daß ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen, und vergaß dabei ganz, mich auf das richtige Stückchen Papier hin zu untersuchen.

Anscheinend war Nancy mit nahezu jedem auf der Dachtribüne bekannt, und offensichtlich stimmten die Leute hier mit der Einschätzung des strahlenden Ordners vollkommen überein. Sie machte mich mit mehreren Leuten bekannt, deren Interesse an mir wie ein kaltgewordenes Souffle in sich zusammenfiel, als sie feststellen mußten, daß ich den Rennjargon nicht verstand, mit dem sie mich überschütteten.

«Er ist Pilot«, erklärte Nancy entschuldigend.»Er hat Colin heute hergeflogen.«

«Ah«, sagten sie.»Ah.«

Auf der Tribüne sah ich auch zwei von meinen Passagieren. Annie Villars sah mit aufmerksamem Blick und geschürzten Lippen zu, wie die Pferde unten vorbeigaloppierten: ganz Feldmarschall, die feminine Tarnung abgelegt. Major Tyderman stand breitbeinig und kerzengerade da und kritzelte etwas in sein Rennprogramm. Als er aufblickte und uns sah, steuerte er entschlossen auf uns zu.

«Sagen Sie«, sprach er mich an, da er offensichtlich meinen Namen vergessen hatte,»wissen Sie, ob ich meine Sporting Life im Flugzeug liegengelassen habe?«

«Ja, haben Sie, Major.«

«Teufel auch!«sagte er.»Ich habe mir ein paar Notizen darin gemacht… Brauche sie dringend, wissen Sie. Werde sie mir nach diesem Rennen wohl holen müssen.«

«Soll ich sie Ihnen holen?«fragte ich.

«Das ist sehr nett von Ihnen, mein lieber Junge, aber — nein — das wäre wohl doch zuviel verlangt. Die paar Schritte werden mir guttun.«

«Das Flugzeug ist abgeschlossen, Major«, sagte ich.»Sie brauchen die Schlüssel. «Ich holte sie aus der Tasche und gab sie ihm.

«Richtig. «Er nickte steif.»Gut.«

Das Rennen begann am anderen Ende des Geläufs und war vorbei, bevor es mir gelang, die Farben von Colin Ross zu entdecken. Ganz zum Schluß war das allerdings sehr einfach. Er hatte gewonnen.

«Wie geht es Midge?«fragte Annie Villars Nancy, während sie ihr riesiges Fernglas im Futteral verstaute.

«Schon viel besser, danke. Sie erholt sich prächtig.«

«Das freut mich sehr. Sie hat eine schlimme Zeit hinter sich, das arme Mädchen.«

Nancy nickte und lächelte, und alles trabte die Treppe hinunter.

«So, das wär’s«, sagte Nancy.»Wie steht’s jetzt mit einem Kaffee? Und vielleicht einer Kleinigkeit zu beißen?«

«Sie kennen hier doch sicher den einen oder anderen, mit dem Sie lieber Ihre Zeit verbringen… Ich komme auch allein zurecht.«

Ihre Lippen zuckten.»Ich brauche heute einen Leibwächter. Und ich habe Sie für den Job vorgesehen. Sie können mich ruhig im Stich lassen, wenn Sie wollen, aber falls nicht, bleiben Sie bitte da.«

«Kein Problem«, sagte ich.

«Toll. Also dann, auf zum Kaffee.«

Es gab Eiskaffee, und zwar einen ziemlich guten. Nach der Hälfte der Truthahnsandwiches kam der Grund, warum Nancy mich bei sich haben wollte, an unseren kleinen Tisch geschlendert und küßte sie von oben bis unten ab. Sie wehrte sich gegen etwas, das für mich aussah wie eine zufällige Ansammlung von langen Haaren, Bart, Perlen, Fransen und einem Kleidungsstück, das ich für ein Tischtuch mit einem Loch in der Mitte gehalten hätte. Aus diesem ganzen Gewühl erscholl jetzt ihre Stimme:»Kamerad, es wird ernst. Ihr Einsatz.«

Ich stand auf, streckte beide Hände aus, erwischte ein Gewirr aus Wolle und Haaren, das ich entschlossen von Nancy wegzerrte. Es entpuppte sich schließlich als ein überraschter, noch relativ junger Mann, der viel plötzlicher Platz nahm, als er beabsichtigt hatte.

«Nancy«, sagte er gekränkt.

«Das ist Chanter«, klärte sie mich auf.»Er ist dem Hippiezirkus nie entwachsen, wie man leicht sehen kann.«

«Ich bin Künstler«, sagte er. Er trug ein besticktes Stirnband: wie das Zaumzeug bei den Pferden, dachte ich flüchtig. Die Haarpracht war sauber, sein Gesicht flek-kenweise glatt rasiert, nur um zu beweisen, daß der Wildwuchs keine pure Faulheit war. Bei näherem Hinsehen vergewisserte ich mich, daß es sich bei seinem Gewand tatsächlich um ein dunkelgrünes Chenilletisch-tuch handelte, mit einem Loch in der Mitte für seinen Kopf. Darunter trug er eine Wildlederhose, die von der Hüfte bis zu den Knöcheln gefranst war, und ein grausiges Hemd aus stumpfem, malvenfarbenem Krepp, das sich wie angegossen über seinen flachen Bauch legte. Um den Hals baumelten ihm zahlreiche Ketten und Silbergehänge. Und unter der ganzen Pracht sahen schmutzige, nackte Füße hervor.

«Ich habe mit ihm zusammen die Kunsthochschule besucht«, sagte Nancy resigniert.»Das war in London. Jetzt wohnt er in Liverpool, nur einen Katzensprung entfernt. Jedesmal, wenn ich zu den Rennen hierherkomme, taucht er auch auf.«

«Hömm«, sagte Chanter tiefschürfend.

«Gibt es denn heute beliebig lange Studienbeihilfe?«fragte ich. Das war kein Hohn. Ich wollte es einfach wissen.

Er war nicht beleidigt.»Hey Mann, hier oben bin ich doch der Steißtrommler.«

Ich hätte fast gelacht. Nancy sagte:»Dann wissen Sie also, was das heißt?«

«Er gibt Unterricht«, sagte ich.

«Ja, Mann, genau das habe ich gesagt. «Er nahm sich eins der Truthahnsandwiches. Seine Finger waren grünlich mit schwarzen Streifen. Farbe.

«Und Sie belästigen dieses kleine Vögelchen nicht mit Ihren schmutzigen Gedanken«, sagte er zu mir, wobei er ein paar Brotkrümel ausspuckte.»Das ist ausschließlich mein Territorium. Und zwar ganz ausschließlich, Mann.«

«Tatsache?«

«Tatsache — definitiv, Mann.«

«Wieso?«

Der Blick, den er mir zuwarf, war genauso abartig wie seine Erscheinung.

«Ich hab noch etwas Salz, das ich diesem kleinen Vögelchen auf den Schwanz streuen muß«, sagte er.»Werde nicht lockerlassen, bis es an Ort und Stelle ist.«

Nancy sah ihn mit einem Ausdruck an, als wüßte sie nicht, ob sie ihn auslachen oder sich vor ihm fürchten sollte. Sie konnte nicht so recht entscheiden, ob er nun Chanter, der liebestolle Clown, war oder Chanter, der frustrierte Lustmolch. Ich konnte es auch nicht. Aber ich verstand, daß sie Hilfe brauchte, wenn er in der Nähe war.

«Er will mich bloß, weil ich nicht will«, sagte sie.

«Die Sache mit der Herausforderung. «Ich nickte.»Verletzung des männlichen Stolzes und so weiter.«

«Praktisch alle anderen Mädchen wollten«, sagte sie.

«Das macht die Sache noch schlimmer.«

Chanter sah mich düster an.»Sie sind echt ätzend, Mann. Ich meine, einfach öde.«

«Jedem das Seine«, sagte ich ironisch.

Er nahm sich das letzte Sandwich, wandte mir demonstrativ den Rücken zu und sagte zu Nancy:»Wollen wir beide, du und ich, diesen Schmutz jetzt abschütteln?«

«Wir beide wollen nichts dergleichen tun, Chanter. Wenn du hinter mir herlatschen willst, mußt du Matt mit in Kauf nehmen.«

Er blickte finster zu Boden und stand dann so abrupt auf, daß die Fransen und Perlen hüpften und klimperten.

«Na, dann los. Sehen wir uns die Pferde an. Das Leben ist kurz genug.«

«Er kann übrigens wirklich zeichnen«, sagte Nancy, als wir dem Tischtuch hinaus in den Sonnenschein folgten.

«Das würde ich nie bezweifeln. Aber ich wette, die Hälfte seiner Arbeiten sind Karikaturen, mit einem deutlich grausamen Zug.«

«Woher wissen Sie das?«fragte sie überrascht.

«Es sähe ihm ähnlich.«

Er trottete auf seinen nackten Füßen neben uns her, und seine für einen Rennplatz hinreichend ungewöhnliche Erscheinung wurde denn auch von fast jedermann angestarrt, teilweise belustigt, teilweise voller Zorn. Er schien nichts davon zu bemerken. Nancy machte den Eindruck, als sei sie daran gewöhnt.

Wir blieben vor den Rails des Führrings stehen, wo Chanter seine Ellbogen aufstützte und zu einer Rede ansetzte.

«Pferde«, sagte er.»Ich habe nichts übrig für dies Zeug von Stubbs und Munnings. Wenn ich ein Rennpferd sehe, sehe ich eine Maschine, und das ist es auch, was ich male, eine Maschine in Pferdegestalt, mit stampfenden Kolben und Muskelfasern wie Pleuelstangen und einem Riß in der Öl wanne, durch den das Öl Tröpfchen für Tröpfchen in die Körperhöhle sickert…«Er brach jäh ab und fragte im selben Atemzug:»Wie geht es deiner Schwester?«

«Schon viel besser«, sagte Nancy, der der abrupte Themenwechsel anscheinend nicht weiter auffiel.»Es geht ihr im Augenblick ganz gut.«

«Schön«, sagte er und fuhr augenblicklich mit seinem Vortrag fort.»Und dann zeichne ich ein paar ferne, überquellende Tribünen mit in die Luft fliegenden Hüten, und alles klatscht, und während der ganzen Zeit verausgabt sich die Maschine total, gibt ihr Letztes… Ich sehe Komponenten, ich sehe, was mit den einzelnen Teilen geschieht… die Spannungen… Ich sehe auch Farben in Komponenten… Nichts auf der Welt ist ein Ganzes…

Nichts ist jemals, was es zu sein scheint… Alles besteht aus Komponenten. «Er hielt abrupt inne und dachte über das, was er gesagt hatte, nach.

Nach einer angemessenen Pause der Bewunderung fragte ich:»Verkaufen Sie Ihre Gemälde eigentlich?«

«Sie verkaufen?«Er warf mir einen verächtlichen, überlegenen Blick zu.»Nein, das tue ich nicht. Geld ist ekelhaft.«

«Es ist noch ekelhafter, wenn man es nicht hat«, sagte Nancy.

«Du bist eine Verräterin, Mädchen«, sagte er heftig.

«Mit zwanzig«, sagte sie,»ist es ganz in Ordnung, von Luft und Liebe zu leben, aber mit sechzig ist es ziemlich mies.«

«Ich habe nicht vor, sechzig zu werden. Sechzig ist ein Alter für Großväter. Nicht mein Ding.«

Wir wandten uns von den Rails ab und standen plötzlich Major Tyderman gegenüber, der seine Sporting Life unterm Arm trug und mir die Flugzeugschlüssel hinhielt. Sein Blick glitt über Chanter — seine Selbstbeherrschung war bewunderungswürdig. Zuckte mit keiner Wimper.

Er gab mir die Schlüssel, nickte, warf noch einen Blick auf Chanter und trat einen geordneten Rückzug an.

Nicht einmal Nancy zuliebe war der Ordner bereit, Chanter die Treppe zu dem Bereich der» Besitzer und Trainer «hinaufzulassen. Wir sahen uns die Rennen auf Rasenhöhe an, während Chanter in regelmäßigen Abständen» stinkende Bourgeoisie «vor sich hin murmelte.

Colin Ross ging als Zweiter durchs Ziel. Die Menge pfiff und zerriß eine ganze Anzahl Wettscheine. Nancy schien auch daran gewöhnt zu sein.

Zwischen den beiden nächsten Rennen setzten wir uns auf den Rasen, während Chanter uns ununterbrochen seiner

Ansichten über die verderbliche Wirkung von Geld, Rassismus, Krieg, Religion und Ehe teilhaftig werden ließ. Lauter alte Hüte, nichts Neues. Diesen Gedanken behielt ich jedoch für mich. Während seiner Abhandlung streckte er zweimal ohne Vorwarnung die Hand aus und legte sie auf Nancys Brust. Jedesmal umfaßte sie mit spitzen Fingern sein Handgelenk und warf seine Hand zurück. Keiner von beiden schien einen Kommentar dazu für nötig zu halten.

Nach dem nächsten Rennen (Colin war Dritter geworden) bemerkte Chanter, er habe eine trockene Kehle, und Nancy und ich folgten ihm gehorsam zum Abschmieren in die Tattersall-Bar. Drei Coca-Cola, von einer überarbeiteten Barkeeperin lieblos aus den Flaschen in Gläser gekippt. Chanter hatte alle Hände voll zu tun, mit den drei Gläsern zu jonglieren, so daß ich derjenige war, der zahlte. Typisch.

Die Bar war nur halb voll, aber ein großer Teil des Raumes sowie der allgemeinen Aufmerksamkeit wurde von einem einzigen Mann in Anspruch genommen, einer großen, kräftigen Person mit penetrant australischem Akzent. Er hatte ein offensichtlich ganz frisches Gipsbein und ein Paar Krücken, mit denen er noch nicht so recht fertig wurde. Sein lautes Lachen erhob sich über das amorphe Stimmengewirr, und er entschuldigte sich pausenlos bei irgendwelchen Leuten, die er beinahe umrannte.

«Irgendwie wollen diese Krücken nicht so, wie ich will.«

Chanter betrachtete ihn, wie er die meisten Dinge betrachtete: mit einiger Mißbilligung.

Der hünenhafte Australier erläuterte unterdessen zwei dafür empfänglichen Bekanntschaften seinen Zustand.

«Wissen Sie, es tut mir gar nicht leid, daß ich mir den Knochen gebrochen habe. Beste Investition, die ich je getätigt habe. «Das Lachen scholl ansteckend durch den Raum, und die meisten Leute in der Bar begannen zu grinsen. Chanter natürlich nicht.

«Hatte nämlich gerade eine Woche vorher die Prämie bezahlt, bin dann diese Treppe runtergefallen und habe tausend Pfund dafür gekriegt. Das ist kein Pappenstiel, was? Tausend verdammte Pfund dafür, daß man eine Treppe runterfällt. «Er verfiel abermals in gewaltiges Gelächter über seinen eigenen Witz.»Na los, Freunde«, sagte er,»trinkt aus und laßt uns etwas von diesem himmlischen Segen in meinen guten Freund Kenny Bayst investieren.«

Ich zuckte zusammen und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ging auf halb vier zu. Kenny Bayst hatte seinen guten Freund offensichtlich nicht vorgewarnt. Ging mich aber absolut nichts an. Wenn ich es ihm selbst gesagt hätte, hätte ich Kenny Bayst damit einen denkbar schlechten Gefallen erwiesen.

Der große Australier schaukelte aus der Bar, gefolgt von seinen beiden Kameraden. Chanters Neugier gewann die Oberhand über seine Abneigung, sich unwissend zu zeigen.

«Wer«, fragte er ungehalten,»gibt diesem Deppen tausend Pfund dafür, daß er sich die Knochen bricht?«

Nancy lächelte.»Das ist ein neuer Versicherungsfonds, eigens für Leute, die zum Pferderennen gehen. Unfallversicherung. Genaueres weiß ich auch nicht. Habe in letzter Zeit ein oder zwei Leute mal davon reden hören.«

«Versicherung ist unmoralisch«, sagte Chanter kategorisch, schob sich hinter sie und legte ihr seine Hand flach auf den Bauch. Nancy nahm sie weg und machte einen Schritt zur Seite. Als Leibwächter schien ich keine große Errungenschaft zu sein.

Nancy sagte, sie wolle gerade dieses Rennen richtig sehen können, und ließ einen grollenden Chanter am Fuß der

Treppe stehen. Ohne sie zu fragen, folgte ich ihr die Stufen hinauf — ein Tete-a-tete mit Chanter reizte mich nicht besonders. Kenny Bayst ritt, wie mir ein Seitenblick auf Nancys Rennprogramm verriet, ein Pferd namens» Rudiments«: Nummer sieben, Besitzer der Herzog von Wessex, trainiert von Mrs. Villars, Rennfarben olivgrün mit silbernen Schärpen über Kreuz und silberner Kappe. Ich sah zu, wie das Pferd auf dem olivgrünen Gras an den Tribünen vorbeikanterte, und dachte, daß der Herzog von Wessex Farben gewählt hatte, die man genauso leicht erkennen konnte wie ein Stück Kohle in pechschwarzer Nacht.

Ich fragte Nancy:»Wie hat Rudiments sich in seinem letzten Rennen geschlagen?«

«Hm?«meinte sie geistesabwesend, da ihre ganze Aufmerksamkeit der rosa-weißen Gestalt ihres Bruders galt.»Sagten Sie Rudiments?«

«Genau. Ich habe auch Kenny Bayst und Annie Villars hierhergebracht.«

«Ah. Verstehe. «Sie warf einen Blick auf ihr Rennprogramm.»Beim letzten Mal hat er gewonnen. Davor auch. Davor wurde er Vierter.«

«Dann ist er also gut?«

«Ziemlich, würde ich sagen. «Sie zog die Nase kraus und sah mich an.»Ich habe Ihnen doch prophezeit, daß Sie sich dafür begeistern würden.«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich bin bloß neugierig.«

«Läuft auf dasselbe hinaus.«

«Ist Bayst der Favorit?«

«Nein, das ist Colin. Aber — sehen Sie da drüben, auf der großen Tafel? — Rudiments ist zweiter Favorit am Totalisator, steht etwa drei zu eins.«

«Hm«, sagte ich,»was bedeutet es, auf ein Pferd zu legen?«

«Das heißt, daß man eine Wette legt, also anbietet. Das tun auch die Buchmacher. Im Grunde genommen ist das auch das Prinzip des Totalisators.«

«Können das auch Leute tun, die selbst keine Buchmacher sind?«

«Na klar. Tun sie auch. Sagen wir, die Buchmacher bieten drei zu eins, und Sie selbst glauben nicht, daß das Pferd gewinnen wird, dann können Sie zu Ihren Freunden sagen: Ich biete vier zu eins; also würden sie bei Ihnen wetten, weil Sie mehr bieten. Und natürlich ohne Wettsteuern. Eine private Wette, Sie verstehen schon.«

«Und wenn das Pferd gewinnt, bezahlt man?«

«Und ob.«

«Ich verstehe«, sagte ich. Und ich verstand tatsächlich. Eric Goldenberg hatte bei Rudiments letztem Rennen Wetten gegen das Pferd gelegt, weil Kenny Bayst sich bereit erklärt hatte zu verlieren, und dann hatte Bayst es sich anders überlegt und doch gewonnen. Deshalb herrschte immer noch ziemlich dicke Luft zwischen den beiden; und heute hatten sie sich darüber gestritten, ob sie es noch einmal versuchen sollten oder nicht.

«Colin glaubt, er gewinnt dieses Rennen«, sagte Nancy.»Und ich hoffe, er tut’s wirklich.«

Das bedeutete eine dicke Lohntüte für Bayst, dachte ich.

Das Rennen ging anscheinend über eintausendvierhundert Meter. Die Pferde beschleunigten von null auf dreißig Meilen die Stunde in einer Zeit, die jedem Porsche Ehre gemacht hätte. Als sie um die Kurve am anderen Ende der Rennbahn jagten, war Rudiments für mich noch unsichtbar, und erst auf den letzten hundert Metern nahm ich ihn überhaupt wahr. Dann aber war er urplötzlich da, saß jedoch hinter mehreren anderen Tieren an den Rails fest und hatte keine Chance, sich vor Colin Ross an die Spitze zu setzen.

Kenny fand keine Öffnung. Er beendete das Rennen als Dritter, immer noch eingezwängt zwischen Colin auf dem ersten Platz und einem Apfelschimmel neben sich. Ich hatte keinen blassen Schimmer, ob er das absichtlich getan hatte oder nicht.

«War das nicht einfach toll?« rief Nancy der Welt im allgemeinen zu, und eine Frau, die auf der anderen Seite neben ihr gestanden hatte, pflichtete bei und erkundigte sich nach dem Befinden ihrer Schwester Midge.

«Oh, es geht ihr gut, danke«, sagte Nancy. Dann drehte sie sich zu mir um, und in ihren Augen war weit weniger Frohsinn als in ihrer Stimme.»Kommen Sie hier rüber«, sagte sie.»Dann können Sie sehen, wie der Gewinner abgesattelt wird.«

Der Raum für» Besitzer und Trainer «befand sich, wie ich nun entdeckte, über dem Waageraum. Wir beugten uns über die Rails und sahen zu, wie Colin und Kenny die Sattelgurte öffneten, sich die Sättel über den Arm warfen, ihren dampfenden Pferden einen Klaps gaben und im Waageraum verschwanden. Die Leute im Absattelring für den Sieger waren damit beschäftigt, einander auf den Rücken zu klopfen und Zwiesprache mit der Presse zu halten. Die Leute im dritten Absattelring hatten sich für angespannt lächelnde Gesichter und geistesabwesende Blicke entschieden. Ich konnte nicht erkennen, ob sie hochzufrieden waren und sich nichts anmerken ließen oder unter ebenso perfekten Masken fuchsteufelswild.

Die Pferde wurden weggeführt, und die Grüppchen zerstreuten sich. An ihrer Stelle erschien nun Chanter, der zu uns aufschaute und mit den Armen fuchtelte.

«Kommt runter«, rief er.

«Keine Hemmungen, das ist sein Problem«, sagte Nancy.»Wenn wir nicht runtergehen, hört er nicht auf zu brüllen.«

Womit sie richtig lag. Ein Ordner ging mannhaft auf ihn zu, um ihn zu bitten, die Klappe zu halten und abzuzischen, aber da hätte genausogut ein leichtes Wellen-gekräusel versuchen können, den Bass Rock zum Einsturz zu bringen.

«Komm runter, Nancy!«Fortissimo.

Sie stieß sich von den Rails ab und trat weit genug zurück, um sich für ihn unsichtbar zu machen.

«Bleiben Sie bei mir«, sagte sie. Es war mehr Frage als Aufforderung.

«Wenn Sie wollen.«

«Sie haben ja gesehen, wie er ist. Und heute ist es noch nicht mal besonders schlimm. Wirklich. Dank Ihnen.«

«Ich habe absolut nichts getan.«

«Sie sind da.«

«Warum kommen Sie nach Haydock, wenn er Ihnen so auf die Nerven geht?«

«Weil ich mich bestimmt nicht von ihm einschüchtern und vertreiben lassen werde.«

«Er liebt Sie«, sagte ich.

«Nein. Kennen Sie denn nicht den Unterschied, um Himmels willen?«

«Doch«, sagte ich.

Sie sah überrascht aus, schüttelte dann aber den Kopf.»Er liebt Chanter. Aus.«

Sie machte drei Schritte in Richtung Treppe und blieb dann wieder stehen.

«Warum rede ich bloß mit Ihnen, als würden wir uns schon jahrelang kennen?«

Bis zu einem gewissen Grad wußte ich es, aber ich lächelte nur und schüttelte den Kopf. Niemand erzählt gern freiwillig, daß die Leute mit ihm reden, weil er soviel Ausstrahlung hat wie eine gute, neutrale Tapete.

Chanters Gejammer wehte die Treppe herauf.»Nancy, komm runter.«

Sie machte noch einen Schritt und blieb dann wieder stehen.»Würden Sie mir einen Gefallen tun? Ich bleibe für ein paar Tage hier bei einer Tante, aber ich habe heute morgen ein Geschenk für Midge gekauft und es Colin gegeben, damit er es mit nach Hause nimmt. Aber wenn es nicht gerade um Pferde geht, hat er ein Gedächtnis wie ein Sieb. Würden Sie ihn vor dem Start fragen, ob er mein Geschenk auch nicht in der Umkleidekabine liegengelassen hat?«

«Geht klar«, sagte ich.»Ihre Schwester… Wenn ich recht verstanden habe, ist sie krank gewesen.«

Sie schaute in den sonnenüberfluteten Himmel hinauf, senkte den Blick dann wieder und sah mich direkt an, und in diesem erschütternden Augenblick der Erkenntnis sah ich den Schmerz und die Risse hinter der strahlenden äußeren Fassade.

«Ist gewesen. Wird sein«, sagte sie.»Leukämie.«

Nach einer Pause schluckte sie und fügte den unerträglichen Schluß hinzu.

«Wir sind eineiige Zwillinge.«

Загрузка...